Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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Dieses Kapitel
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29.07.2022
3.986
So, meine Lieben, diesmal melde ich mich mit einem etwas krasseren Kapitel zurück. Es wird eine sehr hässliche Art, zu Tode zu kommen, beschrieben, passt also bitte auf Euch auf. Außerdem musste ich ein wenig improvisieren: In der Nähe des Bürgerparks gibt es keine Kirche. Ich hoffe, Ihr seht mir diese künstlerische Freiheit nach und habt trotzdem viel Vergnügen beim Lesen!
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Kapitel 10 – Spurensuche
Eigentlich hatte Leo es schon gewusst. Wenn er ehrlich zu sich war, so war das Einzige, was ihn wirklich überraschte, dass er sich noch immer wunderte.
Die Augen auf die schwache Lichtreflexion auf dem Linoleum geheftet, hielt er Hellwig die Tür auf. »Morgen.« Er war nie ein Fan von Blondinen-Witzen gewesen, aber in diesem Fall traf das Klischee zu einhundert Prozent zu. Ob sie ihn deswegen nicht wahrnahm oder noch ein Schuss Bösartigkeit hinzukam, wollte er sich nicht festlegen. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr hinterherzusehen. Sie verschwendete bestimmt keinen Blick mehr an ihn, entdeckte das Präsidium bei ihrer zwölftausendelften Runde im Goldfischglas für sich neu. Wenigstens hatte ihn nicht gleich Voss als Erste umgerannt, die selbst ernannte Häscherin der dunklen Geheimnisse.
Der grollende Husten, der ihn bereits auf dem Flur willkommen geheißen hatte, grüßte ihn, als er die Tür aufstieß. Er beschränkte sich darauf, Adam zuzunicken, der ohnehin das Gesicht in seinem Oberarm vergrub, Sichtachse zwischen Rollcontainer und Archivschrank. Ob es tatsächlich in seinem Husten unterging oder er es einfach nur nicht wahrhaben wollte, Adam zeigte mit keinem unkontrolliert entwichenen Blick, keiner Drehung des Kopfes, dass er die Schublade gehen, das schwere Metall auf den Boden poltern hörte. Leo ließ der Waffe seines Partners auch keine Chance, sie verrutschte nur millimeterweise, so behutsam schloss er die Schublade, während er über die Kante der Schreibtischplatte tauchte.
Herzlichen Dank, darf ich dir sonst noch was abnehmen?
Auf Esther war Verlass, definitiv. Mit dem Daumen fuhr er die Rücken der Akten entlang, die sich bis auf halber Höhe seines Monitors stapelten. Aber er wollte den guten Willen, den sie gezeigt hatte, auch nicht kleinreden, immerhin hatte sie, ohne zu murren, zwischen den Jahren die Stellung gehalten, wobei ihr das seinem Gefühl nach ordentlich entgegengekommen war. Kanapees mit Kaviar schlemmend, im violetten Cocktailkleid Champagner süffelnd – das war dann doch nicht die Kollegin, die er kannte.
Er schlug den Aktendeckel auf, der zuoberst lag, und setzte sich zurecht, atmete pustend aus, während er blind nach dem Anschaltknopf seines Computers tastete. Der weiße Hemdkragen verdeckte den Stiernacken nur unzureichend, verlieh ihm durch die sorgfältige Einrahmung genau genommen ein wenig glaubhaftes Gepräge. Tja, mit unlauteren Mitteln erschlichene Millionen waren eben kein geeignetes Lösungsmittel für die Rückstände einer enttäuschten Kindheit in zersplitterten Verhältnissen. Stefan Dahlberg, 47, Schützling von Leiber, als Protegé in die Gesellschaft eingeführt, zur unsichtbaren Ein-Mann-Leibwache herangezogen. Es war ein Abkommen, so alt wie die Menschheit: Geld gegen persönlichen Schutz – und womöglich die Bereitschaft, unliebsame Mitwisser aus dem Weg zu räumen?
Knisternd gab das Papier nach, ließ sich umwenden. Drogenbesitz, Körperverletzung – und, seitdem er in Leibers Diensten stand, eine saubere Weste, durch und durch. Die berühmte Seite 3, formelle Akkuratesse, wie er es von Esthers Verhörprotokollen gewohnt war. Alibi: bestätigt und nachgeprüft. So ein Dreck.
Diesmal machte Adam sich gar nicht erst die Mühe, in seinen Ärmel zu husten, er versenkte sich nur seinerseits in der obersten Schublade seines Schreibtischs, kramte lautstark darin. Eine Unterscheidung in Konzeptentwürfen, Büromaterialien, Proviant und Ermittlungsunterlagen kannte er nicht. Dass er in seinem wilden Wust überhaupt etwas fand, qualifizierte ihn allein schon für einen Posten in der Kriminaldirektion.
»Was machst du überhaupt schon hier?«
Ein wenig zu schwungvoll klappte Leo den Aktendeckel zu, das ganze Paket rutschte ihm beinahe von der Tischkante. Er fing es gerade noch so ab, ließ die Mappe mit einem vernehmlichen Klatschen auf den Stapel zu seiner Linken fallen. Verdunkelt, nachzuprüfen. Das Post-it auf der sich bisher darunter verbergenden Akte wies Leibers Erhabenheit über den Kontakt mit der polizeilichen Ermittlungsarbeit aus. Die Hoffnung, ihn zwischen Weihnachtsmenüs in Tokio, Kapstadt, Rio und dem Jahreswechsel in Sydney erwischen zu können, war reichlich optimistisch gewesen, das musste er im Nachhinein zugeben.
»Du bist doch bestimmt noch krankgeschrieben, oder?«
Anzeige wegen Steuerhinterziehung, 2006, wegen häuslicher Gewalt gegen die Ehefrau durch die Nachbarn, 2011, wegen Korruption, 2016, alle drei zurückgezogen und für unbegründet erklärt. Von dem jovialen Lächeln über der goldfasanartig gemusterten Krawatte rutschte Leos Blick ab, als Adam den Stuhl zurückschob und aufstand. Er hob die Ecke eines Blattes an, fischte darunter eine zerknautschte Zigarettenschachtel heraus und marschierte wie ein Mitglied der Ehrengarde auf die Tür zu.
Als Leo nach seiner dreizehnten oder sechzehnten Raucherpause seine Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er seine Pistole vor ihn auf den Tisch legte, hoben sich Adams Augen dann doch, durchleuchteten ihn mit diesem ausdruckslosen Blick, den er beliebig aufsetzen und ablegen konnte.
»Ein Toter im Bürgerpark.«
Sein Partner nickte noch nicht einmal, als er seine Waffe an sich nahm und in seinem Holster versenkte.
»Ob der Mann noch gelebt hat, als er angezündet wurde, oder nicht, kann ich Ihnen so auf die Schnelle nicht sagen.«
Leo schraubte sich ungelenk aus der Hocke hoch. Frau Wenzel war emporgeschnellt und auf die Schmalseite der Bank zugeschossen, sodass er plötzlich als Hindernis zwischen ihr und dem verkohlten Leichnam kauerte. Zum eingesetzten Brandbeschleuniger, auf den sie ihn anhand der landkartenartigen Flecken im geschmolzenen Asphalt vor den Verankerungen der Bank hingewiesen hatte, gab es offenbar nichts mehr zu sagen.
