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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
24.09.2022 5.592
 
So, meine Lieben, diesmal ist das neue Kapitel ein bisschen länger geworden; die nächsten werde ich dann wieder kürzer, in etwa derselben Länge wie bisher, zu halten versuchen.
      Viel Vergnügen beim Lesen und ein schönes Wochenende wünsche ich Euch!
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Kapitel 14 – Riffkollision

»Okay.« Leo vergrub das Gesicht in der Hand, mit Daumen und Zeigefinger strich er von seiner Nasenwurzel zu beiden Seiten über die Brauen, fuhr über die dunklen Schatten zur Mitte zurück. Die Augen weiterhin geschlossen, gähnte er lang. Dann holte er tief Luft und richtete sich auf, legte den Kopf nach links, nach rechts, wie ein Yogalehrer, der sich für die erste Sitzung seines neuen Kurses stählt, bevor er die Augen öffnete und nickte. »Also, alles wie gehabt: Ich bleibe auf meinem Posten vor Leibers Haus, solange uns die Verstärkung verwehrt wird. Esther, du kümmerst …«
      »Vergiss es, Leo, das kannst du unmöglich allein auffangen«, unterbrach Pia ihn. Sie warf die Büroklammer vor sich auf den Tisch, mit der sie bisher ihre Finger beschäftigt hatte, indem sie den äußeren Draht gerade zu biegen versucht hatte. Sie gab es auf, das Metall sträubte sich zu sehr, genauso wie Leo, sofern sie seinen unwilligen Blick richtig deutete. »Wenn sie’s nicht hinkriegen, uns mehr Personal zur Verfügung zu stellen, dann können wir eben nicht liefern, basta.«
      »Das interessiert nur die Herren Dahlberg und Co. herzlich wenig.«
      »Ja.« Leos Augen folgten auf Esthers Einwurf ihren Fingern, die den Henkel ihrer Kaffeetasse nachfuhren wie den Hals einer Katze. In seiner Stimme lag derselbe Druck, mit dem er sich den Nacken rieb, mit der anderen Hand hielt er sich selbst, in der Seite aufgestützt, aufrecht. Er dehnte die Schultern, ruckte mit dem Kopf erneut zur Seite, diesmal knackte es erlösend. »Außerdem kann Adam mich zwischendrin ja wieder ablösen, wenn es seine Ermittlungen zulassen.«
      Blickwechsel, knappes Nicken, abgemacht.
      »Zieht jetzt nur bitte nicht die Grippewelle schon einmal vor.« Leos Lächeln war müde und auf eine rührende Art hilflos. »Zusätzlich noch Ausfälle können wir uns derzeit definitiv nicht leisten.« Er kramte ein über und über mit Notizen vollgekritzeltes Blatt unter dem Zettelwust vor sich heraus. »Gut, also noch mal für mich zum Mitschreiben.«
      Pia runzelte die Stirn. »Leo, entschuldige, wenn ich mich einmische, aber … so bist du ja wohl kaum fähig, einen normalen Arbeitstag durchzustehen.«
      Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu heben, nur seine Augen wanderten von den Papieren zu ihr. »Und? Was schlägst du stattdessen vor?«
      »Dass du heimgehst und wenigstens ein paar Stunden schläfst, verdammt! Was machst du, wenn wir einen spontanen Einsatz reinbekommen und dir plötzlich Kugeln um die Ohren fliegen?«
      »Dann sollten ohnehin lieber wir beide übernehmen«, schaltete Esther sich zwischen zwei Schlucken aus ihrer Kaffeetasse ein.
      Selbst das spöttische Lächeln kroch nur millimeterweise auf Leos Züge. In seinen merkwürdig dunklen Augen las Pia, dass er über das Wochenende und trotz seiner kolossalen Übermüdung nicht vergessen hatte, wie ihre Partnerin vergangenen Mittwoch im Teambuilding reagiert hatte. Er nickte knapp. »Vielen Dank auch, Esther, für dein Vertrauen.« Sofort wurde sein Gesicht wieder ernst, während er mit gerunzelter Stirn versuchte, seine Aufzeichnungen zu entziffern. Sogar von ihrem Platz aus erkannte Pia das Chaos in seinen Notizen, dabei gab es in ihrem gesamten Bekannten- und Freundeskreis niemanden, der die Dinge mit derselben Sorgfalt anging, wie Leo es für gewöhnlich tat. Bestimmt folgte seine Gewürzsammlung zu Hause einer alphabetischen Ordnung. »Gibt’s schon was Neues von Frau Wenzel?«
      Pia schluckte ihr Stöhnen hinunter. Manchmal hatte Leo schon eine verflucht subtile Art, seinen Willen durchzusetzen. Sie verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Der vollständige Bericht kommt heute Nachmittag, vielleicht erst morgen, wahrscheinlich von ihrer Famula, denn der Befund zu dem Obdachlosen gestaltet sich schwieriger als gedacht, und auch zu Schneider gibt es noch offene Fragen.«
      Leo nahm ihr Kopfschütteln auf. »Als versuchten alle, ihre Mordvorsätze fürs neue Jahr auf einmal in die Tat umzusetzen – oh Mann.« Da brauchte er gerade zu reden, der sich ganz offenbar vorgenommen hatte, die durch Schlaf bedingte Zeitverschwendung abzubauen. Er hob seine Kaffeetasse, nur um festzustellen, dass er sie bereits geleert hatte. »Ist euch denn an der Mädchenleiche irgendetwas Besonderes aufgefallen?«
      Eine gespreizte Kiefernnadel, wie eine Pinzette zwischen den blonden Locken steckend, hatte ihren Blick auf den Silberohrring gezogen, eine runde Creole mit schief darin hängenden Vögeln, weil der Kopf so verdreht gewesen war, in einem vollkommen unnatürlichen Winkel halb in den schlammigen Boden gedrückt. Die weit aufgerissenen, starren Augen waren so stumpf gewesen wie das Stück Winterhimmel zwischen den ausgefransten Baumwipfeln. »Frau Wenzel meinte, der Täter sei gestört worden. Der Reißverschluss der Jacke war offen, Blätter halb über die Leiche gescharrt und das war’s.«
      »Irgendwelche Hinweise auf Muster, Rituale …« Leo verstummte sofort, als sie den Kopf schüttelte, und wandte sich zur anderen Tischseite. »Adam?«
      »‘N Triebtäter.«
      Für einige Sekunden hing sein Einwurf so tief über dem Tisch wie der an diesem Januarvormittag schwache Schein der quadratischen Lampe über ihren Köpfen.
