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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
22.08.2022 3.897
 
Meine Lieben, nachdem ich die kommende Woche halb im Urlaub verbringe, kommt hier schon einmal das nächste Kapitel, das thematisch eng mit dem vorherigen zusammenhängt. Fühlt Euch bitte nicht gehetzt beim Lesen, es kommt dann erst einmal eine Weile kein neues Kapitel. Passt außerdem bitte auf Euch auf, in diesem Kapitel werden verschiedene Formen von Misshandlung beschrieben. Danke Euch fürs Lesen und einen guten Wochenbeginn Euch allen!
PS: Meine liebe Net Sparrow, ich melde mich ganz bald auf Deine wunderbaren Reviews! Von Herzen großen Dank für jedes einzelne Deiner Worte, sie halten mich wesentlich hier am Weiterschreiben!!
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Kapitel 13 – Spiegelblick

Gerade als sie den Kopf hob, sprang die Anzeige am Bildschirm eine Minute weiter. 14:46. Offenbar hatte das Verhör doch länger gedauert als erwartet oder Herr Schürk hatte noch einen Termin hereinbekommen, nachdem Frau Baumann ausgefallen war. Mit dem Kugelschreiber fuhr sie nochmals die Linie nach, die den ihr vor dem ganzen Vorfall nicht bekannten Namen der Hauptkommissarin aus ihrem Kalender getilgt hatte. Psychosomatik im Vollbild. Wer hätte gedacht, dass Regina mit ihrem Training eine Wunde aufreißen würde, die sich unter dem mühsam aufgebrachten kosmetischen Anstrich als pulsierendes Gefäß herausstellen würde, das scharf angeschnitten war? Wobei … nach dem, was Sibylle ihr erzählt hatte, hätte sie es besser wissen müssen. Ganz offensichtlich hatte bei diesem Team schon lange etwas im Argen gelegen – und Herr Schürk schien, wenn vielleicht auch nicht die, so doch eine wesentliche Ursache dafür zu sein.
       »Ich habe noch nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt – für ihn bin ich wahrscheinlich nur, wenn überhaupt, ›die dumme Voss‹.« Mit einem Augenzwinkern hatte Sibylle ihren Löffel an der Tasse abgestrichen und einen Schluck Kaffee genommen. Auch in der Kantine machte sie immer den Eindruck, als sei sie zu einer Teegesellschaft bei einer Freiherrin oder Gräfin geladen. »Aber seine Stimme und das Repertoire seiner Kraftausdrücke kenne ich gut – zu gut, in allen Facetten.« Sie hatte mit den Augen gerollt, während sie sich eine ihrer perfekten Locken hinter das Ohr gestrichen hatte. »Er ist leider nicht zu überhören, wenn er über den Gang brüllt.«
       Eine solche Unbeherrschtheit am Arbeitsplatz hatte sie auch schon lange nicht mehr erlebt. Na, mal sehen, was sie machen konnte. Das Problem lag ja ganz augenscheinlich zwischen Herrn Schürk und Frau Baumann, nach dem zu schließen, was ihr über die Zusammenarbeit der beiden zugetragen worden war. Aber ihrem Verhältnis würde sie sich in einem zweiten Schritt widmen. Jetzt war erst einmal Herr Schürk an der Reihe. Sie schlug den Aktendeckel auf, vergegenwärtigte sich seinen Befund noch einmal. »PTBS« hatte Regina in ihrer akkuraten Schrift notiert und die vier Buchstaben doppelt unterstrichen. Sie hob das Blatt so weit an, wie es die Heftung an der Ecke zuließ, sprang mit den Augen von einem Haken im Kästchen zum nächsten. Depersonalisation. Stupor. Atemnot. Zittern. Herzrasen. Sie blätterte zurück, überflog die handgeschriebene Erweiterung der Symptomliste. Halluzination. Paranoia. Neben dem schlussfolgernden Pfeil las sie »psychotische/schizophrene Neigung?«.
       Dass die Beobachtungen ihrer Kollegin in seinen Augen nicht der Rede wert waren, sah sie ihrem Klienten schon beim Hereinkommen an.
