Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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04.12.2022
3.790
Hallo, meine Lieben, diesmal hat’s leider ein wenig gedauert, bis ich mir hier wieder zu Wort melde, das tut mir leid. Weiter geht’s mit der klaren Thematisierung von Sucht und Angstzuständen. Passt bitte auf Euch auf und habt trotzdem viel Vergnügen beim Lesen und natürlich einen wunderbaren zweiten Advent!
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Kapitel 18 – Schattengestalten
19:53. Unter ihrem Kopfschütteln versackte ihr Seufzen sofort. Die Zucchinischeiben legte Pia als oberste Schicht in die Auflaufform, ließ einen Regen aus Käse darauf herabgehen. Wieder sah sie Adams Blick vor sich, den er zur Seite gewandt hatte, die Hände in die Seiten gestützt, einen tiefen, beinahe verzweifelten Atemzug nehmend. Und als sie gegen halb fünf bei Leo hereingeschneit war, hatte sie ihn allein vorgefunden. Sein Nicken hatte sie ihm vor allem an den Augen ablesen können, nachdem es ihm unter dem Kinn hängen geblieben war.
Adam war schon gegangen. Wie am Tag zuvor. Wie in der Woche zuvor. Wie vor Weihnachten.
Pia schob die Auflaufform in den Ofen, wischte sich die Hände ab und klaubte ihr Handy vom Tisch. Als sie auf das Sofa glitt, sprang ihr Manus Nachricht entgegen. Das isses – megageil! Sie tippte auf den Link. Bergpanorama durch die Fensterfront der Saunalandschaft, Palmen neben Dampfbädern.
Ein erneutes Seufzen konnte sie gerade noch unterdrücken, als sie das Display ausschaltete und ihr Smartphone auf den Couchtisch schlittern ließ. Sie hätte doch Adam dazu überreden sollen, den Wellnessgutschein für zwei, den er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, mit ihr einzulösen. Genau so hatte sie ihn verstanden, aber er hatte nur belustigt den Kopf geschüttelt, als sie die Buchung angesprochen hatte. Mach dir mal ‘nen schönen Tag mit ‘ner Freundin oder Lydi oder so, hatte er nur noch hinterhergeschoben. Gut, sie hätte es eigentlich besser wissen können. Adam war nicht der Spa-Typ. Dabei hatte er von allen, die sie kannte, eine Auszeit am allernötigsten.
So leise, dass sie sich im ersten Moment nicht sicher war, ob sie sich vielleicht geirrt hatte, klappte die Tür. Sie hob den Kopf, traf Adams Blick nur für eine Sekunde, bevor er sich zur Garderobe wandte und aus seinen Stiefeln schlüpfte.
»Hey.« Sie zog das Bein vom Sofa, ein wenig plump stand sie auf. »Du kommst spät. Wo warst du noch so lange?«
Er begann, den Schal von seinem Hals zu wickeln. Seine Augen gingen an ihr vorbei zum Wohnzimmer, huschten zur Küche, zurück zum Wohnzimmer, suchten den Weg zum Bad, zum Schlafzimmer. In ihr regte sich der Impuls, nach dem Griff seines Reißverschlusses zu fassen, hinter ihn zu treten, ihm den schweren, kalten Stoff von den Schultern zu streifen, aber etwas in seinen Augen, in seinen Bewegungen hielt sie davon ab. Als wisse er nicht genau, wie er seine Hand führen musste, strich er sich die Haare langsam hinter das Ohr, die sofort wieder nach vorn fielen, ein wenig steif vom Nebel und durcheinander.
»Komme ich dir ungelegen?«
Nun fasste sie doch nach seinem Arm. Er zuckte fort, worunter sein hastiges Kopfschütteln abriss. Seine Augen suchten seine Stiefel, von denen er den rechten mit dem Fuß aus seiner ein wenig diagonalen Position zur Kante des Schuhregals in die Gerade rückte, ordentlich neben den anderen. Für eine Sekunde hatte sie jedoch noch seinen Blick auffangen können, der sich mit scharfen Klauen in ihrer Brust festgekrallt hatte. Im mit einem Mal so schartigen Blau seiner Augen war das Raubtier aufgeflackert, das auf Beutestreifzug war.
»Adam – was ist los?«
Mit einer Beliebigkeit, die sie noch mehr in Unruhe versetzte als ohnehin schon, wandte er den Kopf, anstatt ein klares Kopfschütteln zur Antwort zu geben, und zog in einer nie an ihm beobachteten Bedächtigkeit den Reißverschluss seiner Jacke auf. Zäh streifte er den einen Ärmel ab. Eine scharfe Angst durchzuckte sie. Von der Seite konnte sie den Ausdruck in seinem Gesicht nicht vollständig lesen, aber Schmerzen schien er nicht zu haben, keine großen jedenfalls. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, seinen Bewegungen zurück, dem starren Stoff, den ausgebeulten Jackentaschen –
Da begriff sie.
Sie schnellte vor, zerrte den Reißverschluss auf und fasste hinein. Adam erhob nicht die geringste Gegenwehr, auch dann nicht, als sie die Schachtel hervorzog und in stummer Anklage zwischen sie hielt. Rohypnol sprang es sie in ernüchternder Sachlichkeit an, die Buchstaben im LED-Licht scharf aus dem weißen Karton springend.
Zu ihrer Überraschung wich Adam ihrem Blick nicht aus, sondern sah sie direkt an, als sie den Kopf hob. Die Reißzähne im leuchtenden Blau waren verschwunden, zurückgeblieben war nur diese Müdigkeit, gegen die es kein Mittel gab. Adam nahm ihr die Schachtel ab und begann, in der anderen Jackentasche zu kramen, die sich sperrte, bis er unter einigem Ruckeln zwei weitere Packungen hervorzog. Unter ihrem tiefen Atemzug sackte ihre Brust ab, ihr Blick verfolgte seine schöne Hand, die die drei Schachteln auf das Glasbord schob. Gestern erst hatte Leo nach Adams Kreislaufschwäche mit ihm darüber geredet, der Ausdruck seiner mit einem Mal so kalten Augen, sein Tonfall hatten keinen Zweifel daran gelassen, was er mit Adam zu besprechen gehabt hatte, als er sie hinausgebeten hatte – und trotzdem konnte Adam auf kein anderes Mittel verfallen?
