Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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Dieses Kapitel
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20.08.2022
4.357
Sooo – hier kommt einmal wieder ein neues Kapitel. Bitte passt auf Euch auf, es werden darin Panikattacken und Suchtverhalten thematisiert. Trotzdem viel Vergnügen damit und ein schönes Wochenende wünsche ich Euch!
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Kapitel 12 – Pendelschwung
Das Linoleum quietschte unter Pias Füßen, es war unwillig, wollte sich nicht sofort bezwingen lassen, als sie die Fersen dagegenstemmte, um einen sicheren Stand zu bekommen. Dass Leo schwer war, hatte sie angenommen, aber sein Gewicht überstieg ihre Vorstellungen, und sie musste deutlich kräftiger zupacken, als sie es in den Fingern gehabt hatte. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, auch Esther beugte sich nach vorn. Ihre Gesichtszüge waren steif, ihre Augen lagen fest auf Leo, die Brauen kamen über der Nasenwurzel spitz aufeinander zu.
Pia fühlte ein unangenehmes Ziehen über dem Ellbogengelenk, ihr Bizeps zitterte, da wurde ein Großteil von Leos Gewicht mit einem Mal aufgehoben. Adams eisige Hand streifte ihre, als er an Leos Oberarm zugriff und ihn stetig wieder aufrichtete. Pia fasste in Leos Kreuz nach, es war, als berühre sie eine aus Eichenholz geschnitzte Statue. Offenbar hatte er sich die ganze Zeit über angespannt gehalten, was nun wesentlich dabei half, ihn wieder auf die Füße zu stellen. Kaum war er wieder in der Vertikalen, da klopfte Adam ihm zweimal auf die Schulter, bevor er neben ihn trat und das Feld wieder ihm überließ.
»Gut, das war doch schon mal ein vielversprechender Anfang.« Erneut konnte Pia sich der Frage nicht erwehren, wie alt ihre Trainerin wohl sein mochte. Der blonde Pferdeschwanz machte Frau Löffler jünger, als sie tatsächlich war, vermutete sie. Die Lachfältchen um die Augen sprachen eher dafür, dass sie eine Altersgenossin von Esther war oder ihrer Partnerin sogar noch ein paar Jahre voraushatte.
»Wie war’s für Sie, Herr Hölzer?«
»Ungewohnt, aber …« Leo drehte den Kopf hin und her, seine Augen suchten in der Turnhalle einen Fixpunkt, er wirkte wie ein Schüler bei der Geografieabfrage. »Nicht schlecht, würde ich sagen.«
»Und für den Rest?«
Esther nickte rasch. »Okay.«
Die Mühe, sich selbst eine Äußerung zu überlegen, machte Adam sich nicht, er nahm einfach Esthers Geste auf und schwieg, was Frau Löffler als Urteil aber akzeptierte, sodass sich ihr Blick auf sie heftete.
»Und für Sie?«
Pia zuckte mit den Achseln. »Irgendwie gar nicht so besonders«, fasste sie ihren Eindruck ehrlich in Worte. »Es erinnert mich ein bisschen an unsere Zeit in der Polizeischule zurück.«
Offenbar hatte sie mit ihren herumeiernden Worten die Erwartungen ihrer Trainerin erfüllt, zumindest dem Lächeln nach zu schließen, das sich über ihre Züge legte und ihr Gesicht weich machte. Sie war in Ordnung, das hatte Pia sich gleich gedacht, als sie sich ihnen vor kaum einer halben Stunde vorgestellt und erläutert hatte, weshalb sie hier waren. Die Fähigkeit zum Abbau von Abneigung ihrer Person gegenüber besaß sie wenigstens schon einmal.
Gleich um Viertel nach acht hatte Leo mit einem Gesicht, als leide er unter schweren körperlichen Schmerzen, eine Konferenz einberufen und ihnen unterbreitet, dass die Kriminaldirektion für den noch frisch vor ihnen liegenden Tag eine spontane Veranstaltung zum Teambuilding für sie vorsah. Esther hatte das Gesicht in den Händen vergraben und laut aufgestöhnt, Adam mit frostigem Blick den Raum nach jemandem abgesucht, den er mit seiner Dienstwaffe niederstrecken konnte.
»Prima, das hört man doch gern.« Da war sie wieder, diese Motivation, diese Begeisterungsfähigkeit, wie sie wohl allen Trainern und Coaches durch die Arterien und Venen floss, jede Zelle des ganzen Körpers damit versorgend. »Wollen Sie dann gleich weitermachen, Frau Heinrich?«
»Klar.«
Wie ihnen vorhin erläutert worden war, brachte sie sich in Position, atmete einmal ein, einmal aus, lauschte auf die Atemzüge ihrer Kollegen. Sie wollte es ausprobieren, schloss wie auch Leo vorhin die Augen, dann ließ sie sich rückwärtsfallen. Sofort war da ein Arm, der sich ihr um die Schulter legte, ein anderer, der sie um die Taille fasste. Dem Wendepunkt wurde seine Existenzberechtigung abgesprochen, es war eine einzige fließende Bewegung, und schon ging es für sie wieder aufwärts. Ein Körper drückte sich an ihren Rücken, ein Körper, den sie kannte. Der Duft von Adams Aftershave, sein kühler Atem, den er durch die Nase ausstieß und der ihren Hals streifte, ließ ihr Herz in Galopp verfallen. Er und Leo schienen keinerlei Mühe mit ihr zu haben, sie stand sicher wieder auf den Füßen, bevor sie es wirklich begreifen konnte. Esthers Griff spürte sie erst, als sie ihre Hände von ihrem Arm löste.
»Wunderbar«, strahlte Frau Löffler sie an, sowie sie die Augen wieder aufschlug. »Das klappt ja fantastisch. Wer möchte weitermachen? Jeder darf mal. Herr Schürk? Gern.«
Adams Schulterzucken war Pia Indiz dafür, dass ihre Trainerin irgendeine Regung von seiner Seite als motivierte Zustimmung überinterpretiert hatte. An ihrer Reihe entlang ging er zu Frau Löffler, nahm ihre Aufstellung mit einem raschen Seitenblick auf. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu, sofort schnellte Pia nach vorn. Vor dem Fallen hatte Leo sich einige Sekunden vorbereitet, sie genauso. Dass Adam vollkommen darauf verzichten würde, hätte sie sich eigentlich denken können. Mit seinem Vorpreschen hatte er aber nicht nur sie überrascht. Ihre beiden Kollegen hatten wie sie einen stolpernden Schritt in seine Richtung gemacht, und obwohl sie alle sofort zugegriffen hatten, lag Adam um einiges tiefer auf ihren Armen, als es bei Leo vorhin der Fall gewesen war, dabei brachte er deutlich weniger Gewicht auf die Waage als sein Partner. Sein Körper hing vollkommen locker in ihrem Halt, bis er am tiefsten Punkt mit einem leichten Ruck Schwung holte und sich auf einen Schlag anspannte. In seinen frostblauen Augen war keine Änderung abzulesen, sie lagen weiterhin unbewegt auf einen fernen Punkt an der Turnhallendecke gerichtet, auch dann noch, als sie begannen, ihn wieder aufzurichten. Pias Hand löste sich von seinem Oberarm, zuckte zurück, als ihre Fingerspitzen ihn auf Höhe seiner Nieren streiften. Als habe er es geahnt, hatte Leo seine Hand schon flächig zwischen Adams Schulterblätter gelegt. Er drückte sich gegen ihn und brachte ihn wieder in die Vertikale, ohne dass Pia viel beizutragen brauchte.
»Gut, Herr Schürk«, lobte Frau Löffler, während Adam mit einem knappen Nicken an ihr vorbeiging und sich zwischen Leo und Pia wieder ihr gegenüber einrichtete. »Aber denken Sie immer daran, dass Sie anderen Zeit geben sollten, wenn sie die Verantwortung für Sie tragen.«
Pias Blick flog zu Adam, als sie Frau Löffler die Schultern heben und die Handflächen wie die Augen gen Decke richten sah. Sie erhaschte gerade noch den Ansatz seines schiefen Grinsens, bevor seine Züge wieder erstarrten.
