Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

We give our Hearts

Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P18 / Het
Gared Dirge OC (Own Character)
23.12.2021
14.04.2023
25
75.405
5
Alle Kapitel
26 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
 
23.12.2021 2.390
 
Freitag, 10. Dezember 2021, 4pm - Hamburg

Eigentlich hätte ich mir spannendere Aktivitäten für meinen freien Freitagnachmittag vorstellen können, als Chris und Pi zu einem Vortrag über den ‚literarisch-lyrischen Wert moderner Songtexte‘ an der SAE zu begleiten. Aber die beiden hatten mich darum gebeten und so saß ich jetzt neben ihnen im vorderen Drittel des großen Veranstaltungsraums.
Konnte es dann auch endlich mal losgehen? Je schneller es anfing, desto schneller wäre es auch wieder vorbei und ich könnte nach hause und was auch immer machen. Quasi alles schien mir interessanter als dieser Vortrag...
Ich sah erst auf die Uhr und mich dann gelangweilt um, während sich meine Kollegen über den Professor unterhielten, der den Vortrag halten würde. Erstaunlich wie viele Leute sich hier eingefunden hatten, die mir zu alt für Studierende waren, beziehungsweise, wie viele Leute überhaupt gekommen waren. Das Thema war ja schon eher speziell...
„Warum genau sind wir nochmal hier?“, erkundigte ich mich und unterbrach Chris damit mitten im Satz.
„Das hab‘ ich dir doch schonmal erklärt: Weil Professor Garcon eine ganz phantastische Analyse zu ‚Wachstum über Alles‘ von den Saltatios geschrieben hat und sich auch sonst viel mit den Lyrics von Leuten auseinandersetzt, die wir kennen: Powerwolf, Subway to Sally... Soll ich weitermachen?“, zählte Chris geduldig auf.
Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch: „Und was findet irgend so ein alter, französischer Litaratur-Professor an deutschen Songtexten von Mittelalter-Rockbands?“
Mein Begleiter begannen synchron zu kichern, kaum dass ich meine Frage gestellt hatte, kamen aber nicht mehr dazu, mir zu antworten, weil plötzlich Applaus aufbrandete. Der Leiter der SAE Hamburg, Herr Meyer, hatte das Podium betreten, gefolgt von einer jungen Frau, die ihn um gut einen Kopf überragte. Kupferrotes Haar fiel halboffen über ihre rechte Schulter und diverse Piercings zierten ihre Lippe, Nase und linke Augenbraue. Ob der Professor eine HiWi vorgeschickt hatte, um seine Präsentation zu starten?
Der Applaus verebbte und Herr Meyer begrüßte die Anwesenden: „Herzlich Willkommen, heute Nachmittag an der SAE, schön dass Sie so zahlreich erschienen sind, um sich den Vortrag der reizenden Professorin Garcon anzuhören und gegebenenfalls im Anschluss noch mit ihr ins Gespräch zu kommen!“
Währenddessen deutete er auf die junge Frau, die lächelnd eine Art Knicks vollführte und mir klappte die Kinnlade runter. Das sollte Professor Garcon sein? Die war doch höchstens Mitte Zwanzig... Und wie konnte jemand mit einem Doktortitel und einer Professur in Literaturwissenschaften so verboten attraktiv sein?
Neben mir begannen Pi und Chris erneut zu kichern und jetzt verstand ich auch wieso. Wie Vorurteile einen täuschen konnten! Vielleicht würde dieser Nachmittag ja doch noch ganz spannend werden...
„Vorstellen wird sie sich gleich selbst, also bleibt mir nur noch, Ihnen viel Spaß zu wünschen!“, fuhr der SAE-Leiter fort und verließ unter erneutem Applaus das Podium, um sich in der ersten Reihe niederzulassen.
Die Professorin machte ein paar Schritte in Richtung Podiumsmitte und lächelte verschmitzt ins Publikum, bevor sie dann begann: „Vielen Dank Herr Meyer für die freundliche Begrüßung und an Sie alle, herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind, obwohl der ‚literarisch-lyrischen Wert moderner Songtexte‘ ja doch ein sehr spezielles Thema mit - sagen wir mal - begrenzter Zielgruppe ist! Aber keine Sorge, so langatmig wie das klingt, wird es nicht, versprochen!“
Während sie das sagte, musterte ich die Professorin von Kopf bis Fuß: Das rote Haar hatte sie an einer Seite eingeflochten, sodass es ein bisschen wie ein Sidecut aussah und ihre Füße steckten in kniehohen Springerstiefeln. Dazu trug sie schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragen unter einem schwarz-grauen, mit nordischen Symbolen bestickten Cardigan. Soweit ich das aus der Entfernung beurteilen konnte, machte sie einen recht sportlichen Eindruck und sah ganz unabhängig davon einfach gut aus - um nicht zu sagen ‚verdammt heiß‘...
„Wie Herr Meyer eben bereits angekündigt hat, sage ich noch kurz ein-zwei Sätze zu mir, bevor wir dann in die Abgründe der modernen Song-Lyrik abtauchen“, riss sie mich aus meinen Grübeleien, „Mein Name ist Julien Garcon, ich bin 26 Jahre alt und in Mainz geboren, aber in der Nähe von Koblenz aufgewachsen. Inzwischen lebe ich wieder in Mainz, wo ich auch an der Universität Literaturwissenschaften studiert und vor anderthalb Jahren promoviert habe. Seitdem doziere ich dort. Wenn ich nicht gerade unterrichte oder Vorträge halte, schreibe ich alles Mögliche von Gedichten über Kurzgeschichten und Romane, bis hin zur Steuererklärung.“