»Wer vertickt dir das eigentlich?«
Gegen die Schärfe in ihrer Stimme, die sie so nicht beabsichtigt hatte, wirkte sein leises Lachen, mit dem er seine Jacke an die Kleiderstange hängte, entwaffnend resignativ. Er schleuderte sich die Haare aus der Stirn, die Kleiderbügel stießen mit einem industriell hohlen Klang aneinander, als er seine Jacke zurechtzog. »Ja klar – meinst du ernsthaft, ich verpfeif meine Quelle und bringe andere um das, was ihr Leben gerade noch so zusammenhält?«
Während er sich wieder zu ihr umwandte, schloss sie die Lücke zwischen ihnen. Er zog leicht den Kopf zurück. Der Ärger war schon fast ganz aus seinem Blick gewichen, zurückgeblieben war nur der Schimmer einer leisen Verletztheit. Sie ließ die Hände um seine gleiten, zog sie zwischen sich. Mit den Daumen auf seinen Handrücken versuchte sie zum tausendsten Mal vergeblich, gegen die Kälte seiner Haut anzustreicheln, mit dem Kopf wies sie in Richtung der Schachteln hinter sich. »Das Zeug hält dich nicht zusammen, es macht dich kaputt und – es wird dich langfristig umbringen, oder vielleicht auch kürzerfristig …«
Wieder lachte Adam, diesmal nur erstickt, doch schluckte der Laut, der sich seiner Kehle entwand, jedes weitere Wort, das sich auf ihrer Zunge bilden wollte. »Natürlich.« Halbherzig versuchte er, sich ihrem leichten Griff zu entziehen, und gab sofort nach, als sie ihn umarmte. Sie legte den Kopf an seine Brust, schloss die Augen. Sein Duft umschmeichelte sie, warm und schwer, mit der Linken zeichnete sie die Kante seiner Schulter nach. Er wusste nichts mit ihren Berührungen anzufangen, stand so verloren vor ihr wie eine einsame Lärche in einem Regenguss.
Ja, sie hätte schon viel früher regelmäßig nach ihm sehen müssen. Er brauchte es einfach, dass sich jemand um ihn kümmerte, was er selbst nicht vermochte. Das Einzige, wozu er fähig war, war das Aufrechterhalten der Grundfunktionen seines Körpers, so wie man dafür sorgte, den Mechanismus einer Maschine in Gang zu halten. Mehr ging bei ihm nicht, und das Wenige, was er sich selbst zugestand, steckte er zuletzt auch noch in die Arbeit und noch so viel mehr, sodass er in eine vollkommene Schieflage im Verhältnis zu sich selbst geraten war. Der Waagebalken stand schon längst senkrecht, kratzte seit einiger Zeit schwer am Umkehrpunkt.
Langsam ließ sie die Hand seinen Oberarm hinab- und wieder hinaufgleiten, hinab und hinauf. Anders als heute Mittag noch spürte sie ihn kaum atmen. Sein Körper war überraschend warm, ohne überhitzt zu sein, aber er war hart, gab nicht nach, als sie sich auf seine Seite hinüberstreichelte.
»Nimm heute keine, ja?«
In einer seltsam steifen Aufmerksamkeit wartete er noch auf weitere Worte von ihrer Seite, zeigte mit keiner Reaktion, was er von ihrer Bitte hielt. Sogar als sie sich hochschob und ihre Wange an seine legte, verharrte er reglos.
»Tu es für mich«, flüsterte sie.
Den ganzen restlichen Abend über war Adam ihr ausgewichen. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sich zum Abendessen zu ihr zu setzen, auf ihre Frage, ob er Hunger hatte, noch nicht einmal von seinem Laptop aufgesehen, den er auf den Knien gehalten hatte in seiner zurückgelehnten Positur auf dem Sofa. Er hatte nur eine vage Drehung mit dem Kopf vollzogen, die er stumm wiederholt hatte, als sie ihrerseits ihren Laptop auf den Tisch gestellt, eine französische Komödie ausgewählt und ihn gefragt hatte: »Möchtest du mitschauen?« Sie hatte also ihre Ohrhörer herausgezogen und Adam weitertippen lassen, bis er seinen Laptop kommentarlos zugeklappt hatte und einfach verschwunden war.
Jetzt kroch sie zu ihm ins Bett, legte sich zuerst auf den Rücken, um ihn nicht zu bedrängen. Hatte er zunächst von der Tür abgewandt gelegen, so hatte er sich sofort umgedreht, als sie auf ihre Bettseite gegangen war. Über den Widerstand seines Körpers zog sie die Decke zu sich. Seine Atemzüge stießen sich weiter stumpf am Kissen vor seinem Gesicht, sonst war von seiner Seite nichts zu hören. Vollkommen reglos lag er da, hielt ihr auch weiterhin den Rücken zugekehrt. Sie versuchte, gegen seine Anspannung anzuatmen, kam aber nicht gegen sein hartes, flaches Luftholen an.
Seitdem sie ihre Bitte an ihn gerichtet hatte, hatte er kein Wort mehr gesagt, und so sehr sie auch gelauscht hatte, was er natürlich bestimmt gewusst hatte, da war kein Geräusch, kein Knistern gewesen, das ihn verraten hätte. Dabei hätte sie sich ihren Spionageeinsatz sparen können. Die düstere Verbissenheit, die von ihm ausging, sprach für sich. Er hatte nichts genommen, darauf konnte sie sich festlegen, das fühlte man ihm an.
Ihre Hand streckte sie zuerst zwischen sie, dann wandte sie den Kopf zur Seite, zog mit den Augen seine dunkle Kontur nach.
»Komm.«
Er regte sich lange nicht. Sie überlegte sich gerade, sich doch zu ihm zu drehen, da wandte er sich in einer fließenden Bewegung auf den Rücken und dann, langsamer, ihr zu.
»Komm her«, wisperte sie erneut.
Er fügte sich nur sperrig, hielt so viel Abstand zwischen ihnen, dass ihre Hand, die sie unter seinem Nacken hindurchgeführt hatte, gerade seinen Hinterkopf erreichte.