»Hier« – ihr behandschuhter Zeigefinger deutete auf die Stelle, die, ihrer Lage nach relativ zu den noch sichtbaren Zähnen zu schließen, einmal das Jochbein gewesen sein musste, bevor er sich dorthin weiterbewegte, wo sich das Ohr des Toten befunden hatte – »und hier hat ihn ein harter Schlag getroffen, der ihn mit Sicherheit das Bewusstsein, vielleicht sogar das Leben gekostet hat. Andernfalls hätte er sich bestimmt wenigstens von der Bank heruntergerollt.«
Unwillkürlich richtete Leo sich wieder auf und starrte Frau Wenzel an, der er diesmal jedoch nicht mehr als ein Schulterzucken entlockte.
»Jeder in seinem Handwerk«, entnahm er ihrem Gemurmel und beugte sich erneut über den schwarz versengten Rest dessen, was einmal geatmet, gelacht, geflucht hatte. Rechtsmediziner, die etwas von ihrem Fach verstanden, waren wie Spürhunde, deren geschärfte und mehrdimensionale Wahrnehmung nicht an den Geruchs-, sondern den Sehsinn gekoppelt war. Für gewöhnlich erahnte er wenigstens, worauf Frau Wenzel ihre Befunde gründete, aber hier war er chancenlos. Er sah nur einen mühsam durch die äußere Form zusammengehaltenen Haufen verbrannten Fleisches vor sich.
»Irgendwas zum Zeitpunkt des Brandes – Temperatur oder so?«
Auf Adams Frage wandte Leo den Kopf und richtete sich auf. Sein Freund umschrieb mit dem Zeigefinger in einer zackigen Kreisbewegung den geschmolzenen Asphalt, während er seine Runden um die Bank fortsetzte. Den Kopf wiegend wich Frau Wenzel zurück und schloss nach dem Durchlaufen von Adams Bahn wieder zum Leichnam auf.
»Wahrscheinlich gegen acht oder neun Uhr, meint der Brandermittler – Genaueres nach der Gaschromatografie.«
Eine Mitteilung der chemischen Einzelheiten ersparte sie ihnen und sich, auf Leos Dank winkte sie ab. Frau Wenzel jemals in ihrem Sprachfluss gebremst zu erleben, hätte Leo auch nicht für erwartbar verbucht.
Er schloss zu Adam auf, der sich ein wenig zurückgezogen hatte. Die Arme verschränkt, zwei steile Falten zwischen den Augenbrauen, blickte er finster auf den Tatort hinab, bevor er sich umwandte, Leo wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich herziehend. Hustend nestelte er die Zigarettenschachtel, die sich gegen den starr gewachsten Stoff sperrte, aus dem schmalen Spalt seiner Jackentasche. Die Flamme rauschte, als wolle sie dem Tumult aus Wagen, uniformierten Einsatzkräften und weißgekleideten SpuSi-Spezialisten etwas entgegensetzen. Noch bevor der Hebel unter seinem Daumen beim Loslassen leise klickte, inhalierte Adam tief, sofort nahm er den nächsten Zug, ohne den Rauch ausgeatmet zu haben. Als sie unter dem Absperrband durchtauchten, schnippte er seine fast ausgerauchte Kippe zur Seite. Mit einem Zischen sank sie in den lehmigen Wegesrand.
»Irgendwelche Zeugen?«
Der breite, uniformierte Rücken, der vor ihnen aufgeragt hatte, drehte sich weg, unter dem dunkelblauen Mützenschirm wurde ein glatt rasiertes Gesicht mit Schweinsäuglein sichtbar, die von Adam zu ihm und zurück sprangen.
»Nee.« Das Kopfschütteln kam verzögert, begriff den Moment als verstrichen, in dem Adams Frage eine Begrüßung hätte entgegengeschoben werden können.
»Wer hat ihn gefunden?«
Das blasse Graugrün musterte Leo, bevor das Kinn ihres Kollegen inklusive doppelten Unterbaus über die Schlange der Streifenwagen ruckte. »Ein Spaziergänger.«
Unter der eng festgezurrten Anorakkapuze stahl sich nicht eine Haarsträhne hervor. Die vor Kälte steifen Finger umschrieben etwas, das aussah wie ein Schmetterling, vom Handgelenk schlackerte eine rote Leine, die am Hals eines Golden Retrievers endete. Er saß unbekümmert im Straßengraben, das weißgoldene Fell unter den Schenkeln in erdigen Spitzen verdickt, mit geschlossener Schnauze den Spielplatz bis zum Rand des Birkenwäldchens übersehend.
Leo wandte den Kopf, als er Adams Blick auf sich liegen fühlte, doch gingen die stechenden Augen seines Partners an ihm vorbei. Hinter einem Grünglas-Container humpelte ein gedrungener Mann im dunkelgrauen Trainingsanzug auf eine Säulenhalle zu. Der Kopf baumelte zwischen den hochgezogenen Schultern nach vorn, die zottelige, schmutzig silbrige Haartracht zitterte unter jedem Schritt mit den klobigen Turnschuhen. Sie waren das einzig Farbige an ihm, ließen unter dem verkrusteten Schlamm noch eine Ahnung von Dunkelrot aufschimmern.
»Was is’ mit dem?« Adam nickte in Richtung des Portikus, in den der Mann eingetaucht war. Unter den auf dem Kies knirschenden Schritten neben ihnen und den Funkgesprächen mit der Dienststelle war das Schleifen, mit dem der Mann seinen Schlafsack hinter sich her in den Schatten zerrte, nur noch zu erahnen. »Haben Sie den schon gefragt?«
Das Kopfschütteln war losgelöst von den runden, hellen Augen, die ruhig dort verharrten, wo niemand mehr auszumachen war, nun da der Mann sich zurückgezogen hatte. »Den sehen wir jetzt zum ersten Mal.«
»Bringen Sie ihn zu uns aufs Präsidium.«
Mit einer Wendigkeit, die Leo überraschte, drehte sich der Kopf auf dem breiten Hals, der im Jackenkragen fast ganz verschwand. »Wollen Sie ihn nicht erst mal hier befragen? Vielleicht weiß er ja gar nichts.«
Adams Kopf zuckte zur Seite, als verscheuche er eine Fliege. »Ich will ihn vor Ort haben.«
»Alles klar.« Mit seinem Nicken huschten die Augen des Streifenkollegen zu Leo und zurück. »Wird gemacht.«
»Danke«, kleidete Leo Adams knappe Kopfbewegung in Worte.
Sein Husten wurde vernehmlicher, als Leo zu ihm aufschloss.
»Hey – neue Jacke?« Das weißliche Licht des Winterhimmels fing sich nicht im Schnitt an Adams Ärmel, mit dem er so lange herumgelaufen war.
Er schüttelte den Kopf. »Hab sie reparieren lassen.«
»Und der Schal?«
Sein Partner musterte ihn, als habe er vorgeschlagen, Autoscooter fahren zu gehen, dann richtete er den Blick wieder vor sich. »Hat Pia mir geschenkt.«
Die Wiesen waren schmutzig braune Farbflächen, kurz geschoren und niedergetrampelt, ein paar Krähen zogen krächzend ihre Kreise, ein Rentner im braunen Wintermantel lugte in die Weggabelung zum Aufgebot an Blaulicht, ging dann weiter geradeaus.