Leises Gekicher machte sich im Publikum breit.
„Ansonsten mache ich Musik - daher vermutlich auch meine Begeisterung für Songtexte -, zeichne, male und unterrichte HapKiDo, eine koreanische Kampfkunst.“
Ich musste unwillkürlich lächeln: Es reichte nicht, dass sie mit 26 einen Doktortitel und eine Professur an einer renommierten Universität hatte, sie schien auch sonst ein sehr breites Interessenfeld zu besitzen und quasi alles zu machen...
„So jetzt habe ich schon viel zu viel Zeit mit unwichtigem Geschwafel verbracht, kommen wir zur Sache!“, redete sie weiter und deutete mit einer kleinen Fernbedienung auf den an der Decke installierten Beamer, woraufhin auf der Leinwand hinter der Professorin eine Präsentationsfolie mit dem Titel ihres Vortrag erschien.
Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass es auch wirklich zu sehen war und fuhr dann fort: „Da ich ja heute hier in Hamburg zu Gast bin, habe ich mir erlaubt, für meinen Vortrag einen Song einer einheimischen Gruppe zu wählen... Einigen von Ihnen dürfte der Name sicher etwas sagen, denn meines Wissens nach besteht eine ziemlich direkte Verbindung zwischen der SAE und besagter Band. Der Sänger und sagen wir mal ‚Papa‘ von ‚Lord of the Lost‘ ist hier nämlich als freiberuflicher Dozent tätig und hat große Teile der aktuellen und auch der vormaligen Mitglieder aus seinen ehemaligen Studenten rekrutiert...“
Erneut war im Publikum vereinzelt leises Gelächter zu vernehmen und perplex warf ich meinen beiden Freunden einen fragenden Blick zu. Hatten Pi und Chris das gewusst? Waren sie deshalb hergekommen? Hatte die Professorin das vielleicht sogar mit ihnen abgesprochen? Doch sie schauten beide genauso verdutzt drein, wie ich.
„Aber jetzt fange ich wirklich mit dem an, wofür Sie hergekommen sind: Es gibt kein Geheimrezept, wie man einen poetisch hochwertigen Text schreibt und ob es letztlich ein guter Text ist, liegt im Auge der lesenden oder dem Ohr der hörenden Person. Was ich feststellen kann, ist einzig, was handwerklich an einem Songtext dran ist, denn auch ein lyrisches Meisterwerk kann mir nicht gefallen. Aber das muss es auch gar nicht, dafür sind Menschen schließlich einzigartige Individuen! Wenn uns allen das gleiche gefallen würde, was wäre die Welt für ein langweiliger Ort... Was wir uns also gleich am Beispiel von ‚My Constellation‘ anschauen werden, ist die formal feststellbare Qualität eines lyrischen Textes, auch als ‚Dichtkunst‘ bezeichnet. Und dazu nehmen wir den Songtext jetzt mal ordentlich auseinander... Zur Hintergrundinformation für alle Anwesenden, die mit der Band und ihrer Arbeit nicht vertraut sind, könnte es für das Verständnis gegebenenfalls wichtig sein, Folgendes zu erwähnen: ‚My Constellation‘ stammt von dem neuesten ‚Lord of the Lost‘-Album, das den Titel ‚Judas‘ trägt und sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinandersetzt, die es auf die Person des Judas Iskariot gibt.“
Sie betätigte erneut die Fernbedienung und die Präsentation wechselte zur nächsten Folie, auf der der Text von ‚My Constellation‘ zu sehen war.
„Mit meinen Studierenden würde ich den Song jetzt zuerst anhören, aber da es sich hierbei um eine öffentliche Veranstaltung handelt, hätte ich mir dafür eine GEMA-Genehmigung besorgen müssen...“
Erneut leises Lachen unter den Zuhörenden.
„Wie auch immer: Was bei ‚My Constellation‘ besonders gelungen ist - und damit fangen wir an - ist wie immer wieder ein bestimmtes Wortfeld aufgegriffen und für Metaphern genutzt wird.“
Wieder drückte sie auf die Fernbedienung; jetzt waren ein Teile des Texts blau markiert.
„Das was jetzt blau hinterlegt ist“, fuhr die Professorin fort, „sind alle Phrasen und Begriffe, die in direktem Zusammenhang mit ‚Sternbild‘ - ‚Constellation‘ - stehen.“
Erneut betätigte sie die Fernbedienung, sodass nun weitere Teile des Texts türkis hinterlegt waren.
„Das sind alles Phrasen, die etwas mit ‚Himmel‘ zu tun haben, also im weiteren Sinne eine Verbindung zu ‚Constellation’ aufweisen können.”
„Das“, erklärte sie mit einem dritten Druck auf die Fernbedienung, „sind alle Textstellen, die sich über den Albumkontext von ‚Judas‘ herleiten lassen...“
Weitere Textstellen waren nun rot eingefärbt, übrig waren nur vereinzelte Verse. Aber auch das änderte sich, denn mit einem weiteren Wink der Fernbedienung färbte sich ein überwiegender Großteil dieser violett ein.
„Und das sind alle Verse und Textstellen, die sich aus dem Kontext als ‚Lovesong‘ ergeben. Das was jetzt noch weiß ist, sind nur Konjunktionen und sonstige Hilfsworte. Das nenn‘ ich mal Konkludenz!“
Zustimmendes Gemurmel und Nicken im Publikum.
„Ein kluger Mann hat vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt ‚Stringenz ist was der Kopf draus macht‘, aber die vorliegenden Zusammenhänge sind keineswegs willkürlich oder gar Zufall, dafür sind sie zu verwoben und gezielt gesetzt. Nun, da wir das geklärt hätten, schauen wir uns die vorliegende Redundanz an Metaphern, Inversionen und Ellipsen mal etwas genauer an...“