      »Geht das ‘n bisschen genauer? Kannst du das an irgendwas festmachen?«
      Vielleicht war es die Ungeduld in Leos Stimme, die Adam gegen den Strich ging, jedenfalls machte er sich nicht einmal die Mühe, zu seinem Partner aufzusehen. Nach einigen Sekunden zuckte er mit den Schultern. »Is’ nur so ‘n Gefühl – die Art, wie er ihr den Hals zugedrückt hat …« Jetzt sprangen seine Augen, die im fahlen Morgenlicht beinahe durchsichtig waren, doch zu Leo. »Das war die typische Mischung aus der Angst, entdeckt zu werden, und der Wut darüber, nicht zum Zug gekommen zu sein.«
      Den Blickkontakt hielt Leo noch einige Sekunden aufrecht, unter seinem tiefen Ausatmen sanken seine Schultern langsam herab. Pia hätte sich nicht festlegen wollen, wo er in Gedanken gerade war, aber da holte er geräuschvoll Luft und wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihnen zu.
      »Gut. Esther?« Ihre Mundwinkel waren sehr spitz, als sie den Kopf hob und auf weitere Anweisungen wartete. »Du stärkst mir weiter mit der Durchleuchtung der Firma im Hintergrund den Rücken – und du bist erst mal raus aus der ganzen Chose.« Mit dem energischen Deuten seines Zeigefingers auf Pia spießte Leo ihren Protest auf, bevor sie ihn überhaupt hatte äußern können. Das »Aber …«, das ihr trotzdem entwich, wischte er mit einer zähen Drehung des Kopfes beiseite. »Es tut mir leid, dass du so viel Zeit in das Verhör mit Schneiders Frau investiert hast, aber Morde an Minderjährigen haben eben Vorrang, nicht nur in unserem Gewissen, sondern leider auch in der Presse.« Er zog sich noch einmal seine Tasse heran und vergewisserte sich, dass er nicht einen mitleidigen Rest übersehen hatte. »Such einmal nach ähnlichen offenen Fällen in der ganzen Republik, und sobald Frau Wenzels Bericht beziehungsweise der ihrer Famula da ist, sehen wir weiter.« Leo musste wirklich verflucht müde sein, wenn er ihr das übliche Vorgehen so polizeischulmäßig vorkaute. »Und Adam, du hängst dich weiter an die Obdachlosengeschichte.« Es klatschte, als er einen zusammengehefteten Stapel Blätter in Richtung seines Partners auf den Tisch warf, die dieser zu sich heranangelte. »Das sind Hinweise, die noch von Zeugen oder solchen, die sich einbilden, welche zu sein, eingegangen sind. Prüf das mal.« Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf, streifte sie und Esther mit dem Blick, wie sie ihn von ihm kannte, seitdem sie ihn zum ersten Mal als Mitglied ihres Teams kennengelernt hatte.
      Grösig hatte nur nachlässig hinter sich gedeutet, als sie zu zweit in ihr Büro gekommen waren. Wenn sie es recht bedachte, hatte sein »Hölzer« verdächtig nach »Arschloch« geklungen. Leo hatte ihr nur die Hand hingestreckt und eine beeindruckende Neutralität in Blick und Stimme bei den wenigen gewechselten Worten gewahrt, obwohl er mit Sicherheit im Bilde gewesen war, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter schon im Vorhinein über ihn hergezogen hatte. »Mehr so ‘n Weicher«, hatte er mit einem eindeutigen Lächeln gemeint, als er Pia die Teammitglieder aufgezählt hatte.
      »Und ich begebe mich wieder auf meinen Posten«, schloss Leo jetzt. »Dann ist alles klar, oder?« Kaum drei Sekunden wartete er, bevor er mehr sich selbst zunickte als ihnen. »Also weiter im Konzept.«
      Ein bereits versteinert geglaubtes Brodeln erwachte in Pias Magengrube, regte sich im Halbschlaf. Dieser Eifer war bis in die letzte Faser des Ausspielens derselbe wie bei der Hofergeschichte. Da war er wieder, ihr Ermittlungsleiter, der sich selbst etwas beweisen musste, der von etwas getrieben war, das ihm unsichtbar im Nacken saß. Er raffte die Blätter zu einem losen Stapel zusammen, nahm die Post-its, die er darum verteilt hatte, auf und klebte sie nebeneinander auf das oberste Papier. Auf der Tischplatte klopfte er den Stoß bündig. Esther schlug wie als Schlusspunkt den Aktendeckel zu, riss Pia in ihrer Energie vom Stuhl und zog auch Adam in die Höhe.