»Sollen wir die mal noch fragen?«
Adams Augen sprangen von Leos gestrecktem Finger zu den verrosteten Fußballtoren, zwischen denen ein paar Halbwüchsige in feuerroten Trikots johlend und pfeifend einem Ball hinterherjagten.
»Definitiv.«
Über den blonden, braunen und schwarzen Haarschöpfen stoben die Atemwölkchen wie Dampffahnen hintereinandergeschalteter Lokomotiven. Ob einer von ihnen das Sagen hatte? Auf dem Spielfeld, der Aschenbahn, im Schwimmbecken herrschte Gleichheit, die jedoch zwischen den Spinden der Umkleiden zerschellte. Die schartigen Kanten der Lüftungsschlitze hatten sich hässlich in seinen Nacken gebohrt, er fühlte noch jetzt Pauls Spucke über seinen Nasenrücken laufen, auf seine Lippe tropfen, die Soße hatte heiß gepestet. 150 Euro hatten er, Jonas, Tony und Ben von ihm gefordert, nachdem er schon sein ganzes Taschengeld an sie weitergereicht hatte. Ein Fehler. Zahlungsziel drei Tage.
Adams Husten rollte über die zerfaserte Wiese hinweg, er spuckte ins Gras. Als hätte er damals geahnt, dass ihm das Wasser bis zum Hals gestanden hatte. Nur zwei Tage später hatte er Paul die Faust in die Nieren gedonnert und alle weiteren Forderungen an ihn zerschmettert. Ob er ihn davor schon wahrgenommen hatte? Sicher, er hatte Adam vom Sehen gekannt, hatte seinen Namen gewusst, aber das war’s dann auch schon gewesen. Mehr als die paar nötigen Worte zum Verteilen der Rollen bei der Hilfestellung am Barren oder der Verteidigung im Basketball hatten sie nie gewechselt, auch dann nicht, als sie in der Zehnten in einer Klasse gelandet waren. Und plötzlich war Adam einfach da gewesen, eine schweigende Mauer zwischen ihm und den anderen, und niemand hatte es mehr gewagt, ihn auch nur schief von der Seite anzusehen, so, als habe Adam ihn in seinen Kosmos entführt mit verspiegelten Wänden, durch die niemand hatte hindurchsehen können, während sie selbst, wenn auch unaufgeregt, so doch wachsam ihre Umgebung im Auge behalten hatten.
Die Sohle seiner Sneaker glitt auf der platt getrampelten Grasnarbe aus. Die Knie- und Ellbogenpartie der unter die Trikots gezogenen Wintermontur der Jungen war dunkel eingefärbt. Einige abgezählte Male war er auch als Dreckklumpen zu Hause aufgeschlagen, bevor er es wieder aufgegeben hatte. Die Nichtachtung der anderen im Verein war fast noch schwerer zu ertragen gewesen als die Verachtung durch seine Klassenkameraden. Erst in dem Sommer, als Adam ihn wortlos zurückgelassen hatte, hatte er die befreiende Wirkung von Muskelkater begriffen. Wie unter Zwang hatte er Gewichte gestemmt, tagelang hintereinander, oft morgens und dann abends noch einmal, vor und nach dem stundenlangen Laufen, und mit dem Schweiß waren das Scheppern des Spatens, der Anblick der zögerlich anwachsenden Blutlache von ihm abgeperlt, wenigstens im Äußeren, bis nur noch ein verwittertes Relief davon zurückgeblieben war, eingeschrieben in die tiefe Senke seines Schweigens.
Adam schnaubte, Leo drehte den Kopf nach ihm, doch seine Züge waren unbewegt, Verhörmodus, Schweigemaske. Genau so hatte er damals an ihm vorbeigesehen, zwei Tage vor Weihnachten, als er an den Fahrradständern vor der Turnhalle seinen Namen gerufen hatte. Zuerst hatte Adam überlegt, einfach davonzufahren, seine Rückenmuskulatur hatte sich gespannt, bereit zum Aufsteigen. Dann waren seine Schultern herabgesunken, er hatte sich umgewandt, wie bei einer Aufnahme, die man auf Zeitlupe gesetzt hatte. Die rötlich-violette Färbung seiner Nasenspitze hatte ihre Spuren auf seine Wangen gezogen, seinen Blick, den er schließlich doch auf Leo gerichtet hatte, unter der stummen Bitte vereist. Beide hatten sie beides gewusst: dass Adam stundenlang in T-Shirt und kurzer Hose bei minus sieben Grad Kniebeugen und Strecksprünge, Liegestützen und Klimmzüge und zuletzt bei leichtem Schneefall Bahn für Bahn, Zug um Zug im Schwimmbecken abgeleistet, abgelitten und Leo ihn dabei beobachtet hatte. Es hatte nicht mehr zu einem Lächeln auf Adams gefrorenem Gesicht gereicht, als er Leo die Tüte mit Spitzbuben und Zimtwaffeln von Caro und ihrer Mutter abgenommen hatte. Die Angst in dem starren Blau war erloschen und Leo hatte gewusst, dass die geleerte Cellophantüte mit dem aufgedruckten, dümmlich grinsenden Rentier in kaum zehn Minuten im Mülleimer hinter dem Bahnhof knisternd in die Tiefe gedrückt würde, sorgsam durch die tonnenförmige Figur der allumsorgenden Litfaßsäule davor abgeschirmt.
Leos Hände kamen seinem Gehirn zuvor, schnellten hoch und hielten den mit Erdklumpen und braun geknicktem Gras verschmierten Ball davon ab, seine Nase zu plätten.
»Tschuldigung!« kam der Ruf von irgendwo rechts von ihm, Augenrollen zu seiner Linken. Verschnitten. Der Neue. Schon wieder.
»Werfen Sie ihn bitte zurück?« Ein Mann mit Halbglatze unter dem graubraunen Haar kam locker angelaufen, sein Bauch wippte unter seinem ausgewaschenen Sweatshirt.
Leo schüttelte den Kopf und klemmte sich den Ball unter den Arm. »Hölzer, Kripo Saarbrücken.« Seinen Namen verschluckte er beinahe unter dem durchschlagenden Argument seiner Dienststelle.
Die buschigen Brauen des Trainers gaben seine Augen wieder frei, als sie groß wurden. »Ist was passiert?«
Niemals Ermittlungsschritte preisgeben, hört ihr? Niemals! Leos Blick suchte den Stamm einer Fichte, der kränklich bleich unter den dunkel benadelten Ästen herausleuchtete. Es zog seinen Kopf zur Schulter, die sich hob, herabfiel.
»Ist das so ‘ne Verstehen-Sie-Spaß-Nummer, oder was?«
Der Leuchtturm mit flachsblonden Haaren, sicher Verteidigung, beinahe auf Augenhöhe mit ihm, hatte auf dem Boden irgendetwas Interessantes entdeckt. Ein arabisch aussehender Junge drehte nach zwei Sekunden den Kopf, ein Schwarzgelockter, Hagerer, Hochaufgeschossener knubbelte an seinem Fingernagel.
