Wettlauf mit der Zeit
von bicoxsam
Kurzbeschreibung
Was als langweiliger Arbeitstag beginnt, entpuppt sich als der pure Horror: Dem sadistischen Psychopathen Greifenwald gelingt die Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt der Staatlichen Nervenheilanstalt und versetzt ganz Wolfratshausen in Angst und Schrecken. Sein Beuteschema sind vor allem eigenständige, schöne Frauen. Doch eine hat es ihm besonders angetan. Werden Hubert und Staller es rechtzeitig schaffen ihren Gegner zu fassen? TW: Es wird brutal und ist nichts für schwache Nerven. Bitte die Altersbeschränkung beachten!!!
GeschichteKrimi, Thriller / P16 / Gen
Dr. Anja Licht
Franz Hubert
Johannes Staller
OC (Own Character)
21.12.2021
14.01.2022
11
18.658
2
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21.12.2021
2.530
Es war ein Tag, wie jeder andere, als er ins Revier ging. Sonja saß an der Zentrale und tippte auf der Tastatur herum. Dabei hielt sie das Telefon in der Hand und sprach in den Hörer. Die Luft bestand, wie jeden Morgen, zum größten Teil aus Kaffee. Auch an diesem Morgen stank die Luft regelrecht nach den billigen Kaffeebohnen des kaputten Kaffeeautomaten. Wie sehr er diesen Geruch doch hasste! Dazu kam noch dieses nervige Surren, welches durch seine Ohren drang - nicht laut, dennoch sehr schmerzhaft. Seine Armbanduhr piepte, nun war es acht Uhr. Ein langer Tag würde nun bevorstehen. Ein langer, langweiliger Arbeitstag - es sei denn, er und sein Partner stolpern wieder einmal über eine Leiche. „Nein Schatz, ich habe die Schokolade nicht genommen, ich… ich schwöre es dir“, ertönte es aus dem Büro des Polizeirats. Ihn interessierte es nicht. Weiter ging es in das Gemeinschaftsbüro, welches er sich mit seinem Partner teilen musste. Die kalte Luft, die aus dem geöffneten Fenster in den Raum kam, umhüllte ihn und vertrieb somit den ekelhaften Kaffeegeruch aus seiner Nase. Genießerisch schloss er die Augen. Dabei konnte er die Vögel draußen zwitschern hören. In der Ferne meinte er, einen Hund zuhören, der wie wild am Bellen war. Das Durchdringen des Windes durch die kahlen Äste der Bäume, klang wie Musik in seinen Ohren. Auch wenn er es nie zugegeben würde, liebte er die Geräusche der Natur. Der Wind rauschte an ihm vorbei und wehte durch sein Haar. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich frei. Frei von jeder Verpflichtung, von jeder Gefahr und auch von jedem Stress. Er atmete tief ein und wieder aus. Die frische Luft durchdrang sehr spürbar seinen Körper. Langsam öffnete er seine Augen wieder. Direkt stach ihm die tiefe Wintersonne ins Auge. Aus diesem Grund kniff er sie auch wieder zusammen und hob seine Hand so an, dass diese einen dunklen Schatten auf sein Blickfeld warf. In diesem Moment hörte man einen lauten Knall aus der Zentrale: „RIEDL, SIE RINDVIECH!“
Augenblicklich war er wieder in der Realität angekommen, die, die er manchmal zu hassen vermochte. Immer wenn er und sein Partner eine Leiche finden, wollte er entfliehen. Immer wenn es zu Gewalt kam, wollte er verschwinden. Immer wenn eine Person, gar sogar ein Kind ?, wollte er sich in Luft verwandeln. Auch wenn ein Tier zu Schaden kam, schmerzte sein Inneres. An Straftaten, die ein großes Trauma für die Opfer bedeuteten, wollte er nicht denken. Daher wollte er so oft es ging der teilweise schrecklichen Realität, entfliehen. Solche kurzen Momente waren für ihn also sehr kostbar. Er schnaufte. Hoffentlich würde heute ein ruhiger Tag werden.