      Mit einem dumpfen Klatschen traf der Stapel, den Leo gerade noch in Händen gehalten hatte, vor ihm auf den Tisch, fächerte sich in einem breiten Schwall auf, als er ihn fallen ließ. Er hechtete zur Seite und packte Adam grob am Oberarm. Schon schnellte er an seinem Partner vorbei, er trat in seinen Rücken und riss ihn zu sich heran, hinderte ihn auf diese Weise daran, mit der Stirn auf der Tischkante aufzuschlagen.
      Adams Name entrang sich Pias Kehle nur als gepresstes Keuchen. Unter seinem Körper, der schlaff in Leos Armen hing, zitterten Leos Muskeln, aber es gelang ihm, Adam sehr langsam auf seinem Stuhl abzusenken. Adams Kopf sackte nach vorn, seine Lider flatterten, da riss Leo ihn am Kinn hoch, klopfte ihm mit der flachen Hand auf die kreideweißen Wangen.
      »He, Adam! He!«
      Um den Tisch herum eilte sie zu den beiden, sie fasste nach Adams Schulter, zuckte kurz davor zurück, als Adam sich unter Leos Berührung wieder zielgerichtet zu regen begann. »Alles gut, Leo – bin wach.« Seine Stimme war irritierend klar. Mit einer fahrigen, ein wenig zufällig aussehenden Handbewegung schob er Leos Arm beiseite, der dem schwachen Druck sofort bereitwillig nachgab, sich aber auf der Armlehne dicht bei Adam abstützte und ihm eine Hand locker auf die Schulter legte. Seine Augen wirkten wie angeschliffenes Kristallglas, als er Adam von schräg oben musterte.
      »Ich hol mal ‘nen Kaffee.« Schon war Esther fort. Pia warf einen letzten unschlüssigen Blick zu Adam, der unter Leos Hand noch immer schwer atmete. Ihm war weiterhin schwindlig, ganz klar, seine Augen zuckten unkoordiniert hin und her, hinauf und hinunter. Dabei hatte er keine von diesen Scheißtabletten genommen, die sonst seinen Kreislauf so außer Gefecht setzten, mit Sicherheit nicht, das hätte sie doch bemerken müssen. Sie schluckte gegen die trockene Enge in ihrer Kehle an, ihr Puls klopfte schwer unter ihrem Kinn. Wie lange konnte eine Gehirnerschütterung nachwirken? Oder – eine chronische Bronchitis, hatte Adam gesagt. Und Blut gehustet. Es zog ihre Finger zu seinem Arm. Als er ruckartig Luft holte, schrak sie zurück. Leo wandte den Kopf nur unmerklich nach ihr, bevor er sich wieder auf seinen Partner konzentrierte.
      Zucker. Nach nur wenigen Schritten in Richtung von Esthers und ihrem Büro machte Pia auf dem Absatz kehrt. Die Tüte mit Schokobons hatte sie noch vor der Konferenz geleert. Sonst hatte sie doch immer wenigstens irgendetwas in ihrem Schreibtisch, aber gerade heute hatte sie natürlich alle Vorräte restlos verputzt. Anfangs hatte sie sich noch dafür geschämt, dass sie nach einer Leichenschau in den meisten Fällen zuerst einmal etwas essen musste, aber das hatte Esther ihr schnell abgewöhnt. »Lass es gut sein, Schätzchen«, hatte sie beim ersten Mal ihre in eine Wurstsemmel gestammelte Entschuldigung mit einem belustigten Lächeln quittiert. Kalt wie Hundeschnauze war nicht immer falsch, Lektion Nummer 2b nach einem mit einer Axt gespaltenen Schädel in einer Betonwanne an ihrem ersten Tag.
      Sie stützte die Hände in die Hüften. Welcher Supermarkt war der nächste? Sie schielte nach der Uhr. Kurz nach halb zehn, die Kantine hatte noch geschlossen, die durchweichten Löffelbiskuits, die schon mindestens drei Wochen geöffnet im Kühlschrank vor sich hin gammelten, wollte sie Adam dann auch nicht antun. Sie stöhnte leise auf, verdrehte die Augen. Oh Mann, der Automat, natürlich.
      Sie kam zurück, als Esther Adam gerade den Kaffee vorsetzte. Ein Glas Wasser stellte sie außerdem noch daneben, was ihn den Kopf heben ließ, gerade nur so weit, dass sein Blick sie von unten herauf erreichte. Sein Nicken ging in der zittrigen Bewegung auf, mit der er nach der Tasse griff und sie an die Lippen setzte. Darunter konnte er eigentlich unmöglich sehen, dass Pia ihm einen Mars-Riegel zuschob, aber er schüttelte den Kopf, als er die Tasse abstellte und nach dem Wasserglas griff. Seine Finger waren ein bisschen ungeschickter, als Pia es von ihm kannte.