»Gut – ja«, relativierte Frau Löffler. »Mir ist schon bewusst, dass für eine solche Überlegung in Ihrem Alltag oft kein Raum bleibt. In jedem Fall: eine gute Übung für Ihr Team, Herr Schürk – prima.« Sie rieb kurz die Hände gegeneinander, bevor sie sich Esther zuwandte und langsam nickte. »Frau Baumann? Sie sind an der Reihe. Danach probieren wir etwas anderes aus.«
Auch wenn Esther entschlossen an Pia vorbeiging, so war es trotzdem nicht zu übersehen, dass ihre Partnerin den Mund verzog. Mit verschränkten Armen lief sie ihr Spalier ab, postierte sich schließlich mit dem Rücken zu ihnen, blickte sich über die Schulter nach ihnen um.
»Genau, sehen Sie sich ruhig noch einmal alles an«, schaltete Frau Löffler sich mit Meditations- und Yogaanleitungsstimme ein. »Und lassen Sie sich erst fallen, wenn Sie sich wirklich dazu bereit fühlen.«
Wie von einem Seil in die Höhe gezogen, strebten Esthers Schultern aufwärts, sackten auf einen Schlag wieder herab. Aus dem Augenwinkel sah Pia Leo und Adam vorschnellen, als ihre Partnerin einen Schritt rückwärts machte, bevor sie sich ruckartig wieder ganz gerade aufrichtete.
»Nehmen Sie sich Zeit, Frau Baumann – kein Problem. Genau dafür sind wir ja hier.« Mittlerweile waren sie offenbar auf der Ebene einer Selbsthilfegruppe angelangt. Frau Löfflers Stimme war eine Terz tiefer und salbungsvoller als vorhin noch.
Diesmal kam Pia ihren Kollegen zuvor, als sie auf Esthers Bewegung an sie herantrat, doch da richtete ihre Partnerin sich stocksteif auf und warf sich herum. Ihr Gesicht war versteinert, der Mund klein, ihre Augen öffneten sich in eine dunkle Tiefe.
»Ich kann das nicht.« Sie verschränkte die Arme. »Keine Chance, tut mir leid.«
»Nichts zu entschuldigen, Frau Baumann.« Mit einer weichen Handbewegung wischte Frau Löffler Esthers kategorisches Schulterzucken fort. »Woran liegt ihre Verweigerungshaltung?«
»Wenn ich das wüsste, könnte ich’s ja wohl beheben.«
Ihre Trainerin nickte in die Ecke der Sporthalle, als hätten die Medizinbälle in der Ablage mit ihr gesprochen. »Wollen Sie es noch einmal mit Frau Heinrich und mir probieren, im Stil eines Hin- und Herpendelns? Diese Übung praktizieren sogar Profifußballklubs, es ist eine ein wenig abgeschwächte Form.«
Esther hatte sich nicht mehr gerührt, nur ihr Blick flackerte wie ein in niedrigen Flammen zuckendes Feuer.
»Oder können wir das am Ende noch einmal aufnehmen?« hörte sie Leos Stimme direkt neben sich. Seine Hand markierte eine Grenze rechts von ihm. »Welche Übungen haben Sie noch für uns?«
»Aber natürlich, probieren wir etwas anderes.« Gefügiges Mädchenlächeln. »Ich habe noch eine sehr schöne Übung für Sie. Folgen Sie mir bitte zum Parcours.«
Gerade eben konnte Pia noch ein Seufzen unterdrücken. Sie sah sich schon unter Esther, die ein Brücke auf Yogablöcken machte, hindurchkriechen, um dann von Adam Räuberleiter gemacht zu bekommen, damit sie über Leo als lebende Mauer hinwegsteigen konnte. Der aufgebaute Hindernisweg sah jedoch verhältnismäßig harmlos aus, soweit sie das auf den ersten Blick beurteilen konnte, ein wenig wie die Versuchsaufbauten, durch die man Mäuse und Ratten hindurchtrieb, um diejenigen herauszufiltern, die intelligent genug für die nächste Experimentreihe waren.
Mit einem Schwung ihres schlanken, in Jeggings gekleideten Beins wandte Frau Löffler sich nach ihnen um. »Möchten Sie vielleicht beginnen?«
Kein Zucken lief durch Esthers Glieder, keine Regung über ihr Gesicht.
»Stellen Sie sich bitte mal hierher? Mit dem Rücken zu mir, genau.«
Esther blickte zwischen ihnen vorbei an die gegenüberliegende Wand, während ihre Trainerin ein langes schwarzes Tuch aus ihrer Hosentasche und durch die Finger zog. Der seidige Stoff sirrte leise unter ihren Nägeln. »Ich werde ihr jetzt die Augen verbinden und Sie drei« – Frau Löffler ließ ihren Zeigefinger über ihre Gruppe schweifen, die vor ihr wie Rekruten für die Schweizergarde stehen geblieben waren – »Sie geleiten Frau Baumann sicher durch den Parcours. Sie dürfen dabei aber kein Wort sagen, keine Geräusche von sich geben, also auch nicht pfeifen oder so etwas, sondern nur anhand von Berührungen anzeigen, wohin sie gehen soll. Aber Sie dürfen selbstverständlich auch selbst den Parcours betreten, wenn es die Wegstrecke verlangt.« Frau Löfflers schlanke Hand umschrieb ein kleines Podest, eine etwa auf Brusthöhe angebrachte Stange. »Das wichtigste Ziel ist, Frau Baumann sicher und zielgerichtet auf ihrem Weg anzuleiten, etwa so.«
Ein leichter Druck an Esthers Schulter, die flache Hand an ihrem Rücken veranschaulichte das Prinzip.
»Fragen?« Der blonde Pferdeschwanz fiel Frau Löffler über die Schulter, als sie sich um Esther herumbeugte und ihr ins Gesicht sah. Auf ein knappes Kopfschütteln von ihrer Seite wandte sie die Aufmerksamkeit wieder ihrer kleinen Gruppe zu und nickte rasch. »Gut. Dann verbinde ich Ihnen jetzt die Augen und führe Sie zum Korridor, wo dann jemand von Ihren Kollegen übernimmt, in Ordnung?« Nach wenigen Sekunden sah Esther ein, dass sie mit ihrem Widerwillen nicht weiterkäme, sie rang sich ein halbherziges Nicken ab. »Sie drei wechseln dann nach Gefühl immer durch und führen so Frau Baumann die ganze Strecke entlang.« Ihr Zeigefinger umschrieb in Schlangenlinien die Biegungen, Stufen, Höhlungen und Ringe.
Esther blieb nichts, als sich dem Druck an ihrem Rücken zu fügen, doch ihre Schritte waren schleifend, wie Pia es gar nicht vom sonst so geschmeidigen Gang ihrer Partnerin kannte. Als habe sie das Nicken Frau Löfflers in die Richtung ihrer Gruppe gesehen, drehte Esther halb den Kopf nach ihnen und wartete.
Behutsam pirschte Pia sich an ihre Seite vor, legte ihr langsam die Hand an den Rücken. Auf einen leichten Druck ging sie los, folgte ihrem sanften Klaps und wandte sich nach links. Wie aus dem Nichts tauchte Leo neben ihr auf und nach einem schnellen Blickwechsel trat Pia beiseite. Sogleich füllte er ihren Platz aus, fasste mit den Fingerspitzen Esther an den Schultern und drehte sie seitlich, als sie an einem kniehohen, quer auf dem Weg liegenden Schaumstoffblock vorbeigehen musste. Kaum verbreiterte sich der Weg wieder, da tippte Leo ihr nur gegen die zurückgebliebene Schulter, schon wandte Esther sich zur Seite, schlug jedoch nicht vollkommen den vorherigen Kurs ein. Adam trat vor, drückte mit den Fingerspitzen von hinten gegen ihren Oberarm und dirigierte sie so wieder in die Gerade, dann schoss er los, als sie sich auf ein Podest aus einigen Stufen zubewegte. Wie ihr verselbstständigter, übermäßig ausgewachsener Schatten glitt er dicht an ihr vorüber und überstieg lautlos die Begrenzung des Parcours. Über die Schulter blickte er sich nach der ersten Stufe um, die er rückwärts betrat, während er die Hände ausstreckte. Blind umfassten seine Finger Esthers, er hob ihre Arme ein wenig an, da entriss sie ihm die Hände, als habe sie in glühende Lava gefasst. Hastig griff sie nach dem Knoten und löste die Augenbinde, sofort prallte sie zurück und stolperte aus dem Parcours. Mit einem Fuß blieb sie an der Umfassung hängen, kippte vornüber, fing sich aber gleich wieder.
