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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
14.10.2022 3.868
 
Nach einiger Zeit melde ich mich nun doch wieder mit einem neuen Kapitel zurück. Vorsicht, meine Lieben, passt auf Euch auf, es wird eine sehr unschöne Art des Sterbens beschrieben.
      Trotzdem viel Vergnügen beim Lesen und einen guten Wochenausklang wünsche ich Euch!
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Kapitel 15 – Grenzgang

Es gab keinen Unterschied zwischen Leben und Tod, nicht an diesem Tag, nicht in diesem Keller. Keiner von ihnen sagte etwas. Sie nicht, weil sie nie Spuren und Hoffnungen für die Ermittlungen vortäuschte, wo keine waren. Herr Schürk nicht, weil er das sowieso nie tat. Herr Hölzer nicht, weil selbst ihm keine treffenden und weiterführenden Fragen mehr einfielen.
      Sie hörte ihn neben sich schwer ausatmen. »Ja, dann … vielen Dank erst mal, Frau Wenzel. Wir melden uns, falls uns – « Unter dem Handyklingeln, ganz neutral im offiziellen Charakter, verebbten seine leisen Worte. Er streifte mit einem raschen Blick das Display, bevor er wieder sie ansah. »Meine Schwester – Entschuldigung. Meine Mutter hatte eine kleine OP … bin gleich zurück.«
      »In aller Ruhe«, schickte sie hinterher, traf aber nur noch die Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel. Sofort breitete sie sich wieder aus, diese verdammte Stille. »Eine schlimme Sache«, wandte sie sich an den Toten, der kaum mehr als solcher zu erkennen war. Es schnalzte pietätlos, als sie sich die Handschuhe auszog, das Desinfektionsmittel brannte an den Kälterissen auf dem Handrücken, zwischen den Fingern. »Ich wüsste nur zu gern – ich meine … Wie kommt man überhaupt auf eine solche Idee? Schon bei einer Racheaktion ist das doch … das Unmenschlichste, was man tun kann, aber so … frei aus dem Blauen heraus – und das jetzt schon zum zweiten Mal.« Sie hob die Schultern, gleichsam als Entschuldigung für das Eindringen in das Revier der beiden Kommissare durch das Hochkochen unbegründeter Spekulationen.
      Der Computer ließ ein leises Ping hören, als sie die Kamera ansteckte. Der Balken wuchs zäh an, während die Fotos herübergeladen wurden, um die Herr Hölzer sie noch einmal in vergrößerter und hochauflösender Form gebeten hatte. Hinter dem, was einmal das Ohr des Toten gewesen war, war ihm eine zirkuläre, nicht versengte Stelle aufgefallen. Ein Zufall, wenn man sie fragte, eine unvollständige Verbrennung aufgrund der geschützten Lage so dicht am Kopf oder ein Rückstand eines Ohrsteckers wegen. Aber sie würde den Teufel tun und ihm etwas vorenthalten, um das er sie ersucht hatte.
      Auch wenn das dem weiblichen Teil des Teams sicherlich sauer aufgestoßen hätte, weil die beiden Hauptkommissarinnen einen Narren an Herrn Grösig gefressen hatten: Sie freute sich noch immer, dass die Ermittlungsleitung Herrn Hölzer übertragen worden war, und das nicht nur um seinetwillen. Die Zusammenarbeit gestaltete sich seither sehr viel reibungsloser. Der junge Kommissar behandelte sie nicht von irgendwo weiter oben herab, ja eigentlich noch nicht einmal auf Augenhöhe, sondern er hatte sie auf ein Podest gestellt, von dem bisher niemand sie wieder herunterzustoßen gewagt hatte. Auch Frau Baumann und Frau Heinrich schlugen seit dem Postenwechsel einen ausnehmend freundlichen Tonfall an. Und Herr Hölzer selbst war sich nie zu gut gewesen, immer sofort, ganz gleich zu welcher Uhrzeit, zu ihr zu fahren, und hatte sich nicht erst nach Ablauf einer bestimmten Wartezeit die Gnade gegeben, wie Herr Grösig es in den meisten Fällen zu tun gepflegt hatte, was Jutta zuerst aufgefallen war. Ja, ja, ein fähiges Mädchen, wie sie sich und allen, die es interessierte oder auch nicht, immer wieder sagte. Sie und Herr Hölzer hätten ein schönes Paar abgegeben, und im Stillen hoffte sie ja immer noch, dass er irgendwann einmal auf ihr unmissverständliches Stupsen in diese Richtung anspringen würde. Vielleicht sollte sie einmal zufällig beschäftigt sein, wenn er wieder anrief, und Jutta abnehmen lassen – aber das ging sie nun wirklich nichts an.  