»Willst du unsere Dienstausweise sehen oder genügt dir die hier?«
Adams Stimme zog Leos Blick an. Sein Partner schlug seine schwere Jacke um, dass das karierte Innenfutter sichtbar wurde, und klopfte auf sein Holster. In Leos unterem Sichtfeld waberte die Atemwolke, die er durch die Nase ausstieß. Adams Pupillen waren winzig unter dem grellen Schneehimmel, die harten Kanten seines Kiefers, seiner Wangenknochen verrieten nicht, dass er bis vor einer Dreiviertelstunde nichts an seinem Gürtel getragen hatte. Unter seinem Blick entdeckte der Urheber der Aufmüpfigkeit, ein bulliger Junge, der ihnen gerade bis zur Schulter reichte, seine Faszination für seine Schnürsenkel.
Plötzlich hatte jeder etwas gesehen. Eine Oma mit Rollator. Eine Schwangere mit Kinderwagen. Die Mongos von der GHR.
»Sie meinen die Gerhart-Hauptmann-Realschule.«
»Danke.« Leos Lächeln glitt zur Seite, als er zum Trainer rechts von sich nickte, ohne von seinem Notizbuch aufzusehen. »Ich weiß, ich komme von hier.«
»Echt?«
»An welcher Schule waren Sie?«
»Können nicht mal Sie an unserer Schule vorbeikommen?«
»Gab’s eigentlich echt ‘nen Toten?«
»Irgendwer noch irgendwas gesehen?« überstieg Leos Stimme das Geschnatter vor sich. »Nein? Okay, danke erst mal.« Das Murren wehrte er mit erhobenen Händen ab. »Wenn jemandem noch was einfällt, kann er sich jederzeit bei uns melden. Danke«, nickte er dem Trainer zu, der den Ball vom Boden aufnahm, als Leo ihn zwischen seinen Füßen freigab.
Seine Augen gingen ins Leere, er wandte sich um, da entdeckte er Adam. Er stand ein wenig gebeugt, die Hände in den Hosentaschen versenkt, und nickte immer wieder auf die Reden eines Jungen vor sich, der aussah, als sei er gerade erst in die Mittelstufe gekommen. Unter den langen, dunklen Haarsträhnen zuckten die großen Augen einmal zu ihm, huschten zu Adam zurück, bevor sie die Ursache des Johlens in seinem Rücken suchten.
»Danke.« Adams Stimme blieb an den noch halb bereiften Stängeln hängen, auf ein letztes, zackiges Nicken joggte der Junge zu den anderen zurück.
»Und?«
Adam wies mit dem Kopf hinter sich. »Da soll einer langgerannt sein, so ‘n Typ mit Kapuze und Sporttasche.«
»Zu Sankt Ägidius?«
»Scheint so.«
Adam wartete, bis Leo zu ihm aufgeschlossen hatte. Im Umwenden steckte er sich eine Zigarette an, schirmte die zuckende Flamme gegen den Windstoß ab, der ihnen in die Krägen fuhr. »Bei dir?«
Leo zuckte mit den Schultern. »Nichts Verwertbares. Sie haben …«
»Na ja, wollten sich mal wichtig machen.« Adam legte den Kopf in den Nacken, schickte seine Rauchfahne in den Himmel. »Wann kommen schon mal die Bullen in die Penne? Einmal in der gesamten Schullaufbahn, das muss man so ‘ne Gelegenheit schon nutzen.«
Als Leo sein Holster aufknöpfte, schnaubte Adam. Leo fing sein schiefes Lächeln auf.
»Schiss oder Instinkt?« Er hustete, als er an seiner Zigarette zog, schnippte die Asche auf den feuchten Kies.
»Liegt ja oft nicht so weit auseinander.« Seine Stimme versank tief in Adams Blut, das allein auf dem Tiefgaragendach zurückgeblieben war. Drei Sekunden nur, vielleicht vier, den Abzug früher betätigen, eine Kugel in den Stiefel jagen –
»War nich’ so gemeint.« Leos Kopf schnellte herum, als Adam ihm zweimal leicht auf die Schulter klopfte, aber er fand seinen Blick nicht, den er zu Boden gerichtet hatte. Die Steine scharrten unter seiner Sohle, als er seine Zigarette austrat. »‘S is’ nur der Neid.«
Leo überlegte, ob er Adam falsch verstanden hatte, da bog sein Freund an der Weggabelung plötzlich nach rechts ab.
»Kommst du nicht mit?«
Leo nickte zum Seitenportal, was Adam gar nicht erreichte, weil er ihm bereits den Rücken zugewandt hatte. Der schwarze Pfeil, liebevoll laminiert, wies die unstreitige Richtung zum Eingang an, mäßig bunte Fotografien luden mit ausgeblichener Begeisterung zu Stricknachmittagen und Bridgerunden im Pfarrheim Sankt Johannes, Trauerbegleitung, Jugendfahrten mit Tipis und Lagerfeuern.
Adam wandte sich um und schüttelte grinsend den Kopf. Er ging rückwärts weiter. »Will ja niemanden zu Tode erschrecken.« Sein Finger schlug einen Bogen um das Kirchengebäude. »Ich seh mich mal draußen um.«
»Okay.«
Die verrostete Türklinke sah aus, als hätte man sie ganz in der Hand, drückte man sie hinunter, doch sie tat ihren Dienst und sperrte den Innenraum gegen Unbefugte ab. Wann man willkommen war, war nicht in Erfahrung zu bringen, nirgendwo ein Hinweis auf Öffnungszeiten, auch nicht in Form einer handgeschriebenen Notiz. Der Kies auf dem Vorplatz wirkte sorgsam gerecht, war an keiner Stelle durch hektische Schritte aufgepeitscht.
Am Chorumgang traf er auf Adam.
»Keiner da?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Na ja, kannst ja später wiederkommen.« Adam schleuderte sich die Haare aus der Stirn, als er sich aufrichtete und das Feuerzeug in die Hosentasche schob. »Ich fahr dafür auch in die Gerichtsmedizin.« Seinem Atem war es fast nie anzuhören, wenn er rauchte.
Der Kies wurde schwerfälliger unter ihren Schritten, sank in die lehmige Erde, dünnte aus und gab dann auf.
»Getauft bist du aber schon, oder?«
Sie trennten sich auf die Wegesränder auf, wateten nicht durch die Pfütze in der Kuhle mitten vor ihnen.
»Ich mein – wir waren damals ja zusammen beim Scheingraber.«
Für einen Moment überlegte Leo, ob ihm aus dem Religionsunterricht noch etwas anderes in Erinnerung geblieben war, als dass Herr Scheingraber immer die Tür am Lehrerpult zugeknallt hatte, wenn alle gerade in Sekundenschlaf abgedriftet waren. Irgendetwas war mit Feuerbach gewesen – und mit Nietzsche.
»Klar.« Adam zog das letzte Leben aus seiner Zigarette und trat sie auf dem Asphalt aus. Die Blinker seines SUVs leuchteten auf, als er ihn entsperrte. »Keine Ahnung, wie’s eigentlich dazu gekommen ist – war ein Irrtum von allen Seiten.« Er öffnete die Fahrertür. »Na ja, es war auf Initiative meiner Mutter, glaub ich – wahrscheinlich damit ich nicht in der Hölle lande, sollte ich doch mal draufgehen.«
Leo blieb für eine Sekunde stehen, starrte auf die Straße, wo gerade noch Adams Kopf gewesen war. Als die Fahrertür klatschte, zog er am Griff und glitt auf den Beifahrersitz.