       Rasch legte sie die Akte beiseite. »Guten Tag, Herr Schürk.« Auf ihr Lächeln blieben seine Züge unbewegt. Seine Augen waren wie aus Eis gehauen, suchten sie zu durchleuchten. Mit ausgestreckter Hand kam sie auf ihn zu, der weiterhin die Klinke umschloss. Erst als sie nur noch zwei Schritte von ihm entfernt stand, löste er sich von der Tür. Seine Finger drückten kalt und ein bisschen steif gegen ihre Haut, da hob er die Berührung schon auf und verschränkte sofort die Arme.
       »Ich bin Barbara Buchwald, seit elf Jahren hier tätig. Ich freue mich, dass sie gekommen sind.« Sie griff hinter sich nach der Akte auf der Schreibtischplatte. Nicht den Blickkontakt unterbrechen. Sie versuchte ein Lächeln und wies auf die Sessel. »Setzen wir uns doch.«
       Herr Schürk kam keinen Schritt näher, wartete, bis sie Platz genommen hatte, bevor er ihre Einladung annahm.
       »Möchten Sie etwas trinken?« Über das Glas Wasser hinweg, das sie sich einschenkte, schielte sie zu ihm. Noch immer lagen seine Augen starr auf ihr, er schüttelte den Kopf, seine langen Finger umklammerten die breiten Armlehnen. Nach einem kleinen Schluck stellte sie ihr Getränk blind auf dem Glastisch ab, ein dumpfes Klingen antwortete ihr.
       »Sie wissen, warum wir hier sind?« Lächeln, immer nur lächeln.
       Doch Herr Schürk verdrehte die Augen und sah aus dem Fenster. Ein sicheres Zeichen dafür, dass man an einem anderen Ort sein will. Körpersprache in Alltag und Beruf, 2. Semester. Abermals verschränkte er die Arme, als er sich mit einem langen Einatmen zurechtsetzte, sein frostiger Blick fand den ihren.
       »Können wir das abkürzen? Ich lege keinen Wert auf Suggestivfragen. Fallen Sie einfach mit der Tür ins Haus.« Er zeichnete mit seiner langen, schlanken Hand eine kategorische Linie in die Luft, bevor er sie wieder unterhakte. »Sie wissen doch sowieso schon alles von ihrer Kollegin, die uns das hier aufgedrückt hat.«
       Seinem kantigen Ruck mit dem Kinn in ihre Richtung wich sie mit einer unbestimmten Wendung des Kopfes aus, angelte sich aus dem Stifteköcher auf dem Beistelltisch einen Kugelschreiber heran. Noch gab es keinen Grund, ihre Taktik aufzugeben. Unbewaffnet setzte sie sich seinem harten Blick aus. »Das ist ein vollkommen freiwilliger Termin, Herr Schürk. Die Tür ist offen, Sie können jederzeit gehen und das, ohne dass Sie irgendeine Konsequenz davon zu erwarten haben.«
       Als sie ihm ein Lächeln schenkte, beugte sie sich reflexartig ein wenig vor, worauf es seinen Körper durchzuckte. Er presste den Rücken gegen die Lehne und nahm den Kopf so weit zurück, dass es mit Sicherheit unangenehm am Muskelansatz in seinem Nacken zog. Sie wartete einige Sekunden, bevor sie sich wieder aufsetzte, strich sich die Haare hinters Ohr. »Vielleicht möchten Sie sich überlegen, warum Sie hier sind. Ich für meinen Teil sitze Ihnen gegenüber, weil ich versuchen will, Ihnen zu helfen, sollten Sie daran interessiert sein.«
       Noch immer hielt er die Arme verschränkt, jetzt schien er nicht einmal mehr zu atmen. Keine Regung wehte über sein Gesicht, seine Augen waren Gletscher, an denen sie abglitt und keinen Halt fand.