      Sie musste lächeln, während sie das Kabel abzog und zusammenrollte. Eigentlich hatte sie schon bei seinem Dienstantritt im Gefühl gehabt, dass die wirkliche Stärke des Teams in Herrn Hölzer verborgen lag, diesem freundlichen, schüchternen und so jungen Kommissar, der sie sofort, als Herr Grösig ihn ihr vorgestellt hatte, für sie eingenommen hatte, und das nicht nur, weil er ein verflucht hübscher Bursche war. In ihren Augen war er bereits jetzt, nach noch nicht einmal ganz einem Jahr, der beste Ermittlungsleiter, mit dem sie bisher zu tun gehabt hatte, und das waren nicht wenige gewesen. Seine Auffassungsgabe, seine Korrektheit, seine Umsicht, sein manchmal schülerhafter Fleiß zeichneten ihn vor allen anderen aus. Allerdings vergaß er nur allzu oft sich selbst, schien ihr, wenn sie sich seine Augenschatten so ansah.
      Da hielt sie inne, hob den Kopf und wandte sich um. Tatsächlich. Herr Schürk stand noch an genau demselben Ort, an dem er sich positioniert hatte, nachdem sie ihn und Herrn Hölzer zu ihrem neuesten Fundstück geführt hatte, auf das ein Spaziergänger im Park gestoßen war, nur diesmal nicht auf einer Bank zurückgelassen, sondern in der Säulenhalle, deren eigentlicher Zweck sich ihr nie erschlossen hatte. Das war gerade allerdings bestimmt Herrn Schürks geringstes Problem. Seine Eisaugen lagen unbewegt auf dem schwarz verbrannten Fleisch, schienen aus dem verkohlten Kadaver herauspressen zu wollen, wer ihm das angetan hatte und warum.
      Noch immer wurde sie nicht recht schlau aus ihm. Es war eine ganz andere Art der Zusammenarbeit, nicht nur zwischen ihr und dem Team, seitdem Herr Schürk dazugestoßen war, sondern besonders zwischen den beiden Kommissaren. Deutlich schweigsamer gingen sie gemeinsam vor, früher schienen mehr Worte nötig gewesen zu sein, was daran gelegen hatte, dass Herr Grösig so ziemlich das genaue Gegenteil von Herrn Schürk gewesen war. Gut zehn Monate war er nun schon hier im Dienst, davon offenbar einige Zeit im Krankenstand, nach dem zu schließen, was Herr Hölzer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen hatte, als die beiden Kommissare vor Weihnachten hier angerückt waren mit Herrn Schürks ordentlich blutendem Arm. Er war immer so wortkarg, wenn er bei den Leichenschauen dabei war, dass es ihr, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, erst im Rückblick aufgefallen war, dass Herr Hölzer einige Zeit lang allein hier bei ihr aufgetaucht war. Im Frühjahr und Sommer musste das gewesen sein.
      Ja, unauffällig war er immer, der Herr Schürk, aber heute war es ihm gelungen, sich beinahe gänzlich unsichtbar zu machen, da er diesmal, anders als sonst, keine Kreise um die Leiche gezogen hatte. Wie er manchmal die Eigenart hatte, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen, so konnte er sich offenbar auch dorthinein zurückziehen, wenn er es darauf anlegte, da konnte man durchaus mitunter auf den Gedanken verfallen, er sei nicht als Kommissar, sondern als Geheimdienstler tätig. Seine Gesichtsfarbe allerdings erregte ihre Aufmerksamkeit.