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Kapitel 10 – Spurensuche
Eigentlich hatte Leo es schon gewusst. Wenn er ehrlich zu sich war, so war das Einzige, was ihn wirklich überraschte, dass er sich noch immer wunderte.
Die Augen auf die schwache Lichtreflexion auf dem Linoleum geheftet, hielt er Hellwig die Tür auf. »Morgen.« Er war nie ein Fan von Blondinen-Witzen gewesen, aber in diesem Fall traf das Klischee zu einhundert Prozent zu. Ob sie ihn deswegen nicht wahrnahm oder noch ein Schuss Bösartigkeit hinzukam, wollte er sich nicht festlegen. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr hinterherzusehen. Sie verschwendete bestimmt keinen Blick mehr an ihn, entdeckte das Präsidium bei ihrer zwölftausendelften Runde im Goldfischglas für sich neu. Wenigstens hatte ihn nicht gleich Voss als Erste umgerannt, die selbst ernannte Häscherin der dunklen Geheimnisse.
Der grollende Husten, der ihn bereits auf dem Flur willkommen geheißen hatte, grüßte ihn, als er die Tür aufstieß. Er beschränkte sich darauf, Adam zuzunicken, der ohnehin das Gesicht in seinem Oberarm vergrub, Sichtachse zwischen Rollcontainer und Archivschrank. Ob es tatsächlich in seinem Husten unterging oder er es einfach nur nicht wahrhaben wollte, Adam zeigte mit keinem unkontrolliert entwichenen Blick, keiner Drehung des Kopfes, dass er die Schublade gehen, das schwere Metall auf den Boden poltern hörte. Leo ließ der Waffe seines Partners auch keine Chance, sie verrutschte nur millimeterweise, so behutsam schloss er die Schublade, während er über die Kante der Schreibtischplatte tauchte.
Herzlichen Dank, darf ich dir sonst noch was abnehmen?
Auf Esther war Verlass, definitiv. Mit dem Daumen fuhr er die Rücken der Akten entlang, die sich bis auf halber Höhe seines Monitors stapelten. Aber er wollte den guten Willen, den sie gezeigt hatte, auch nicht kleinreden, immerhin hatte sie, ohne zu murren, zwischen den Jahren die Stellung gehalten, wobei ihr das seinem Gefühl nach ordentlich entgegengekommen war. Kanapees mit Kaviar schlemmend, im violetten Cocktailkleid Champagner süffelnd – das war dann doch nicht die Kollegin, die er kannte.
Er schlug den Aktendeckel auf, der zuoberst lag, und setzte sich zurecht, atmete pustend aus, während er blind nach dem Anschaltknopf seines Computers tastete. Der weiße Hemdkragen verdeckte den Stiernacken nur unzureichend, verlieh ihm durch die sorgfältige Einrahmung genau genommen ein wenig glaubhaftes Gepräge. Tja, mit unlauteren Mitteln erschlichene Millionen waren eben kein geeignetes Lösungsmittel für die Rückstände einer enttäuschten Kindheit in zersplitterten Verhältnissen. Stefan Dahlberg, 47, Schützling von Leiber, als Protegé in die Gesellschaft eingeführt, zur unsichtbaren Ein-Mann-Leibwache herangezogen. Es war ein Abkommen, so alt wie die Menschheit: Geld gegen persönlichen Schutz – und womöglich die Bereitschaft, unliebsame Mitwisser aus dem Weg zu räumen?
Knisternd gab das Papier nach, ließ sich umwenden. Drogenbesitz, Körperverletzung – und, seitdem er in Leibers Diensten stand, eine saubere Weste, durch und durch. Die berühmte Seite 3, formelle Akkuratesse, wie er es von Esthers Verhörprotokollen gewohnt war. Alibi: bestätigt und nachgeprüft. So ein Dreck.
Diesmal machte Adam sich gar nicht erst die Mühe, in seinen Ärmel zu husten, er versenkte sich nur seinerseits in der obersten Schublade seines Schreibtischs, kramte lautstark darin. Eine Unterscheidung in Konzeptentwürfen, Büromaterialien, Proviant und Ermittlungsunterlagen kannte er nicht. Dass er in seinem wilden Wust überhaupt etwas fand, qualifizierte ihn allein schon für einen Posten in der Kriminaldirektion.
»Was machst du überhaupt schon hier?«
Ein wenig zu schwungvoll klappte Leo den Aktendeckel zu, das ganze Paket rutschte ihm beinahe von der Tischkante. Er fing es gerade noch so ab, ließ die Mappe mit einem vernehmlichen Klatschen auf den Stapel zu seiner Linken fallen. Verdunkelt, nachzuprüfen. Das Post-it auf der sich bisher darunter verbergenden Akte wies Leibers Erhabenheit über den Kontakt mit der polizeilichen Ermittlungsarbeit aus. Die Hoffnung, ihn zwischen Weihnachtsmenüs in Tokio, Kapstadt, Rio und dem Jahreswechsel in Sydney erwischen zu können, war reichlich optimistisch gewesen, das musste er im Nachhinein zugeben.
»Du bist doch bestimmt noch krankgeschrieben, oder?«
Anzeige wegen Steuerhinterziehung, 2006, wegen häuslicher Gewalt gegen die Ehefrau durch die Nachbarn, 2011, wegen Korruption, 2016, alle drei zurückgezogen und für unbegründet erklärt. Von dem jovialen Lächeln über der goldfasanartig gemusterten Krawatte rutschte Leos Blick ab, als Adam den Stuhl zurückschob und aufstand. Er hob die Ecke eines Blattes an, fischte darunter eine zerknautschte Zigarettenschachtel heraus und marschierte wie ein Mitglied der Ehrengarde auf die Tür zu.
Als Leo nach seiner dreizehnten oder sechzehnten Raucherpause seine Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er seine Pistole vor ihn auf den Tisch legte, hoben sich Adams Augen dann doch, durchleuchteten ihn mit diesem ausdruckslosen Blick, den er beliebig aufsetzen und ablegen konnte.
»Ein Toter im Bürgerpark.«
Sein Partner nickte noch nicht einmal, als er seine Waffe an sich nahm und in seinem Holster versenkte.
»Ob der Mann noch gelebt hat, als er angezündet wurde, oder nicht, kann ich Ihnen so auf die Schnelle nicht sagen.«
Leo schraubte sich ungelenk aus der Hocke hoch. Frau Wenzel war emporgeschnellt und auf die Schmalseite der Bank zugeschossen, sodass er plötzlich als Hindernis zwischen ihr und dem verkohlten Leichnam kauerte. Zum eingesetzten Brandbeschleuniger, auf den sie ihn anhand der landkartenartigen Flecken im geschmolzenen Asphalt vor den Verankerungen der Bank hingewiesen hatte, gab es offenbar nichts mehr zu sagen.