»Lydi hat mich heute angerufen. Sie bildet sich ein, jetzt unbedingt Klarinette lernen zu müssen – kannst du dir das vorstellen?« Sie musste leise auflachen. »Dabei sind wir alle in meiner Familie das Unmusikalischste, was auf Gottes Erdboden herumläuft.« Ihre Fingerspitzen zogen beharrlich langsam seine weichen Haarsträhnen nach. »Hab ich dir schon einmal von meinen musikalischen Meilensteinen in der Grundschule erzählt?« Mit annähernd hundertprozentiger Sicherheit wusste sie, dass sie das nicht getan hatte, aber von Adam erreichte sie ohnehin keine Reaktion. Es war, als brauche er jetzt gar nicht mehr Luft zu holen. Sie widerstand der Versuchung, auf seine Atemzüge zu lauschen, und erzählte einfach weiter. »Ich war sogar beim Singen in meiner ganz normalen Klasse so schlecht, dass meine Lehrerin mich herausgeholt hat mit dem Vorwand, dass sie mich unbedingt zum Umblättern braucht. Es war ein bisschen wie mit diesem total unfähigen Schüler aus diesem französischen Chorfilm mit Waisenhauskindern, den der Musiklehrer als Notenpult missbraucht. Hast du den auch gesehen? Das war damals voll der Hype.«
Zu spät fiel ihr ein, dass Adam in seiner Jugend vermutlich nicht allzu oft im Kino gewesen war und zu Hause wahrscheinlich noch weniger Filme hatte ansehen dürfen. Aber gerade war es bei ihm ohnehin ein wenig wie bei einem verängstigten Hund: Es war vollkommen gleich, was sie sagte, die Hauptsache war, das Gefühl, das sie in ihre Worte legte, langte bei ihm an. Immerhin hatte sie ihn schon ein unwesentliches und für sie doch ganz bedeutendes Stück weiter zu sich ziehen können. Nun konnte sie ihm bereits mit sehr luftiger Hand über den oberen Rücken streicheln. Auch dass sie die andere Hand auf seinen Arm legte, ihn wenige Zentimeter entlangfuhr, ließ er über sich ergehen.
»Und Manu will plötzlich einen Bachata-Kurs belegen. Aber gut, wenigstens nicht Ballett.« Sie fasste Adam um die Schulter, kippte seinen Körper ganz leicht zu sich, sodass er ein klein wenig auf ihr zu liegen kam, als sie sich wieder auf den Rücken wandte. »Keine Ahnung, welcher musikalische Geist zurzeit in der Luft liegt.« Unwillkürlich hielt sie die Luft an, ihre Hand hatte den Rand seines T-Shirt-Ärmels erreicht und streichelte sich auf seine glatte Haut hinüber. Er war warm, aber wie immer, wenn er nicht gerade Fieber hatte oder wirklich einmal einige Zeit im vollsten Tiefschlaf gelegen hatte, wirkte er ein bisschen ausgekühlt. »Am Ende lerne ich noch Harfe oder Tuba, was meinst du?« Seine Hand war steif, als sie danach fasste, und natürlich kalt, wenn auch nicht so eisig wie sonst. Sie schob den Arm unter seinem Nacken langsam ein wenig weiter, schloss die Hand um seine Schulter und drehte ihn noch weiter auf sich, während sie seine Hand auf ihren Bauch zog, wo sie seine Finger flächig ausstrich. Durch den Stoff ihres Pyjamaoberteils drang seine Kälte, beharrlich ließ sie ihre Hand wieder und wieder über seine gleiten, hoffte, Wärme zwischen ihnen zu verbreiten.
»Du hättest auch ein Mitspracherecht, was ich lerne, schließlich müsste ich bestimmt auch mal hier üben.«
Doch natürlich sagte er nichts, und auch sie sprach immer weniger und weniger, in dem Maße, wie sie ihn sehr langsam wegdämmern fühlte. Mit seinem Bewusstsein schwand sein Widerwille, ihre Berührungen zuzulassen, weicher und weicher wurde sein Körper. Pia lächelte ein wenig in den Kuss hinein, den sie ihm irgendwann auf die Stirn hauchte. Sie konnte gar nicht mehr festmachen, wann er damit begonnen hatte, die Jeans zu Hause auch einmal gegen eine Trainingshose zu tauschen. Vielleicht fing er ja doch allmählich an, anzukommen.
Behutsam nahm sie ihre Hand von seiner, näherte sie langsam seinem Gesicht. Er schrak nicht zurück, zeigte auch sonst keine Reaktion, als sie ihm mit den Fingerspitzen über die Stirn strich, die Knöchel über seine Wange gleiten ließ. In einer federleichten Berührung führte sie ihre Hand über seine Rippen, legte sie in der tiefen Senke seiner Taille ab. Als Adam den Kopf ein wenig drehte, fühlte sie den langen, tiefen Rhythmus, der sich unter ihrer Hand vollzog, auch über ihr Dekolleté wehen. Er war eingeschlafen.
Pia hauchte einen Kuss in sein Haar, dann schob sie den Kopf näher an seinen und wartete darauf, dass ihr Atem in seinen einfallen würde.
Die geriffelten Sohlen ihrer Crocs scharrten über den Kies, vergeblich versuchte sie, sich den Plan einzuprägen. Woher hatten die ganzen in die ultimativen Trekkingklamotten gewandeten, übermotorisierten Rentner die Handzettel mit Karte? Das musste sie beim Eingang zum Naturschutzgebiet an diesem Kiosk übersehen haben. Also zurück, da half nichts. Seltsam, vorher war ihr der Weg mindestens doppelt so lang vorgekommen. Aber wenn sie schon hier war, konnte sie sich auch gleich bei den Büchern und Geschenkartikeln umsehen, vielleicht fand sie ja etwas für Lydi oder Manu oder ein Mitbringsel zur Erinnerung an ihre Wanderung hier, das sie auch irgendwie brauchen konnte. Tatsächlich, da war ein Metallic-Taschenkalender in Tannengrün, bei der Post waren die um diese Jahreszeit immer schon ausverkauft. Als sie ihn aufblätterte, fand sie ihren Namen darin – warum stand er dort? Ach richtig, sie hatte ihn ja vor einiger Zeit verloren. Und jetzt –
Sie schrak zusammen, als ein Ruck durch ihren Körper fuhr. Die Gedanken noch halb im fröhlichen Blattgrün des Laubwaldes, in den Ohren noch das muntere Geplapper der Ladeninhaberin, hörte sie ihre schlaftrunkene Stimme in einer Übelkeit erregenden Alarmbereitschaft. »Adam – hey!«
Nur sein viel zu schneller Atem antwortete ihr, gab ihr Orientierung. Sie setzte sich auf, wandte sich zur Seite, da hörte sie am Rascheln des Lakens, dass Adam sich von ihr fortschob.
»Adam –«
Mit der in der Luft herumtastenden Hand erwischte sie ihn an der Schulter. Sofort streifte er sie mit einer festen, bestimmten Bewegung ab. Im schwachen Licht, das von der Straßenlaterne draußen hereinfiel, sah sie ihn aufspringen, unter seinem unsicheren Schritt stolpern.