      »Herr Schürk?«
      Die Hände wie immer in den Jackentaschen vergraben, starrte er weiterhin reglos auf die Leiche hinab. Sein Haar hing ihm schlapp und stumpf in die Stirn, seine Augen waren rot gerändert, darunter lagen dieselben tiefen Schatten wie vor Weihnachten. Mit Herrn Hölzer und Frau Heinrich war er hier aufgeschlagen, die jungen Leute hatten schwer an ihre rührselige Seite appelliert, denn zum Dank für die Zusammenarbeit im vergangenen Jahr hatten sie ihr eine Flasche Veuve Clicquot überreicht. Herr Schürk hatte sich zwar so gegeben, als sei er nur durch Zufall dabei gewesen, doch aus der beigelegten Karte, die seiner Unterschrift nach er geschrieben hatte, war klar hervorgegangen, dass das ganze Vorhaben seinem Vorstoß entsprungen war. Sorgfältig zugeklebt war sie gewesen, offenbar hatte er ihrer direkten Reaktion auf seine Zeilen in seiner Gegenwart entgehen wollen. Auch jetzt noch hätte sie beinahe über seine Worte in seiner kleinen, akribischen Schrift gelächelt, die sie so hinter seiner Person nicht vermutet hätte, die jedoch hervorragend zu ihm passte. Im Schriftverkehr war er beinahe gesprächiger als in natura, in seinem etwas steif-formellen Tonfall auf eine befremdliche Art sogar charmant.
      Wie er hier in Gesellschaft des Toten stand, gefiel er ihr jedoch ganz und gar nicht. Er schien jetzt nicht einmal mehr Luft zu holen, aber das machte die dicke Jacke. Als sie sich ihm näherte und daran vorbeischielte, sah sie seine Brust zittern.
      »Herr Schürk?«
      Er atmete viel zu schnell, war wieder in dieser Starre gefangen, wenn auch bei Weitem noch nicht so schlimm wie damals bei diesem armen, jungen Ding, das seinem Leben mit einem Gürtel um den Hals selbst ein Ende bereitet hatte, und das war auch gut so. Sie legte nämlich keinerlei Wert darauf, dass der junge Kommissar sich hier doch irgendwann noch, wenigstens der Körperhaltung und -spannung nach, in die Reihe der Menschen auf ihrem Tisch eingliederte. Vielleicht sollte sie Herrn Hölzer gegenüber einmal vorsichtig andeuten, dass sie seinen Partner in einem solchen Zustand nicht mehr hier sehen wollte. Um Sie ging’s ihr dabei nicht, mit leblosen Körpern hatte sie ja Erfahrung, und wenn man einen davon wiedererwecken konnte, und noch dazu den eines so gut aussehenden jungen Kommissars, dann war das auch einmal etwas anderes. Aber die Anblicke, die sich einem hier boten, überstrapazierten Herrn Schürk, das sah sie ihm an, und dies noch einmal mehr, als sie noch einen Schritt näher zu ihm trat. Sein ganzer Körper bebte leise, die Strähne in seiner Stirn zitterte.
      Sie fragte sich, was genau ihn in diesen Zustand verfallen ließ, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Jetzt galt es erst einmal, ihn aus dem herauszuholen, was ihn so stark bedrängte, seine Schlingen um ihn legte und zuzog, immer fester und fester, bis ihm die Luft wegbleiben und er ihr doch noch umkippen würde.
      »Herr Schürk!« Sie wusste nicht, ob er mehr unter ihrer deutlich vehementeren Ansprache in seiner unmittelbaren Nähe oder unter ihrer Berührung zusammenfuhr, jedenfalls wich er überstürzt einen großen Schritt zurück von ihr, die zu ihm getreten war und ihm die Hand an den Arm gelegt hatte. Er krachte gegen den Tisch in seinem Rücken, versicherte sich mit einem hektischen Blick, dass nichts zu Bruch gegangen war, bevor er sich wieder ihr zuwandte und erneut in vollkommene Bewegungslosigkeit verfiel. Aus großen, ängstlichen Augen starrte er sie an, als wisse er nicht, wo er sich befand, als sei sein persönlicher Albtraum Wirklichkeit geworden. Das intensive Blau sprach eine Seite in ihr an, die ihr so nicht bewusst gewesen war und von der sie nicht genau wusste, was und wie sie war, aber der glasige Ausdruck seiner Augen ließ ihre Gedanken nicht davonziehen. Hier wirtschaftete sich einer herunter, ganz klar.