Das Telefon in der Zentrale klingelte. Sonja meldete sich mit: „Polizei Wolfratshausen, Wirth. Was kann ich für Sie tun?“ Hoffentlich nichts Gravierendes, etwas, was der Riedl erledigen konnte. Schlurfend setzte er sich auf seinen Platz. Lustlos legte er seinen Kopf auf seine Hände ab. Seine Augenlider fielen ihm immer wieder zu, sodass seine Arme nachgaben und sein Kopf langsam auf seinen Schreibtisch landete. Damit es nicht allzu hart war, nutzte er seine Arme als Kissen. Der Polizist legte seine Stirn auf seine Handgelenke, damit es auch dunkel wurde. Schließlich konnte er ja schlecht das Büro in ein Schlafzimmer um andeln. Nur etwas passte noch nicht. Seine Position war noch zu unbequem, um hier gemütlich liegen zu können. Mit seinem Stuhl rutschte er ein Stück nach hinten. Das „Rrruuutttsssccchhh“ war nur für ihn hörbar. Nun war sein Rücken auch gerade. Eindeutig bequemer! Seine Augenlider waren so schwer, dass er sie nicht mehr offen halten konnte. Vielleicht hätte er gestern nicht so lange mit dem Yazid zusammensitzen sollen? Er gähnte einmal herzhaft und in seinem Kopf schwirrte lediglich das Wort „schlafen“. Sein Herzschlag beruhigte sich und wieder entfernte er sich von der Realität.
Vor seinem inneren Auge stand nun eine junge Frau, die er gestern bei der Sabrina gesehen hatte. Die Frau war ca. 25 Jahre alt gewesen. Ihre welligen, blonden Haare fielen auf ihre Schulter, wie Gold, welches in der Sonne glänzte. Ihr Gesicht hatte eine runde Form, wobei die großen, grünen Augen ihm sofort ins Auge gefallen waren. Die Fremde hatte eine kleine, spitze Nase gehabt und schmale Lippen. Unter ihrem rechten Auge befand sich ein kleines und unscheinbares Muttermal. Als sie Sabrina das freundlichste Lächeln der Welt zugeworfen hatte, glänzten ihre weißen, perfekten Zähne. Durch die Kälte waren ihre Wangen rosig und betonten ihre Schönheit. Sie hatte eine dünne Figur, mit den passenden Rundungen, an den passenden Stellen, wo Hansi nur ganz zufällig hingeguckt hatte. Nur konnte er auf Grund des roten Filzmantels nicht alles genau erkennen. Zu dem roten Mantel hatte sie einen schwarzen Schal kombiniert, den sie einmal um ihren Hals geschlungen hatte. Dazu trug sie eine enge, blaue Jeans, die ihre dünnen, langen Beine betonten, und schwarze, lederne Halbstiefel. Beim Rausgehen hatte er gesehen, dass sie unter ihrem roten Mantel einen weißen Strickpullover angehabt hatte. An ihrem Arm hing eine einfache, schwarze Handtasche, in der das braune, ebenfalls aus Leder bestehende Portemonnaie gerade hineinpasste. An ihren Ohren entdeckte er große, silberne Ohrringe, die beinahe als Armbänder benutzt werden konnten. Als sich die junge Frau nach ihrem Kuchen gestreckt hatte, hatte er auch eine zierliche Armbanduhr aus Silber entdeckt. Die sich bewegenden Zeiger hatten ihn geblendet. Genau diese Frau stand nun in seinem Tagtraum vor ihm. Nur befanden sie sich nicht bei Sabrina im Café, sondern auf einer weiten Wiese, deren einziges Hindernis die majestätischen Berge waren, die als Wächter der Alpen dienten. Diese Frau kam in einem schwungvollem, eleganten Schritt auf ihn zu und rief immer wieder: „Hansi, mein Liebster!