       »Ich habe gehört, dass Sie gestern im Verlauf des Trainings zum Vertrauensaufbau in Ihrem Team in eine für Sie ganz persönlich problematische Situation geraten sind.« Sie nickte, als er beharrlich schwieg. »Möchten Sie mir vielleicht erzählen, was vorgefallen ist?«
       Es war, als gefröre in seinem Blick auch noch das Wasser, in dem die Eisberge trieben. »Kommen Sie mir nicht so.« Er sprach so leise, dass seine Worte fast im Heulen des Martinshorns untergingen, das sich durch das geschlossene Fenster zu ihnen hereindrängte. »Ich bin kein Psycho, den man verarschen und zur Erprobung irgendwelcher kranken Methoden einspannen kann.«
       Mit dem Kugelschreiber malte sie eine Ecke ihres Notizblocks an, bevor sie die Hände darauf verschränkte und sich wieder seinem Blick aussetzte, den er nicht abgewandt und der nichts von seiner nuancierten Schärfe eingebüßt hatte. »Sehen Sie, Herr Schürk: Ich habe keine Ahnung, welche Erfahrungen Sie bisher mit Psychologen oder Psychotherapeuten gemacht haben, ich kann Ihnen nur zwei Dinge versichern.« Mit dem linken Zeigefinger zählte sie an Zeige- und Mittelfinger der Rechten ab. »Ich habe weder ein schlechtes Bild von Ihnen, wenigstens bis jetzt nicht, da Sie mir keinen Anlass dazu gegeben haben, noch möchte ich irgendwelche Methoden an Ihnen austesten. Die Instrumente, derer ich mich bediene, stellen nur Hilfsmittel auf dem Weg zur Erreichung unseres gemeinsamen Ziels dar, das darin besteht, Abhilfe für Situationen zu schaffen, die ein Problem für Sie darstellen könnten. Sie haben also keinesfalls Selbstzweck, falls es das war, worauf Sie sich bezogen haben.«
       Seine Augen spiegelten beinahe vor Argwohn.
       »Sie müssen mir nicht glauben, Herr Schürk, dass das kein abgekartetes Spiel ist, das Ihnen irgendwie zum Nachteil gereichen kann – dazu kann Sie keiner bringen und das kann auch niemand von Ihnen verlangen.« Seine Gesichtszüge waren weiterhin unerbittlich konturiert. Für einen Augenblick überlegte sie, ihm die Blätter zu reichen, die Regina zu seinem Befund angelegt hatte, um eine offene Gesprächsgrundlage zu schaffen. »Meine Kollegin hat mir nicht ausführlich auseinandergesetzt, was passiert ist, daher würde ich das gern von Ihnen hören, denn es scheint bei Ihnen gewisse Trigger zu geben, die in Ihnen offenbar traumatische Erinnerungen wachrufen.«
        »Schon okay«, gab er mit einem Schulterzucken zurück, das eine Spur zu entspannt aussah. »Ich hab’s hinter mir.«
       Sie wog den Kopf. »Das sieht mir allerdings nicht danach aus, wenn ich ehrlich sein darf. Ganz offensichtlich kämpfen Sie noch damit.« Der Kugelschreiber wanderte aus ihrer Handfläche unter ihren Zeigefinger. »Was haben Sie erlebt?«
       Die Eisfläche in seinem Blick ragte wieder ohne jeden Riss, in den man die Finger graben, an dem man sich hochziehen, entlangschieben konnte, vor ihr auf.
       »Auch wenn es abgedroschen klingt: Sie fühlen sich besser, wenn Sie mit mir darüber sprechen, glauben Sie mir.«
       Mit einem tiefen Einatmen wandte Herr Schürk den Blick aus dem Fenster, versteinerte dann. Sie zählte bis zehn, bis fünfzehn, sah eine Elster hinter ihm vorbeiziehen, folgte mit den Augen dem langsamen Zug der tief hängenden, grauen Wolken. Es sah nach Regen aus.
       »Was ist Ihnen passiert, Herr Schürk?« Keinen Druck auf die Stimme legen, gerade so laut sprechen, wie es in einem geschlossenen Zimmer nötig ist, damit man sich noch versteht, Raum zum Nachdenken, zum Formulieren, zum Herantasten an die Sprache geben. Doch ihr Klient rührte sich nicht, seine Augen gingen in eine grenzenlose Ferne. Thousand-yard stare.