      Leo beugte sich an ihm vorbei über den Tisch, er packte den Schokoriegel, nestelte die Plastikverpackung auf und riss sie ein Stück nach unten, dann drückte er ihn Adam in die Hand. »Den isst du, und zwar sofort.«
      Von seinem Partner kam kein weiteres Wort. Er sah nicht einmal mehr auf, bevor er abbiss und langsam zu kauen begann.
      »Ihr kommt zurecht, oder?«
      Auf Esthers Frage sah Leo auf, ohne seine Hand von Adams Schulter zu nehmen. Er nickte rasch. »Danke, Esther.«
      Ihre Partnerin beobachtete, wie Adam mit dem Gesicht eines zum Tode Verurteilten ein weiteres Stück vom Schokoriegel nahm, dann verschwand sie in ihrem Büro.
      Noch immer war Adams Haut fahl, am Haaransatz glänzte seine Stirn feucht, er beschränkte sich auf die minimalsten Bewegungen. Als rasche, dumpfe Schritte zu ihnen herüberhallten, blickte Leo auf. Nur seine Augen verfolgten Voss’ Spur, die den Kopf außergewöhnlich gerade hielt, auf ihrem Weg vom Kopierer zu ihrem Büro am Ende des Ganges nach der Abzweigung zu den Kollegen vom Kriminaldauerdienst.
      Mit steifen Fingern zog Adam die Plastikverpackung weiter zurück und fischte das letzte Stück des Riegels mit den Zähnen heraus. Da wanderte Leos Hand tiefer, klopfte ihm zweimal aufmunternd auf den Rücken.
      »Komm – wir gehen in unser Büro.«
      Doch Adam reagierte nicht, er kaute nur langsam und schluckte dann. Als Leo ihn vorsichtig hochziehen wollte, wischte er kopfschüttelnd dessen Hand von seinem Oberarm und stand auf. Pia machte einen Schritt in seine Richtung, blieb dann aber doch auf halber Strecke stehen. Mit der Hand stützte Adam sich flächig auf der Tischplatte ab, er protestierte nicht, als Leo ihn um die Schulter fasste und ihm Halt gab. Hellwigs blöde Glubschaugen sperrte Pia aus, indem sie die Tür hinter ihnen zudrückte. Tatsächlich ließ Adam sich von Leo bis zu seinem Stuhl führen und widersetzte sich nicht einmal, als Leo seine Bewegungen, dicht bei ihm stehend, mit seinem festen Griff um seine Oberarme lenkte. Bewusst nahm Pia die Kaffeetasse in den Blick, auch das Wasserglas, das sie vor Adam auf die Tischplatte schob, aber im Augenwinkel sah sie ihn noch immer schwer atmen.
      »Lässt du uns mal kurz allein, Pia?«
      Sie starrte Leo an, der weiterhin unverwandt Adam musterte. Seine Augen waren scharf und kalt. Ein Abglanz dieses Ausdrucks lag wie ein Gazeschleier über dem unwegsamen Blaugrau, als er seine Aufmerksamkeit schließlich ihr zuwandte.
      »Ähm – klar«, würgte sie hervor und las auf dem Konferenztisch im Vorraum ihre Unterlagen zusammen, bevor sie sich überhaupt bewusst dazu entschieden hatte, Leos Bitte Folge zu leisten und das Büro ihrer beider Kollegen zu verlassen. Ihr Blick stahl sich zwischen ihren Handgriffen aber immer wieder zu Leo, der die Jalousie nicht heruntergelassen hatte. Er stand dicht vor Adam, mit dem Rücken zu ihr, halb an die Schreibtischkante gelehnt, halb auf der Ecke sitzend. Offenbar redete er eindringlich auf Adam ein, denn dieser hob plötzlich den Kopf und sah ihn auf eine Weise an, die sie von ihm nur allzu gut kannte und die ihr doch wiederum ganz neu war. Das intensive Blau öffnete sich in eine dunkle Tiefe, zugleich stieß man sich hart an einer unsichtbar eingezogenen Wand und drang nicht bis in die Ebene vor, in der Adams Gedanken ihre Bahn zogen.
      Auf ein Rascheln neben sich wandte Pia sich um. Sie erhaschte gerade noch den forschenden Ausdruck auf Esthers Zügen, wie sie ihn bereits unzählige Male in den Konferenzen aufgefangen hatte und wie er nun auf Adam und Leo lag. Dann zuckten die Augen ihrer Partnerin zur Seite, streiften sie, bevor sie sich in Leos Unterlagen vergruben, die Esther durchblätterte, bis sie die Seite gefunden hatte, die dazwischengerutscht war. Entschlossen zog sie sie heraus, dann wandte sie sich um und ließ sie wortlos stehen.

Kein Laut drang zu ihnen herein, kein Blätterrascheln, keine Schritte, kein Vogelgezwitscher von draußen. Es war, als säßen sie in einer Glaskugel, an deren Wänden sich sein Puls stieß, der ihm im Kopf, in den Ohren hämmerte. Er kannte das noch von seinen Demoeinsätzen. Bei einem mehrtägigen Gipfel hatten sie sich der Menge entgegenstellen müssen, für die „aufgebracht“ nur das Wort war, das in den Nachrichten gebraucht wurde, wie er beim ersten Mal für sich mitgenommen hatte. Mit jeder Stunde hatten die Tobenden und Rasenden vor ihrer Linie mehr Munition auf sie geworfen und zuletzt ihre geschlossene Reihe zweimal in rascher Folge durchbrochen. Nach vierundzwanzig Stunden zog der Bizeps unter dem Gewicht des Schildes. Nach sechsunddreißig Stunden wurde der Atem schwer, wenn man unter den 23 Kilo der Sturmausrüstung durch die mit Barrikaden, Brandsätzen und Sitzwachen gespickten Straßen zu seinem neuen Einsatzort joggte. Und nach achtundvierzig Stunden schnellte bei jedem Knall, jedem Schrei, jedem Krachen der Puls ins oberste Stockwerk direkt unter die Schädeldecke hoch.