»Was war jetzt –«
»Gar nichts«, würgte Esther fauchend Frau Löfflers Einwand ab, bevor sie ihn überhaupt hatte formulieren können. Sie strich sich eine Strähne, die ihr aus dem Zopf gefallen war, hinter das Ohr und ruckte mit dem Kopf, als wolle sie sich weitere Haare aus der Stirn werfen. »Vielleicht wollen es die anderen einmal probieren?«
»Sicher – es ist eine sehr schöne Übung«, garantierte ihre Trainerin. Ihre babyblauen Augen wanderten über ihre Reihe, als gehe es darum, eine Wickelauflage bei einer Motorradgang anzupreisen. »Herr Schürk – vielleicht?«
Adam holte tief Luft, während er zu Frau Löffler trat. Wie geheißen postierte er sich mit dem Rücken zu ihr. Obwohl er ein wenig in die Knie ging, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm die Augen zu verbinden. Seine langen Finger tasteten den schwarzen Stoff entlang.
»Zu fest?« Ihre Trainerin schielte an seinem Gesicht vorbei, als prüfe sie bei einem jungen Mädchen den Sitz des Haarschmucks.
Sofort fielen Adams Hände herab, er verneinte mit diesem halben Kopfschütteln, wie Pia es so oft an ihm beobachtet hatte. Kaum hatte Frau Löffler ihn zum Anfang des Korridors geführt, da ging er schon los, etwa im doppelten Tempo wie Esther. Er benötigte kaum ein Tippen von Leos Fingern gegen seine Schulter, damit er nach links abbog. Als er mit den Zehenspitzen gegen den Schaumstoffblock stieß, drehte er sich seitlich, bevor Pia ihn dazu hatte anregen können, schob sich gleichmäßigen Schrittes daran vorbei. Von seiner Hand erreichte Pia kaum ein Druck, als sie seine eisigen Finger umfasste und in die Höhe zog, um ihn über die Stufen zu führen. Beim Herabsteigen stützte er sich ein wenig auf sie, sein Atem streifte ihr Handgelenk, zwei rasche Luftzüge hintereinander. Schon atmete er wieder ein, er hob den Kopf, wie um Witterung aufzunehmen, sein Kiefergelenk stach scharf gegen seine Wange ab. Esthers Hand ragte als Sperre auf der Höhe seiner Brust auf, um ihn davon abzuhalten, sich an einer Stange aus festem apricotfarbenem Schaumstoff zu stoßen, die wie eine Schwimmnudel quer vor seinen Schultern beweglich auf einem Gestell gelagert war.
Zu spät schrillten die Sirenen in Pias Hinterkopf los, als Esthers andere Hand zwischen Adams Schulterblättern ihren Platz fand, um ihn vorsichtig in die Tiefe zu drücken, damit er unter dem Hindernis hindurchkäme. Als habe man ihm einen Stromschlag versetzt, sprengte er diagonal nach vorn weg, kollidierte mit der Stange, die dumpf pochend zu Boden hüpfte. Mit dem Fuß blieb er an der Umrandung hängen, stürzte darüber und riss sie um, mit einem Knall kam er auf den Knien und Händen auf, prallte sofort vor der Einfassung der nächsten Biegung zurück und schoss wieder in die Höhe. Ruckartig sog er mit geöffnetem Mund die Luft ein. Seine verkrampften Hände tasteten in der Luft nach einem Halt, einem Hindernis, das konnte Pia nicht einordnen.
Die Schritte sorgsam gesetzt ging er rückwärts, kam auf sie zu. Sie schloss die schmale Lücke zwischen ihnen und sprach ihn mit seinem Namen an, doch als sie ihn von hinten bei den Oberarmen fasste, schrak er zusammen und entriss sich mit einer für ihren leichten Griff viel zu vehementen Bewegung, strebte von ihr fort. Die nun leere Halterung der Schaumstoffstange stellte sich ihm entgegen, stürzte mit einem lauten Krachen um, als er dagegenstieß. Abermals trieb es Adam rückwärts fort, diesmal in eine vollkommen andere Richtung. Er stolperte über die Begrenzung auf der anderen Seite, riss die zum Slalom aufgestellten, abgerundeten Pylonen um. Es sah schmerzhaft aus, wie er sich mit der Rechten abfing, um nicht vollends zu Boden zu gehen. Als er sich gerade wieder halb aufgerichtet hatte, stürzte Leo heran, fasste ihn bei den Schultern, rief seinen Namen, doch Adams Ohren waren taub für die Stimme seines Partners. Mit einem gewaltsamen Rütteln entwand er sich Leos Griff und schnellte zur Seite fort. Leo Hand schoss vorwärts, schloss sich fest um Adams Unterarm.
»Adam – pass auf!«
Doch seine Warnung kam zu spät. Was er durch seinen Griff hatte vermeiden wollen, hatte er gerade herausgefordert, denn Adam war unter seiner Berührung zur Seite weggezuckt, und nur weil er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, krachte er lediglich mit der Schulter gegen die Backsteinmauer. Reflexhaft legte Leo eine Hand an Adams Gesicht, hielt dagegen, damit er nicht doch noch mit dem Kopf gegen die Wand schlüge.
»Ich mach dich los, Adam, ja? Hey! Bleib hier!« rief Leo, als Adam sich zusammenkauerte, den Kopf zur Brust zog und sich im Sitzen langsam rückwärts schob. Leo, der vor ihm kniete, schirmte ihn mit seinem breiten Rücken gegen Pias Gesichtsfeld ab. Er kam seinem Partner zuvor, der mit einem Mal nur noch schwerfällig weiterrobbte, und fasste hinter ihn. Schon war seine Hand am Knoten an Adams Hinterkopf, er zog die Augenbinde über sein Haar nach vorn ab, brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und seinen Partner. Locker fielen die golden glänzenden Strähnen um Adams Gesicht herab, doch verbargen sie nicht seine weit aufgerissenen Augen. Das schwarze Tuch hatte Leo neben sich fallen lassen, in einer konstanten, fließenden Bewegung beugte er sich nun vor und fasste Adam bei den Schultern.
»Hey, Adam.« Er suchte seinen Blick. »Hey. Ich bin’s – Leo.«
Als Adam weiter fortstreben wollte, legte Leo ihm eine Hand in den Nacken.
»Adam – hey. Hey! Sieh mich an. Komm – sieh mich an.« Zögerlich kam Adam seiner Aufforderung nach. Es schüttelte seinen Körper unter Leos Griff, das sah Pia auch ein paar Schritte entfernt.
»Alles gut, Adam, ja?« Die Spur eines Lächelns wärmte Leos Stimme an, rundete sie ab. »Alles gut.« Noch immer hielt er Adams Kopf im Nacken fixiert, seine andere Hand fuhr gleichmäßig an Adams Oberarm auf und ab. »Ich bin’s, Leo. Es ist alles okay – alles okay.«
Mit seinem Kopf sank Adams Blick herab, zog unkoordinierte Schleifen auf dem Boden. Als seine Brust mit einem stotternden Ruck absackte, erkannte Pia erst, dass seine Atmung schon wieder ausgesetzt hatte.
Leo wandte sich über die Schulter um, sein Gesicht war überraschend weich. »Ich glaube, das genügt für heute«, richtete er leise das Wort an Frau Löffler, die ihn aus tellergroßen Augen anstarrte, als sei ihr zum ersten Mal ein sprechendes Wesen begegnet. Seine Hand lag weiter ruhig und fest in Adams Nacken, die andere strich seinen Oberarm entlang. Leos Blick tastete ihre Trainerin, Esther, dann sie ab, bevor er sich wieder seinem Partner zuwandte.
