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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
07.08.2022 4.246
 
Weiter geht’s – viel Vergnügen beim Lesen und einen schönen Sonntag wünsche ich Euch!
PS: Meine liebe Net Sparrow, leider muss ich Dir die Antwort auf Dein großartiges Review wieder einmal schuldig bleiben. Ich danke Dir aber von Herzen für die viele Zeit, die Du ins Lesen und Schreiben investiert hast, und melde mich bald zurück!
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Kapitel 11 – Alte Bekannte

Bevor Leo die Glastür passieren konnte, die Adam ihm aufhielt, nahm Esther die Gelegenheit wahr und drückte sich mit dem größtmöglichen Abstand an seinem Partner vorbei.
       »Mahlzeit.« Mit dem Daumen wies sie über die Schulter hinter sich. »Euer ‚Zeuge‘ ist schon eingetroffen.« Die Anführungszeichen in ihrer Stimme hingen auch nach dem Zufallen der Tür in der stickigen Luft im Gang.
       »Darf ich das übernehmen?« Adam sah sich nach ihm um.
       »Ähm – klar. Danke.«
       Während Adam die Tür zu ihrem Büro aufdrückte, schlüpfte er aus dem einen Ärmel seiner Jacke. Leo blieb auf der Schwelle stehen.
       »Dann fahr ich in die Gerichtsmedizin?«
       Adam schüttelte den Kopf und warf seine Jacke auf den Schreibtisch. Leo verstand immer noch nicht, warum er sie nicht einfach über die Stuhllehne hängte oder die Garderobenhaken benutzte, die an der gegenüberliegenden Wand befestigt waren.
       »Mach mal lieber Pause«, murmelte Adam in die Blätter, die er raschelnd anhob, um darunterzublicken, während er einen Stapel beiseiteschob, ohne hinzusehen, bis er sich an der Tastatur aufwarf. »Bei Frau Wenzel dauert’s noch lang genug – und eigentlich wolltest du doch sowieso zu Sankt Ägidius.«
       »Oder du wolltest, dass ich dorthin fahre.«
       »Was auch immer.«
       »Und du?«
       Adam las konzentriert einige Zeilen auf dem Papier, das er herausgezogen hatte und dessen Eselsohr er abwesend zwischen Daumen und Zeigefinger glättete. Dann hob er den Kopf und musterte ihn wohl drei Sekunden, bevor er sich wieder in die für Leo unsichtbaren Inhalte versenkte.
       »Später«, murmelte er. Als er eine Kartonmappe unter der Ablage herauszog, brachte er sie mit allen kunstvoll darin gestapelten Akten beinahe zu Fall, aber er fing die Schubfächer gerade noch vor der ungünstigen Verlagerung ihres Schwerpunktes ab und richtete sie wieder auf. Die Zettel klopfte er im Gehen zwischen seinen Händen bündig, schlug sie in die Mappe ein und schaffte es irgendwie gleichzeitig noch, die Tür auf- und zuzubekommen.

Die Augen des Mannes hatten eine eigenartige Farbe, irgendetwas zwischen Grau, Grün und Gelb. Sie wanderten die Zimmerecken nach oben, fuhren dann die Kante an der Wand entlang wie auf einer Schiene. Das zottelige Haar fächerte sich auf seiner Schulter auf, als er den Kopf schief legte und die Lüftungsschlitze musterte.
       Er war nicht wie die anderen. Er war nicht auf Koks, Heroin, Fentanyl, Morphium, weggetreten, ein Teil seines Ichs weggekifft und abgerissen, irgendwo verloren zwischen Prügeleien um letzte Krümel und gebrauchte Fixerbestecke. Die Straße war für ihn kein Ort zum Unterkriechen – sie war ihm ein Netz gewesen, das ihn gefangen hatte, als alle anderen Halteseile mit einem lauten Schnalzen gerissen waren wie ein überdehntes Gummiband.
       Leo trat einen Schritt zurück. Für eine Sekunde sah der Obdachlose ihn direkt an, dann legte er den Kopf wieder schräg, ein verwahrloster Terrier, seine Augen umrundeten die Scheibe. Warum sollte er auch nicht wissen, dass er hier stand? Nichts über dem Kopf zu haben bedeutete mitnichten, nichts im Kopf zu haben.