Für die nächste halbe Stunde lauschten wir der Professorin, wie sie mit Witz und Expertise unseren Song obduzierte.
„‚In love, star-crossed‘... Von diesem Vers empfange ich starke Shakespeare-Vibes, ich demonstriere Ihnen das mal kurz: ‚Two households, both alike in dignity - In fair Verona, where we lay our scene. -, from ancient grudge break to new mutiny, where civil blood makes civil hands unclean. From forth the fatal loins of these two foes, a pair of star-crossed lovers take their life...‘ Für diejenigen unter Ihnen, die es nicht erkannt haben, das war der Prolog aus ‚Romeo and Juliet - der ikonischsten Lovestory aller Zeiten... Bedingungslose Liebe, deren finales Resultat der Tod für die beiden Liebenden ist, das gibt es natürlich bei ‚Romeo und Julia‘, aber in gewisser Weise auch bei Judas und Jesus (wenn man jetzt mal die Sache mit der Auferstehung außer Acht lässt). Judas verrichtet den ultimativen Liebesdienst an Jesus, indem er ihm zu seinem Martyrium verhilft... Es wäre auch nicht das erste mal, dass diese Phrase ihren Weg in einen Lovesong findet, Elton John beispielsweise verwendet es in ‚Can You Feel the Love Tonight‘... Dieser geniale Zusammenhang kann natürlich auch überhaupt nicht beabsichtigt und eine vollkommene Überinterpretation meinerseits sein, aber ‚Who knows?‘“, beim letzten Wort tippte sie sich an die Nase und ich wäre fast vom Stuhl gefallen.
War das gerade eine ‚Doctor Who‘-Anspielung?!
Ich sah zu Chris hinüber, der die Professorin mit offenem Mund anstarrte.
„Hast du dir das wirklich beim Schreiben gedacht?“, wollte Pi zu dessen anderer Seite leise von unserem Sänger wissen.
„Vielleicht unterbewusst“, murmelte er, „das ist mir nämlich erst später aufgefallen und ich dachte, der Vergleich wäre völlig absurd... Aber jetzt wo sie das so sagt... Alter Schwede...!“
Pi schüttelte leise lachend den Kopf und wir richteten unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Professorin.
Diese führte ihre Erläuterungen eindrucksvoll fort. Ich hing an den gepiercten Lippen, lauschte gebannt ihrer dunkle melodischen Stimme und die Zeit verflog.