»Hier« – ihr behandschuhter Zeigefinger deutete auf die Stelle, die, ihrer Lage nach relativ zu den noch sichtbaren Zähnen zu schließen, einmal das Jochbein gewesen sein musste, bevor er sich dorthin weiterbewegte, wo sich das Ohr des Toten befunden hatte – »und hier hat ihn ein harter Schlag getroffen, der ihn mit Sicherheit das Bewusstsein, vielleicht sogar das Leben gekostet hat. Andernfalls hätte er sich bestimmt wenigstens von der Bank heruntergerollt.«
Unwillkürlich richtete Leo sich wieder auf und starrte Frau Wenzel an, der er diesmal jedoch nicht mehr als ein Schulterzucken entlockte.
»Jeder in seinem Handwerk«, entnahm er ihrem Gemurmel und beugte sich erneut über den schwarz versengten Rest dessen, was einmal geatmet, gelacht, geflucht hatte. Rechtsmediziner, die etwas von ihrem Fach verstanden, waren wie Spürhunde, deren geschärfte und mehrdimensionale Wahrnehmung nicht an den Geruchs-, sondern den Sehsinn gekoppelt war. Für gewöhnlich erahnte er wenigstens, worauf Frau Wenzel ihre Befunde gründete, aber hier war er chancenlos. Er sah nur einen mühsam durch die äußere Form zusammengehaltenen Haufen verbrannten Fleisches vor sich.
»Irgendwas zum Zeitpunkt des Brandes – Temperatur oder so?«
Auf Adams Frage wandte Leo den Kopf und richtete sich auf. Sein Freund umschrieb mit dem Zeigefinger in einer zackigen Kreisbewegung den geschmolzenen Asphalt, während er seine Runden um die Bank fortsetzte. Den Kopf wiegend wich Frau Wenzel zurück und schloss nach dem Durchlaufen von Adams Bahn wieder zum Leichnam auf.
»Wahrscheinlich gegen acht oder neun Uhr, meint der Brandermittler – Genaueres nach der Gaschromatografie.«
Eine Mitteilung der chemischen Einzelheiten ersparte sie ihnen und sich, auf Leos Dank winkte sie ab. Frau Wenzel jemals in ihrem Sprachfluss gebremst zu erleben, hätte Leo auch nicht für erwartbar verbucht.
Er schloss zu Adam auf, der sich ein wenig zurückgezogen hatte. Die Arme verschränkt, zwei steile Falten zwischen den Augenbrauen, blickte er finster auf den Tatort hinab, bevor er sich umwandte, Leo wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich herziehend. Hustend nestelte er die Zigarettenschachtel, die sich gegen den starr gewachsten Stoff sperrte, aus dem schmalen Spalt seiner Jackentasche. Die Flamme rauschte, als wolle sie dem Tumult aus Wagen, uniformierten Einsatzkräften und weißgekleideten SpuSi-Spezialisten etwas entgegensetzen. Noch bevor der Hebel unter seinem Daumen beim Loslassen leise klickte, inhalierte Adam tief, sofort nahm er den nächsten Zug, ohne den Rauch ausgeatmet zu haben. Als sie unter dem Absperrband durchtauchten, schnippte er seine fast ausgerauchte Kippe zur Seite. Mit einem Zischen sank sie in den lehmigen Wegesrand.
»Irgendwelche Zeugen?«
Der breite, uniformierte Rücken, der vor ihnen aufgeragt hatte, drehte sich weg, unter dem dunkelblauen Mützenschirm wurde ein glatt rasiertes Gesicht mit Schweinsäuglein sichtbar, die von Adam zu ihm und zurück sprangen.
»Nee.« Das Kopfschütteln kam verzögert, begriff den Moment als verstrichen, in dem Adams Frage eine Begrüßung hätte entgegengeschoben werden können.
»Wer hat ihn gefunden?«
Das blasse Graugrün musterte Leo, bevor das Kinn ihres Kollegen inklusive doppelten Unterbaus über die Schlange der Streifenwagen ruckte. »Ein Spaziergänger.«
Unter der eng festgezurrten Anorakkapuze stahl sich nicht eine Haarsträhne hervor. Die vor Kälte steifen Finger umschrieben etwas, das aussah wie ein Schmetterling, vom Handgelenk schlackerte eine rote Leine, die am Hals eines Golden Retrievers endete. Er saß unbekümmert im Straßengraben, das weißgoldene Fell unter den Schenkeln in erdigen Spitzen verdickt, mit geschlossener Schnauze den Spielplatz bis zum Rand des Birkenwäldchens übersehend.
Leo wandte den Kopf, als er Adams Blick auf sich liegen fühlte, doch gingen die stechenden Augen seines Partners an ihm vorbei. Hinter einem Grünglas-Container humpelte ein gedrungener Mann im dunkelgrauen Trainingsanzug auf eine Säulenhalle zu. Der Kopf baumelte zwischen den hochgezogenen Schultern nach vorn, die zottelige, schmutzig silbrige Haartracht zitterte unter jedem Schritt mit den klobigen Turnschuhen. Sie waren das einzig Farbige an ihm, ließen unter dem verkrusteten Schlamm noch eine Ahnung von Dunkelrot aufschimmern.
»Was is’ mit dem?« Adam nickte in Richtung des Portikus, in den der Mann eingetaucht war. Unter den auf dem Kies knirschenden Schritten neben ihnen und den Funkgesprächen mit der Dienststelle war das Schleifen, mit dem der Mann seinen Schlafsack hinter sich her in den Schatten zerrte, nur noch zu erahnen. »Haben Sie den schon gefragt?«
Das Kopfschütteln war losgelöst von den runden, hellen Augen, die ruhig dort verharrten, wo niemand mehr auszumachen war, nun da der Mann sich zurückgezogen hatte. »Den sehen wir jetzt zum ersten Mal.«
»Bringen Sie ihn zu uns aufs Präsidium.«
Mit einer Wendigkeit, die Leo überraschte, drehte sich der Kopf auf dem breiten Hals, der im Jackenkragen fast ganz verschwand. »Wollen Sie ihn nicht erst mal hier befragen? Vielleicht weiß er ja gar nichts.«
Adams Kopf zuckte zur Seite, als verscheuche er eine Fliege. »Ich will ihn vor Ort haben.«
»Alles klar.« Mit seinem Nicken huschten die Augen des Streifenkollegen zu Leo und zurück. »Wird gemacht.«
»Danke«, kleidete Leo Adams knappe Kopfbewegung in Worte.
Sein Husten wurde vernehmlicher, als Leo zu ihm aufschloss.
»Hey – neue Jacke?« Das weißliche Licht des Winterhimmels fing sich nicht im Schnitt an Adams Ärmel, mit dem er so lange herumgelaufen war.
Er schüttelte den Kopf. »Hab sie reparieren lassen.«
»Und der Schal?«
Sein Partner musterte ihn, als habe er vorgeschlagen, Autoscooter fahren zu gehen, dann richtete er den Blick wieder vor sich. »Hat Pia mir geschenkt.«
Die Wiesen waren schmutzig braune Farbflächen, kurz geschoren und niedergetrampelt, ein paar Krähen zogen krächzend ihre Kreise, ein Rentner im braunen Wintermantel lugte in die Weggabelung zum Aufgebot an Blaulicht, ging dann weiter geradeaus.