       Als es in seiner Hosentasche vibrierte, zog Leo sein Smartphone heraus und entsperrte es.
       Na, du ;-)? las er, während ein anderer Teil seines Bewusstseins Birgits zuckersüßes Lächeln am Anfang seiner Kontaktliste gierig in sich aufsog und sein Herz ungehemmt losrennen ließ. Wie geht’s dir? Musste gerade an dich denken.
       Leos Daumen wischte zurück, suchte das Datum von Birgits letzter Nachricht, rollte im Überschwang ein wenig zu weit nach oben, fuhr langsamer wieder hinunter. Wenn man ihre doch sehr konventionellen und formellen Weihnachts- und Neujahrsgrüße ausnahm … Fast einen Monat war es her, dass sie sich auf eine Weise ausgetauscht hatten, die über einen personalisierten Wetterbericht und gute Wünsche zum Wochenende hinausging. Vielversprechend.
       Warum? tippte Leo seine Zweifel ein, die er tief über das Display atmete.
       Hab gerade Mittagspause, traf zeitgleich Birgits Antwort ein.
       Auf seinen Smiley, der sich lachend herumwälzte, erhielt er einen zurück, der die Augen verdrehte.
       Nimm dir auch ‘ne Pause, hattest du heute bestimmt noch nicht. Rotbackig wie das Emoticon, das verlegen den Blick zur Decke wandte, ja, das war Birgit auch gewesen, damals am Christkindlmarkt, als Leo sich nur mühsam hatte beherrschen können, ihre kleinen Hände nicht einfach zwischen seine zu nehmen.
       In zäher Starre schwebte Leos Daumen über seinem Smartphone. Ja, du hast recht? Nein, keine Zeit? Ging es eigentlich noch banaler?
       Was macht sonst das Leben in happy Saarbrücken? kam da schon Birgits nächster Gedanke. Er suchte den Poeten in sich, während er darauf hoffte, dass sie ihm irgendeine Vorlage lieferte, und tatsächlich ließ sie sich nicht lumpen. Leo fühlte empfindlich die Enge seines Brustkorbs, als seine Augen über die Buchstaben flogen: Hatte überlegt, am letzten Januarwochenende einmal wieder rüberzufahren, wenn …    
       Er fuhr herum, als das Türschloss klickte.
       »Ach, hier bist du.« Pia hielt in beiden Händen eine Tasse, unter dem Arm trug sie eine mächtige Papiertüte. Sie lächelte ihn von unten herauf an, während sie mit dem Gesäß die Tür zuschob. »Sorry, wollte dich nicht erschrecken.«
       Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die Verteidigungsposition einzunehmen, sondern nickte nur, als sie ihm eine Tasse reichte, und versenkte sein Smartphone in der Gesäßtasche.
       »Kaffee?«
       »Danke.«
       »Schwarz, oder?«
       Unwillkürlich sog er den Duft ein, erst jetzt bemerkte er, wie ihm die feuchte Kälte vor der verschmorten Bank im Park, unter den Blicken der Laienfußballer in die Knochen gekrochen war. »Perfekt.« Er nahm einen Schluck, bevor er die Hände um die Tasse legen konnte wie eine dieser meditativ-kontemplativ veranlagten Damen mit den sorgfältig gedrehten Locken und im Einklang mit dem Kosmos, wie sie auf den Teewerbungen zur andalusischen Orange oder orientalischen Gewürzmischung abgebildet waren.

Leos Augen gingen über den Tassenrand in den Verhörraum, der bis auf den Obdachlosen leer war. Die Gespanntheit in seinen Schultern, im Bizeps des Arms, mit dem er die Tasse hielt, sprachen eine klare Sprache: Den Wolf hatte er noch nicht ganz getilgt, das Fell des zuverlässigen, treuen Begleiters, eines Pinschers oder Jagdhundes, war noch nicht ganz wieder geglättet.