“ Er selber stand in seiner abgenutzten Lederhose und dem weißen, langärmeligem Hemd, die durch die passende Weste zur Hose bedeckt wurde. Um seine Beine vor der Kälte zu beschützen trug der Mann hohe, weiße Kniestrümpfe, wobei sich noch Staub vom langen Liegen löste und für immer in der Weite der Welt verschwand, und Trachtenschuhe, die trotz des Stoffes wasserfest waren. Auf dem Kopf befand sich ein Hund, dessen Höhepunkt eine Feder war. „Hansi“, rief die Frau wieder und zerstörte die friedliche Atmosphäre. Hansi wollte sich ebenfalls bewegen, um sie in den Arm zu schließen, blieb dennoch an Ort und Stelle stehen. Die Sonne betonte nur die goldenen Haare, die durch das Laufen in der Luft schwebten. „Hansi“, hörte er wieder, doch die Stimme klang auf einmal ganz anders. Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht woher. Dazu spürte er ein unangenehmes Rütteln, beinahe ein Ziehen, in seiner Schulter. „Hansi“, sprach die Stimme wieder, allerdings noch tiefer und genervter. Wieso hatte sich die Stimme der Fremde derartig verändert? „Hansi“, wütete die Stimme und er öffnete seine Augen schreckhaft. Es empfing die ewige und einsame Dunkelheit.
Verschlafen hob er seinen Kopf. Jetzt wusste er, woher die Stimme kam. Es war die seines Kollegen. „Servus, san ma a endlich wach?“, begrüßte Hubsi ihn. Hansi war schlecht gelaunt. Er hatte ihn von dieser schönen Frau weggerissen, die er so klar vor sich gesehen hatte. „Was is los? Warum hast mi gweckt? I hatte grad so an schönen Traum“, motzte Hansi zurück. Sein Kollege richtete sich gerade auf, während Hansi seinen Kopf wieder auf seinen Arm legte. Diesmal aber so, dass er Hubsi weiterhin ansehen konnte. „Die Frage sollte eher lauten, warum du hier schläfst?“, entgegnete sein Kollege. Mürrisch schnaufte Hansi. „War gestern beim Yazid“, erzählte er, wobei er das Stöhnen seines Partner deutlich wahrnahm: „Es kennt möglich sein, dass i ein oder zwei, drei, vier eventuell a fünf Bier zu viel hatte.“ Wieder stöhnte Hubsi, während Hansi immer noch sehr sauer auf ihn war. „Wer feiern kann, der kann a arbeiten. Mir ham an Auftrag. Einer aus der Anstalt is abghaut. Den soll mir wieda einfangen. Du solltest dir während der Fahrt seine Akte durchlesen“, erklärte Hubsi. Hansis Augen weiteten sich und fragte: „Wieso i? I muss do scho fahren?“ „Weil i während der Fahrt net lesen kann. Sonst muss i speien. Also kemm!“
Mühsam erhob sich der Polizist und folgte seinem Kollegen zum Streifenwagen. “Dann fahr halt du heit”, rief er Hubsi zu und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zuerst wollte sein Partner etwas erwidern, aber dann übergab Hubsi ihm die Akte und setzte sich auf den Fahrersitz. “Is vielleicht besser so, mit deim Restalkohol.” Hubsi startete den Wagen und sie fuhren zum Nervensanatorium “Mit Hirn und Herz”. “Edelbert Greifenwald, 56 Jahre alt, wurde vor neun Jahren wegen dreifachem Mord zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Der hat sei Frau, sei Mutter und sei Oma gefoltert und umbracht. Laut der Akte hier is des a Sadist ohnegleichen und hat ein Problem mit selbstbewussten Frauen!”, berichtete Hansi, nachdem er die Akte gelesen hatte und zeigte Hubsi ein Foto des Mannes, “dem macht des ois Spaß!” Der Gesuchte war laut Akte 1,72 m groß und hatte eine sportliche Gestalt. Er hatte dunkelblondes, kurzes Haar und kleine, graue Augen. Über der linken Augenbraue hatte er eine kleine Narbe. Auf einmal war Hansi hellwach und sah seinen Partner entsetzt an. Hubsi lief ein Schauer über den Rücken, als Hansi die weiteren Details vorlas. “Des reicht”, unterbrach er ihn schließlich, “das wird’s eim ja ganz anders. Und der läuft wieder frei rum?” Hansi nickte und schloss die Akte.