      »Entschuldigen Sie, Herr Schürk«, sprach sie ihn leise an und behielt ihn fest im Blick. »Ich wollte Sie nicht erschrecken – ich habe auch schon ein paarmal Ihren Namen gesagt.« Seine Augen verfolgten sie weiterhin in einer gelähmten Furchtsamkeit, während sie langsam und vorsichtig näherkam, sprangen zu ihrer Hand, die sie ihm erneut auf den Arm legte, dann sofort zu ihr, als sie weitersprach. »Herr Schürk – falls Sie Hilfe brauchen …« Sie tastete sich vor, suchte nach Worten. »Ich kenne ein paar Leute, die … Ich meine – wenn Sie … um von dem Zeug wegzukommen, das ich in Ihrem Urin gefunden habe.«
      Jetzt war es heraus. Sofort stellte sein Körper das Zittern ein, er atmete gar nicht mehr. Man hätte ihn für eine Fotografie halten können, hätten sich seine Augen nicht noch mehr geweitet, was sie nicht für möglich gehalten hätte. Ihr sank das Herz. Also hatte sie mit ihrer Mutmaßung voll ins Schwarze getroffen. Hatte sie damals, nachdem Herr Schürk mit lädiertem Gesicht bei ihr aufgekreuzt war und um einen Urintest gebeten hatte, im Telefongespräch mit Herrn Hölzer noch halb scherzhaft, halb ernst gemeint, sie könnten von Glück reden, dass sein Partner im Hinblick auf Alkohol gut im Training sei, so offenbarte sich der Wahrheitsgehalt ihrer Worte nun ein gutes Vierteljahr später umso mehr. Sie wollte sich nicht ausmalen, was hätte geschehen können, wäre Herr Schürk nicht an Flunitrazepam und Alkohol gewöhnt gewesen oder es hätte stattdessen Herrn Hölzer erwischt, wobei er ja immerhin über deutlich mehr beim Abbau gleich welcher Substanzen hilfreiche Muskelmasse verfügte als Herr Schürk, der sich jetzt sehr langsam rückwärts in Richtung Tür von ihr entfernte. Sie folgte ihm in dichtem Abstand, diesmal zuckte er nicht einmal zurück, als sie ihm die Hand an den Arm legte. Schon wieder war er so verflucht blass. »Herr Schürk – setzen Sie sich vielleicht mal einen Augenblick hin, dann können wir ganz in Ruhe sehen, wie …«      
      Dass die Tür aufschwang und ein müde, aber breit lächelnder Herr Hölzer ihren Keller stürmte, schnitt ihren Vorstoß mitten hindurch.
      »So, Entschuldigung – alles gut gelaufen«, hörte sie ihn hinter sich sagen, während sie zu ihrem Schreibtisch eilte und geschäftig ihren Block an sich nahm.
      »Mhm«, murmelte sie eine Zustimmung, bevor sie sich umwandte und ihm ein sicherlich verkrampftes Lächeln schenkte. »Das freut mich.«
      Der Dilettantismus ihrer Inszenierung fiel aber ohnehin nicht weiter ins Gewicht, denn natürlich hatte Herr Hölzer sofort erkannt, was seiner Aufmerksamkeit mehr bedurfte. Sein Blick lag forschend auf seinem Partner, der mit verschränkten Armen neben der Tür stand und stur zu Boden sah. Mit ein wenig umwölkter Stirn, was auch sein Geschäftslächeln und -nicken nicht übertünchen konnten, drehte er den Kopf nach ihr, wandte sich aber mehr an den Toten als an sie.