       »Komischer Typ. Was wollt ihr von dem?«
       Mit einem raschen Seitenblick fing er ihr Nicken in Richtung des Zeugen ab, richtete die Augen wieder geradeaus. »Frag mich was Leichteres – Adam hat darauf bestanden, ihn hierher bringen zu lassen, keine Ahnung, wieso.«
       »Na ja.« Das Papier raschelte an ihren Fingerspitzen, als sie die Tüte unter dem Arm hervorzog. Blind, da sie nach ihrem Sandwich mit Ei schielte, schob sie die Tasse auf den schmalen Vorsprung, fühlte Leo dagegenhalten. »Danke.« Sie wechselte die Sandwichhand, drückte damit gegen die Tasse und hielt Leo die Tüte vor. »Mit Schinken – Wurst hatten sie nicht mehr.«
       Leo sicherte noch immer die Tasse. Er starrte die Tüte an, als müsse er sie integrieren und dann die Vektorsumme bilden, bevor sein Blick umschlug und zu ihr sprang. »Boah – genial, Pia, echt. Danke.« Es raschelte zu laut für den schmalen Zwischenraum, als er das Papier zurückschlug. Mit den Gedanken schon wieder bei ihrem Zeugen nahm er einen herzhaften Bissen.
       Pia versenkte ihr Lächeln zwischen Eiern und Salatblättern. Sogar nach seinem Urlaub mit Caro waren seine Augenschatten nicht verschwunden gewesen, mit Adam hatte er sich in der letzten Zeit einen bisher unentschiedenen Wettstreit geliefert, wer von ihnen stärker von der Müdigkeit gezeichnet war. Jetzt wirkte er plötzlich 20 Jahre jünger, in der Schlange wartend, die vom Pausenkiosk abging, eine Käsebreze zwischen den Fingern.
       Da spießte ein Streifen Licht die Dunkelheit vor ihnen auf, in der nur der Kreis unter der Lampe grellte, schmolz sofort wieder in sich zusammen und verschwand. Adams Hand schimmerte hell in der Halbschwärze. In der beiläufigen Eleganz, wie nur er es mit seinen langen Fingern vermochte, drückte er die Klinke hinunter, entließ sie lautlos.
       Dass er aber auch immer so schnell sein musste – Gelegenheit verbraten, etwas aus Leo herauszubekommen. Gesprächspausen ohne den Zweck eines Wartezeitfüllers machte er nie.
       Jetzt gleißte Adams Hand beinahe weiß, als sie ausgestreckt neben dem Oberarm des Mannes verharrte.
       »Adam Schürk.« Sein Gesicht war verschattet, seine Stimme verriet nichts, doch Pia wusste um den Ansatz eines Lächelns in seinem Mundwinkel, dem linken, den er schlechter unter Kontrolle hatte als den rechten. »Danke, Herr Sobeck, dass sie sich zu einer Aussage bereit erklärt haben.«
       Der Mann suchte im Dunkel oberhalb der Lampe, mit wem er es zu tun hatte, während er seine breite Pranke langsam um Adams Finger legte und einmal kräftig zudrückte. Seine Augen streiften den Kaffee, die Papiertüte, die Adam vor ihm auf den Tisch schob, folgten dann seiner Silhouette, die durch den schwarzen Rollkragenpullover noch schmaler wirkte.
       Auf das Stöhnen, das ihr entfuhr, sah sie Leo aus dem Augenwinkel den Kopf nach ihr wenden.
       »Das«, nuschelte sie, den Mund noch voll mit Ei, und nickte in Richtung des Tisches, »war Adams Mittagessen.«
       »Typisch.« Leos Stimme, sein Atem waren gespannt, seine Augen ließen nicht von dem Obdachlosen ab.
       Pia glaubte, die Rauchnote riechen zu müssen, als Adam sich direkt vor ihr auf den Stuhl faltete.
       »Ach nee«, knarrte Sobeck, als Adam sich die Haare aus der Stirn warf. Er saß so dicht vor ihr, dass sie ihn hätte berühren können, ohne sich von der Stelle bewegen zu müssen, wären sie nicht durch eine verspiegelte Scheibe getrennt gewesen. Von hier konnte sie sogar den verhärteten Muskelstrang erkennen, der ihm durch den Schultergürtel lief.