Bald darauf kamen die Polizisten im Sanatorium an. Das graue Gebäude stand auf einem Grashügel und war mehr eine Festung als ein Sanatorium. Alle Fenster waren vergittert und auf den Mauern war Stacheldraht angebracht, wie bei einem Gefängnis. Doch über dem Eingangstor stand in roten und goldenen Lettern: “Mit Hirn und Herz”. Die verschnörkelte Schrift passte eher zu einer Privatklinik, während der bewaffnete Pförtner wiederrum an ein Gefängnis erinnerte. Hansi zeigte seinen Dienstausweis vor und das Tor öffnete sich. Im Innenhof empfing sie der Leiter der Anstalt, ein Dr. Dr. Kaltenbrunn: “Guten Tag, meine Herren! Ich bin froh, dass sie so schnell gekommen sind. Bitte folgen Sie mir.” Hubsi zog den Schlüssel vom Zündschloss und folgte dem Arzt in dessen Büro. Bevor sie jedoch dahin gelangten, musste der Arzt insgesamt vier Türen mit seinem Schlüssel öffnen. Alles sah sehr sicher aus und die Polizisten fragten sich, wie der Psychopath entkommen konnte. Die Männer setzten sich und Hubsi fragte zuerst das, was er am dringendsten wissen wollte: “Wie konnte der Greifenwald eigentlich entkommen?” “Das ist eine ganz perfide Geschichte”, seufzte Dr. Dr. Kaltenbrunn, “unsere hauseigene Psychologin Frau Dr. Gmeiner hatte ihn über Jahre hinweg therapiert und meinte schließlich vor einigen Wochen, dass er seine Taten bereute und bald als geheilt gelten könnte. Einem daraufhin bestellten Gutachter begegnete er aufgeschlossen und reuig, so dass entschieden wurde, dass er in eine andere Anstalt, in der es auch einen offenen Bereich gibt, überführt wird, wo er dann, bei weiterer guter Führung, sich hätte freier bewegen können. Doch bei der Überführung erstach er Frau Dr. Gmeiner und den begleitenden Beamten und flüchtete in den Wolfratshausener Forst, wo sich seine Spur verlor. Niemand weiß, wie er an das Messer kam.”
Er führte die Beamten noch in das Zimmer des Entflohenen, in dem ein schmales Eisenbett stand, dessen Füße in den Beton eingelassen waren und einen angeschraubten Schrank, der schon leer geräumt worden war. Hansi sah sich in dem kargen Zimmer um und stolperte über eins der Bettfüße. Als er sich an der Wand abstützen wollte, bröckelte etwas Putz ab und ein kleiner Hohlraum entstand, in dem eine Kette mit einem Medaillon lag. Ohne sich um Fingerabdrücke zu scheren, öffnete Hansi das Medaillon. Darin war das Foto einer jungen Frau. “Dr. Gmeiner!”, rief der Anstaltsleiter aus, “Das war unsere Psychologin, die mit dem Greifenwald gearbeitet hat.” Hansi nahm das Bild heraus und drehte es um. Auf der Rückseite stand: “In ewiger Liebe, deine Helene.” “Jetzt wissmer, wie der Psycho zu dem Messer kommen is. Des hat die liebe Helene dann leider net überlebt”, sagte Hubsi trocken.