Als das Schloss beim Aufsperren schleifte, hielt Pia kurz inne, dann schluckte sie ihre Skrupel hinunter, drehte den Schlüssel ganz herum und drückte die Tür auf. Ihr Blick lag auf Adams dunklem Wohnzimmer, während sie die Tür hinter sich zuzog. 21:42 zeigte ihr Smartphone an, vielleicht –
Sie hob den Kopf, eigentlich hatte sie es schon gewusst. Zwei Armlängen entfernt stand Adam und sah sie einfach nur an. Seine Augen schimmerten matt, sein Blick lag starr auf ihr. Mit drei schnellen Schritten war sie bei ihm, sein Kopf ruckte zur Seite, als sie die Hand ausstreckte und mit der Kante seinen Hals streifte.
»Hey«, flüsterte sie.
Der Duft seines Aftershaves zog sie zu ihm, sie lehnte sich an ihn, berührte mit den Lippen die weiche Haut unter seinem Kinn. Er kippte den Kopf, ein paar Zentimeter nur, legte so aber den Hals frei, ließ es geschehen, dass sie die Linie an seinem Kiefer entlang glitt, luftige Küsse auf seine samtige Haut, seinen Puls hauchte. Sie vergrub die Nasenspitze unter dem Ansatz seines Kiefers, fuhr die Linie neben seinem Ohr hinauf, drückte die Lippen auf seine Wange. Da atmete er tief ein, langsam umschloss er sie, zog sie dicht an sich, worauf sie es wagte, die Arme um ihn zu legen. Sein Atem ging jetzt regelmäßig, aber schnell, zu schnell.
Das legte sich erst einige Minuten später, als er es doch zuließ, dass sie den Arm unter seinem Nacken hindurchschob und seinen Arm hinauf- und hinunterstrich. Anfangs hatte er starr neben ihr gelegen, so viel Abstand zwischen ihnen herstellend, dass vermutlich sogar Leo mit seiner breiten Statur Platz gefunden hätte. Dass er ihre Anwesenheit geduldet und ihr nicht die Tür gewiesen hatte, hatte sie als Erfolg verbucht und es schließlich gewagt, sich auf die Seite und ihm zuzuwenden.
Unter seinem warmen Atem an ihrem Schlüsselbein wurde sein Körper weich, ließ sich enger an sie ziehen. Als sie bei seinem Ellbogen angekommen war, streichelte sie sich auf seine Seite hinüber, spürte der Kante seines Rippenbogens nach, fühlte die einzelnen Knochen, das leichte Pulsieren gegen ihre Haut. Flächig und bestimmt drückte sie ihre Hand gegen seine Brust, keiner von ihnen rührte sich mehr. In der Dunkelheit der Nacht und unter ihren geschlossenen Lidern war sie ganz Gespür und Gehör. Adams Atem wehte leicht vor ihr, unter ihren Fingern fühlte sie seinen Herzschlag, ruhig und gleichförmig.
Irgendwann, sie fühlte Adam schon wegdämmern, hob sie die Hand von seiner Brust auf, vergrub sie in seinem Haar.
»Wie viele waren es eigentlich heute? Vier? Fünf?«
Auf einen Schlag war Adam ein unnachgiebiger Holzblock in ihren Armen. Er holte nicht einmal mehr Luft, bis er sich mit einem tiefen Einatmen von der Matratze abzudrücken versuchte, doch sie hängte sich an seinen Hals.
»Hey, ist ja gut«, flüsterte sie mit dem Mund nahe bei seinem Ohr. Ihre Hand wanderte in seinen Nacken, streichelte seine Haut direkt am Haaransatz. »Ist ja gut.«
Wie sie ihn schwer auf die Matratze zog, gab er nach, die Anspannung löste sich, ließ ihn weich zurück. Erneut holte er tief Luft, als sie ihre Wange an seine legte, für einige Sekunden so verharrte. Er ließ es über sich ergehen, dass sie ihn auf die Stirn küsste, rutschte so weit nach oben, dass er seine kalte Nasenspitze unter ihre Wange schieben konnte. Sie lauschte auf seinen Atem, der ruhiger und ruhiger wurde, während sie seinen Arm streichelte, bis sein Körper mit einem Mal vollkommen schlaff in ihrer Umfassung lag. Es war ihr, als drücke ihr Herz durch die Brust nach oben, als habe es sich in der Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen eingenistet, als lasse es keine Luft mehr hindurchfließen. Noch nie hatte Adam so ohne jeden Muskeltonus an sie geschmiegt gelegen, noch nicht einmal nach seiner Überdosis, als er von Albträumen geplagt gewesen war, auch an Weihnachten nicht, damals waren es aber auch nur drei Tabletten gewesen. Was, wenn er es diesmal nicht bei vier, fünf Stück belassen hatte, sondern doch –
»Hast du so Angst, einen verblödeten Freund zu haben?«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch nicht in tiefen, von seinem Bewusstsein vollkommen losgelösten Schlaf geglitten war. Plötzlich hatte sich der Druck auf ihre Kehle verflüchtigt, ihr ganzes Bewusstsein zog sich auf ihr Gehirn zurück, kreiste um das eine Wort, das er völlig unaufgeregt, ohne jede besondere Betonung ausgesprochen hatte, und doch konnte sie nicht einen Gedankenfetzen festhalten.
»Häh?«
»Benzos verblöden«, murmelte Adam und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, nun wehte sein Atem über ihr Dekolleté, ganz leicht nur, als kaum fühlbarer Hauch.
»Na ja.« Ein Lächeln ergriff ihre Mundwinkel. Sie ließ die Hand von seinem Arm über seine Seite hinuntergleiten, sie blieb in der Senke seiner Taille liegen. »Dann ist deine Hirnaktivität wenigstens einmal auf meinem Level.«
Sein Schnauben fegte warm über ihre Brust, sein Kopfschütteln war ein kaum wahrnehmbarer Ruck.
Mit dem Kinn schob sie ein paar seiner weichen Haarsträhnen über seine Schläfe zurück, bevor sie mit den Lippen darüberstreifte. Sie legte die Wange an seine Stirn. »Ich hab einfach Angst, dass du dich kaputt machst, verstehst du?«
Aber von Adam kam keine Regung mehr, sie wusste nicht, ob er sie überhaupt noch gehört hatte. Seit sie ihn auf die Matratze zurückgezogen hatte, hatte er sich nicht mehr gerührt, nur noch den Kopf leicht gedreht, sein Atem ging ruhig, regelmäßig. Vielleicht bliebe er wenigstens diese Nacht von Albträumen verschont, von den Bildern, die –
»‘S tut mir leid«, murmelte er schleppend. Sein Tonfall fuhr ihr wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder. Seine vor Mutlosigkeit dunklen Augen schwebten wieder vor ihr, sie fühlte seinen Körper an ihrem zittern, in sich zusammenfallen, dabei lag er vollkommen bewegungslos vor ihr.
Entschuldige.
Es tut mir leid.
Manchmal ist es einfach besser, andere Menschen gleich von Anfang an zu enttäuschen.
Seine Taille hob sich, als er tief einatmete. Langsam und ein wenig zäh legte er sich zurecht, seine Stimme war mit einem Mal vollkommen klar, die Worte wehten hastig an ihr Ohr. »Ich weiß auch nicht, wie …«
»Sssssch.« Vorsichtig, um ihm nicht wehzutun, der sein Gesicht noch immer halb unter ihrem vergraben hatte, schüttelte sie den Kopf. Ihre Hand wanderte über seine eisigen Finger zu seinem Arm, flog darüber, bevor sie sich um seine Schulter schloss und ihn behutsam noch enger an sie zog. »Wir bekommen das hin, ja?« flüsterte sie.
Ob sie sich sein Nicken nur eingebildet hatte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, nun schlug ihn das Rohypnol endgültig nieder. Wieder lag er so still, wie sie es von ihm schon kannte, und es dauerte lange, ehe er Luft holte, ganz leise nur, ganz langsam. Eine Weile lauschte sie noch auf seine Atemzüge, die lediglich wisperten an ihren Ohren. Schließlich rückte sie ein kleines bisschen von ihm ab, um ihm mehr Luft zu lassen, und nach einem letzten Kuss auf seine Stirn ließ sie sich hinabgleiten in den Teil ihres Bewusstseins, der fühlte, wie ihrer beider Atemzüge verschmolzen.