„... Unabhängig von dem - wie wir ja inzwischen wissen - meisterlichen Text ist ‚My Constellation‘ in meinen Augen auch ein musikalisch ganz phantastischer Song und da bei weitem nicht der einzige im ‚Repertoire of the Lost‘... So, das war’s jetzt von meiner Seite aus. Für Fragen und Wünsche stehe ich gleich im Foyer zur Verfügung, da gibt es - soweit ich weiß - auch Sekt mit und ohne Alkohol. Und dann bleibt mir nur noch eines zu sage: ‚Potestas verbi semper vobiscum‘ - Möge die Macht des Wortes stets mit Ihnen sein!“, verabschiedete sie sich lächelnd.
Applaus brandete auf, teilweise begleitet von enthusiastischen Pfiffen. Das Publikum erhob sich und bekundete stehend seine Begeisterung. Auch Chris, Pi und ich klatschten und standen gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Herr Meyer zu Professorin Garcon auf die Bühne hastete, ihr die Hand schüttelte und dann wartete, bis der Applaus verebbte.
„Ja, vielen Herzlichen Dank, dass Sie uns mit ihrem Vortrag beehrt haben, Professor Garcon! Das war mal ein ganz neuer Blickwinkel, den Sie uns da eröffnet haben. Wir hätten hier auch noch ein kleines Dankeschön für Sie...“, dabei deutete er auf seine Sekretärin, die mit einem zwar hübschen, aber doch einfallslosen Blumenstrauß das Podium betrat und diesen der Professorin lächelnd in die Hand drückte.
Diese schüttelte den Kopf: „Vielen Dank, das wäre nicht nö...“
„Doch, doch, doch, das gehört sich so!“, unterbrach der SAE-Leiter sie und an das Publikum gewendet, das inzwischen wieder Platz genommen hatte, sagte er: „Außer dem von Professor Garcon bereits erwähnten Sekt gibt es auch eine Kleinigkeit zu Knabbern, ich muss Sie allerdings bitten die Abstände einzuhalten, wenn Sie ihre Masken zum Essen und Trinken abnehmen... Also dann: Viel Spaß und gute Gespräche!“
Unter erneutem Applaus begleitete Herr Meyer die Professorin vom Podium, unten angekommen löste sie freundlich aber bestimmt seinen Arm von ihrem und verschwand in dem kleinen Nebenraum, von dem aus die Technik gesteuert wurde.
Das Publikum verließ ebenfalls nach und nach den Saal, vermutlich um sich im Foyer mit dem kostenlosen Sekt und Knabbereien einzudecken.
„Wollen wir dann?“, riss Pi mich aus meiner Beobachtung des Geschehens.
„Klar“, stimmte Chris zu, „ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich würde ganz gerne mal ein-zwei Worte mit ihr wechseln, also Professor Garcon meine ich...“
„Gerne, da schließe ich mich an“, erklärte Pi und wandte sich dann an mich, „Was ist mit dir Gerrit, hast du auch Fragen an den ‚alten französischen Professor‘?“
„Ja, ja, mach‘ dich nur lustig über mich!“, meckerte ich gespielt, während ich aufstand und meinen beiden Freunden ins Foyer folgte, „Woher soll ich denn wissen, dass jemand, mit einem Doktortitel in Literaturwissenschaften die Inkarnation von ‚Sex on Legs‘ ist?“
Zwei verdutzte Blicke trafen mich. Ups, da hatte ich wohl laut gedacht...
Dennoch fragte ich: „Was?“
Chris räusperte sich: „Also, nicht dass sie jetzt unattraktiv wäre, aber so hätte ich mich nicht ausgedrückt... Schon gar nicht bei jemandem mit so viel Grips und Verstand...“
„Du musst es ihr ja nicht auf die Nase binden, das eben ist mir auch mehr so rausgerutscht...“, gab ich zu.
Wir traten ins Foyer, wo vereinzelt kleine Grüppchen an Stehtischen Sekt tranken. Die meisten Leute aber hatten sich um Professorin Garcon versammelt und ließen sie kaum zu Atem kommen.
Etwas abseits warteten wir, tranken von dem (in Chris Fall alkoholfreien) Sekt und bedienten uns an dem knusprigen Laugengebäck, während wir hin und wieder einen Blick zu der Professorin hinüber warfen, die sich angeregt mit allen möglichen Leuten unterhielt, Bücher signierte und dabei nach und nach die Blumen aus ihrem Strauß zupfte und unters Volk brachte. Die hatte ja ‘ne Attitüde! Bewundernswert...
Review schreiben
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast