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Dein ist mein ganzes Herz

von avamoon
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Mix
Bill David Jost Georg Gustav OC (Own Character) Tom
11.01.2022
19.09.2023
7
20.174
2
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19.09.2023 3.704
 
Ich stelle mich dumm. »Okay. Also ich gebe dir die Karten und du gehst dann mit Tom oder Benny oder irgendeiner anderen Person, die nicht ich ist, richtig?«
    Ich lehne mich zu meinem Rucksack, um Bill die Karten zu geben, bis er sagt: »Jetzt tu doch nicht so! Ich meine uns beide.«
    Meine Glieder verharren regungslos. Er nimmt mich auf den Arm!
    »Ach, komm, das wird bestimmt witzig. Umso mehr Zeit wir miteinander verbringen, umso schneller verschmelzen unsere Gehirne miteinander.«
    Je. Umso. Desto, korrigiere ich ihn in Gedanken, aber mir fehlt der Mut, es laut auszusprechen. Ich richte mich wieder auf. »Auf keinen Fall gehe ich mit dir zu einem Konzert.«
    Bill nimmt die Sonnenbrille ab. »Natürlich gehst du mit mir dahin.«
    »Nein!«
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Du bist manchmal ganz schön dumm dafür, dass du so schlau bist.«
    »Wie bitte?«
    »Hast du immer noch nicht gelernt, dass du nur das Gegenteil erreichst, wenn du mir widersprichst?«
    »Okay, warte.« Ich versuche mir ernsthaft vorzustellen, mit Bill Kaulitz zu einem Konzert zu gehen, aber mein Gehirn schafft es nicht, sich ein Bild davon zu machen. Das ist wie die Frage, was sich außerhalb des Universums befindet – irgendwann zerbricht der Verstand daran, weil es die Vorstellungskraft übersteigt. »Du willst mit mir auf ein Konzert von Deutschlands bekanntester Rapperin, obwohl ich einen Vertrag unterschreiben sollte, in dem steht, dass ich deinen Namen in der Öffentlichkeit nicht mal denken darf? Habe ich das richtig verstanden?«
    Bill wedelt mit der Hand in meine Richtung. »Du siehst das alles viel zu negativ. Wenn du immer so eine Einstellung hast, ist sowieso alles zum Scheitern verurteilt.«
    Alles, was ich jetzt noch dazu sagen könnte, würde eine Menge Beleidigungen enthalten, also beiße ich auf meine Lippen, schaue aus dem Fenster und versuche so zu tun, als würde Bill nicht neben mir sitzen. Das ist aber gar nicht so leicht, wenn sein Duft zu mir herüberweht und mich geradezu benebelt. Er befördert mich zurück in meine Kindheit, wenn Josephine und ich vor Weihnachten bei meinen Großeltern waren und Kekse gebacken haben. Das ganze Haus roch nach Vanille. Ich schiebe mich dicht an die Tür und versuche unauffällig meine Nase zuzuhalten. Dann denke ich an die letzte Party, auf der Vivi so viel gekotzt hat, dass ich ihr am nächsten Tag helfen musste, die Reste aus den Haaren zu waschen, während Aysun neben uns über der Toilettenschüssel hing und sich übergab. Das war der widerlichste Moment meines Lebens. Und zum ersten Mal bin ich dankbar für diese Erinnerung. Ich schaffe es, mich nicht von Bills Geruch betören zu lassen, bis der Wagen in eine Tiefgarage fährt und anhält.
    »Wo lässt du eigentlich deine Haare färben, dass sie so echt aussehen?«
    Dass ich ihm daraufhin einen so vernichtenden Blick zuwerfe, hat er nicht eingeplant, denn er weicht zurück. Ich nehme eine Haarsträhne zwischen meine Finger und mustere die kupferrote Farbe, die ich seit meiner Geburt habe. Man hat mir noch nie unterstellt, dass ich meine Haare färben würde.