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Kapitel 12 – Pendelschwung
Das Linoleum quietschte unter Pias Füßen, es war unwillig, wollte sich nicht sofort bezwingen lassen, als sie die Fersen dagegenstemmte, um einen sicheren Stand zu bekommen. Dass Leo schwer war, hatte sie angenommen, aber sein Gewicht überstieg ihre Vorstellungen, und sie musste deutlich kräftiger zupacken, als sie es in den Fingern gehabt hatte. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, auch Esther beugte sich nach vorn. Ihre Gesichtszüge waren steif, ihre Augen lagen fest auf Leo, die Brauen kamen über der Nasenwurzel spitz aufeinander zu.
Pia fühlte ein unangenehmes Ziehen über dem Ellbogengelenk, ihr Bizeps zitterte, da wurde ein Großteil von Leos Gewicht mit einem Mal aufgehoben. Adams eisige Hand streifte ihre, als er an Leos Oberarm zugriff und ihn stetig wieder aufrichtete. Pia fasste in Leos Kreuz nach, es war, als berühre sie eine aus Eichenholz geschnitzte Statue. Offenbar hatte er sich die ganze Zeit über angespannt gehalten, was nun wesentlich dabei half, ihn wieder auf die Füße zu stellen. Kaum war er wieder in der Vertikalen, da klopfte Adam ihm zweimal auf die Schulter, bevor er neben ihn trat und das Feld wieder ihm überließ.
»Gut, das war doch schon mal ein vielversprechender Anfang.« Erneut konnte Pia sich der Frage nicht erwehren, wie alt ihre Trainerin wohl sein mochte. Der blonde Pferdeschwanz machte Frau Löffler jünger, als sie tatsächlich war, vermutete sie. Die Lachfältchen um die Augen sprachen eher dafür, dass sie eine Altersgenossin von Esther war oder ihrer Partnerin sogar noch ein paar Jahre voraushatte.
»Wie war’s für Sie, Herr Hölzer?«
»Ungewohnt, aber …« Leo drehte den Kopf hin und her, seine Augen suchten in der Turnhalle einen Fixpunkt, er wirkte wie ein Schüler bei der Geografieabfrage. »Nicht schlecht, würde ich sagen.«
»Und für den Rest?«
Esther nickte rasch. »Okay.«
Die Mühe, sich selbst eine Äußerung zu überlegen, machte Adam sich nicht, er nahm einfach Esthers Geste auf und schwieg, was Frau Löffler als Urteil aber akzeptierte, sodass sich ihr Blick auf sie heftete.
»Und für Sie?«
Pia zuckte mit den Achseln. »Irgendwie gar nicht so besonders«, fasste sie ihren Eindruck ehrlich in Worte. »Es erinnert mich ein bisschen an unsere Zeit in der Polizeischule zurück.«
Offenbar hatte sie mit ihren herumeiernden Worten die Erwartungen ihrer Trainerin erfüllt, zumindest dem Lächeln nach zu schließen, das sich über ihre Züge legte und ihr Gesicht weich machte. Sie war in Ordnung, das hatte Pia sich gleich gedacht, als sie sich ihnen vor kaum einer halben Stunde vorgestellt und erläutert hatte, weshalb sie hier waren. Die Fähigkeit zum Abbau von Abneigung ihrer Person gegenüber besaß sie wenigstens schon einmal.
Gleich um Viertel nach acht hatte Leo mit einem Gesicht, als leide er unter schweren körperlichen Schmerzen, eine Konferenz einberufen und ihnen unterbreitet, dass die Kriminaldirektion für den noch frisch vor ihnen liegenden Tag eine spontane Veranstaltung zum Teambuilding für sie vorsah. Esther hatte das Gesicht in den Händen vergraben und laut aufgestöhnt, Adam mit frostigem Blick den Raum nach jemandem abgesucht, den er mit seiner Dienstwaffe niederstrecken konnte.
»Prima, das hört man doch gern.« Da war sie wieder, diese Motivation, diese Begeisterungsfähigkeit, wie sie wohl allen Trainern und Coaches durch die Arterien und Venen floss, jede Zelle des ganzen Körpers damit versorgend. »Wollen Sie dann gleich weitermachen, Frau Heinrich?«
»Klar.«
Wie ihnen vorhin erläutert worden war, brachte sie sich in Position, atmete einmal ein, einmal aus, lauschte auf die Atemzüge ihrer Kollegen. Sie wollte es ausprobieren, schloss wie auch Leo vorhin die Augen, dann ließ sie sich rückwärtsfallen. Sofort war da ein Arm, der sich ihr um die Schulter legte, ein anderer, der sie um die Taille fasste. Dem Wendepunkt wurde seine Existenzberechtigung abgesprochen, es war eine einzige fließende Bewegung, und schon ging es für sie wieder aufwärts. Ein Körper drückte sich an ihren Rücken, ein Körper, den sie kannte. Der Duft von Adams Aftershave, sein kühler Atem, den er durch die Nase ausstieß und der ihren Hals streifte, ließ ihr Herz in Galopp verfallen. Er und Leo schienen keinerlei Mühe mit ihr zu haben, sie stand sicher wieder auf den Füßen, bevor sie es wirklich begreifen konnte. Esthers Griff spürte sie erst, als sie ihre Hände von ihrem Arm löste.
»Wunderbar«, strahlte Frau Löffler sie an, sowie sie die Augen wieder aufschlug. »Das klappt ja fantastisch. Wer möchte weitermachen? Jeder darf mal. Herr Schürk? Gern.«
Adams Schulterzucken war Pia Indiz dafür, dass ihre Trainerin irgendeine Regung von seiner Seite als motivierte Zustimmung überinterpretiert hatte. An ihrer Reihe entlang ging er zu Frau Löffler, nahm ihre Aufstellung mit einem raschen Seitenblick auf. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu, sofort schnellte Pia nach vorn. Vor dem Fallen hatte Leo sich einige Sekunden vorbereitet, sie genauso. Dass Adam vollkommen darauf verzichten würde, hätte sie sich eigentlich denken können. Mit seinem Vorpreschen hatte er aber nicht nur sie überrascht. Ihre beiden Kollegen hatten wie sie einen stolpernden Schritt in seine Richtung gemacht, und obwohl sie alle sofort zugegriffen hatten, lag Adam um einiges tiefer auf ihren Armen, als es bei Leo vorhin der Fall gewesen war, dabei brachte er deutlich weniger Gewicht auf die Waage als sein Partner. Sein Körper hing vollkommen locker in ihrem Halt, bis er am tiefsten Punkt mit einem leichten Ruck Schwung holte und sich auf einen Schlag anspannte. In seinen frostblauen Augen war keine Änderung abzulesen, sie lagen weiterhin unbewegt auf einen fernen Punkt an der Turnhallendecke gerichtet, auch dann noch, als sie begannen, ihn wieder aufzurichten. Pias Hand löste sich von seinem Oberarm, zuckte zurück, als ihre Fingerspitzen ihn auf Höhe seiner Nieren streiften. Als habe er es geahnt, hatte Leo seine Hand schon flächig zwischen Adams Schulterblätter gelegt. Er drückte sich gegen ihn und brachte ihn wieder in die Vertikale, ohne dass Pia viel beizutragen brauchte.
»Gut, Herr Schürk«, lobte Frau Löffler, während Adam mit einem knappen Nicken an ihr vorbeiging und sich zwischen Leo und Pia wieder ihr gegenüber einrichtete. »Aber denken Sie immer daran, dass Sie anderen Zeit geben sollten, wenn sie die Verantwortung für Sie tragen.«
Pias Blick flog zu Adam, als sie Frau Löffler die Schultern heben und die Handflächen wie die Augen gen Decke richten sah. Sie erhaschte gerade noch den Ansatz seines schiefen Grinsens, bevor seine Züge wieder erstarrten.