»Sollen wir die mal noch fragen?«
Adams Augen sprangen von Leos gestrecktem Finger zu den verrosteten Fußballtoren, zwischen denen ein paar Halbwüchsige in feuerroten Trikots johlend und pfeifend einem Ball hinterherjagten.
»Definitiv.«
Über den blonden, braunen und schwarzen Haarschöpfen stoben die Atemwölkchen wie Dampffahnen hintereinandergeschalteter Lokomotiven. Ob einer von ihnen das Sagen hatte? Auf dem Spielfeld, der Aschenbahn, im Schwimmbecken herrschte Gleichheit, die jedoch zwischen den Spinden der Umkleiden zerschellte. Die schartigen Kanten der Lüftungsschlitze hatten sich hässlich in seinen Nacken gebohrt, er fühlte noch jetzt Pauls Spucke über seinen Nasenrücken laufen, auf seine Lippe tropfen, die Soße hatte heiß gepestet. 150 Euro hatten er, Jonas, Tony und Ben von ihm gefordert, nachdem er schon sein ganzes Taschengeld an sie weitergereicht hatte. Ein Fehler. Zahlungsziel drei Tage.
Adams Husten rollte über die zerfaserte Wiese hinweg, er spuckte ins Gras. Als hätte er damals geahnt, dass ihm das Wasser bis zum Hals gestanden hatte. Nur zwei Tage später hatte er Paul die Faust in die Nieren gedonnert und alle weiteren Forderungen an ihn zerschmettert. Ob er ihn davor schon wahrgenommen hatte? Sicher, er hatte Adam vom Sehen gekannt, hatte seinen Namen gewusst, aber das war’s dann auch schon gewesen. Mehr als die paar nötigen Worte zum Verteilen der Rollen bei der Hilfestellung am Barren oder der Verteidigung im Basketball hatten sie nie gewechselt, auch dann nicht, als sie in der Zehnten in einer Klasse gelandet waren. Und plötzlich war Adam einfach da gewesen, eine schweigende Mauer zwischen ihm und den anderen, und niemand hatte es mehr gewagt, ihn auch nur schief von der Seite anzusehen, so, als habe Adam ihn in seinen Kosmos entführt mit verspiegelten Wänden, durch die niemand hatte hindurchsehen können, während sie selbst, wenn auch unaufgeregt, so doch wachsam ihre Umgebung im Auge behalten hatten.
Die Sohle seiner Sneaker glitt auf der platt getrampelten Grasnarbe aus. Die Knie- und Ellbogenpartie der unter die Trikots gezogenen Wintermontur der Jungen war dunkel eingefärbt. Einige abgezählte Male war er auch als Dreckklumpen zu Hause aufgeschlagen, bevor er es wieder aufgegeben hatte. Die Nichtachtung der anderen im Verein war fast noch schwerer zu ertragen gewesen als die Verachtung durch seine Klassenkameraden. Erst in dem Sommer, als Adam ihn wortlos zurückgelassen hatte, hatte er die befreiende Wirkung von Muskelkater begriffen. Wie unter Zwang hatte er Gewichte gestemmt, tagelang hintereinander, oft morgens und dann abends noch einmal, vor und nach dem stundenlangen Laufen, und mit dem Schweiß waren das Scheppern des Spatens, der Anblick der zögerlich anwachsenden Blutlache von ihm abgeperlt, wenigstens im Äußeren, bis nur noch ein verwittertes Relief davon zurückgeblieben war, eingeschrieben in die tiefe Senke seines Schweigens.
Adam schnaubte, Leo drehte den Kopf nach ihm, doch seine Züge waren unbewegt, Verhörmodus, Schweigemaske. Genau so hatte er damals an ihm vorbeigesehen, zwei Tage vor Weihnachten, als er an den Fahrradständern vor der Turnhalle seinen Namen gerufen hatte. Zuerst hatte Adam überlegt, einfach davonzufahren, seine Rückenmuskulatur hatte sich gespannt, bereit zum Aufsteigen. Dann waren seine Schultern herabgesunken, er hatte sich umgewandt, wie bei einer Aufnahme, die man auf Zeitlupe gesetzt hatte. Die rötlich-violette Färbung seiner Nasenspitze hatte ihre Spuren auf seine Wangen gezogen, seinen Blick, den er schließlich doch auf Leo gerichtet hatte, unter der stummen Bitte vereist. Beide hatten sie beides gewusst: dass Adam stundenlang in T-Shirt und kurzer Hose bei minus sieben Grad Kniebeugen und Strecksprünge, Liegestützen und Klimmzüge und zuletzt bei leichtem Schneefall Bahn für Bahn, Zug um Zug im Schwimmbecken abgeleistet, abgelitten und Leo ihn dabei beobachtet hatte. Es hatte nicht mehr zu einem Lächeln auf Adams gefrorenem Gesicht gereicht, als er Leo die Tüte mit Spitzbuben und Zimtwaffeln von Caro und ihrer Mutter abgenommen hatte. Die Angst in dem starren Blau war erloschen und Leo hatte gewusst, dass die geleerte Cellophantüte mit dem aufgedruckten, dümmlich grinsenden Rentier in kaum zehn Minuten im Mülleimer hinter dem Bahnhof knisternd in die Tiefe gedrückt würde, sorgsam durch die tonnenförmige Figur der allumsorgenden Litfaßsäule davor abgeschirmt.
Leos Hände kamen seinem Gehirn zuvor, schnellten hoch und hielten den mit Erdklumpen und braun geknicktem Gras verschmierten Ball davon ab, seine Nase zu plätten.
»Tschuldigung!« kam der Ruf von irgendwo rechts von ihm, Augenrollen zu seiner Linken. Verschnitten. Der Neue. Schon wieder.
»Werfen Sie ihn bitte zurück?« Ein Mann mit Halbglatze unter dem graubraunen Haar kam locker angelaufen, sein Bauch wippte unter seinem ausgewaschenen Sweatshirt.
Leo schüttelte den Kopf und klemmte sich den Ball unter den Arm. »Hölzer, Kripo Saarbrücken.« Seinen Namen verschluckte er beinahe unter dem durchschlagenden Argument seiner Dienststelle.
Die buschigen Brauen des Trainers gaben seine Augen wieder frei, als sie groß wurden. »Ist was passiert?«
Niemals Ermittlungsschritte preisgeben, hört ihr? Niemals! Leos Blick suchte den Stamm einer Fichte, der kränklich bleich unter den dunkel benadelten Ästen herausleuchtete. Es zog seinen Kopf zur Schulter, die sich hob, herabfiel.
»Ist das so ‘ne Verstehen-Sie-Spaß-Nummer, oder was?«
Der Leuchtturm mit flachsblonden Haaren, sicher Verteidigung, beinahe auf Augenhöhe mit ihm, hatte auf dem Boden irgendetwas Interessantes entdeckt. Ein arabisch aussehender Junge drehte nach zwei Sekunden den Kopf, ein Schwarzgelockter, Hagerer, Hochaufgeschossener knubbelte an seinem Fingernagel.