       Kaum drei Monate war es her, dass der kleine rothaarige Herr Greiner hier vor ihr gesessen hatte und seine Schluchzer durch ihr Behandlungszimmer gehallt hatten. 19 Jahre jung, tief in der Seele erschüttert von den Bildern, die sich ihm beim Einsatz bei einem Verkehrsunfall aufgedrängt und ihn seitdem nicht mehr verlassen hatten. Nein, sie hatte ihm nicht helfen können, das hatte er nur selbst vermocht, wie aus seiner Dankesmail an sie hervorgegangen war, in der er seinen Abschied von der Polizeilaufbahn erwähnt hatte.
       Zeit geben, ihm und ihr, durchatmen. Das Glas war kühl und glatt in ihrer Hand, als sie danach griff, sie nahm einen Schluck, setzte es gerade so ab, dass sie Herrn Schürk durch ein Geräusch in einer normalen Lautstärke bei sich behielt. Ihre Finger bekamen das Papier nicht sofort zu fassen, sie musste das länger anhaltende Rascheln nicht spielen, als sie noch einmal die Symptomliste aufblätterte.
       »Wenn es Ihnen leichterfällt«, setzte sie schließlich neu an, »können Sie gern nach verschiedenen Lebensbereichen unterscheiden – Beruf, Freundschaften, Beziehung, Zeit mit sich allein. Manchmal hilft es, sich bewusst zu machen, wie es einem in verschiedenen Situationen mit verschiedenen Menschen geht, was einem guttut und womit man sich vielleicht nicht ganz so gut fühlt.«
       Schürk saß, als könne sein Gehör keine Geräusche irgendeiner Art aufnehmen. Nicht seufzen, nicht die Augen verdrehen, niemals seine Ungeduld zeigen. Sie zählte bis zehn und noch einmal bis fünfzehn. Dann legte sie den Stift beiseite. »Sehen Sie, Herr Schürk: Wenn Sie nichts erzählen, machen Sie es sich schwerer, als Sie müssten.« Wieder verschränkte sie die Hände über der, abgesehen von Reginas Aufzeichnungen, noch leeren Akte, verharrte aber auf ihrer Höhe, drang nicht in seine Schutzzone vor. Ihr Klient nahm aber ohnehin keine Notiz davon, er zeigte keine Reaktion auf ihre Worte. Sie schluckte, nickte für sich. »Ich kann Sie nicht zwingen, dass Sie mir davon berichten, was Sie belastet, und das möchte ich auch gar nicht. Aber vielleicht können Sie lernen, sich Schritt für Schritt mit dem auseinanderzusetzen, was Sie beeinträchtigt, so wie gestern im Training.«
       Nach der langen Abwesenheit jeder Bewegung von seiner Seite war es, als fahre Leben in eine Fotografie, auch wenn er nur die Augen schloss und leicht den Kopf schüttelte. Er lachte tonlos auf, es zog den ihr zugewandten Mundwinkel wenige Millimeter in die Höhe.
       »Sich im geschützten Raum zu öffnen, kann ein hilfreicher Weg sein, sich seinen Ängsten zu stellen. Sie können üben, ihren Gefühlen kontrolliert zu begegnen, sie wieder zu beherrschen. Schließlich wollen wir doch alle nicht, dass es Sie in einem Einsatz mit ihren Kollegen …«
       »Okay«, schnitt er ihr scharf das Wort ab. Nun war sie es, die den Kopf zurückzog, als sich seine weit geöffneten Augen in ihre bohrten. In Schürks Hölle loderte kein Feuer. Es war ein Ort aus Eis und Schnee, der in völliger Dunkelheit lag. »Mein Vater hat mir die Augen verbunden, mich gefesselt, mir einen Bleigürtel umgelegt und mich dann in seinen Swimmingpool geschmissen, damit ich lerne, mich selbst zu befreien. Genügt das?« Seine Züge waren unter seinen Worten unbewegt geblieben, doch in der Tiefe seiner Augen tobte ein reißendes Inferno aus geeisten Flammen.
       »Was hat er Ihnen sonst angetan?«
       Als ihre Finger sich nach dem Stift streckten, den sie mit dem Clip am Klemmbrett befestigt hatte, zuckte Schürks Blick sofort zu ihrer Hand, die sie daraufhin flächig auf dem Papier ablegte. Ruhe bewahren, nicht den Pfad verlassen, den sie zusammen zwischen den Dornensträuchern im Dickicht freigelegt hatten.
       Seine Pupillen hatten sich zu angestrengten Punkten zusammengezogen. »Er hat mich verprügelt und mir dabei im Monatsabo irgendeinen Knochen gebrochen, er hat mich tagelang ohne etwas zu essen in einen Schrank gesperrt mit Weckern davor, die im Halbstundentakt geklingelt haben, um mir dann nach 72 Stunden Schlafentzug mehrere Stunden Denkaufgaben und Fangfragen zu stellen. Wenn ich falsch geantwortet habe, hat er die Zeit, bis er mir etwas zu trinken gab, jeweils um zwanzig Minuten verlängert.« Herr Schürks Blinzeln, das nach so langer Zeit seinen starren Blick verwischte, ließ sie beinahe zusammenzucken. »Er ließ mich Gewichte stemmen, bis mir das Blut über die Hände lief, er hat mich mit einem Nylonseil stranguliert. Wollen Sie’s als beeidigte Zeugenaussage mit Unterschrift und Stempel?«
       Ihr Kopf schwirrte von seinen heruntergeratterten Schilderungen. Der beißende Hohn in seinen Worten war an seinem Gesicht nicht abzulesen. Er hatte gelernt, etwaige Anzeichen von Schwäche zu übertünchen, das sah man ihm an, doch seinen Blick kontrollierte er nicht gut genug. Blank und roh lag der Schmerz, der an den Mauern seiner Seele zurückprallte und keinen Weg nach außen fand, in seinen eisblauen Augen ausgebreitet, reichte bis in die Tiefe hinab.
       Sie brach den Blickkontakt zu ihm nicht, wagte es nun selbst kaum mehr zu blinzeln. Langsam legte sie den Kopf schief, da schoss in seinen Augen sofort eine spröde Mauer in die Höhe.
       »Und wie geht es Ihnen jetzt damit? Jetzt gerade, in diesem Moment, und auch generell – in der Arbeit, in Ihrem Privatleben, wenn Sie etwas mit Freunden unternehmen …«
       »Prima.« Sein Lächeln war frostig und zersplitterte wenige Millisekunden nach seinem gefälschten Urteil. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Lippen, die eigentlich einen schönen Schwung aufwiesen, blass, schmal und hart geworden waren. »War’s das dann?« Er schraubte sich aus dem Sessel in die Höhe, zog seinen Rollkragenpullover glatt. »Ich habe heute noch was zu tun.«
       »Wie Sie möchten, Herr Schürk.« Sie stand auf und streckte ihm die Hand hin, die er nach einem kurzen Blick darauf nicht nahm, sondern in der Luft hängen ließ. Ihre Finger waren kalt geworden, sie umschloss sie mit denen der anderen Hand und knetete sie leicht. »Dann vielen Dank, dass Sie das Angebot wahrgenommen haben. Ich würde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören.«
       Die Antwort von seiner Seite sparte die Sprache aus. Beinahe lautlos glitt er zur Tür hinaus und verschanzte sich dahinter, als er sie mit einem bestimmten Ruck ins Schloss zog.

Unter seinem langen Ausatmen flatterte die Kante des Fotos und damit die Schusswunde mit dem beinahe pervers runden Blutfleck. Ein aufgesetzter Schuss, mit perfekter Kenntnis der anatomischen Lage des Herzens abgefeuert, eine Hinrichtung im Schreibtischstuhl.
       Leos Augen suchten die Uhrzeit in der unteren Ecke des Monitors. 15:03. Pia mühte sich nun schon seit zweieinhalb Stunden mit Schneiders Ehefrau ab. Nach ihrem erlittenen und mit Beruhigungsmitteln bezwungenen Schock hatte sie sich mit einem Mal als sehr redselig erwiesen, doch ob aus den assoziativ zwischen ihren Schluchzern hervorgewürgten Erzählungen etwas Verwertbares herauszufiltern war, wagte er zu bezweifeln.  