»Gut – ja«, relativierte Frau Löffler. »Mir ist schon bewusst, dass für eine solche Überlegung in Ihrem Alltag oft kein Raum bleibt. In jedem Fall: eine gute Übung für Ihr Team, Herr Schürk – prima.« Sie rieb kurz die Hände gegeneinander, bevor sie sich Esther zuwandte und langsam nickte. »Frau Baumann? Sie sind an der Reihe. Danach probieren wir etwas anderes aus.«
Auch wenn Esther entschlossen an Pia vorbeiging, so war es trotzdem nicht zu übersehen, dass ihre Partnerin den Mund verzog. Mit verschränkten Armen lief sie ihr Spalier ab, postierte sich schließlich mit dem Rücken zu ihnen, blickte sich über die Schulter nach ihnen um.
»Genau, sehen Sie sich ruhig noch einmal alles an«, schaltete Frau Löffler sich mit Meditations- und Yogaanleitungsstimme ein. »Und lassen Sie sich erst fallen, wenn Sie sich wirklich dazu bereit fühlen.«
Wie von einem Seil in die Höhe gezogen, strebten Esthers Schultern aufwärts, sackten auf einen Schlag wieder herab. Aus dem Augenwinkel sah Pia Leo und Adam vorschnellen, als ihre Partnerin einen Schritt rückwärts machte, bevor sie sich ruckartig wieder ganz gerade aufrichtete.
»Nehmen Sie sich Zeit, Frau Baumann – kein Problem. Genau dafür sind wir ja hier.« Mittlerweile waren sie offenbar auf der Ebene einer Selbsthilfegruppe angelangt. Frau Löfflers Stimme war eine Terz tiefer und salbungsvoller als vorhin noch.
Diesmal kam Pia ihren Kollegen zuvor, als sie auf Esthers Bewegung an sie herantrat, doch da richtete ihre Partnerin sich stocksteif auf und warf sich herum. Ihr Gesicht war versteinert, der Mund klein, ihre Augen öffneten sich in eine dunkle Tiefe.
»Ich kann das nicht.« Sie verschränkte die Arme. »Keine Chance, tut mir leid.«
»Nichts zu entschuldigen, Frau Baumann.« Mit einer weichen Handbewegung wischte Frau Löffler Esthers kategorisches Schulterzucken fort. »Woran liegt ihre Verweigerungshaltung?«
»Wenn ich das wüsste, könnte ich’s ja wohl beheben.«
Ihre Trainerin nickte in die Ecke der Sporthalle, als hätten die Medizinbälle in der Ablage mit ihr gesprochen. »Wollen Sie es noch einmal mit Frau Heinrich und mir probieren, im Stil eines Hin- und Herpendelns? Diese Übung praktizieren sogar Profifußballklubs, es ist eine ein wenig abgeschwächte Form.«
Esther hatte sich nicht mehr gerührt, nur ihr Blick flackerte wie ein in niedrigen Flammen zuckendes Feuer.
»Oder können wir das am Ende noch einmal aufnehmen?« hörte sie Leos Stimme direkt neben sich. Seine Hand markierte eine Grenze rechts von ihm. »Welche Übungen haben Sie noch für uns?«
»Aber natürlich, probieren wir etwas anderes.« Gefügiges Mädchenlächeln. »Ich habe noch eine sehr schöne Übung für Sie. Folgen Sie mir bitte zum Parcours.«
Gerade eben konnte Pia noch ein Seufzen unterdrücken. Sie sah sich schon unter Esther, die ein Brücke auf Yogablöcken machte, hindurchkriechen, um dann von Adam Räuberleiter gemacht zu bekommen, damit sie über Leo als lebende Mauer hinwegsteigen konnte. Der aufgebaute Hindernisweg sah jedoch verhältnismäßig harmlos aus, soweit sie das auf den ersten Blick beurteilen konnte, ein wenig wie die Versuchsaufbauten, durch die man Mäuse und Ratten hindurchtrieb, um diejenigen herauszufiltern, die intelligent genug für die nächste Experimentreihe waren.
Mit einem Schwung ihres schlanken, in Jeggings gekleideten Beins wandte Frau Löffler sich nach ihnen um. »Möchten Sie vielleicht beginnen?«
Kein Zucken lief durch Esthers Glieder, keine Regung über ihr Gesicht.
»Stellen Sie sich bitte mal hierher? Mit dem Rücken zu mir, genau.«
Esther blickte zwischen ihnen vorbei an die gegenüberliegende Wand, während ihre Trainerin ein langes schwarzes Tuch aus ihrer Hosentasche und durch die Finger zog. Der seidige Stoff sirrte leise unter ihren Nägeln. »Ich werde ihr jetzt die Augen verbinden und Sie drei« – Frau Löffler ließ ihren Zeigefinger über ihre Gruppe schweifen, die vor ihr wie Rekruten für die Schweizergarde stehen geblieben waren – »Sie geleiten Frau Baumann sicher durch den Parcours. Sie dürfen dabei aber kein Wort sagen, keine Geräusche von sich geben, also auch nicht pfeifen oder so etwas, sondern nur anhand von Berührungen anzeigen, wohin sie gehen soll. Aber Sie dürfen selbstverständlich auch selbst den Parcours betreten, wenn es die Wegstrecke verlangt.« Frau Löfflers schlanke Hand umschrieb ein kleines Podest, eine etwa auf Brusthöhe angebrachte Stange. »Das wichtigste Ziel ist, Frau Baumann sicher und zielgerichtet auf ihrem Weg anzuleiten, etwa so.«
Ein leichter Druck an Esthers Schulter, die flache Hand an ihrem Rücken veranschaulichte das Prinzip.
»Fragen?« Der blonde Pferdeschwanz fiel Frau Löffler über die Schulter, als sie sich um Esther herumbeugte und ihr ins Gesicht sah. Auf ein knappes Kopfschütteln von ihrer Seite wandte sie die Aufmerksamkeit wieder ihrer kleinen Gruppe zu und nickte rasch. »Gut. Dann verbinde ich Ihnen jetzt die Augen und führe Sie zum Korridor, wo dann jemand von Ihren Kollegen übernimmt, in Ordnung?« Nach wenigen Sekunden sah Esther ein, dass sie mit ihrem Widerwillen nicht weiterkäme, sie rang sich ein halbherziges Nicken ab. »Sie drei wechseln dann nach Gefühl immer durch und führen so Frau Baumann die ganze Strecke entlang.« Ihr Zeigefinger umschrieb in Schlangenlinien die Biegungen, Stufen, Höhlungen und Ringe.
Esther blieb nichts, als sich dem Druck an ihrem Rücken zu fügen, doch ihre Schritte waren schleifend, wie Pia es gar nicht vom sonst so geschmeidigen Gang ihrer Partnerin kannte. Als habe sie das Nicken Frau Löfflers in die Richtung ihrer Gruppe gesehen, drehte Esther halb den Kopf nach ihnen und wartete.
Behutsam pirschte Pia sich an ihre Seite vor, legte ihr langsam die Hand an den Rücken. Auf einen leichten Druck ging sie los, folgte ihrem sanften Klaps und wandte sich nach links. Wie aus dem Nichts tauchte Leo neben ihr auf und nach einem schnellen Blickwechsel trat Pia beiseite. Sogleich füllte er ihren Platz aus, fasste mit den Fingerspitzen Esther an den Schultern und drehte sie seitlich, als sie an einem kniehohen, quer auf dem Weg liegenden Schaumstoffblock vorbeigehen musste. Kaum verbreiterte sich der Weg wieder, da tippte Leo ihr nur gegen die zurückgebliebene Schulter, schon wandte Esther sich zur Seite, schlug jedoch nicht vollkommen den vorherigen Kurs ein. Adam trat vor, drückte mit den Fingerspitzen von hinten gegen ihren Oberarm und dirigierte sie so wieder in die Gerade, dann schoss er los, als sie sich auf ein Podest aus einigen Stufen zubewegte. Wie ihr verselbstständigter, übermäßig ausgewachsener Schatten glitt er dicht an ihr vorüber und überstieg lautlos die Begrenzung des Parcours. Über die Schulter blickte er sich nach der ersten Stufe um, die er rückwärts betrat, während er die Hände ausstreckte. Blind umfassten seine Finger Esthers, er hob ihre Arme ein wenig an, da entriss sie ihm die Hände, als habe sie in glühende Lava gefasst. Hastig griff sie nach dem Knoten und löste die Augenbinde, sofort prallte sie zurück und stolperte aus dem Parcours. Mit einem Fuß blieb sie an der Umfassung hängen, kippte vornüber, fing sich aber gleich wieder.