       »‘N Bulle bist du?«
       »Sieht so aus.«
       Das schallende Lachen des Mannes stieß sich, von den Seitenwänden zurückgeworfen, am Spiegel und prallte auf ihn zurück. »Aber du nicht.«
       »Nein?« Jetzt schleifte die Spitze in Adams Mundwinkel seine Stimme an. »Sondern?«
       »Na – mit deinem Gesicht …« Der kurze Zeigefinger des Mannes zielte unter der Lampe hinweg nach Adam. »Ich dachte da an irgendwas – Zeremonielles. Versicherungsvertreter … für Lebensversicherungen. Oder Bestatter. Ja – so ‘ne Art … Grabredner oder so was.«
       Es war, als stoße Adam mit seinem Kopfschütteln, das seine Schultern nicht weich machte, das Schnauben von sich. »Na ja … die Branche stimmt ja schon mal irgendwie.«
       Sobeck zerrte den umgeschlagenen Rand der Papiertüte auf, er spähte auf Adams Tomate-Mozzarella-Sandwich, dann sprangen seine Augen wieder zu seinem Gesprächspartner. »Hätt ich trotzdem nicht gedacht, so wie du gereihert hast – und der Schnaps … Meine Fresse.« Er schlug die Serviette unter dem Brot zurück und schüttelte mit einem seltsam hüpfenden Lachen den Kopf. Mit den Ellbogen stützte er sich auf der Tischplatte auf, er führte das Brötchen zum Mund. »Da hast du doch nachher bestimmt noch schön weitergekotzt, oder?«
       Adam schüttelte den Kopf, dann beobachtete er unbewegt, wie sein Zeuge sich mit einem Bissen beinahe das halbe Sandwich einverleibte. Mit den Zähnen fischte Pia eine Gurkenscheibe aus der Serviette, die sich selbstständig machen wollte, und verdrehte die Augen nach Leo, der sie anstarrte.
       »Der Typ kennt Adam?«
       Als sie ihre Beute sicher auf dem Weg in den Mund wusste, wandte sie den Kopf ganz nach Leo. Sein Daumen hing noch seitlich in den Verhörraum gerichtet, er blickte genauso intelligent drein, wie sie sich gerade fühlte.
       »Ja, ganz offenbar«, versetzte sie kauend und schlug das Papiertuch weiter zurück. »Und anscheinend war’s ein recht dubioses erstes Treffen.«
       Der Obdachlose zog die Nase aus der Tasse, schnüffelte noch einmal eingehend, dann grinste er Adam an. »Also«, meinte er kauend, »Kaffee habt ihr hier schon mal guten, Kompliment.«
       Unter dem Rascheln, mit dem Leo die Papiertüte zusammenknüllte, überhörte Pia fast, was der ältere Mann nuschelte, als er hinter dem Rest seines Sandwiches wieder auftauchte. »Dass du mir ‘n Zwanni dagelassen hast, fand ich jedenfalls richtig knorke von dir.«
       Mittlerweile hielt Adam die Arme verschränkt, seine Konturen blieben gegen das Verhörlicht unbewegt, nur sein Atem hob seine Schultern langsam, ließ sie wieder absinken, als er seinen Körper verließ. Sein Kopf verharrte vollkommen still, auch dann als seine langen Finger die Kante der Akte entlangfuhren, sich unter die Ecke schoben und den Deckel umschlugen. Es war bestimmt wie vor kaum vier Wochen bei der Verabschiedung von Leo an der Tür zu Adams Wohnung. Mit Sicherheit stand wieder dieser Schimmer von einem Lächeln auf seinem Gesicht: müde – aber ehrlich.
       Die Flügel seiner Plattnase bebten, als Sobeck noch einmal am Kaffee schnupperte. Er nahm einen großen Schluck und legte den Kopf schief, sein Kinn ruckte zu Adam. »Was war da eigentlich los mit dir? Hast du so was öfter?«
       Wie unter dem beherzten Ruck eines Seilzugs spannte sich der Stahl in Adams Nacken, zog seinen Kopf ein wenig in die Höhe. Seine Hand suchte in ihrem ein wenig zu gelassenen Spiel mit dem Kugelschreiber den Blick des Mannes auf sich zu ziehen. »Schlechte Nachrichten – hat sich aber erledigt.«
       Es klirrte vernehmlich, als sie die Tasse auf den Mauervorsprung setzte. »Sorry«, murmelte sie an Leo gewandt, dessen Kopf nach ihr herumgeschossen war. Der Obdachlose jedoch hatte mit keiner Regung gezeigt, dass er sie gehört hatte. Langsam legte sie die Hände um das lauwarme Porzellan. Dieser Tonfall von Adam saß ihr schwer in der Magengrube.