      »Gut, Frau Wenzel, dann – vielen Dank so weit. Bei weiteren Fragen würden wir uns melden, ja?«
      Er war in ihr Theaterstück eingestiegen, sie blieb in der Rolle und nickte auf seine beinahe gleichen Worte wie vorhin. »Wie immer, Herr Hölzer – Herr Schürk.«
      Schon waren die beiden jungen Kommissare zur Tür hinaus. Für einige Minuten kramte sie in ihren Unterlagen, ohne damit etwas zu bezwecken, in ihrer Magengrube toste ein kleiner Sturm. Die ganze Zeit über sah sie Herrn Schürk vor sich, wie er aus ihrem Keller gehastet war: den Kopf gesenkt, resigniert, eingeknickt. Gerade das hatte sie vermeiden wollen, dass er sich unter Beobachtung fühlte, einer Erpressung ausgesetzt sah. Ihm eine helfende Hand zu reichen, die ihn aus der Spirale hätte ziehen oder an der er sich selbst hätte hinausmanövrieren können, war ihr Antrieb gewesen, dies hinüberzubringen, misslungen. Es entbehrte nicht einer gewissen Wahrheit, was der knochentrockene Professor Steinlieb ihnen bei Antritt ihrer Spezialisierung prophezeit hatte: Anders als alle anderen Ärzte begruben sie das Einfühlungsvermögen mit ihrem ersten Fall.
      Wenige Minuten später trieb es sie die Treppe hinauf. Mehr um sich zu beschäftigen, als weil sie wirklich Bedarf an Koffein gehabt hätte, suchte sie die Kaffeemaschine auf, unterbrach sich aber sofort in ihrem Vorhaben. Auf dem Parkplatz standen die beiden jungen Kommissare, von denen sie angenommen hatte, sie seien schon längst ins Präsidium zurückgekehrt. Ganz offenbar waren sie in einer Meinungsverschiedenheit begriffen. Herrn Schürks lange Finger gruben sich in seine Brust, schlugen gleich darauf anklagend nach Herrn Hölzer aus. Sein Gesicht war so vor Zorn verzerrt, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihn erkannt hätte, wäre sie ihm an einem anderen Ort begegnet. Herr Hölzer verharrte ruhig, schüttelte dann den Kopf, es wirkte auf eine in dieser Situation beinahe unpassende Art sanft. Übergangslos schloss er die Lücke zu Herrn Schürk und umarmte ihn, doch entzog sich sein Partner ihm mit einer ihr unverständlichen Schnelligkeit. Er rammte sich die Hände in die Seiten, sog die Luft in großen Zügen ein, wie sie am gewaltsamen Heben seiner Schultern ablesen konnte. Nun war stimmig, was davor eigenartig angemutet hatte, da der Inhalt der Anschuldigungen, Vorwürfe oder was auch immer die Kommissare ausgetauscht hatten, nicht durch die dicht schließenden Türen bis zu ihr gedrungen war. Jetzt war die Interaktion zwischen den beiden tatsächlich auf ihr Mienenspiel und ihre Bewegungen reduziert, denn sie wechselten kein Wort mehr. Mit den Zigaretten schüttelte Herr Schürk auch sein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, es kam auf dem Boden zwischen ihnen auf. Wie Herr Hölzer sich seinem Partner näherte, um es ihm zu reichen, erinnerte er sie an eine Katze, die auf ein aufgebrachtes Wildtier zukam und aus einem Urinstinkt heraus versuchte, es zu beruhigen, auch wenn sie selbst gar nicht wusste, wen oder was sie da genau vor sich hatte. Herr Schürk tat ihm den Gefallen natürlich nicht, auf seinen Vorstoß einzugehen, er wich vielmehr einen Schritt zurück, fasste mit langem Arm nach dem Feuerzeug. Während er seine Zigarette in wenigen Zügen erledigte, wechselten die beiden Kommissare offenbar nur mehr einige wenige Worte, bevor Herr Schürk die Glut austrat. Ohne sich weiter um Herrn Hölzer zu kümmern, ging er an ihm vorbei, zog seinen Teamleiter wie an einem unsichtbaren Band hinter ihm her. Schon hatten beide sich ihrem Blickfeld entzogen. Die Kaffeetasse hielt sie noch immer leer in der Hand.

»Du kannst ja Adam einfach mitbringen, dann kann ich mich gleich selbst bei ihm dafür entschuldigen, dass ich dich von der Arbeit abgehalten habe.«
      Leo bemühte sich, an seinem Smartphone vorbeizuatmen. Er strich sich über die Stirn und versuchte gleichzeitig, den anderen Arm nicht zu sehr zu bewegen, um nicht aus dem schmalen Streifen Handyempfang am Fuß der Treppe herauszuragen und in das hier ansonsten omnipräsente Funkloch zu fallen. Er hätte schon längst einfach ins Foyer nach oben gehen sollen, aber er hatte eben nicht damit gerechnet, dass seine Mutter so kurz nach der Vollnarkose so gesprächig sein würde.