»Hey – pass auf!«
Sie schlug die Decke zurück, eilte um das Bett herum, doch war Adam nicht so weit gekommen, wie sie gedacht hatte. Er hatte sich vielmehr an das schmale Stück Wand neben dem Schrank zurückgezogen. Dort lehnte er auf eine Hand gestützt und starrte die leere Fläche an. Sein Atem kam und ging schwer und zittrig, hörte sich näher an, als die Entfernung es erklären konnte. Sie blieb einige Schritte hinter ihm stehen, beobachtete ihn, wartete. An den Schultern hob sich sein weißes T-Shirt kaum von der schneeigen Fläche ab. Für einen Augenblick überlegte sie, das Licht einzuschalten, vielleicht würde es ihm ja helfen – vielleicht würde es ihn aber nur weiter in den düsteren, ihn verschlucken wollenden Strudel hinunterreißen, in dem er gerade darum kämpfte, den Kopf über die dunklen Fluten zu halten. Wer wusste das schon, sie und er am allerwenigsten.
Im Bann der Bilder gefangen, die durch sein Inneres jagten, beruhigte sein Atem sich keineswegs, sondern wurde nur noch abgehackter, rauer, beschleunigte sich, stolperte, bis er in einen trockenen, sich überschlagenden Husten ausbrach.
»Ich komm jetzt zu dir Adam, ja?« versuchte sie trotzdem, klar und bestimmt zu ihm durchzudringen. Sie wusste nicht, ob er sie gehört hatte, nichts deutete darauf hin, keine Bewegung, keine Änderung der Körperhaltung. Zwei Schritte nur ging sie zu ihm, streckte die Hand aus und streifte mit den Fingerspitzen seinen Arm.
»Es ist alles gut, Adam, es ist nichts passiert.«
Er ließ es geschehen, zuckte nicht weg, schrak nicht zurück, da machte sie noch einen Schritt auf ihn zu, legte ihm die Hand flächig an den Arm. Sie fühlte ihn zittern, schwanken, beben.
»Alles gut, Adam, es ist alles okay. Es war nur ein Traum.«
Ihre Berührung duldete er auch weiterhin, da begann sie, ihn zu streicheln, ganz leicht nur, langsam. Seine Muskeln waren eisenhart angespannt, ließen sich von ihrem Darübergleiten nicht erweichen. Sein Atem kam und ging noch immer beinahe hechelnd. Wie gern hätte sie sich an ihn geschmiegt, vorsichtig die Arme um seinen Bauch geschlungen. Ihre Linke, die sich tastend auf seinen Oberarm schlich, schüttelte er auch nicht ab, da wagte sie es, ihn ein wenig zu sich zu ziehen, fort von der kalten, nackten Wand, um ihn zu sich umzuwenden.
»Komm her, alles gut.«
Als habe es ihm einen elektrischen Schlag versetzt, schnellte er unter ihren Händen herum, die Augen starr zu Boden gerichtete. Er verschränkte die Arme und zog sie so dicht wie möglich an seine Brust, sehr gleichmäßig wich er zur Wand zurück, drückte sich fest daran. Schwer atmete sein Körper gegen den unnachgiebigen Widerstand hinter sich an, einige wenige Male nur, dann stieß Adam sich ab. Das farblose Straßenlaternenlicht arbeitete die Gequältheit auf seinen Zügen plastisch heraus. Pia wollte ihn aufhalten, ihn umfassen, ihn an sich drücken, aber sie ließ ihn ziehen, blieb einfach an dem Ort stehen, den er ihr zugewiesen hatte.
Die Bettfedern quietschten, als sie auf die Matratze niedersank, die Hände im Schoß verschränkt. Lange rauschte der Wasserhahn, das hektische Versprengen von Tropfen drängte sich durch den finster liegenden Flur zu ihr herein. Irgendwann verstummte das leise Brummen der Leitung, sie lauschte, doch nichts regte sich mehr. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Adam plötzlich durch den Türrahmen schlich, die Füße lautlos wie immer, doch noch ein wenig unsicher den einen vor den anderen setzend. Sofort sprang sie auf, machte einen kleinen Schritt in seine Richtung und folgte ihm, als er einfach an ihr vorbei zum Fenster ging. Mit einem entschlossenen Griff zog er den Vorhang beiseite, genau wie damals, als sie zum ersten Mal hier bei ihm übernachtet hatte und er aus seinem Albtraum aufgeschreckt war, nur lehnte er sich diesmal nicht gegen das Glas und schloss die Augen, sondern er starrte unbewegt in die Nacht hinaus, die Arme eng um sich geschlungen. Noch immer zitterte er, das sah Pia ganz deutlich von ihrem Platz neben ihm.
Eine Minute, vielleicht zwei ließ sie ihn einfach atmen, hoffte, er würde von selbst zur Ruhe kommen, aber er holte weiterhin hastig und gewaltsam Luft.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Keine Reaktion. Er hatte sich nicht auch nur einen Schritt bewegt, sah weiterhin starr hinaus, als sei er auf einer Observation.
»Möchtest du darüber sprechen?«
»Nein«, kam seine kategorische Antwort noch zeitgleich zu ihrem letzten Wort, seine Stimme war leise und trocken.
»Okay.« Sie folgte seinem Blick, sah ihn dann von der Seite an. Er war weit weg, das konnte sie an seinen Zügen ablesen, an der flachen Spiegelung des schwachen Lichts von draußen in seinen Augen. »Ich kann auch gehen, wenn es dir …«
Sein Kopfschütteln wischte ihre ungeborene Frage beiseite.
»Okay«, wisperte sie erneut und schlich zum Bett zurück. Während sie sich unter die Decke schob und sich wieder einrichtete, lag ihr Blick unausgesetzt auf ihm, bis er unter ihren Lidern verschwand. Sie wachte noch einmal auf, als die Matratze sich senkte. Mit dem Rücken zu ihr legte er sich mit kleinen Bewegungen zurecht, vom fahlen Licht beschienen, das auf ihn fiel, da er den Vorhang offen gelassen hatte. Bestimmt eine halbe, Dreiviertelstunde war vergangen, der Mond war gewandert. Adam anzufassen wagte Pia nicht, er lag jetzt ganz still, sein Nacken wirkte, ungeschützt, ohne den schwarzen Rollkragen, so schmal, am Morgen würde er steif vor Kälte sein, da Adam seine Decke nicht weiter als bis zur Taille hinaufgezogen hatte, das war Pias letzter Gedanke.
Der Wecker klingelte nur einmal, schon schaltete Adam ihn aus und glitt in einer Bewegung vom Liegen ins Sitzen und ins Stehen. Sie sah ihm nach, als er ins Bad ging, im gleichen Schritt, mit dem er sonst ihr Stockwerk auf dem Präsidium durchstreifte.
»Hast du eigentlich überhaupt noch geschlafen?« richtete sie dann doch das Wort an ihn, als die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss fiel und sie sich auf dem Weg zu ihren Autos trennten.