      Mit trüben Augen hing Adam schlaff im Stuhl zurückgelehnt, er war noch immer totenbleich.
      »Adam – du musst das jetzt mal in den Griff bekommen.«
      Sein Freund saß teilnahmslos, als habe er sich nicht an ihn gewandt oder gar kein Wort gesagt.
     Mit der flachen Hand schlug Leo auf die Armlehne, dass ein Ruck durch Adams Körper fuhr, der aber nur von der Erschütterung des Stuhles rührte und seinen Zweck verfehlte, Adam aus seiner Erstarrung zu lösen. »Dieses Drecksrohypnol kostet dich noch alles!«
      Auf seine ein wenig zu lauten Worte zuckten Adams Augen alarmiert zu ihm, scannten den Flur, einmal hinauf, einmal hinunter, bevor sie sich wieder zu Boden richteten. Adams Kopf hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
      »Letzte Nacht hab ich nichts genommen«, murmelte Adam, als habe er sich erst jetzt daran erinnert, wie man sprach. »Frag Pia.«
      Leo konnte das Lachen, das in seiner Kehle hinaufwuchs, gerade noch hinunterschlucken, dafür wehte ein ersticktes Giggeln vom Gang zu ihnen herein, Voss oder Hellwig, mit Sicherheit. »Als ob’s das besser machen würde.« Sein Tonfall war ihm zu gehässig geraten, aber das spielte keine Rolle. Es war ohnehin so, als habe Adam ihn gar nicht gehört. Am liebsten hätte er ihn bei den Schultern gepackt, um nur irgendeine Emotion und Reaktion, ganz gleich, welche, aus ihm herauszuschütteln. Sein Freund verharrte weiterhin vollkommen reglos, schien nicht einmal mehr zu atmen.
      Leo holte tief Luft, er verschränkte die Arme. Sein Blick suchte nach Zerstreuung, nach Ablenkung, prallte von den abgegriffenen Ordneretiketten, dem Spinnennetz in der Ecke neben dem Regal ab, das dort schon unter den Luftzügen der Tür gezittert hatte, als Grösig noch sein Vorgesetzter gewesen war. Von Adams Schreibtisch aus war das staubverklebte Gewirr nicht so einfach zu sehen, er musste sich zurücklehnen, um einen Blick darauf erhaschen zu können. Schon schwang er sich in die Gerade zurück und sah wieder auf Adam herab, der vor sich hin starrte, als sei Leo gar nicht da.
      »Brauchst du noch irgendwas? Soll ich ’nen Arzt holen? Oder dich zu Dr. Schlüter bringen?«
      Adams Kopfschütteln war eigentlich nur im Zittern der Strähnen über seiner Stirn zu erahnen. Sogar vor dem Fenster herrschte neblig graue Eintönigkeit, so blieb Leo nichts, als der erneut in ihm hochkochenden Wut entgegenzuatmen, sie in die Magengrube hinunterzudrücken. Um Zeit zu gewinnen, leckte er sich über die Lippen, er löste die Verschränkung seiner Arme.
      »Sieh mal, Adam.« Er streckte die Knie durch, steckte die Hände dazwischen, die Innenflächen aneinandergepresst, beugte sich dichter zu Adam, um nicht ganz von oben herab auf ihn einzureden. »Ich versteh ja, dass das alles nicht leicht für dich ist, und es wäre fast zu viel verlangt, dass du den ganzen Mist einfach so durchstehst.«
      Es kümmerte seinen Freund nicht im Geringsten, dass er ihm ein ganzes Stück näher gekommen war. Er ließ mit keiner Regung erkennen, dass er ihn gehört hatte.
      Mit einem tiefen Einatmen richtete Leo sich wieder auf, verschränkte die Arme, als müsse er sich selbst in Zaum halten, und schloss die Augen. Das Blut an seinen Händen, Adams gehetzte Augen neben dem Lauf seiner Pistole, das opake Blau seiner Augen, als Leo ihn mit Gehirnerschütterung aus dem Krankenhaus in seine Wohnung gebracht und er so geschwächt vor ihm gelegen und nicht einmal mehr gewusst hatte, dass Leo mit Caro zusammenwohnte  –
      »Es war alles ‘n bisschen viel letztes Jahr«, hörte er sich selbst sagen und schlug die Augen auf. »Aber so geht’s nicht weiter, Adam.«
      Sein Partner hob gerade so weit den Kopf, dass er Leo ansehen konnte, doch er schauderte unter Adams Blick. Seine Augen waren seltsam leer, als seien sie blind für das, was ihn umgab, und könnten nur noch den Bildern in seinem Inneren folgen. Schon einmal hatte sein Freund ihn so angesehen, vor kaum einer Woche hatte er ihn für einige Sekunde mit genau diesem Ausdruck gemustert, bevor er ihm doch gesagt hatte, wo er seine Pistole aufbewahrte. Doch da versenkte er den Blick schon wieder in der Tischplatte.