       Leiber selbst war trotz aller Bemühungen noch nicht einmal ans Telefon zu bekommen, er hatte von unterwegs genug damit zu tun, die von der Presse aufgepeitschten Wogen zu glätten, die sein Unternehmen umspülten, auch wenn er ihm nicht mehr lange vorstehen sollte. Und genau da verfingen sich die Fäden ihrer Ermittlungsansätze in einem gordischen Knoten. Warum zum Teufel entledigte er sich noch in den letzten Monaten seines Cäsarentums in einer deutschen Telekommunikationsfirma unliebsamer Mitarbeiter und beschränkte sich dabei nicht auf seinen weit ausgreifenden Hofstaat, sondern ging nun dazu über, diese unmittelbar im Firmensitz auszuschalten?
       Auf ein leises Klicken hob Leo den Kopf. Er hatte gar nicht bemerkt, dass jemand hereingekommen war. Gerade eben sah er noch, wie Adam die Türklinke fahren ließ, bevor er zu seinem Schreibtisch hastete.
       Schon gestern hatte er sich den ganzen Tag hinter seinem Bildschirm verkrochen. Es hatte lange gedauert, bis es seinen Körper nicht mehr geschüttelt hatte. Frau Löffler war zum Glück irgendwann verschwunden, in die Flucht geschlagen von der eigenen Hilflosigkeit. Irgendwie hatte sie ihm sogar leidgetan, schließlich hatte niemand ahnen können, noch nicht einmal Adam selbst, dass die ganze Übungssequenz dermaßen eskalieren würde. Auch Esther war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen gewesen, als habe er sich ihre Anwesenheit davor eingebildet. Nur Pia war zurückgeblieben, ihr Anblick war Mitleid erregend gewesen, wie sie bewegungslos dagestanden und ihn mit den Augen gefragt hatte, ob sie etwas tun könne. Während er auf Adams Zittern unter seiner Hand gefühlt hatte, hatte er nur so unmerklich den Kopf geschüttelt, dass es seinen Freund nicht hatte aufschrecken können, Pia jedoch begriffen und sich ein wenig verletzt davongestohlen hatte. Als er Adam schließlich hochgezogen hatte, hatte er noch ein wenig unsicher auf wackeligen Knien gestanden, was nicht an seinen Zügen abzulesen gewesen war, sich aber im Griff gespiegelt hatte, mit dem er sich an Leos Oberarmen festgehalten hatte.
       Den restlichen Tag über war sein Freund ihm ausgewichen, wo er nur gekonnt hatte, und als er schließlich seine Jacke übergestreift hatte, hatte er, auch wenn Leo dagegengehalten hatte, vehement den Kopf geschüttelt. »Nein, Leo, es tut mir echt leid und wird nicht mehr vorkommen, versprochen. Ich arbeite daran.« Für einige Sekunden hatte Leo nur die Tür anstarren können, hinter der sein Freund verschwunden war, gefangen in der Diskrepanz zwischen dem Schwanken in Adams Stimme und seinem eisernen Gesichtsausdruck. Immerhin war Adam sogar einmal verhältnismäßig pünktlich nach Hause gegangen, wobei dies ganz offenbar nur ein zweifelhafter Erfolg gewesen war, wenn er ihn sich jetzt so ansah. Er wirkte nicht so, als habe er in der vergangenen Nacht auch nur eine Minute geschlafen, seine Nerven waren von den Verhören der drei Fußballjungen, denen noch etwas zum Mord an dem Obdachlosen eingefallen war, schwer angesägt, das ahnte er mehr, als dass er es seinem Freund ansah. Mittlerweile konnte er die kleinen Anzeichen deuten. Adams Augen waren ein bisschen zu groß, seine Stirn kräuselte sich kaum merklich über seinen Augenbrauen, jede Spannung war aus seinen Wangen gefallen. Wenigstens, wenn auch nur zu einem verkürzten, weil verspäteten Termin, hatte er Frau Buchwald aufgesucht, das war ja schon einmal ein Anfang.