»Willst du unsere Dienstausweise sehen oder genügt dir die hier?«
Adams Stimme zog Leos Blick an. Sein Partner schlug seine schwere Jacke um, dass das karierte Innenfutter sichtbar wurde, und klopfte auf sein Holster. In Leos unterem Sichtfeld waberte die Atemwolke, die er durch die Nase ausstieß. Adams Pupillen waren winzig unter dem grellen Schneehimmel, die harten Kanten seines Kiefers, seiner Wangenknochen verrieten nicht, dass er bis vor einer Dreiviertelstunde nichts an seinem Gürtel getragen hatte. Unter seinem Blick entdeckte der Urheber der Aufmüpfigkeit, ein bulliger Junge, der ihnen gerade bis zur Schulter reichte, seine Faszination für seine Schnürsenkel.
Plötzlich hatte jeder etwas gesehen. Eine Oma mit Rollator. Eine Schwangere mit Kinderwagen. Die Mongos von der GHR.
»Sie meinen die Gerhart-Hauptmann-Realschule.«
»Danke.« Leos Lächeln glitt zur Seite, als er zum Trainer rechts von sich nickte, ohne von seinem Notizbuch aufzusehen. »Ich weiß, ich komme von hier.«
»Echt?«
»An welcher Schule waren Sie?«
»Können nicht mal Sie an unserer Schule vorbeikommen?«
»Gab’s eigentlich echt ‘nen Toten?«
»Irgendwer noch irgendwas gesehen?« überstieg Leos Stimme das Geschnatter vor sich. »Nein? Okay, danke erst mal.« Das Murren wehrte er mit erhobenen Händen ab. »Wenn jemandem noch was einfällt, kann er sich jederzeit bei uns melden. Danke«, nickte er dem Trainer zu, der den Ball vom Boden aufnahm, als Leo ihn zwischen seinen Füßen freigab.
Seine Augen gingen ins Leere, er wandte sich um, da entdeckte er Adam. Er stand ein wenig gebeugt, die Hände in den Hosentaschen versenkt, und nickte immer wieder auf die Reden eines Jungen vor sich, der aussah, als sei er gerade erst in die Mittelstufe gekommen. Unter den langen, dunklen Haarsträhnen zuckten die großen Augen einmal zu ihm, huschten zu Adam zurück, bevor sie die Ursache des Johlens in seinem Rücken suchten.
»Danke.« Adams Stimme blieb an den noch halb bereiften Stängeln hängen, auf ein letztes, zackiges Nicken joggte der Junge zu den anderen zurück.
»Und?«
Adam wies mit dem Kopf hinter sich. »Da soll einer langgerannt sein, so ‘n Typ mit Kapuze und Sporttasche.«
»Zu Sankt Ägidius?«
»Scheint so.«
Adam wartete, bis Leo zu ihm aufgeschlossen hatte. Im Umwenden steckte er sich eine Zigarette an, schirmte die zuckende Flamme gegen den Windstoß ab, der ihnen in die Krägen fuhr. »Bei dir?«
Leo zuckte mit den Schultern. »Nichts Verwertbares. Sie haben …«
»Na ja, wollten sich mal wichtig machen.« Adam legte den Kopf in den Nacken, schickte seine Rauchfahne in den Himmel. »Wann kommen schon mal die Bullen in die Penne? Einmal in der gesamten Schullaufbahn, das muss man so ‘ne Gelegenheit schon nutzen.«
Als Leo sein Holster aufknöpfte, schnaubte Adam. Leo fing sein schiefes Lächeln auf.
»Schiss oder Instinkt?« Er hustete, als er an seiner Zigarette zog, schnippte die Asche auf den feuchten Kies.
»Liegt ja oft nicht so weit auseinander.« Seine Stimme versank tief in Adams Blut, das allein auf dem Tiefgaragendach zurückgeblieben war. Drei Sekunden nur, vielleicht vier, den Abzug früher betätigen, eine Kugel in den Stiefel jagen –
»War nich’ so gemeint.« Leos Kopf schnellte herum, als Adam ihm zweimal leicht auf die Schulter klopfte, aber er fand seinen Blick nicht, den er zu Boden gerichtet hatte. Die Steine scharrten unter seiner Sohle, als er seine Zigarette austrat. »‘S is’ nur der Neid.«
Leo überlegte, ob er Adam falsch verstanden hatte, da bog sein Freund an der Weggabelung plötzlich nach rechts ab.
»Kommst du nicht mit?«
Leo nickte zum Seitenportal, was Adam gar nicht erreichte, weil er ihm bereits den Rücken zugewandt hatte. Der schwarze Pfeil, liebevoll laminiert, wies die unstreitige Richtung zum Eingang an, mäßig bunte Fotografien luden mit ausgeblichener Begeisterung zu Stricknachmittagen und Bridgerunden im Pfarrheim Sankt Johannes, Trauerbegleitung, Jugendfahrten mit Tipis und Lagerfeuern.
Adam wandte sich um und schüttelte grinsend den Kopf. Er ging rückwärts weiter. »Will ja niemanden zu Tode erschrecken.« Sein Finger schlug einen Bogen um das Kirchengebäude. »Ich seh mich mal draußen um.«
»Okay.«
Die verrostete Türklinke sah aus, als hätte man sie ganz in der Hand, drückte man sie hinunter, doch sie tat ihren Dienst und sperrte den Innenraum gegen Unbefugte ab. Wann man willkommen war, war nicht in Erfahrung zu bringen, nirgendwo ein Hinweis auf Öffnungszeiten, auch nicht in Form einer handgeschriebenen Notiz. Der Kies auf dem Vorplatz wirkte sorgsam gerecht, war an keiner Stelle durch hektische Schritte aufgepeitscht.
Am Chorumgang traf er auf Adam.
»Keiner da?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Na ja, kannst ja später wiederkommen.« Adam schleuderte sich die Haare aus der Stirn, als er sich aufrichtete und das Feuerzeug in die Hosentasche schob. »Ich fahr dafür auch in die Gerichtsmedizin.« Seinem Atem war es fast nie anzuhören, wenn er rauchte.
Der Kies wurde schwerfälliger unter ihren Schritten, sank in die lehmige Erde, dünnte aus und gab dann auf.
»Getauft bist du aber schon, oder?«
Sie trennten sich auf die Wegesränder auf, wateten nicht durch die Pfütze in der Kuhle mitten vor ihnen.
»Ich mein – wir waren damals ja zusammen beim Scheingraber.«
Für einen Moment überlegte Leo, ob ihm aus dem Religionsunterricht noch etwas anderes in Erinnerung geblieben war, als dass Herr Scheingraber immer die Tür am Lehrerpult zugeknallt hatte, wenn alle gerade in Sekundenschlaf abgedriftet waren. Irgendetwas war mit Feuerbach gewesen – und mit Nietzsche.
»Klar.« Adam zog das letzte Leben aus seiner Zigarette und trat sie auf dem Asphalt aus. Die Blinker seines SUVs leuchteten auf, als er ihn entsperrte. »Keine Ahnung, wie’s eigentlich dazu gekommen ist – war ein Irrtum von allen Seiten.« Er öffnete die Fahrertür. »Na ja, es war auf Initiative meiner Mutter, glaub ich – wahrscheinlich damit ich nicht in der Hölle lande, sollte ich doch mal draufgehen.«
Leo blieb für eine Sekunde stehen, starrte auf die Straße, wo gerade noch Adams Kopf gewesen war. Als die Fahrertür klatschte, zog er am Griff und glitt auf den Beifahrersitz.