Er schenkte ihr ein verbissenes Lächeln und nickte einmal hastig, aber unter seinen Augen lagen noch ganz klar die Schatten der vergangenen Nacht.
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Kapitel 18 – Schattengestalten
19:53. Unter ihrem Kopfschütteln versackte ihr Seufzen sofort. Die Zucchinischeiben legte Pia als oberste Schicht in die Auflaufform, ließ einen Regen aus Käse darauf herabgehen. Wieder sah sie Adams Blick vor sich, den er zur Seite gewandt hatte, die Hände in die Seiten gestützt, einen tiefen, beinahe verzweifelten Atemzug nehmend. Und als sie gegen halb fünf bei Leo hereingeschneit war, hatte sie ihn allein vorgefunden. Sein Nicken hatte sie ihm vor allem an den Augen ablesen können, nachdem es ihm unter dem Kinn hängen geblieben war.
Adam war schon gegangen. Wie am Tag zuvor. Wie in der Woche zuvor. Wie vor Weihnachten.
Pia schob die Auflaufform in den Ofen, wischte sich die Hände ab und klaubte ihr Handy vom Tisch. Als sie auf das Sofa glitt, sprang ihr Manus Nachricht entgegen. Das isses – megageil! Sie tippte auf den Link. Bergpanorama durch die Fensterfront der Saunalandschaft, Palmen neben Dampfbädern.
Ein erneutes Seufzen konnte sie gerade noch unterdrücken, als sie das Display ausschaltete und ihr Smartphone auf den Couchtisch schlittern ließ. Sie hätte doch Adam dazu überreden sollen, den Wellnessgutschein für zwei, den er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, mit ihr einzulösen. Genau so hatte sie ihn verstanden, aber er hatte nur belustigt den Kopf geschüttelt, als sie die Buchung angesprochen hatte. Mach dir mal ‘nen schönen Tag mit ‘ner Freundin oder Lydi oder so, hatte er nur noch hinterhergeschoben. Gut, sie hätte es eigentlich besser wissen können. Adam war nicht der Spa-Typ. Dabei hatte er von allen, die sie kannte, eine Auszeit am allernötigsten.
So leise, dass sie sich im ersten Moment nicht sicher war, ob sie sich vielleicht geirrt hatte, klappte die Tür. Sie hob den Kopf, traf Adams Blick nur für eine Sekunde, bevor er sich zur Garderobe wandte und aus seinen Stiefeln schlüpfte.
»Hey.« Sie zog das Bein vom Sofa, ein wenig plump stand sie auf. »Du kommst spät. Wo warst du noch so lange?«
Er begann, den Schal von seinem Hals zu wickeln. Seine Augen gingen an ihr vorbei zum Wohnzimmer, huschten zur Küche, zurück zum Wohnzimmer, suchten den Weg zum Bad, zum Schlafzimmer. In ihr regte sich der Impuls, nach dem Griff seines Reißverschlusses zu fassen, hinter ihn zu treten, ihm den schweren, kalten Stoff von den Schultern zu streifen, aber etwas in seinen Augen, in seinen Bewegungen hielt sie davon ab. Als wisse er nicht genau, wie er seine Hand führen musste, strich er sich die Haare langsam hinter das Ohr, die sofort wieder nach vorn fielen, ein wenig steif vom Nebel und durcheinander.
»Komme ich dir ungelegen?«
Nun fasste sie doch nach seinem Arm. Er zuckte fort, worunter sein hastiges Kopfschütteln abriss. Seine Augen suchten seine Stiefel, von denen er den rechten mit dem Fuß aus seiner ein wenig diagonalen Position zur Kante des Schuhregals in die Gerade rückte, ordentlich neben den anderen. Für eine Sekunde hatte sie jedoch noch seinen Blick auffangen können, der sich mit scharfen Klauen in ihrer Brust festgekrallt hatte. Im mit einem Mal so schartigen Blau seiner Augen war das Raubtier aufgeflackert, das auf Beutestreifzug war.
»Adam – was ist los?«
Mit einer Beliebigkeit, die sie noch mehr in Unruhe versetzte als ohnehin schon, wandte er den Kopf, anstatt ein klares Kopfschütteln zur Antwort zu geben, und zog in einer nie an ihm beobachteten Bedächtigkeit den Reißverschluss seiner Jacke auf. Zäh streifte er den einen Ärmel ab. Eine scharfe Angst durchzuckte sie. Von der Seite konnte sie den Ausdruck in seinem Gesicht nicht vollständig lesen, aber Schmerzen schien er nicht zu haben, keine großen jedenfalls. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, seinen Bewegungen zurück, dem starren Stoff, den ausgebeulten Jackentaschen –
Da begriff sie.
Sie schnellte vor, zerrte den Reißverschluss auf und fasste hinein. Adam erhob nicht die geringste Gegenwehr, auch dann nicht, als sie die Schachtel hervorzog und in stummer Anklage zwischen sie hielt. Rohypnol sprang es sie in ernüchternder Sachlichkeit an, die Buchstaben im LED-Licht scharf aus dem weißen Karton springend.
Zu ihrer Überraschung wich Adam ihrem Blick nicht aus, sondern sah sie direkt an, als sie den Kopf hob. Die Reißzähne im leuchtenden Blau waren verschwunden, zurückgeblieben war nur diese Müdigkeit, gegen die es kein Mittel gab. Adam nahm ihr die Schachtel ab und begann, in der anderen Jackentasche zu kramen, die sich sperrte, bis er unter einigem Ruckeln zwei weitere Packungen hervorzog. Unter ihrem tiefen Atemzug sackte ihre Brust ab, ihr Blick verfolgte seine schöne Hand, die die drei Schachteln auf das Glasbord schob. Gestern erst hatte Leo nach Adams Kreislaufschwäche mit ihm darüber geredet, der Ausdruck seiner mit einem Mal so kalten Augen, sein Tonfall hatten keinen Zweifel daran gelassen, was er mit Adam zu besprechen gehabt hatte, als er sie hinausgebeten hatte – und trotzdem konnte Adam auf kein anderes Mittel verfallen?
»Wer vertickt dir das eigentlich?«
Gegen die Schärfe in ihrer Stimme, die sie so nicht beabsichtigt hatte, wirkte sein leises Lachen, mit dem er seine Jacke an die Kleiderstange hängte, entwaffnend resignativ. Er schleuderte sich die Haare aus der Stirn, die Kleiderbügel stießen mit einem industriell hohlen Klang aneinander, als er seine Jacke zurechtzog. »Ja klar – meinst du ernsthaft, ich verpfeif meine Quelle und bringe andere um das, was ihr Leben gerade noch so zusammenhält?«
Während er sich wieder zu ihr umwandte, schloss sie die Lücke zwischen ihnen. Er zog leicht den Kopf zurück. Der Ärger war schon fast ganz aus seinem Blick gewichen, zurückgeblieben war nur der Schimmer einer leisen Verletztheit. Sie ließ die Hände um seine gleiten, zog sie zwischen sich. Mit den Daumen auf seinen Handrücken versuchte sie zum tausendsten Mal vergeblich, gegen die Kälte seiner Haut anzustreicheln, mit dem Kopf wies sie in Richtung der Schachteln hinter sich. »Das Zeug hält dich nicht zusammen, es macht dich kaputt und – es wird dich langfristig umbringen, oder vielleicht auch kürzerfristig …«
Wieder lachte Adam, diesmal nur erstickt, doch schluckte der Laut, der sich seiner Kehle entwand, jedes weitere Wort, das sich auf ihrer Zunge bilden wollte. »Natürlich.« Halbherzig versuchte er, sich ihrem leichten Griff zu entziehen, und gab sofort nach, als sie ihn umarmte. Sie legte den Kopf an seine Brust, schloss die Augen. Sein Duft umschmeichelte sie, warm und schwer, mit der Linken zeichnete sie die Kante seiner Schulter nach. Er wusste nichts mit ihren Berührungen anzufangen, stand so verloren vor ihr wie eine einsame Lärche in einem Regenguss.
Ja, sie hätte schon viel früher regelmäßig nach ihm sehen müssen. Er brauchte es einfach, dass sich jemand um ihn kümmerte, was er selbst nicht vermochte. Das Einzige, wozu er fähig war, war das Aufrechterhalten der Grundfunktionen seines Körpers, so wie man dafür sorgte, den Mechanismus einer Maschine in Gang zu halten. Mehr ging bei ihm nicht, und das Wenige, was er sich selbst zugestand, steckte er zuletzt auch noch in die Arbeit und noch so viel mehr, sodass er in eine vollkommene Schieflage im Verhältnis zu sich selbst geraten war. Der Waagebalken stand schon längst senkrecht, kratzte seit einiger Zeit schwer am Umkehrpunkt.
Langsam ließ sie die Hand seinen Oberarm hinab- und wieder hinaufgleiten, hinab und hinauf. Anders als heute Mittag noch spürte sie ihn kaum atmen. Sein Körper war überraschend warm, ohne überhitzt zu sein, aber er war hart, gab nicht nach, als sie sich auf seine Seite hinüberstreichelte.
»Nimm heute keine, ja?«
In einer seltsam steifen Aufmerksamkeit wartete er noch auf weitere Worte von ihrer Seite, zeigte mit keiner Reaktion, was er von ihrer Bitte hielt. Sogar als sie sich hochschob und ihre Wange an seine legte, verharrte er reglos.
»Tu es für mich«, flüsterte sie.
Den ganzen restlichen Abend über war Adam ihr ausgewichen. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sich zum Abendessen zu ihr zu setzen, auf ihre Frage, ob er Hunger hatte, noch nicht einmal von seinem Laptop aufgesehen, den er auf den Knien gehalten hatte in seiner zurückgelehnten Positur auf dem Sofa. Er hatte nur eine vage Drehung mit dem Kopf vollzogen, die er stumm wiederholt hatte, als sie ihrerseits ihren Laptop auf den Tisch gestellt, eine französische Komödie ausgewählt und ihn gefragt hatte: »Möchtest du mitschauen?« Sie hatte also ihre Ohrhörer herausgezogen und Adam weitertippen lassen, bis er seinen Laptop kommentarlos zugeklappt hatte und einfach verschwunden war.
Jetzt kroch sie zu ihm ins Bett, legte sich zuerst auf den Rücken, um ihn nicht zu bedrängen. Hatte er zunächst von der Tür abgewandt gelegen, so hatte er sich sofort umgedreht, als sie auf ihre Bettseite gegangen war. Über den Widerstand seines Körpers zog sie die Decke zu sich. Seine Atemzüge stießen sich weiter stumpf am Kissen vor seinem Gesicht, sonst war von seiner Seite nichts zu hören. Vollkommen reglos lag er da, hielt ihr auch weiterhin den Rücken zugekehrt. Sie versuchte, gegen seine Anspannung anzuatmen, kam aber nicht gegen sein hartes, flaches Luftholen an.
Seitdem sie ihre Bitte an ihn gerichtet hatte, hatte er kein Wort mehr gesagt, und so sehr sie auch gelauscht hatte, was er natürlich bestimmt gewusst hatte, da war kein Geräusch, kein Knistern gewesen, das ihn verraten hätte. Dabei hätte sie sich ihren Spionageeinsatz sparen können. Die düstere Verbissenheit, die von ihm ausging, sprach für sich. Er hatte nichts genommen, darauf konnte sie sich festlegen, das fühlte man ihm an.
Ihre Hand streckte sie zuerst zwischen sie, dann wandte sie den Kopf zur Seite, zog mit den Augen seine dunkle Kontur nach.
»Komm.«
Er regte sich lange nicht. Sie überlegte sich gerade, sich doch zu ihm zu drehen, da wandte er sich in einer fließenden Bewegung auf den Rücken und dann, langsamer, ihr zu.
»Komm her«, wisperte sie erneut.
Er fügte sich nur sperrig, hielt so viel Abstand zwischen ihnen, dass ihre Hand, die sie unter seinem Nacken hindurchgeführt hatte, gerade seinen Hinterkopf erreichte.
»Lydi hat mich heute angerufen. Sie bildet sich ein, jetzt unbedingt Klarinette lernen zu müssen – kannst du dir das vorstellen?« Sie musste leise auflachen. »Dabei sind wir alle in meiner Familie das Unmusikalischste, was auf Gottes Erdboden herumläuft.« Ihre Fingerspitzen zogen beharrlich langsam seine weichen Haarsträhnen nach. »Hab ich dir schon einmal von meinen musikalischen Meilensteinen in der Grundschule erzählt?« Mit annähernd hundertprozentiger Sicherheit wusste sie, dass sie das nicht getan hatte, aber von Adam erreichte sie ohnehin keine Reaktion. Es war, als brauche er jetzt gar nicht mehr Luft zu holen. Sie widerstand der Versuchung, auf seine Atemzüge zu lauschen, und erzählte einfach weiter. »Ich war sogar beim Singen in meiner ganz normalen Klasse so schlecht, dass meine Lehrerin mich herausgeholt hat mit dem Vorwand, dass sie mich unbedingt zum Umblättern braucht. Es war ein bisschen wie mit diesem total unfähigen Schüler aus diesem französischen Chorfilm mit Waisenhauskindern, den der Musiklehrer als Notenpult missbraucht. Hast du den auch gesehen? Das war damals voll der Hype.«
Zu spät fiel ihr ein, dass Adam in seiner Jugend vermutlich nicht allzu oft im Kino gewesen war und zu Hause wahrscheinlich noch weniger Filme hatte ansehen dürfen. Aber gerade war es bei ihm ohnehin ein wenig wie bei einem verängstigten Hund: Es war vollkommen gleich, was sie sagte, die Hauptsache war, das Gefühl, das sie in ihre Worte legte, langte bei ihm an. Immerhin hatte sie ihn schon ein unwesentliches und für sie doch ganz bedeutendes Stück weiter zu sich ziehen können. Nun konnte sie ihm bereits mit sehr luftiger Hand über den oberen Rücken streicheln. Auch dass sie die andere Hand auf seinen Arm legte, ihn wenige Zentimeter entlangfuhr, ließ er über sich ergehen.