       Sollen wir einen Spaziergang machen?
       Nich’ so schlimm.
       Alles gut.
       Sobecks gelbgraue Augen lagen auf Adam, während er mit den Zähnen eine angebissene Tomatenscheibe aus dem Sandwich zog. Als er die Tüte zusammenknüllte, hob sich Adams helle Stimme mühelos darüber hinweg.
       »Brauchen Sie noch irgendetwas?«
       Das Kopfschütteln des Mannes vor ihm ging auf Adams nächste Frage beinahe nahtlos in ein Nicken über.
       »Können wir anfangen?«
       Adam beugte sich vor und fasste über den Tisch. Es klickte leise, als er den Hebel hinunterschob. Fast ohne einen Laut legte er das Diktiergerät auf der Tischplatte zwischen ihnen ab.
       »Was haben Sie gesehen, Herr Sobeck?«
       »Da hat sich schon ein paar Tage ein komischer Typ bei uns herumgedrückt.«
       »Sie meinen – bei Ihnen und Ihren …«
       »Na ja, zwischen uns Pennern halt.«
       Sie wandte den Kopf nach Leo, ihr beider leises Lachen traf zusammen.
       »Welchen Zeitraum meinen Sie mit ‚ein paar Tage‘? Eine Woche, zwei?«
       Sobeck zog die Nase hoch. »Höchstens. Eher so drei, vier Tage.«
       »Also ziemlich genau seit Neujahr?«
       Pia kannte den Moment, in dem Adam die Wörter so absetzte wie jetzt, als schnitte er sie mit einem kleinen Messer aus der ebenmäßigen Fläche einer Linolplatte. Bestimmt leuchteten seine Augen geradezu. Die Jagd hatte begonnen.
       Die wulstigen Lippen schoben sich vor, der Blick des Mannes wanderte wieder an den Kanten an der Decke entlang, wie ein langsames Reptil, das auf der rauen Oberfläche Halt suchte. »Könnte hinkommen.«
       »Und an Silvester?«
       »Alles ruhig – bis auf die paar Leute, die Feuerwerk gucken kamen, aber die lassen uns immer in Ruhe, die sind harmlos.«
       Unter Adams Handballen wurden filigrane Zeilen sichtbar, in der entstandenen Stille war nur das Schleifen der Bleistiftmine auf dem Papier zu hören.
       »Und wer ist es nicht?«
       Der Obdachlose setzte den Kaffeebecher ab und verschränkte die Arme. Er legte den Kopf schräg und wartete, als sitze er auf Adams Stuhl.
       »Gibt es irgendjemand, der Sie und Ihre Freunde auf dem …«
       Das bärige Lachen des Mannes rollte über den Tisch, begrub Adams Stimme unter sich, durchschlug die verspiegelte Scheibe. Sobecks Oberkörper rüttelte, als sitze er im Wagen einer Achterbahn.
       »Meine Freunde?« Er zog den Handrücken unter der Nase hindurch. »Wir sind keine Freunde.«
       Adams zurückgekämmte Haarsträhnen fielen nach vorn, als er zackig nickte und den Kopf senkte. Seine Hand glitt über das Papier, lautlos jetzt. Ohne aufzusehen, fragte er: »Hat irgendjemand was gegen Sie und Ihre … Kompagnons?«
       Sobecks Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, seine Augen wanderten die Wände hinauf, die Decke entlang. »Kompagnons.« Beeindruckt senkte er die Mundwinkel, er blickte Adam gerade wieder an, als dieser den Kopf hob. »Klingt fast adelig – nehm ich.«
       Adams knappes Nicken lag noch in seiner Stimme. »Hat irgendjemand ein Problem mit Ihnen?«
       »Wer hat das nicht?«
       An Adams Schläfe leuchteten seine schlanken Finger auf, er bändigte seine Haare wieder hinter dem Ohr. »Fällt Ihnen jemand Konkretes ein, jemand, der öfter vorbeikommt und sein … Missfallen zeigt?«
       Die hellgrauen Augen zogen Kreise auf der Tischplatte, die wulstigen Lippen stülpten sich nach vorn. »Nee. So ‘n Rentner guckt immer giftig zu uns rüber, schiebt dann aber mit seinem Rollator ab.«
       »Und sonst?« schloss Adam nahtlos an. »Jogger? Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit? Auszubildende?«
       »Nee.«
       »Was ist mit dem komischen Typen, von dem sie vorhin sprachen?« drang Adams Stimme in der leicht metallischen Verzerrung durch den Lautsprecher an ihr Ohr. Sie sah den beiden gespannt zu, es war wie in einem mit Sorgfalt inszenierten Theaterstück.