      »Au ja, mach das«, hörte er Caros Stimme zwar gedämpft, aber ganz klar begeistert im Hintergrund, gleichmäßig untermalt vom dröhnenden Motorengeräusch ihres Flohs. Leo hätte lächeln mögen, wenn die ganze Situation nicht so absurd gewesen wäre. Kaum hatte sich eine Sorge für Caro in Luft aufgelöst, kaum waren die Hallux-valgus-Probleme seiner Mutter Vergangenheit, da schmiedeten die beiden schon wieder über seinem Kopf hinweg Pläne, die ihn unmittelbar einbezogen und sogar Caros Abneigung gegen Adam verschwinden ließen.
      »Wird eher schwierig.« Mit der Fußspitze tippte er die Gummileiste auf der untersten Treppenstufe an. »Es ist schon nicht optimal, dass ich mich als Teamleiter heute so früh freimache, da kann ich nicht auch noch Adam rausreißen, wenn wir ohnehin schon unterbesetzt sind.« Er wartete den Protest gar nicht erst ab. »Ich muss dann auch wieder. Ich melde mich, wenn absehbar ist, dass ich rauskomme, und – Mama? Ich kann gern auch einfach was von unterwegs mitbringen, dann kannst du dich ein bisschen ausruhen.«
      Ihr Lachen ließ ihn nun doch lächeln. »Na, ich koche ja nicht mit dem Fuß.«
      Über Caros Widerworte verabschiedete er sich schnell und legte auf, kopfschüttelnd drückte er die Tür auf.
      »So, Entschuldigung – alles gut gelaufen.«
      Dass die Anspannung von ihm abfiel, machte Platz für die Müdigkeit, die er davor kaum wahrgenommen hatte, doch verflog auch diese sofort wieder, als er den Kopf hob. Er sah gerade noch, wie Frau Wenzel und Adam auseinanderfuhren. Sie wuselte zu ihrem Arbeitsplatz vor dem Bildschirm, auf dem noch das Foto von dem kreisrunden Mal hinter Sobecks Ohr geöffnet war. Ihr zustimmendes Brummen, das sie mit dem Rücken zu ihm hören ließ, ging fast im Rascheln ihrer Papiere unter, zwischen denen sie nach irgendetwas kramte. Schließlich schien sie gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Mit dem Klemmbrett in der Hand kehrte sie sich ein wenig zu schwungvoll zu ihm um.
      »Das freut mich.«
      Wie er es von ihr gewohnt war, lächelte sie ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, doch waren ihre Mundwinkel seltsam steif.
      Adam entdeckte er an der Wand, nur wenige Schritte von der Tür entfernt. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sich sein Freund dorthin zurückgezogen hatte. Die Arme eng verschränkt und dicht an seinen Körper gepresst, mit hervorspringendem Kiefergelenk stand er reglos da und starrte zu Boden. Er war schon wieder kreidebleich, atmete ganz flach.          
      Was bitte ging hier ab?      
      »Gut, Frau Wenzel, dann –« Nicken. Lächeln. »Vielen Dank so weit. Bei weiteren Fragen würden wir uns melden, ja?«
      »Wie immer, Herr Hölzer – Herr Schürk.«
      Ihre Worte verklangen hinter der Tür, die eilig hinter ihnen zufiel, als Leo die Stufen hinaufeilte, Adam hinterher. Draußen sprintete er das kleine Stück zu ihm, fasste ihn an der Schulter, um ihn zu sich herumzudrehen.
      »Adam –«
      Sein Partner leistete gar keinen Widerstand. Er fuhr herum und zeichnete mit der Hand eine zackige Linie durch die Luft, als wolle er sie zerschneiden, um sich Raum zum Atmen zu verschaffen.