      Die Müdigkeit saß Leo schwer auf den Schultern, wollte seinen Körper niederdrücken. Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, durch die Haare, faltete sie im Nacken. Dann öffnete er die Augen und starrte auf seine Schnürsenkel. Auf dem schmutzigen Grau sah er auch von hier die Abdrücke der Metallösen.
      »Hol dir Hilfe, mehr kann ich dazu nicht mehr sagen.« Der Schlafmangel tropfte in sein Gehirn, lähmte sein Sprachzentrum. Bedrohlich hingen seine Worte noch im Raum, als sie schon längst in der staubigen Atmosphäre verklungen waren. Er räusperte sich, versuchte, gegen die Schärfe in seiner Stimme anzukämpfen. Seine Hände glitten auf seine Oberschenkel, bereit, zuzugreifen, sollte sein Freund auf dumme Gedanken verfallen, doch Adam blieb bewegungslos sitzen. »Was hältst du davon, Dr. Schlüter einzuweihen? Er scheint mir auf unserer Seite zu sein – und er hat dir ein Burnout diagnostiziert. Damit lässt sich doch vieles erklären.«
      Als Leo mit seinem lautlosen Zählen bei zwei angekommen war, nickte Adam.
      »Könntest du dir denn vorstellen, mit ihm zu reden?«
      Wieder stimmte sein Freund wortlos zu. Leo atmete auf, er stieß sich von der Tischplatte ab und deutete auf Adams Telefon. »Dann ruf ihn an, er wird bestimmt Verständnis haben. Mach am besten gleich …«
      »Er weiß es, Leo.«
      Für einen Augenblick sahen sie sich einfach nur an, Leo wahrscheinlich vollkommen verständnislos, Adam unfassbar müde, doch viel klarer und bewusster als die ganze Zeit ihres Gesprächs über hindurch.
      »Du hast es ihm erzählt?«
      Adam reagierte nicht sofort, dann lachte er. Es war nur ein ganz kurzer, spitzer Laut. »Ja – klar.« Mit einer Kopfdrehung wischte er Leos Einwand beiseite, sein Blick ging aus dem Fenster. Für einige Sekunden verharrte er still. Als er weitersprach, war seine Stimme eigenartig gedämpft. »Er ist von selbst drauf gekommen, so wie wahrscheinlich alle hier auf dem gesamten Stockwerk. Schürk, der verdammte Junkie«, zischte er und ließ noch einmal dieses verächtliche Lachen hören. Seine Augen waren aus Stein, nichts drang heraus, nichts ging hinein.
      »Adam.« Leo schüttelte den Kopf. Er streckte die Hand aus, zuckte vor Adams Schulter zurück. »Es ist nichts dabei, sich Hilfe zu holen, wenn man nicht …«
      »Deeskalation, frei nach Caro?« Nur mehr eine Spur spöttischer Schalk glänzte in Adams Seitenblick, mit dem er ihn bedachte, sonst waren seine Augen – Leo konnte es nicht anders sagen: böse.
      »Mensch, Adam, das ist doch –« Er wedelte hilflos durch die Luft auf der Suche nach Worten. »Ich meine … das kann doch jedem passieren, dass er in so was reinrutscht.«
      »Ach so. Und warum nicht Pia, Esther oder dir?«
      Leo schüttelte fassungslos den Kopf. »Du wirst ja wohl nicht ernsthaft deine Situation mit der unsrigen vergleichen.«
      »Und warum nicht?« Adams Augen sprangen so schnell hin und her, wie Leo es von ihm kannte, dann glitten sie ab. Seine verschränkte Arme hoben sich unter einem heftigen Luftholen. »Ja, nee, is klar – Schürk, das Opfer.«
      »Adam –«
      »Wolltest du deshalb nicht, dass ich dich bei der Observation ablöse? Weil du das oben nicht vertreten kannst?« Er nickte kraftlos in Richtung Decke.
      Leo stöhnte. »Das ist doch lächerlich, Adam.« Er kam nicht gegen den Drang an, sich abermals mit beiden Händen das Gesicht zu reiben, aber er konnte wenigstens den Gähnreflex zurückdrängen. »Ich wollte einfach nur, dass du dich ein bisschen ausruhen kannst. Du hattest eine Panikattacke. Schon vergessen?« Adam schwieg beharrlich. »Außerdem durftest du ja gestern die ganze Nacht ran.«  
      Dass er das besser nicht zugelassen hätte, verbiss Leo sich. Was war er erschrocken, als es in der Nacht zum Sonntag plötzlich an seinem Auto geklopft hatte. Genau genommen war es nur ein Fingertappen gewesen, da hatte er die Silhouette seines Partners erkannt, der lässig mit dem Rücken an der Beifahrertür gelehnt und sich beiläufig bemerkbar gemacht hatte. Leo hatte kaum die Türen entriegelt, da war er schon eingestiegen, hatte die Tür hinter sich lautlos zugezogen. Widerworte hatte er nicht geduldet, er hatte nicht locker gelassen, bis Leo ihm den Autoschlüssel abgenommen und zugesagt hatte, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen. Als er zur bezeichneten Seitenstraße und Adams SUV gegangen war, hatte er erst wirklich erkannt, wie müde er gewesen war, hatte er doch den Straßenschildern kaum ihren Sinn entnehmen können. Es war mehr wie bei der Verkehrserziehung in der vierten Klasse gewesen, bei der man alles nach Farben und Formen und weniger nach Logik begriff. Sechs Stunden später – die Dämmerung hatte gerade eben eingesetzt – hatte er die Mattigkeit noch schärfer gefühlt, doch hatte das wohl nur daran gelegen, dass ein Teil seines Verstandes wieder wach geworden war, als er durch die eisige Morgenluft zu seinem Dienstwagen zurückgegangen war. Sein Partner hatte Recht gehabt – aber jetzt wusste Leo, dass er seinem ersten, spontanen Impuls hätte folgen und Adam die Ablösung verweigern sollen.
      »Was hat Dr. Schlüter denn gesagt?« Allmählich klang er, als habe er mindestens drei Bier intus.
      Adams Schultern hoben sich ruckartig. »Er hat mir eine Suchtberatung empfohlen.« Die Worte verließen seinen Mund kantig und harsch wie an der Oberfläche gefrorener Schnee.
      »Aber – das ist doch gut, Adam!«
      »Sicher.« Sein Nicken war nur zur Hälfte ausgeführt.
      Leo atmete tief aus und folgte der Sichtachse seines Partners. Nicht einmal eine mitleidige Krähe ließ sich vor dem steifen Einheitsgrau des Himmels blicken. »Okay.« Er legte Adam nun doch die Hand auf die Schulter. »Jetzt geh heim und iss einfach mal –«
      »Wir sind schon unterbesetzt.«
      Leos Worte schnitten Adams Kopfschütteln scharf mitten durch. »So bist du mir ohnehin keine Hilfe.« Seine Hand sprang zu Adams Oberarm, er beugte sich dichter zu seinem Freund. »Schlaf ein paar Stunden, iss mal was Richtiges – und nimm heute vor allem keine von diesen Scheißtabletten mehr ja?« Wieder schwieg Adam nur. Leo hob hilflos die Hände. »Mein Gott, koch dir halt ‘nen Tee, sieh dir ‘nen Film an oder …«
      »Zähl Schäfchen.« Adam nickte, das Gesicht eine starre Maske. »Schon klar, Leo. Danke dir – für alles, ja?«
      Sehr langsam stand er auf, als habe er es im Kreuz. Leo drückte sich sofort von der Schreibtischkante ab, sah ihm ins Gesicht, doch Adam wich seinem Blick aus, griff nach seiner Jacke.
      »Soll ich dich heimfahren?«
      Adam schüttelte den Kopf und schlüpfte in den einen Ärmel. »Geht schon, danke.« Er wandte sich nicht mehr nach ihm um, während er seine Jacke vollends überzog und die Tür beinahe lautlos hinter sich schloss. Durch das Glas der Tür sah Leo, wie er seinen Kragen zurechtrückte, und er war sich sicher, dass er den Kopf nicht nur deshalb gesenkt hielt, damit seine Hände leichteres Spiel hatten.

Als sie den Stecker des Staubsaugers zog, drehte sich ein Schlüssel im Schloss, gleich darauf schob sich die Haustür langsam auf.
      »Herr Schurk!«
      Ihr Auftraggeber stand für einige Sekunden bewegungslos im Eingang und sah sie an, bevor er sich umwandte und die Tür leise zudrückte.
      »Hallo, Frau Svobodova.«
      Sein Gesichtsausdruck stand ihr noch vor Augen, auch wenn er ihr nun den Rücken zugekehrt hielt, während er den Schal von seinem Hals wickelte. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, war er noch mehr abgemagert. Das sah sie auch an seinen Schultern, die sich spitz unter dem Pullover abzeichneten, nun da er seine Jacke abstreifte. Die Kleiderbügel klapperten über ihrem Kopf, als sie an seine Seite trat und ihm die Hand hinstreckte.
      »Frohen neuen Jahr ich wünsche Ihnen noch.«
      Seine unter dem grellen Garderobenlicht wasserblau leuchtenden Augen suchten nach der Ursache für ihre Worte und fanden ihre Hand. Als er den Kopf hob, um sie anzusehen, durchfuhr es sie genauso eisig, wie der schwache Druck seiner Finger an ihren war.
      »Danke, Ihnen auch.« Schon ließ er ihre Hand wieder los, ging in die Knie und löste seine Schnürsenkel. »Hatten Sie eine gute Zeit in Tschechien? Wie geht’s Ihrer Familie?« Zwischendurch sah er kurz auf, aber an seinem Gesicht waren seine Fragen nicht abzulesen, seine Stimme war deutlich lebendiger als seine Züge. Sein Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, als er seine Stiefel nebeneinander unter der Kleiderstange abstellte.                
     Da sah er sie wieder an und sie entsann sie sich seiner Frage. »Gut, ja, danke sehr, wir alle zusammen gefeiert haben mit …«
      »Piroggen?«
      Hatte er keinen Urlaub gehabt? Seine Augenschatten waren so dunkel wie eh und je, fast genauso schlimm wie damals, als sie ihn aus seiner Kreislaufschwäche aufgeschreckt hatte.
      Trotzdem konnte sie sich eines Lächeln nicht erwehren. »Nicht an Weihnachten. An Weihnachten es gibt … besonderes Fisch mit Kartoffelsalat.«
      Herrn Schürks lange, schlanke Hand glitt über die eine Hälfte seiner Jacke, er zupfte sie auf dem Kleiderbügel zurecht, dann sah er sie an. Sein Lächeln wirkte festgefroren auf seinen Zügen. »Das freut mich, Frau Svobodova. Dann jetzt also immer montags, oder? Und natürlich vielen Dank für Ihre Arbeit. Das Geld liegt bereit, ja?«
      Er ließ ihr gar keine Zeit für eine Antwort. Noch im Umwenden splitterte das Lächeln von seinem Gesicht. Erst als sie die Tür zum Schlafzimmer gehen hörte, fiel ihr ein, dass sie sich noch gar nicht für das Weihnachtsgeld bedankt hatte. Sie beugte sich zurück und schielte auf die digitale Uhr am Herd. 11:18 Uhr – und Herr Schürk bereits zu Hause? Ihre Augen verfolgten das Kabel, das der Staubsauger gierig einzog, dann schlich sie zur Abstellkammer. Von nebenan kam kein Schritt, kein Rollen einer Schublade, kein Rascheln von Stoff – auch nicht der kleinste Laut. Nichts.              
 
Dicke Tropfen platschten vom Teebeutel in die Tasse. Pia drückte ihn nicht aus, sondern warf ihn, wie er war, in das Spülbecken. 19:53 zeigte die Uhr am Backofen. Nach dem dritten Tuten rauschte es in der Leitung.
      »Hallo, Pia.« Adams Tonfall war neutral, klang nach Konferenz.
      »Hi, Adam. Wie geht’s dir?«
      Sie glaubte zu hören, dass er nickte. »Besser – danke.« Seine Stimme war dunkel, ruhig, ein bisschen schwer, aber er hörte sich nicht betäubt an, benebelt, sondern einfach nur müde.
      »Das ist gut, das freut mich sehr.«
      »Danke.«
      Stille wuchs in der Leitung heran, sie warteten beide darauf, dass der andere etwas sagte. Verwischt waren alle Wortfetzen der Gespräche, die sie in der halben Stunde zuvor in ihrem Kopf geführt hatte. Immer wieder hatte sie nach ihrem Smartphone gegriffen, es jedes Mal beiseitegelegt, bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Sie wunderte sich, dass er sein Handy nicht, wie so oft, ausgeschaltet hatte. Sein kaum hörbarer, ein bisschen zu kurzer Atem wehte durch die Leitung und sie wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte. Die weichen Strähnen in seiner Stirn, die fragilen Wirbel an seinem Nacken, die Wärme seines Körpers an ihrem – es war gut, dass sie doch nicht zu ihm gefahren war, wahrscheinlich hätte sie ihn nur verschreckt. Im Teambuilding letzte Woche waren ihm sogar Leos Berührungen zu viel gewesen, hatten nicht den Eindruck zerstreuen können, dass er unter der unerbittlichen Hand seines Vaters ertrinken würde, diesmal wirklich. Und doch hatte er am selben Abend ruhig gelegen unter ihren Liebkosungen – und dem Rohypnol.
      Dein Freund hatte er gesagt, aber doch niemals so gemeint. Was war sie heute für ihn, was wäre sie in seinen Augen morgen?
      Sie lauschte, jetzt kam gar nichts mehr von seiner Seite, sie hörte ihn nicht einmal mehr atmen.
      »Kann ich noch etwas für dich tun?«
      Er reagierte erst nach einer Sekunde, in der er wohl den Kopf schüttelte. »Danke, aber – alles okay. Morgen bin ich wieder voll da.«
      »Okay«, flüsterte sie fast. Es war nicht das, was sie hatte sagen wollen. Es war nicht okay, ganz und gar nicht. Er hätte sich krankschreiben lassen sollen, wenigstens für ein paar Tage.
      »Schlaf gut, ja?« unterbrach er den Protest in ihren Gedanken mit einer Stimme aus weichem Samt, doch geriet ihm die angehängte Rückfrage ein bisschen brüchig.
      Sie suchte nach Worten, wollte ihm so vieles sagen, von dem sie selbst nicht genau wusste, was es war. »Du auch.«
      Kaum eine Stunde später schaltete sie den Fernseher aus, von der Handlung hatte sie ohnehin kaum ein Viertel mitbekommen. Ein Amerikaner, der sich einbildete, eine Spanierin in sein Leben holen zu müssen, und bei der Galicierin scheiterte, die er mit der Sonne Kaliforniens zu locken versuchte, bevor er bei einer Andalusierin aufschlug –
      Pia schlurfte in ihr Schlafzimmer, ließ sich auf ihr Bett fallen, zog ihr Handy aus der Hosentasche. Ihr Finger schwebte über dem Rufzeichen.
      Hier ist die Mailbox von Adam Schürk, Nachrichten bitte nach dem Ton.
      Bevor sie der Versuchung nachgeben konnte, seine Nummer zu wählen, um seine Stimme wenigstens auf der Ansage zu hören, schaltete sie das Display aus und schob ihr Smartphone auf den Nachttisch. Wahrscheinlich schlief er schon. Wobei –
      Sie drehte sich auf die Seite und faltete die Hände unter ihrer Wange. Ihr Blick ruhte auf ihrer Tiffanylampe. Mit den Augen fuhr sie die Konturen nach und wartete darauf, dass sie weich wurden und verwischten.
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