»Und Manu will plötzlich einen Bachata-Kurs belegen. Aber gut, wenigstens nicht Ballett.« Sie fasste Adam um die Schulter, kippte seinen Körper ganz leicht zu sich, sodass er ein klein wenig auf ihr zu liegen kam, als sie sich wieder auf den Rücken wandte. »Keine Ahnung, welcher musikalische Geist zurzeit in der Luft liegt.« Unwillkürlich hielt sie die Luft an, ihre Hand hatte den Rand seines T-Shirt-Ärmels erreicht und streichelte sich auf seine glatte Haut hinüber. Er war warm, aber wie immer, wenn er nicht gerade Fieber hatte oder wirklich einmal einige Zeit im vollsten Tiefschlaf gelegen hatte, wirkte er ein bisschen ausgekühlt. »Am Ende lerne ich noch Harfe oder Tuba, was meinst du?« Seine Hand war steif, als sie danach fasste, und natürlich kalt, wenn auch nicht so eisig wie sonst. Sie schob den Arm unter seinem Nacken langsam ein wenig weiter, schloss die Hand um seine Schulter und drehte ihn noch weiter auf sich, während sie seine Hand auf ihren Bauch zog, wo sie seine Finger flächig ausstrich. Durch den Stoff ihres Pyjamaoberteils drang seine Kälte, beharrlich ließ sie ihre Hand wieder und wieder über seine gleiten, hoffte, Wärme zwischen ihnen zu verbreiten.
»Du hättest auch ein Mitspracherecht, was ich lerne, schließlich müsste ich bestimmt auch mal hier üben.«
Doch natürlich sagte er nichts, und auch sie sprach immer weniger und weniger, in dem Maße, wie sie ihn sehr langsam wegdämmern fühlte. Mit seinem Bewusstsein schwand sein Widerwille, ihre Berührungen zuzulassen, weicher und weicher wurde sein Körper. Pia lächelte ein wenig in den Kuss hinein, den sie ihm irgendwann auf die Stirn hauchte. Sie konnte gar nicht mehr festmachen, wann er damit begonnen hatte, die Jeans zu Hause auch einmal gegen eine Trainingshose zu tauschen. Vielleicht fing er ja doch allmählich an, anzukommen.
Behutsam nahm sie ihre Hand von seiner, näherte sie langsam seinem Gesicht. Er schrak nicht zurück, zeigte auch sonst keine Reaktion, als sie ihm mit den Fingerspitzen über die Stirn strich, die Knöchel über seine Wange gleiten ließ. In einer federleichten Berührung führte sie ihre Hand über seine Rippen, legte sie in der tiefen Senke seiner Taille ab. Als Adam den Kopf ein wenig drehte, fühlte sie den langen, tiefen Rhythmus, der sich unter ihrer Hand vollzog, auch über ihr Dekolleté wehen. Er war eingeschlafen.
Pia hauchte einen Kuss in sein Haar, dann schob sie den Kopf näher an seinen und wartete darauf, dass ihr Atem in seinen einfallen würde.
Die geriffelten Sohlen ihrer Crocs scharrten über den Kies, vergeblich versuchte sie, sich den Plan einzuprägen. Woher hatten die ganzen in die ultimativen Trekkingklamotten gewandeten, übermotorisierten Rentner die Handzettel mit Karte? Das musste sie beim Eingang zum Naturschutzgebiet an diesem Kiosk übersehen haben. Also zurück, da half nichts. Seltsam, vorher war ihr der Weg mindestens doppelt so lang vorgekommen. Aber wenn sie schon hier war, konnte sie sich auch gleich bei den Büchern und Geschenkartikeln umsehen, vielleicht fand sie ja etwas für Lydi oder Manu oder ein Mitbringsel zur Erinnerung an ihre Wanderung hier, das sie auch irgendwie brauchen konnte. Tatsächlich, da war ein Metallic-Taschenkalender in Tannengrün, bei der Post waren die um diese Jahreszeit immer schon ausverkauft. Als sie ihn aufblätterte, fand sie ihren Namen darin – warum stand er dort? Ach richtig, sie hatte ihn ja vor einiger Zeit verloren. Und jetzt –
Sie schrak zusammen, als ein Ruck durch ihren Körper fuhr. Die Gedanken noch halb im fröhlichen Blattgrün des Laubwaldes, in den Ohren noch das muntere Geplapper der Ladeninhaberin, hörte sie ihre schlaftrunkene Stimme in einer Übelkeit erregenden Alarmbereitschaft. »Adam – hey!«
Nur sein viel zu schneller Atem antwortete ihr, gab ihr Orientierung. Sie setzte sich auf, wandte sich zur Seite, da hörte sie am Rascheln des Lakens, dass Adam sich von ihr fortschob.
»Adam –«
Mit der in der Luft herumtastenden Hand erwischte sie ihn an der Schulter. Sofort streifte er sie mit einer festen, bestimmten Bewegung ab. Im schwachen Licht, das von der Straßenlaterne draußen hereinfiel, sah sie ihn aufspringen, unter seinem unsicheren Schritt stolpern.
»Hey – pass auf!«
Sie schlug die Decke zurück, eilte um das Bett herum, doch war Adam nicht so weit gekommen, wie sie gedacht hatte. Er hatte sich vielmehr an das schmale Stück Wand neben dem Schrank zurückgezogen. Dort lehnte er auf eine Hand gestützt und starrte die leere Fläche an. Sein Atem kam und ging schwer und zittrig, hörte sich näher an, als die Entfernung es erklären konnte. Sie blieb einige Schritte hinter ihm stehen, beobachtete ihn, wartete. An den Schultern hob sich sein weißes T-Shirt kaum von der schneeigen Fläche ab. Für einen Augenblick überlegte sie, das Licht einzuschalten, vielleicht würde es ihm ja helfen – vielleicht würde es ihn aber nur weiter in den düsteren, ihn verschlucken wollenden Strudel hinunterreißen, in dem er gerade darum kämpfte, den Kopf über die dunklen Fluten zu halten. Wer wusste das schon, sie und er am allerwenigsten.