    Ich werfe die Strähne zurück über meine Schulter, ohne Bill aus den Augen zu lassen, steige aus und knalle die Tür zu. »Arschloch.«

»Die Schule wurde mit viel Liebe zum Detail umgebaut, um den Charakter des Gebäudes zu bewahren.« Jedes Mal, wenn die Maklerin auf ihren Pfennigabsätzen einen Schritt macht, klingt es, als würde jemand Knallfrösche auf den edlen Hartholzboden schmeißen.
    Ich stehe an der Eingangstür und fühle mich, als würde ich das Loft allein durch meine Anwesenheit entweihen. Außerdem macht mir die Maklerin Angst. Sie ist riesig und strahlt in ihrem maßgeschneiderten Kostüm solch eine Autorität aus, dass ich mich nicht über den Eingangsbereich hinaus getraut haben. Neben ihr wirkt Bill fast schon normal.
    Der hört ihr gespannt zu. Zumindest tut er so. Sein Lächeln geht von einem Ohr zum anderen, aber es erreicht seine Augen nicht. Er hat diesen Gesichtsausdruck auch in Interviews, wenn er zum tausendsten Mal die gleichen Fragen gestellt bekommt. Die Maklerin erzählt über freigelegte Ziegelwände und Stahlträger und er nickt an den richtigen Stellen, gibt freundliche Kommentare von sich, lacht höflich.
    Während ich die beiden beobachte, frage ich mich unweigerlich, was ich hier eigentlich mache. Sich Wohnungen anzusehen ist nichts ungewöhnliches. Es mit Bill zu tun aber schon – und das meine ich nicht, weil er Bill Kaulitz ist (vielleicht ein bisschen), sondern wegen unserer Beziehung zueinander. Wir sind keine Freunde, aber mehr als Bekannte. Bill hat mich davon abgehalten, irgendwelche Verträge zu unterschreiben, also sind wir keine Kollegen. Was auch immer wir sind – ich bin hier völlig fehl am Platz.
    Die Maklerin hat sich sehr über Bill gefreut, als wir die Wohnung betraten. Aber sobald sie mich entdeckte, ist ihr für einen Augenblick ihr perfektes Lächeln verrutscht. Seitdem ignoriert sie mich. Eigentlich ignorieren mich beide.
    Das Loft ist bis auf eine Küche, die vermutlich mehr kostet als die Miete unserer Wohnung im ganzen Jahr, noch leer. Trotzdem sehe ich die Einrichtung vor meinem geistigen Auge. Gott, ich würde sofort einziehen, wenn ich die Kohle hätte. Allein der Blick aus den Fenstern ist unbezahlbar.
    Als die Maklerin sich kurz wegdreht, rollt Bill mit den Augen. Die Maklerin rattert herunter, was für Vorteile die Küche bietet und welche hochmodernen Geräte eingebaut sind.
    »Perfekt für jemanden wie Sie«, sagt sie glühend vor Begeisterung. »Sie haben doch sicherlich einen Faible für kulinarische Experimente, nicht wahr?«
    Bill betrachtet die Küche und hebt die Schultern. »Nein. Nein, eigentlich nicht. Du?« Er hat sich zu mir gedreht und ich tue schnell so, als wäre mir etwas ultrawichtiges eingefallen und wühle in meiner Handtasche. »Julia?«
    Oh Mann, ständig vergisst er meinen Namen und ausgerechnet jetzt weiß er ihn?
    Fragend sehe ich ihn an, krame aber weiter in meiner Tasche nach etwas, das ich nicht besitze: Würde.
    »Ob du einen Faible für kulinarische Experimente hast.« Bills Augenbrauen wackeln bei dem Wort Experimente so anzüglich, dass die Maklerin einen knallroten Kopf bekommt.
    »Ähh …« Warum betont er das so? Und warum bringt es mich so aus dem Konzept? Ich räuspere mich und nehme mir vor, ihm etwas intelligentes zu antworten, stattdessen sage ich: »Ich denke, weiß ich nicht.« Nun ist es mein Schädel, der rot anläuft. Ich ertaste mein Handy in der Handtasche und gebe vor, furchtbar beschäftigt zu sein. Oh Gott, hoffentlich tut sich der Boden unter mir auf.