       Auf das leise Lachen neben sich wandte Pia den Kopf. Leo hielt die Hände in den Hosentaschen versenkt, er sah sie nicht an. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Verhörraum, beobachtete, wie Sobecks dicklicher Zeigefinger an Adam hinauf- und hinunterfuhr, ohne dass er die Arme aus der Verschränkung löste.
       »‘N bisschen wie du: ganz schwarz, aber weiße Turnschuhe mit so ‘nem roten Streifen an der Seite.«
       »Er hatte wieder mal den richtigen Riecher«, murmelte Leo.
       »Und die Größe?« Jetzt glitt Adams Hand schneller über das Papier.
       Der Obdachlose wackelte mit seinem bulligen Kopf. »Kleiner als du, ‘n ganzes Stück.« Sein Kinn forderte eine Antwort ein, bevor überhaupt die Frage gestellt war. »Wie groß bist du?«
       »1,89.«
       »Dann …« Wieder pendelte der Kopf zwischen den Schultern hin und her. »1,70 vielleicht, höchstens 1,75.«
       »Und auf …«
       »Aber breiter, kräftiger – entschuldige, Junge, aber fürs Polizistendasein darfst du ruhig noch ein bisschen zulegen.«
       »Meine Rede«, murmelte Pia. Aus dem Augenwinkel sah sie Leo nicken. »Der Typ fängt an, mir richtiggehend sympathisch zu werden.«
       »Außerdem mit Bauchansatz«, nahm Sobeck den Faden wieder auf. »Größe 36/32, schätze ich mal.«
       »Häh?« entwich ihr. In Leos blaugrauen Augen las sie dieselbe Frage.
       Adam saß mit einem Mal kerzengerade, der Mann ihm gegenüber grinste nur und zeigte sein bräunlich verfärbtes Gebiss. Der rechte Eckzahn fehlte.
       »Lehre zum Fachverkäufer für Herrenkonfektion beim Kreisler – sieht man nicht mehr, was? War ‘ne andere Zeit«, ächzte er und setzte sich zurecht. Er nestelte an seinem fleckigen Kragen, zeigte ein schwarzes, blockförmiges Kreuz vor. »Konfirmation, Lehre, paar Jahre Arbeit, geregeltes Einkommen, schöne Wohnung, da fährt mich so ‘n Volltrottel über ‘n Haufen und zack! ging’s bergab, aber ungebremst – tja, wie’s so kommt, ne?« Mit dem Zeigefinger fuhr er oben in seine Jacke, zog sie vom Körper weg und versenkte das Kreuz. »Und die Kirche prahlt, sie hilft. Glaub denen bloß nicht, Junge, wenn du dort sonntags löhnst.« Er klopfte sich zweimal auf die Brust. »Jesus – ja. Den musst du bei dir haben, mehr nicht.«
       Pia nickte ihr Kopfschütteln in Leos Lachen.
       »Schräger Vogel«, fasste er zusammen.
       »Aber echt.«
       »Keine Ahnung.« Adams Frage hatte sie verpasst. »Der Typ trug ja Kapuze, keine Haare, kein Gesicht zu sehen, aber dem Gang nach jung, so wie du – eher noch jünger, 20 vielleicht, er hatte so was … na ja, Halbstarkes irgendwie.«
       »Hat er sich – war er öfter an den gleichen Stellen unterwegs?«
       »Nee.«
       »Aber Sie haben ihn mehrmals gesehen?«
       »Joa …« Der Obdachlose verschränkte die Arme, wippte mit den Schultern und dem Kopf hin und her. »So zwei-, dreimal. Einmal kam er direkt bei mir vorbei, sonst war er mehr bei Joey.«
       Jetzt sprang Adams Blick zu dem Mann, ohne dass er den Kopf hob. Die gelbgrauen Augen wanderten vom mittlerweile dicht beschriebenen Blatt zu Adam.