Im Bann der Bilder gefangen, die durch sein Inneres jagten, beruhigte sein Atem sich keineswegs, sondern wurde nur noch abgehackter, rauer, beschleunigte sich, stolperte, bis er in einen trockenen, sich überschlagenden Husten ausbrach.
»Ich komm jetzt zu dir Adam, ja?« versuchte sie trotzdem, klar und bestimmt zu ihm durchzudringen. Sie wusste nicht, ob er sie gehört hatte, nichts deutete darauf hin, keine Bewegung, keine Änderung der Körperhaltung. Zwei Schritte nur ging sie zu ihm, streckte die Hand aus und streifte mit den Fingerspitzen seinen Arm.
»Es ist alles gut, Adam, es ist nichts passiert.«
Er ließ es geschehen, zuckte nicht weg, schrak nicht zurück, da machte sie noch einen Schritt auf ihn zu, legte ihm die Hand flächig an den Arm. Sie fühlte ihn zittern, schwanken, beben.
»Alles gut, Adam, es ist alles okay. Es war nur ein Traum.«
Ihre Berührung duldete er auch weiterhin, da begann sie, ihn zu streicheln, ganz leicht nur, langsam. Seine Muskeln waren eisenhart angespannt, ließen sich von ihrem Darübergleiten nicht erweichen. Sein Atem kam und ging noch immer beinahe hechelnd. Wie gern hätte sie sich an ihn geschmiegt, vorsichtig die Arme um seinen Bauch geschlungen. Ihre Linke, die sich tastend auf seinen Oberarm schlich, schüttelte er auch nicht ab, da wagte sie es, ihn ein wenig zu sich zu ziehen, fort von der kalten, nackten Wand, um ihn zu sich umzuwenden.
»Komm her, alles gut.«
Als habe es ihm einen elektrischen Schlag versetzt, schnellte er unter ihren Händen herum, die Augen starr zu Boden gerichtete. Er verschränkte die Arme und zog sie so dicht wie möglich an seine Brust, sehr gleichmäßig wich er zur Wand zurück, drückte sich fest daran. Schwer atmete sein Körper gegen den unnachgiebigen Widerstand hinter sich an, einige wenige Male nur, dann stieß Adam sich ab. Das farblose Straßenlaternenlicht arbeitete die Gequältheit auf seinen Zügen plastisch heraus. Pia wollte ihn aufhalten, ihn umfassen, ihn an sich drücken, aber sie ließ ihn ziehen, blieb einfach an dem Ort stehen, den er ihr zugewiesen hatte.
Die Bettfedern quietschten, als sie auf die Matratze niedersank, die Hände im Schoß verschränkt. Lange rauschte der Wasserhahn, das hektische Versprengen von Tropfen drängte sich durch den finster liegenden Flur zu ihr herein. Irgendwann verstummte das leise Brummen der Leitung, sie lauschte, doch nichts regte sich mehr. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Adam plötzlich durch den Türrahmen schlich, die Füße lautlos wie immer, doch noch ein wenig unsicher den einen vor den anderen setzend. Sofort sprang sie auf, machte einen kleinen Schritt in seine Richtung und folgte ihm, als er einfach an ihr vorbei zum Fenster ging. Mit einem entschlossenen Griff zog er den Vorhang beiseite, genau wie damals, als sie zum ersten Mal hier bei ihm übernachtet hatte und er aus seinem Albtraum aufgeschreckt war, nur lehnte er sich diesmal nicht gegen das Glas und schloss die Augen, sondern er starrte unbewegt in die Nacht hinaus, die Arme eng um sich geschlungen. Noch immer zitterte er, das sah Pia ganz deutlich von ihrem Platz neben ihm.
Eine Minute, vielleicht zwei ließ sie ihn einfach atmen, hoffte, er würde von selbst zur Ruhe kommen, aber er holte weiterhin hastig und gewaltsam Luft.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Keine Reaktion. Er hatte sich nicht auch nur einen Schritt bewegt, sah weiterhin starr hinaus, als sei er auf einer Observation.
»Möchtest du darüber sprechen?«
»Nein«, kam seine kategorische Antwort noch zeitgleich zu ihrem letzten Wort, seine Stimme war leise und trocken.
»Okay.« Sie folgte seinem Blick, sah ihn dann von der Seite an. Er war weit weg, das konnte sie an seinen Zügen ablesen, an der flachen Spiegelung des schwachen Lichts von draußen in seinen Augen. »Ich kann auch gehen, wenn es dir …«
Sein Kopfschütteln wischte ihre ungeborene Frage beiseite.
»Okay«, wisperte sie erneut und schlich zum Bett zurück. Während sie sich unter die Decke schob und sich wieder einrichtete, lag ihr Blick unausgesetzt auf ihm, bis er unter ihren Lidern verschwand. Sie wachte noch einmal auf, als die Matratze sich senkte. Mit dem Rücken zu ihr legte er sich mit kleinen Bewegungen zurecht, vom fahlen Licht beschienen, das auf ihn fiel, da er den Vorhang offen gelassen hatte. Bestimmt eine halbe, Dreiviertelstunde war vergangen, der Mond war gewandert. Adam anzufassen wagte Pia nicht, er lag jetzt ganz still, sein Nacken wirkte, ungeschützt, ohne den schwarzen Rollkragen, so schmal, am Morgen würde er steif vor Kälte sein, da Adam seine Decke nicht weiter als bis zur Taille hinaufgezogen hatte, das war Pias letzter Gedanke.
Der Wecker klingelte nur einmal, schon schaltete Adam ihn aus und glitt in einer Bewegung vom Liegen ins Sitzen und ins Stehen. Sie sah ihm nach, als er ins Bad ging, im gleichen Schritt, mit dem er sonst ihr Stockwerk auf dem Präsidium durchstreifte.
»Hast du eigentlich überhaupt noch geschlafen?« richtete sie dann doch das Wort an ihn, als die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss fiel und sie sich auf dem Weg zu ihren Autos trennten.
Er schenkte ihr ein verbissenes Lächeln und nickte einmal hastig, aber unter seinen Augen lagen noch ganz klar die Schatten der vergangenen Nacht.