    Die beiden setzen die Besichtigung fort und gehen in einen anderen Raum. Ich stoße die angehaltene Luft aus und habe plötzlich die Idee, Aysun anzurufen. Wieder schaue ich aufs Handy.
    Und mir sackt alles ab.
    Das ist nicht mein Handy.
    Das ist auch nicht meine Handtasche.
    »Fuck.«
    Bill hat sie mir wortlos in die Hand gedrückt, als wir das Loft betraten.
    Warum tut sich dieser blöde Boden denn nicht unter mir auf, verflucht?
    »Willst du dort Wurzeln schlagen?« Bill steht im Türrahmen am anderen Ende des Raums und ich frage mich, wie lange er mir schon dabei zusieht, wie ich vor Scham langsam sterbe.
    Ich gehe zu den Fenstern und schaue auf Hamburg, während Bill sich von der Maklerin die beleuchtete Regendusche zeigen lässt. Dann höre ich, wie sie an mir vorbei stöckelt und das Loft verlässt, damit Bill alles auf sich wirken lassen kann. Er stellt sich neben mich, die Arme verschränkt, sein Blick nachdenklich.
    Die untergehende Sonne taucht das Wasser des Hafens in ein schimmerndes Gold, das sich in unzähligen Reflektionen auf der Oberfläche widerspiegelt. Am Ende des Horizonts ziehen sich die Wolken zusammen.
    »Was mache ich hier überhaupt?«, unterbreche ich die Stille.
    Bill antwortet erst nicht, dann: »Glaubst du, dass wir hier besser zusammen arbeiten könnten?« Ich spüre seinen fragenden Blick. »Ich meine, bei Tom und mir hat man nie wirklich seine Ruhe.« Er wippt mit den Füßen, und dreht sich um, damit er sich das Loft noch mal ansehen kann. »Ich dachte, dass eine eigene Bude vielleicht besser wäre, um die Texte zu schreiben.«
    »Ein riesiges Loft nur zum Schreiben?«
    Bill zuckt mit den Achseln. »Ein Rückzugsort zum Schreiben.«
    Das ist so prätentiös, dass ich fast kotzen möchte.
    »Du findest es großspurig, schon klar.«
    »Es ist doch egal, was ich darüber denke. Ich verstehe nicht, weshalb wir darüber reden, was du mit deinem Geld machst.«
    »Frage ich mich auch. Ich habe dich gefragt, ob du dir vorstellen kannst, hier zu schreiben. Stattdessen verurteilst du mich.«
    »Ich brauche keine Luxusbude, in die meine Wohnung zehnmal reinpasst, um schreiben zu können. Alles, was ich dazu benötige, sind ein Stift und ein Zettel.«
    »Ach, und warum kommen dann kaum welche zusammen?«
    »Meinst du das jetzt ernst? Du kriegst jede Woche mindestens einen Songtext! Von dir kam bisher nur ein einziger.«
    Bill mahlt den Kiefer. »Ist dir vielleicht mal aufgefallen, dass ich momentan etwas beschäftigt bin?«
    »Und ich nicht, oder wie?«
    Bill hebt abschätzig eine Augenbraue und mein Geduldsfaden reißt. Ich hole tief Luft, um ihm meine Wut entgegen brüllen zu können, aber dann ertönen plötzlich wieder die Knallfrösche und Bill setzt sein Nur-für-die-Kamera-Lächeln auf, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht radieren würde.
    »Na, wie sieht's aus?«
    Bill sieht mich an und sein Lächeln hört auf.
    Meine Wut verraucht und ich bin wieder ein kleines, rothaariges Mädchen, das den Mund in seiner Gegenwart nicht auf bekommt.