       »Wie geht’s dir?«
       Ein Blätterrascheln war die einzige Antwort, dabei wusste Leo, dass sein Freund sich bereits fast komplett durch die Zettelsammlung gearbeitet hatte, die Esther ihm gestern Nachmittag auf den Schreibtisch gekippt hatte, bevor sie in den Feierabend verschwunden war und sich heute Morgen krankgemeldet hatte. Vor nächster Woche würde sie wohl kaum noch einmal hier aufschlagen, das ließ ihr Ehrgefühl mit Sicherheit nicht zu.
       »Wie war’s?« versuchte Leo es mit einer anderen Frage als der, auf die Adam schon am Morgen nicht reagiert hatte. Natürlich war er wieder vor ihm da gewesen, wenigstens eine halbe Stunde früher, der Anzeige auf seinem Telefon mit dem verpassten Anruf von Frau Wenzel nach zu schließen, den er ihm in knappen Worten zusammengefasst und als Ausweichmöglichkeit genutzt hatte.
       Diesmal würde er ihm allerdings nicht auskommen, da Leo nicht weiter im Spiel blieb, sondern ihn direkt regungslos musterte, bis er mit den Schultern zuckte, bevor er sich wieder seinem Bildschirm zuwandte. Leo atmete tief aus und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. Er pendelte hin und her, her und hin, schob sich dann mit einem Ruck in die Höhe.
       Es dauerte eine Weile, doch irgendwann sah Adam zu ihm auf, nachdem er so dicht an der Schreibtischkante stehen geblieben war, dass sie ihm beinahe in die Oberschenkel drückte. Der Widerwille auf Adams Zügen machte schnell einer Verwirrung Platz, die im blassen Licht des Monitors markante Umrisse aufwies.
       Leo nickte über seine Schulter in Richtung der Tür. »Geh heim, Adam.«      
       Seine Worte versanken in den zwei Falten zwischen Adams Augenbrauen. »Zur Observation bei Leiber?«
       Das hätte er sich eigentlich denken können, dass sein Partner das Gespräch zu diesem Thema mitbekommen hatte, das er zwischen Tür und Angel mit Pia geführt hatte, wenige Minuten bevor sie damit begonnen hatte, Schneiders Ehefrau zu befragen. Eigentlich hätte er Adam zu dieser Zeit in der Rechtsmedizin im Gespräch mit dem Brandermittler oder im Verhör mit einem der drei Schüler vermutet, aber bei ihm wusste man nie, wo er sich gerade lautlos herumtrieb.
       Er schüttelte den Kopf. »Heim, Adam – nach Hause, und zwar wirklich.«
       Adams Augen sprangen hin und her, ein wenig langsamer, als Leo es von ihm gewohnt war. Er atmete tief aus und ließ für einen Moment den Blick über die von Adam mit klaren, festen Strichen angelegte Verbindungsübersicht zwischen den Leibers an der Pinnwand hinter ihm gleiten, er stützte die Hände in die Hüften. »Nein, Adam, du kannst die Observation nicht schon übernehmen, sie ist noch nicht einmal genehmigt und beginnt ohnehin erst morgen.« Er sah wieder auf seinen Freund herab, der ihn abwartend musterte, und bemühte sich, die Ungeduld aus seiner Stimme zu nehmen. »Mach dir einen ruhigen Nachmittag und versuch mal, auf andere Gedanken zu kommen.«
       Noch nicht einmal Adams Zeigefinger auf der Maustaste bewegte sich. Leo musste lächeln, auch wenn es auf seinem Gesicht spannte.
       »Ich kann dir immer noch Bescheid geben, wenn ich keine Unterstützung bewilligt bekomme, okay?«
       Für einen Moment war es Leo unheimlich, wie Adams helle Augen sich in seinen Blick brannten, da wandte sein Freund sich auch schon ab. Er nickte vage, klickte zweimal und wartete kurz, dann klappte er seinen Laptop zu.
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