»Was war jetzt –«
»Gar nichts«, würgte Esther fauchend Frau Löfflers Einwand ab, bevor sie ihn überhaupt hatte formulieren können. Sie strich sich eine Strähne, die ihr aus dem Zopf gefallen war, hinter das Ohr und ruckte mit dem Kopf, als wolle sie sich weitere Haare aus der Stirn werfen. »Vielleicht wollen es die anderen einmal probieren?«
»Sicher – es ist eine sehr schöne Übung«, garantierte ihre Trainerin. Ihre babyblauen Augen wanderten über ihre Reihe, als gehe es darum, eine Wickelauflage bei einer Motorradgang anzupreisen. »Herr Schürk – vielleicht?«
Adam holte tief Luft, während er zu Frau Löffler trat. Wie geheißen postierte er sich mit dem Rücken zu ihr. Obwohl er ein wenig in die Knie ging, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm die Augen zu verbinden. Seine langen Finger tasteten den schwarzen Stoff entlang.
»Zu fest?« Ihre Trainerin schielte an seinem Gesicht vorbei, als prüfe sie bei einem jungen Mädchen den Sitz des Haarschmucks.
Sofort fielen Adams Hände herab, er verneinte mit diesem halben Kopfschütteln, wie Pia es so oft an ihm beobachtet hatte. Kaum hatte Frau Löffler ihn zum Anfang des Korridors geführt, da ging er schon los, etwa im doppelten Tempo wie Esther. Er benötigte kaum ein Tippen von Leos Fingern gegen seine Schulter, damit er nach links abbog. Als er mit den Zehenspitzen gegen den Schaumstoffblock stieß, drehte er sich seitlich, bevor Pia ihn dazu hatte anregen können, schob sich gleichmäßigen Schrittes daran vorbei. Von seiner Hand erreichte Pia kaum ein Druck, als sie seine eisigen Finger umfasste und in die Höhe zog, um ihn über die Stufen zu führen. Beim Herabsteigen stützte er sich ein wenig auf sie, sein Atem streifte ihr Handgelenk, zwei rasche Luftzüge hintereinander. Schon atmete er wieder ein, er hob den Kopf, wie um Witterung aufzunehmen, sein Kiefergelenk stach scharf gegen seine Wange ab. Esthers Hand ragte als Sperre auf der Höhe seiner Brust auf, um ihn davon abzuhalten, sich an einer Stange aus festem apricotfarbenem Schaumstoff zu stoßen, die wie eine Schwimmnudel quer vor seinen Schultern beweglich auf einem Gestell gelagert war.
Zu spät schrillten die Sirenen in Pias Hinterkopf los, als Esthers andere Hand zwischen Adams Schulterblättern ihren Platz fand, um ihn vorsichtig in die Tiefe zu drücken, damit er unter dem Hindernis hindurchkäme. Als habe man ihm einen Stromschlag versetzt, sprengte er diagonal nach vorn weg, kollidierte mit der Stange, die dumpf pochend zu Boden hüpfte. Mit dem Fuß blieb er an der Umrandung hängen, stürzte darüber und riss sie um, mit einem Knall kam er auf den Knien und Händen auf, prallte sofort vor der Einfassung der nächsten Biegung zurück und schoss wieder in die Höhe. Ruckartig sog er mit geöffnetem Mund die Luft ein. Seine verkrampften Hände tasteten in der Luft nach einem Halt, einem Hindernis, das konnte Pia nicht einordnen.
Die Schritte sorgsam gesetzt ging er rückwärts, kam auf sie zu. Sie schloss die schmale Lücke zwischen ihnen und sprach ihn mit seinem Namen an, doch als sie ihn von hinten bei den Oberarmen fasste, schrak er zusammen und entriss sich mit einer für ihren leichten Griff viel zu vehementen Bewegung, strebte von ihr fort. Die nun leere Halterung der Schaumstoffstange stellte sich ihm entgegen, stürzte mit einem lauten Krachen um, als er dagegenstieß. Abermals trieb es Adam rückwärts fort, diesmal in eine vollkommen andere Richtung. Er stolperte über die Begrenzung auf der anderen Seite, riss die zum Slalom aufgestellten, abgerundeten Pylonen um. Es sah schmerzhaft aus, wie er sich mit der Rechten abfing, um nicht vollends zu Boden zu gehen. Als er sich gerade wieder halb aufgerichtet hatte, stürzte Leo heran, fasste ihn bei den Schultern, rief seinen Namen, doch Adams Ohren waren taub für die Stimme seines Partners. Mit einem gewaltsamen Rütteln entwand er sich Leos Griff und schnellte zur Seite fort. Leo Hand schoss vorwärts, schloss sich fest um Adams Unterarm.
»Adam – pass auf!«
Doch seine Warnung kam zu spät. Was er durch seinen Griff hatte vermeiden wollen, hatte er gerade herausgefordert, denn Adam war unter seiner Berührung zur Seite weggezuckt, und nur weil er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, krachte er lediglich mit der Schulter gegen die Backsteinmauer. Reflexhaft legte Leo eine Hand an Adams Gesicht, hielt dagegen, damit er nicht doch noch mit dem Kopf gegen die Wand schlüge.
»Ich mach dich los, Adam, ja? Hey! Bleib hier!« rief Leo, als Adam sich zusammenkauerte, den Kopf zur Brust zog und sich im Sitzen langsam rückwärts schob. Leo, der vor ihm kniete, schirmte ihn mit seinem breiten Rücken gegen Pias Gesichtsfeld ab. Er kam seinem Partner zuvor, der mit einem Mal nur noch schwerfällig weiterrobbte, und fasste hinter ihn. Schon war seine Hand am Knoten an Adams Hinterkopf, er zog die Augenbinde über sein Haar nach vorn ab, brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und seinen Partner. Locker fielen die golden glänzenden Strähnen um Adams Gesicht herab, doch verbargen sie nicht seine weit aufgerissenen Augen. Das schwarze Tuch hatte Leo neben sich fallen lassen, in einer konstanten, fließenden Bewegung beugte er sich nun vor und fasste Adam bei den Schultern.
»Hey, Adam.« Er suchte seinen Blick. »Hey. Ich bin’s – Leo.«
Als Adam weiter fortstreben wollte, legte Leo ihm eine Hand in den Nacken.
»Adam – hey. Hey! Sieh mich an. Komm – sieh mich an.« Zögerlich kam Adam seiner Aufforderung nach. Es schüttelte seinen Körper unter Leos Griff, das sah Pia auch ein paar Schritte entfernt.
»Alles gut, Adam, ja?« Die Spur eines Lächelns wärmte Leos Stimme an, rundete sie ab. »Alles gut.« Noch immer hielt er Adams Kopf im Nacken fixiert, seine andere Hand fuhr gleichmäßig an Adams Oberarm auf und ab. »Ich bin’s, Leo. Es ist alles okay – alles okay.«
Mit seinem Kopf sank Adams Blick herab, zog unkoordinierte Schleifen auf dem Boden. Als seine Brust mit einem stotternden Ruck absackte, erkannte Pia erst, dass seine Atmung schon wieder ausgesetzt hatte.
Leo wandte sich über die Schulter um, sein Gesicht war überraschend weich. »Ich glaube, das genügt für heute«, richtete er leise das Wort an Frau Löffler, die ihn aus tellergroßen Augen anstarrte, als sei ihr zum ersten Mal ein sprechendes Wesen begegnet. Seine Hand lag weiter ruhig und fest in Adams Nacken, die andere strich seinen Oberarm entlang. Leos Blick tastete ihre Trainerin, Esther, dann sie ab, bevor er sich wieder seinem Partner zuwandte.