    Dann blickt Bill wieder zur Maklerin. »Ich glaube, sie ist es. Ich nehme die Wohnung.«
   
Als wir wieder im Wagen sitzen, hat die Dunkelheit die Stadt in ihr nächtliches Gewand gehüllt. Inzwischen fällt der Regen in dichten Vorhängen auf die Straße. Bill und ich richten unsere Blicke in verschiedene Richtungen, so krampfhaft darauf bedacht, sie nicht zu kreuzen, dass es schon peinlich ist. Die Lichter der vorbeiziehenden Autos beleuchten abwechselnd Bills Gesicht und enthüllen seine angespannten Züge. Die Fensterscheiben sind von Regentropfen übersät und verwandeln die Stadt in ein verschwommenes, surreales Gemälde. Es ist, als wäre das Unwetter ein Schleier, der die Stille zwischen uns noch dichter macht.
    Meine Hände verkrampfen sich in meinem Schoß. Fingernägel graben sich in meine Handflächen, während Bill stur aus dem Fenster starrt.
    Der Fahrer navigiert uns geschickt durch den Verkehr, und sein Schweigen verrät seine Zurückhaltung, sich in unsere Angelegenheit einzumischen.
    Zuhause grüble ich noch immer darüber, wie die Stimmung zwischen uns beiden so plötzlich kippen konnte. Dass ich dazu neige, alles zu Tode zu analysieren, ist nichts neues. Aber dass es mir so an die Nieren geht, nervt mich genauso sehr wie die Sorgen, die ich mir um Bill machte, als er krank war.
    Ich stelle meinen Rucksack aufs Bett und während ich einen Blick hineinwerfe, wird mir bewusst, dass mein Skateboard noch bei Bill und Tom ist. Ich ärgere mich still vor mich hin und wühle in meinem Rucksack, bis ich den Umschlag mit den blöden Konzertkarten finde, um ihn an einem neuen Platz zu bunkern. Es dauert aber nicht lange, bis ich feststelle, dass der Umschlag leer ist und etwas auf die Rückseite gekritzelt wurde.
    FREITAG.
    19:00 UHR!!
    Ich verdrehe stöhnend die Augen und zerknülle den Umschlag. Gerade als ich mich unter den Schreibtisch bücke, um ihn in den Papierkorb zu werfen, wird meine Zimmertür aufgerissen und ich stoße mir den Kopf an der Kante.
    »Was zum …«
    »Oh, ich wollte dich nicht erschrecken.« Meine Mutter kommt zu mir und betrachtet die Stelle an meinem Hinterkopf, über die ich mit der Hand reibe. »Es ist nichts zu sehen, aber hat es sehr weh getan?«
    »Nein, schon gut.« Ich bücke mich nach dem zerknüllten Umschlag, der mir vorhin aus der Hand gefallen ist, und schmeiße ihn endgültig weg.
    »Wie war's bei Aysun?«, fragt sie, unter ihrem Arm ein Karton, der mir sehr bekannt vorkommt.
    Ich versuche meinem Blick von ihm loszureißen und meine Mutter anzusehen. »Gut. War toll. Echt … toll.«
    Meine Mutter runzelt etwas die Stirn, kommentiert meinen merkwürdigen Satz aber nicht weiter. Stattdessen hält sie mir den Schuhkarton entgegen. »Der Stand vor der Wohnungstür.« Auf dem Deckel klebt ein Post-It mit meinem Namen in Schönschrift.
    Bill hat das niemals geschrieben. Seine Handschrift schreit einen immer an, und das liegt nicht mal daran, dass er die Angewohnheit hat, alles in Großbuchstaben zu schreiben. Diese Handschrift ist hübsch, und das Herz über dem i in meinem Namen lässt auf eine verspielte Person schließen.
    »Ich wusste gar nicht, dass Tim so eine hübsche Schrift hat.« Sie klingt beeindruckt.
    »Tim?«, frage ich verwirrt.
    »Wer würde dir sonst Schuhe kaufen und dir Herzchen hinterlassen?«
    »Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass Tim sich eher einen Arm abschlagen würde, als einen Fuß in einen Schuhladen zu setzen.« Ich hebe den Deckel hoch und als ich die roten Vans sehe, kann ich nichts gegen das Bedürfnis tun, sie sofort anzuprobieren.
    Meine Mutter hat anscheinend denselben Gedanken, denn sie greift in den Karton und hält mir das Paar entgegen. Während ich mich aufs Bett setze und die Schuhe wechsle, frage ich mich, wann der Karton hier ankam und vor allem, wer ihn hierhin gebracht hat. Bill wird wohl kaum jemanden beauftragt haben, mir Schuhe nach Hause zu bringen … oder? Immerhin traue ich ihm seit unserer ersten Begegnung auch zu, Babys zu essen.
    »Besteht also die Möglichkeit, dass du einen heimlichen Verehrer hast?«
    »N-«, ich halte inne. Lieber lasse ich sie glauben, dass ich einen heimlichen Verehrer habe, als dass sie weiß, von wem sie wirklich sind, also nicke ich lächelnd. »Sieht ganz so aus.«
    Es wird nur noch unangenehmer, als sie mir zu zwinkert. Nachdem sie aus meinem Zimmer gegangen ist, setze ich mich an meine Hausaufgaben, aber das gebe ich schnell wieder auf, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Ich öffne meinen Laptop und schreibe Bill eine Email, weil ich weiß, dass ich sonst keinen Frieden finden werde.
    'Hier standen Schuhe. Warum?'
    Ungefähr eine quälend lange Minute verstreicht, in der ich mit den Fingern einen nervösen Takt auf dem Schreibtisch trommle, meine Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Die Sekunden schleichen dahin, als würden sie sich einen Spaß daraus machen, mich auf die Folter zu spannen.
    Mit einem seufzenden Atemzug greife ich nach dem Körbchen mit meiner Sammlung von Nagellackfläschchen in allen erdenklichen Rottönen und mache mich daran, meine Nägel auf Vordermann zu bringen. Ich lasse mir Zeit, setze jeden Pinselstrich sorgfältig und lausche dem Fernsehprogramm, der aus dem Zimmer meine Mutter kommt.
    Der letzte Nagel ist an der Reihe, als plötzlich der erlösende Benachrichtigungston des Email-Programms erklingt, und ich verteile den Nagellack auf meiner Fingerkuppe. Eilig will ich den Pinsel zurück ins Fläschchen stecken, werfe es aber um. Ich kann nicht anders, als über mein eigenes Verhalten den Kopf zu schütteln. Warum bin ich denn so nervös?
    Nachdem ich das kleine Chaos auf meinem Schreibtisch beseitigt habe, ziehe ich den Laptop an mich heran und öffne die Email von Bill.
    'ach. du redest wieder mit mir?'
    Ich verdrehe, wie so oft, wenn Bill etwas äußert, die Augen. 'Vergiss es', antworte ich.
    Einen Moment später kommt eine neue Email: 'hm ok..'
    Ich bin wirklich versucht, das Wort Blödmann einzutippen, aber mein fehlendes Selbstbewusstsein hält mich glücklicherweise davon ab.
    Als ich beschließe, ins Bett zu gehen, kommt eine neue Nachricht rein.
    'für den roboter song.. wenn ich dir noch ein paar schuhe kaufe verrätst du mir dann was dich zu diesem text inspiriert hat??'
    Aus irgendeinem Grund werden meine Wangen heiß. Ich setze zum Antworten an: 'Du brauchst mir keine Schuhe kaufen. Hör auf, Satzzeichen zu missbrauchen und ich verrate dir alles, was du wissen willst. Danke für die Schuhe und gute Nacht.' Mit einem zufriedenen Grinsen klappe ich den Laptop zu und gehe ins Bett. Doch kaum decke ich mich zu, spüre ich, wie das Blackberry vibriert. Ich schaffe es einfach nicht, meiner Neugier zu widerstehen und werfe einen Blick aufs Display.
    'Du kannst die neuen Schuhe ja Freitag anziehen. Ich wünsche dir auch eine gute Nacht. P.S. Niemand mag Klugscheißer.'
    Verdammt, er meint das mit dem Konzert todernst.
    Ich presse das Gesicht ins Kissen und schreie hinein.

• • • •

Falls ich je so etwas wie Optimismus im Hinblick auf den heutigen Abend besessen habe, ist er in diesem Moment restlos ausradiert worden, in dem meine arme naive Mutter mir viel Spaß wünscht und mich bittet, Aysun liebe Grüße zu bestellen. Ich habe ihr vorgegaukelt, mit Aysun aufs Konzert zu gehen.
    Oh, Gott, meine Mutter hat ja keine Ahnung, wie verlogen ich bin. Sollte mein schlechtes Gewissen mal Gestalt annehmen, wäre es eine riesige Version des Krümelmonsters und ich wäre ein kleiner trockener Keks.
    Während sie glaubt, ich würde mit der Straßenbahn zu Aysun fahren, laufe ich zu der Straßenecke, wo der Van auf mich wartet. Mein Leben ist so absurd, dass ich mich anfangen sollte zu fragen, ob das hier wirklich noch die Realität ist. Ich komme mir vor, als würde ich zu einer geheimen Mission aufbrechen … und genau das tue ich ja.
    Als ich einsteige, hängt Bill wieder an seinem Handy.
    »Bitte sag mir, dass dein Hund die Karten gefressen hat«, sage ich statt einer Begrüßung und schnalle mich neben ihm an.
    Er lässt die Hand mit dem Handy sinken und lächelt schadenfroh. »Tut mir leid, ich habe leider keinen Hund. Aber anscheinend bin ich glücklicher Besitzer eines Angsthasen geworden.« Er stemmt seinen Fuß gegen die Sitzbank vor uns und widmet sich wieder seinem Handy. Wie kann er in dieser Situation so entspannt sein?
    Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich umklammere den Gurt.
    Er seufzt genervt. »Okay. Was soll schon passieren?«
    »Nun, lass mich nachdenken«, entgegne ich sarkastisch. »Eine Person, die sich hier im Fahrzeug befindet, könnte erkannt werden. Das würde Konsequenzen nach sich ziehen, auf die ich echt keine Lust habe. Meine Mutter denkt, dass ich just in dieser Sekunde bei meiner besten Freundin bin – wie muss es für sie sein, wenn sie eine dieser furchtbaren Zeitungen aufschlägt, die sie leider Gottes so gerne liest, und dort das Gesicht ihrer Tochter gemeinsam mit Bill Kaulitz auf einem Konzert sieht, auf das sie doch mit ihrer besten Freundin gehen wollte? In der Zeit werden schon sämtliche Reporter vor unserer Wohnung herumlungern und darauf warten, dass die vermeintliche Freundin des heißbegehrten Sängers einer weltbekannten Band nach Hause kommt, damit sie sie mit Fragen löchern und sie in Zukunft auf Schritt und Tritt verfolgen zu können. Und nicht zu vergessen diese bekloppten Gören, die dich und deinen Bruder als ihr Eigentum betrachten und mir durch ihre Zahnspangen Morddrohungen aussprechen. Dann ist nicht nur mein Leben ruiniert – wir werden auch nicht mehr an deinen Songtexten schreiben können. Tokio Hotel wird kein neues Album veröffentlichen, das Label schmeißt euch raus und ihr seid arbeitslose Musiker, die bald in Vergessenheit geraten werden.«
    Bill lässt meinen Monolog einen Augenblick sacken, dann beginnt er plötzlich übers ganze Gesicht zu strahlen. »Du findest, ich bin heißbegehrt?«
    Ich lasse die Schultern hängen. »Das ist alles, was du gehört hast?«
    »Wenn die Hälfte der Menschheit dich hasst, fängst du an, negatives zu auszublenden, um nicht durchzudrehen.«
    »Es ist doch aber nun mal Fakt, dass wir ein unnötiges Risiko eingehen.«
    »Es ist kein unnötiges Risiko.« Bill setzt eine schwarze Strickmütze auf. »Wenn ich nicht bald etwas Normales unternehme, lege ich noch irgendwen um und mache dich dafür verantwortlich. Du bist die einzige Person, die ich kenne, die Normalität in mein Leben bringen kann.«
    Mit anderen Worten: Ich bin eine Langweilerin.