       »Das ist …«
       »Mein Kumpel«, nahm Sobeck vorweg, »diesmal wirklich. Jetzt liegt er ja in irgend so ‘nem Aktenschrank bei euch.«
       Adam setzte sich auf, trotzdem konnte Pia ihn nur mit Mühe verstehen. »Das tut mir leid für Sie.« Seine Hand schwebte reglos über dem Papier.
       »Schon okay, Junge, irgendwann trifft’s uns alle, dich vielleicht sogar vor mir, wer weiß das schon? Nimm’s mir nicht übel, aber du hast ja …«
       »Hallo?« Pia starrte Leo an, ihre Hand hatte sich zu einer stummen Anklage gegen Sobeck erhoben. »Geht’s jetzt ans Kaffeesatzlesen, oder was? Hat der sie noch alle?«
       Leo zuckte nur mit den Schultern. Mittlerweile hielt er die Arme verschränkt. Sie folgte seinem Blick und sah den Obdachlosen den Kopf schütteln.
       »Nee, das wär alles.«
       »Gut. Vielen Dank, Herr Sobeck, Sie haben uns sehr geholfen.« Adam klappte die Akte zu, schaltete mit der anderen Hand das Diktiergerät aus, es kam alles aus einer Bewegung.
       »Puuuuh«, schnaufte sie. »Na ja …« Sie raffte die Serviette und die Tasse zusammen, deutete dann mit dem Daumen über die Schulter, den Papierballen fest in der Hand zusammengeknüllt. »Ich ruf mal bei der KTU an, vielleicht wissen die schon mehr.«
       Leo nickte, kam zu ihr, sie hielt ihm die Tür auf, da zog Adam, der neben dem Obdachlosen stehen geblieben war, ihre Blicke auf sich. Er ragte neben dem älteren Mann in die dunkle Höhe auf.
       »Kann ich sonst etwas für Sie tun? Ich mache jetzt dann sowieso Mittagspause, wenn Sie also …«
       Das Ächzen, mit dem Sobeck sich von der Tischplatte hochdrückte, schluckte den Rest von Adams Satz. Er schüttelte den Kopf. »Aber danke dir.«
       Seine Hand umfasste Adams, die er ihm darbot, schüttelte sie grob auf und ab. Adam hielt sie noch einen Moment länger fest.
       »Vielleicht ist es sicherer, wenn Sie sich einen neuen Schlafplatz suchen oder für eine Weile bei der Wohlfahrt unterkommen.«
       Der Mann winkte ab, trottete dann zur Tür. Adam hatte schon die Hand auf die Klinke gelegt, jetzt erschien die Spur eines Lächelns auf seinen Lippen, das konnte Pia auch im schwachen Licht sehen, das in seinen letzten Ausläufern bis zur Tür reichte.
       »Und wenn du mal wieder ‘n Schnaps brauchst, komm gern vorbei.«
       »Adam is’ schon echt immer für ‘ne Überraschung gut.« Das leise Lachen in Leos Stimme erreichte seine Augen nicht, die unbewegt auf seinem Partner lagen.
       »Aber so was von.« Pia ließ den Türgriff fahren und trat neben Leo. Sie beobachtete, wie Adam eine Visitenkarte aus der Gesäßtasche fischte und sich die Haare aus der Stirn warf, als er sie dem Mann hinhielt. »Möchte mal wissen, was das war – wenn der Alte ihm dabei zugesehen hat, wie er sich übergeben hat … Kein Peil«, schloss sie.
       Die Karte wedelte beinahe reflektierend zwischen den Fingern des Obdachlosen in der Luft. »Kann dir nicht versprechen, dass ich den Titel dann noch zusammenbringe – aber Schurke, das kann ich mir merken.«
       Das zahnlückige Grinsen war das Letzte, was sie von dem Mann sahen, bevor Adam die Tür zuzog.
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