      »Nein, scheiße, Leo!« schrie er. »Was hat Sobeck verbrochen, dass er jetzt bei Frau Wenzel auf dem Tisch liegt und nicht mehr an seinem Schlafplatz, wie er es wollte, still, heimlich und friedlich, ohne auch nur irgendjemanden zu belästigen? Warum sucht sich der Tod eigentlich immer die Falschen aus?«
      Leo schüttelte den Kopf. Er machte einen Schritt auf seinen Freund zu, streckte die Hand nach seiner Schulter aus, aber Adam drehte sich ruckartig weg.
      »Adam – du kannst nicht verhindern, dass es da draußen …«
      »So ein Scheiß, Leo!« Seine Stimme war jetzt kurz vor dem Überschlagen. Er warf den Kopf herum. Ein Ruck durchfuhr Leo unter seinem Blick. Das Wasser stand ihm in den Augen und nur sein glühender Zorn hielt ihn davon ab, in Tränen auszubrechen, das fühlte Leo. »Warum bin ich sonst Polizist geworden, hm? Was hätte der ganze Dreck dann für einen Sinn?«
      Für einige Sekunden sah Leo ihn nur an, wie er vor Wut bebte, dann schüttelte er erneut den Kopf. Er machte zwei rasche Schritte auf Adam zu, legte die Arme um ihn, doch sein Freund entzog sich ihm wie Wasser. Er kehrte ihm den Rücken zu, stützte die Hände in die Seiten und atmete zweimal so tief durch, dass seine Schultern absackten. Leo bekam gar nicht mit, wie er seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche gezogen hatte, da klopfte er sich schon eine Kippe heraus. Als er sie anstecken wollte, rutschte ihm das Feuerzeug aus der Hand, landete klappernd auf dem Asphalt. Leo bückte sich danach, was Adam zurückweichen ließ, doch nahm er es, ohne zu zögern, entgegen. Seine Finger waren eisig.
      Leo schob die Hände in die Hosentaschen und stellte sich so dicht neben seinen Freund, dass er ihn gerade nicht bedrängte, aber deutlich fühlen ließ, dass sie zu zweit hier standen. Die Flamme zischte leise, während sie sich durch Papier und Tabak fraß und in Glut aufging. Adam schlang den linken Arm eng um sich, stützte den rechten darauf und nahm hin und wieder einen tiefen Zug, sonst stand er reglos.
      »Adam … du kannst nicht …«
      »Ich will’s nicht hören, Leo.« Adams Stimme war glatt und kantig zugleich, leise, aber unerbittlich wie eine Felswand, die blank in der Ferne schimmerte.
      Leo wartete, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Er folgte Adams Blick über die Saar. Ein Schwarm Krähen zog gemächlich vor dem schwefelgelben Himmel dahin, ein Baum wippte mit seinem kahlen Haupt dicht über dem Wasser.
      »Du musst doch einfach mal sehen, welche Kreise jeder deine Ermittlungserfolge zieht, wie viele Menschen du vor so viel Schlimmerem bewahrst.« Seine Worte schwebten zu den tief hängenden Wolken über ihre Köpfe hinweg, doch erreichten Adam nicht. »Denk nur mal darüber nach, was Lorscheider noch angerichtet hätte oder wie es mit …«
      Vor Adams Schnauben gab Leo auf und verstummte. Der Kies knirschte, als Adam, das Gesicht angewidert verzogen, den Stiefel auf seiner Zigarette drehte. Es klirrte leise, da hatte er schon seine Schlüssel in der Hand. In einem weiten Bogen ging er an Leo vorbei.
      »Soll lieber ich fahren?«
      Zuerst reagierte Adam gar nicht auf die leisen Worte, die Leo ihm hinterhergerufen hatte, dann schüttelte er den Kopf, einmal nur. Die Blinker seines SUV leuchteten fremdartig grell vor dem metallen verkleideten rechtsmedizinischen Institut. Leos Schritt stockte, als Adam merklich langsamer wurde. Er sah sich nach seinem Freund um, der plötzlich stehen geblieben war. Sein Blick war auf sein Auto geheftet, er holte tief Luft, dann kam er auf Leo zu und reichte ihm seine Schlüssel, noch immer ohne ihn anzusehen. Sein Nicken, mit dem er um den Stellplatz herumging, schien an niemanden konkret gerichtet zu sein, vielleicht an das Schicksal.
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