    »Und wer weiß«, fährt er fort, »vielleicht wird der heutige Abend dazu beitragen, dass ich meine Schreibblockade loswerde. Wir handeln eigentlich nur im Interesse meiner Speichellecker.«
    »Und was ist mit Benny? Er kann doch sicherlich für Normalität sorgen.«
    Bill lacht freudlos und sieht mich an, als sei ich ein kleines naives Dummchen. »Der kann inzwischen auch kaum über die Straße gehen, ohne angequatscht zu werden und uns irgendwelche Liebesbekundungen zu überbringen.«
    Ich versuche an die ganzen Treffen mit Benny zu denken, aber ich habe sie ganz normal in Erinnerung.
    »Ernsthaft, Jules. Glaubst du wirklich, ich setze dich so einer Gefahr aus?«, fragt er plötzlich.
    Als Antwort zucke ich mit den Achseln.
    »Ich habe die Tickets nicht mal dabei.«
    »Ach?« Erleichterung macht sich in mir breit.
    »Nein, ich stehe auf der Gästeliste. Ich wäre sowieso gefahren. Mit oder ohne dich.«
    »Wie bitte?« Wütend funkle ich Bill an. »Soll das heißen, ich hätte gar nicht mitkommen müssen?«
    »Als ob du mich begleitet hättest, wenn ich dich gefragt hat.«
    »Das ist nicht der Punkt«, entgegne ich. »Du kannst nicht Normalität verlangen und andere Menschen gleichzeitig so verarschen.«
    »Sag bloß, du hast ernsthaft geglaubt, ich stelle mich in der Schlange an und tue so, als wäre ich nicht ich?«
    »Natürlich nicht«, lüge ich.
    Bill schüttelt den Kopf. »Du musst noch viel lernen.«
    »Das ist bei den meisten 15-Jährigen der Fall.«
    Er blickt mich verwundert an. »Du bist erst 15?«
    »Ich dachte, das wüsstest du.«
    »Und wann wirst du 16?«
    »Im September.«
    Bill hebt fragend die Brauen.
    »Am 1. September.«
    Er weitet die Augen. »Ach, als ob!«
    »Was als ob
    »Du kannst nicht am 1. September Geburtstag haben.«
    Ich bin verwirrt.
    Und Bill anscheinend auch. Er sagt nämlich nichts mehr und sieht mich mit dem gleichen Gesichtsausdruck an wie ich ihn.
    »Krass. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir am selben Tag Geburtstag haben?«, fragt er.
    »Die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide am 1. September Geburtstag haben, beträgt 1 zu 365, da es 365 mögliche Tage im Jahr gibt, du Hirni.« Erst als ich die Worte ausgesprochen habe, wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe. »Wir haben zusammen Geburtstag?«
    Bill scheint die Tatsache so zu überwältigen, dass er die Kinnlade nicht mehr hoch kriegt.
    Und so geht’s mir auch. Aber eher weil ich mich getraut habe, ihn Hirni zu nennen.
    »Das ist echt verrückt. Ich muss das Tom erzählen.« Er tippt auf seinem Handy herum und in mir breitet sich die Sehnsucht nach meinem eigenen Zwilling aus. Aber ich atme tief durch und lasse mir nichts anmerken.
    Dann hält der Van vor einem Hintereingang. Bis auf Securitymänner hält sich hier niemand auf. Einer von ihnen kommt zu uns und schiebt die Tür auf. Erst steigt Bill aus. Ich brauche noch einen Moment, um meine Zweifel herunterzuschlucken. Als ich aufstehe, hält mir der Mann eine Hand entgegen und hilft mir aus dem Van, was ich befremdlich finde, aber ich will nicht unhöflich sein, also lasse ich es zu. Bill hat auf mich gewartet und trägt schon wieder seine Sonnenbrille. Wir gehen zusammen auf die Tür des Gebäudes zu. Mitten im Herzen von Hamburg.
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