Als das Schloss beim Aufsperren schleifte, hielt Pia kurz inne, dann schluckte sie ihre Skrupel hinunter, drehte den Schlüssel ganz herum und drückte die Tür auf. Ihr Blick lag auf Adams dunklem Wohnzimmer, während sie die Tür hinter sich zuzog. 21:42 zeigte ihr Smartphone an, vielleicht –
Sie hob den Kopf, eigentlich hatte sie es schon gewusst. Zwei Armlängen entfernt stand Adam und sah sie einfach nur an. Seine Augen schimmerten matt, sein Blick lag starr auf ihr. Mit drei schnellen Schritten war sie bei ihm, sein Kopf ruckte zur Seite, als sie die Hand ausstreckte und mit der Kante seinen Hals streifte.
»Hey«, flüsterte sie.
Der Duft seines Aftershaves zog sie zu ihm, sie lehnte sich an ihn, berührte mit den Lippen die weiche Haut unter seinem Kinn. Er kippte den Kopf, ein paar Zentimeter nur, legte so aber den Hals frei, ließ es geschehen, dass sie die Linie an seinem Kiefer entlang glitt, luftige Küsse auf seine samtige Haut, seinen Puls hauchte. Sie vergrub die Nasenspitze unter dem Ansatz seines Kiefers, fuhr die Linie neben seinem Ohr hinauf, drückte die Lippen auf seine Wange. Da atmete er tief ein, langsam umschloss er sie, zog sie dicht an sich, worauf sie es wagte, die Arme um ihn zu legen. Sein Atem ging jetzt regelmäßig, aber schnell, zu schnell.
Das legte sich erst einige Minuten später, als er es doch zuließ, dass sie den Arm unter seinem Nacken hindurchschob und seinen Arm hinauf- und hinunterstrich. Anfangs hatte er starr neben ihr gelegen, so viel Abstand zwischen ihnen herstellend, dass vermutlich sogar Leo mit seiner breiten Statur Platz gefunden hätte. Dass er ihre Anwesenheit geduldet und ihr nicht die Tür gewiesen hatte, hatte sie als Erfolg verbucht und es schließlich gewagt, sich auf die Seite und ihm zuzuwenden.
Unter seinem warmen Atem an ihrem Schlüsselbein wurde sein Körper weich, ließ sich enger an sie ziehen. Als sie bei seinem Ellbogen angekommen war, streichelte sie sich auf seine Seite hinüber, spürte der Kante seines Rippenbogens nach, fühlte die einzelnen Knochen, das leichte Pulsieren gegen ihre Haut. Flächig und bestimmt drückte sie ihre Hand gegen seine Brust, keiner von ihnen rührte sich mehr. In der Dunkelheit der Nacht und unter ihren geschlossenen Lidern war sie ganz Gespür und Gehör. Adams Atem wehte leicht vor ihr, unter ihren Fingern fühlte sie seinen Herzschlag, ruhig und gleichförmig.
Irgendwann, sie fühlte Adam schon wegdämmern, hob sie die Hand von seiner Brust auf, vergrub sie in seinem Haar.
»Wie viele waren es eigentlich heute? Vier? Fünf?«
Auf einen Schlag war Adam ein unnachgiebiger Holzblock in ihren Armen. Er holte nicht einmal mehr Luft, bis er sich mit einem tiefen Einatmen von der Matratze abzudrücken versuchte, doch sie hängte sich an seinen Hals.
»Hey, ist ja gut«, flüsterte sie mit dem Mund nahe bei seinem Ohr. Ihre Hand wanderte in seinen Nacken, streichelte seine Haut direkt am Haaransatz. »Ist ja gut.«
Wie sie ihn schwer auf die Matratze zog, gab er nach, die Anspannung löste sich, ließ ihn weich zurück. Erneut holte er tief Luft, als sie ihre Wange an seine legte, für einige Sekunden so verharrte. Er ließ es über sich ergehen, dass sie ihn auf die Stirn küsste, rutschte so weit nach oben, dass er seine kalte Nasenspitze unter ihre Wange schieben konnte. Sie lauschte auf seinen Atem, der ruhiger und ruhiger wurde, während sie seinen Arm streichelte, bis sein Körper mit einem Mal vollkommen schlaff in ihrer Umfassung lag. Es war ihr, als drücke ihr Herz durch die Brust nach oben, als habe es sich in der Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen eingenistet, als lasse es keine Luft mehr hindurchfließen. Noch nie hatte Adam so ohne jeden Muskeltonus an sie geschmiegt gelegen, noch nicht einmal nach seiner Überdosis, als er von Albträumen geplagt gewesen war, auch an Weihnachten nicht, damals waren es aber auch nur drei Tabletten gewesen. Was, wenn er es diesmal nicht bei vier, fünf Stück belassen hatte, sondern doch –
»Hast du so Angst, einen verblödeten Freund zu haben?«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch nicht in tiefen, von seinem Bewusstsein vollkommen losgelösten Schlaf geglitten war. Plötzlich hatte sich der Druck auf ihre Kehle verflüchtigt, ihr ganzes Bewusstsein zog sich auf ihr Gehirn zurück, kreiste um das eine Wort, das er völlig unaufgeregt, ohne jede besondere Betonung ausgesprochen hatte, und doch konnte sie nicht einen Gedankenfetzen festhalten.
»Häh?«
»Benzos verblöden«, murmelte Adam und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, nun wehte sein Atem über ihr Dekolleté, ganz leicht nur, als kaum fühlbarer Hauch.
»Na ja.« Ein Lächeln ergriff ihre Mundwinkel. Sie ließ die Hand von seinem Arm über seine Seite hinuntergleiten, sie blieb in der Senke seiner Taille liegen. »Dann ist deine Hirnaktivität wenigstens einmal auf meinem Level.«
Sein Schnauben fegte warm über ihre Brust, sein Kopfschütteln war ein kaum wahrnehmbarer Ruck.
Mit dem Kinn schob sie ein paar seiner weichen Haarsträhnen über seine Schläfe zurück, bevor sie mit den Lippen darüberstreifte. Sie legte die Wange an seine Stirn. »Ich hab einfach Angst, dass du dich kaputt machst, verstehst du?«
Aber von Adam kam keine Regung mehr, sie wusste nicht, ob er sie überhaupt noch gehört hatte. Seit sie ihn auf die Matratze zurückgezogen hatte, hatte er sich nicht mehr gerührt, nur noch den Kopf leicht gedreht, sein Atem ging ruhig, regelmäßig. Vielleicht bliebe er wenigstens diese Nacht von Albträumen verschont, von den Bildern, die –
»‘S tut mir leid«, murmelte er schleppend. Sein Tonfall fuhr ihr wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder. Seine vor Mutlosigkeit dunklen Augen schwebten wieder vor ihr, sie fühlte seinen Körper an ihrem zittern, in sich zusammenfallen, dabei lag er vollkommen bewegungslos vor ihr.
Entschuldige.
Es tut mir leid.
Manchmal ist es einfach besser, andere Menschen gleich von Anfang an zu enttäuschen.
Seine Taille hob sich, als er tief einatmete. Langsam und ein wenig zäh legte er sich zurecht, seine Stimme war mit einem Mal vollkommen klar, die Worte wehten hastig an ihr Ohr. »Ich weiß auch nicht, wie …«
»Sssssch.« Vorsichtig, um ihm nicht wehzutun, der sein Gesicht noch immer halb unter ihrem vergraben hatte, schüttelte sie den Kopf. Ihre Hand wanderte über seine eisigen Finger zu seinem Arm, flog darüber, bevor sie sich um seine Schulter schloss und ihn behutsam noch enger an sie zog. »Wir bekommen das hin, ja?« flüsterte sie.
Ob sie sich sein Nicken nur eingebildet hatte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, nun schlug ihn das Rohypnol endgültig nieder. Wieder lag er so still, wie sie es von ihm schon kannte, und es dauerte lange, ehe er Luft holte, ganz leise nur, ganz langsam. Eine Weile lauschte sie noch auf seine Atemzüge, die lediglich wisperten an ihren Ohren. Schließlich rückte sie ein kleines bisschen von ihm ab, um ihm mehr Luft zu lassen, und nach einem letzten Kuss auf seine Stirn ließ sie sich hinabgleiten in den Teil ihres Bewusstseins, der fühlte, wie ihrer beider Atemzüge verschmolzen.