Sonja hatte inzwischen den Entflohenen zur Fahndung ausgeschrieben und als Hubert und Staller bei Sabrina in der Bäckerei ankamen, prangte sein Bild schon von der Abendzeitung. “Wieder oiner, der aus der Anstalt gflohn is”, begann die Bäckerin und brachte Hubert und Staller ihren Kaffee, “dass ihr so spät überhaupt no an Kaffee trinken könnt! I tät da die ganze Nacht wach liegen!” “Des solltest du vielleicht auch”, warnte sie Hubsi, “der Greifenwald is zu allem fähig!” “Sperr gut ab, Sabrina!”, bat Hansi, “Oder soll i heit Nacht besser bei dir bleibn?” Sabrina wehrte den freundlichen Vorschlag jedoch sofort ab: “Na Hansi, des brauchst net, oder was meinst du, Hubsi?” Sie schenkte dem Polizisten ihr schönstes Lächeln, doch der schob sie zur Seite und verabschiedete sich: “I mein, dass i jetzt Feierobend mach. Servus, Sabrina!” Hansi grinste die Bäckerei entschuldigend an und folgte seinem Partner. “Hubsi, jetzt wart doch! Mir kenna doch net oifach Feierobend machen und unschuldige Leit, wie die Sabrina mit dem Psycho alloi lassn!”, beschwor er seinen Kollegen, “Denk doch au an die Anja!” “Die Sabrina kommt gut alloi zurecht und die Anja au”, behauptete Hubsi, doch jetzt war er doch beunruhigt, da beide Frauen in das Beuteschema des Psychopathen passten. Auf dem Heimweh radelte er noch schnell an der Pathologie vorbei, doch Anjas Auto stand nicht mehr auf dem Klinikparkplatz. Deshalb nahm er noch den Umweg über Anjas Wohnung in Kauf und war beruhigt, dass ihr Auto in der Einfahrt stand und er Anjas Silhouette im Küchenfenster sah. Einige Minuten beobachtete er seine Ex-Frau und dachte an die Jahre, in denen er zu ihr nach Hause kommen durfte. “Jetzt wirst au no sentimantal auf deine oiden Tage!”, schimpfte er mit sich selbst und riss sich von ihrem Anblick los.
Edelbert Greifenwald zog das Messer aus der toten Frau. Ihre Augen hatten noch immer den überraschten Ausdruck und waren weit aufgerissen. Irgendwie hatte er sie tatsächlich geliebt, wie er auch seine Frau, seine Mutter und seine Oma geliebt hatte. Doch sie leiden zu sehen und schreien zu hören hatte ihn auf eine Art und Weise befriedigt, wie er es sonst nie erlebt hatte. Der tote Wärter war ihm egal. Ihn hatte er schnell mit einem Stich in die Halsschlagader getötet. Die Frauen waren es, die er quälte und erst dann tötete, wenn der Reiz verflogen war. Zärtlich küsste er die Leiche auf den kalten Mund und zog sich von beiden Leichen Teile der Kleidung an. Da er schmal war, passten ihm die Jeans der Frau Doktor und dann zog er noch das T-Shirt des Wärters an und spazierte am Abend aus dem Forst in den Ort. Unauffällig wie er war würde ihn nicht so schnell jemand erkennen, da war er sich sicher. Von einer Wäscheleine stahl er sich im Schutz der Dunkelheit eine andere Jeans und aus einem weiteren Garten ein Hemd und einen Pullover. Die andere Kleidung warf er in einen Altkleidercontainer, wo er auch ein passendes Paar Turnschuhe und eine Baseballkappe fand, die er sich aufsetzte. Unerkannt kaufte er sich vom Geld, dass ihm die Frau Doktor noch zugesteckt hatte, eine Leberkässemmel und verabschiedete sich höflich von der netten Bäckerin. Kurz überlegte er, doch sie war nicht sein Typ. Wie ein normaler Tourist mietete er sich in einer kleinen Pension am See ein und schlief seit Jahren wieder einmal in einem bequemen Bett, das nicht am Boden verankert war.
Augenblicklich war er wieder in der Realität angekommen, die, die er manchmal zu hassen vermochte. Immer wenn er und sein Partner eine Leiche finden, wollte er entfliehen. Immer wenn es zu Gewalt kam, wollte er verschwinden. Immer wenn eine Person, gar sogar ein Kind ?, wollte er sich in Luft verwandeln. Auch wenn ein Tier zu Schaden kam, schmerzte sein Inneres. An Straftaten, die ein großes Trauma für die Opfer bedeuteten, wollte er nicht denken. Daher wollte er so oft es ging der teilweise schrecklichen Realität, entfliehen. Solche kurzen Momente waren für ihn also sehr kostbar. Er schnaufte. Hoffentlich würde heute ein ruhiger Tag werden.
Das Telefon in der Zentrale klingelte. Sonja meldete sich mit: „Polizei Wolfratshausen, Wirth. Was kann ich für Sie tun?“ Hoffentlich nichts Gravierendes, etwas, was der Riedl erledigen konnte. Schlurfend setzte er sich auf seinen Platz. Lustlos legte er seinen Kopf auf seine Hände ab. Seine Augenlider fielen ihm immer wieder zu, sodass seine Arme nachgaben und sein Kopf langsam auf seinen Schreibtisch landete. Damit es nicht allzu hart war, nutzte er seine Arme als Kissen. Der Polizist legte seine Stirn auf seine Handgelenke, damit es auch dunkel wurde. Schließlich konnte er ja schlecht das Büro in ein Schlafzimmer um andeln. Nur etwas passte noch nicht. Seine Position war noch zu unbequem, um hier gemütlich liegen zu können. Mit seinem Stuhl rutschte er ein Stück nach hinten. Das „Rrruuutttsssccchhh“ war nur für ihn hörbar. Nun war sein Rücken auch gerade. Eindeutig bequemer! Seine Augenlider waren so schwer, dass er sie nicht mehr offen halten konnte. Vielleicht hätte er gestern nicht so lange mit dem Yazid zusammensitzen sollen? Er gähnte einmal herzhaft und in seinem Kopf schwirrte lediglich das Wort „schlafen“. Sein Herzschlag beruhigte sich und wieder entfernte er sich von der Realität.
Vor seinem inneren Auge stand nun eine junge Frau, die er gestern bei der Sabrina gesehen hatte. Die Frau war ca. 25 Jahre alt gewesen. Ihre welligen, blonden Haare fielen auf ihre Schulter, wie Gold, welches in der Sonne glänzte. Ihr Gesicht hatte eine runde Form, wobei die großen, grünen Augen ihm sofort ins Auge gefallen waren. Die Fremde hatte eine kleine, spitze Nase gehabt und schmale Lippen. Unter ihrem rechten Auge befand sich ein kleines und unscheinbares Muttermal. Als sie Sabrina das freundlichste Lächeln der Welt zugeworfen hatte, glänzten ihre weißen, perfekten Zähne. Durch die Kälte waren ihre Wangen rosig und betonten ihre Schönheit. Sie hatte eine dünne Figur, mit den passenden Rundungen, an den passenden Stellen, wo Hansi nur ganz zufällig hingeguckt hatte. Nur konnte er auf Grund des roten Filzmantels nicht alles genau erkennen. Zu dem roten Mantel hatte sie einen schwarzen Schal kombiniert, den sie einmal um ihren Hals geschlungen hatte. Dazu trug sie eine enge, blaue Jeans, die ihre dünnen, langen Beine betonten, und schwarze, lederne Halbstiefel. Beim Rausgehen hatte er gesehen, dass sie unter ihrem roten Mantel einen weißen Strickpullover angehabt hatte. An ihrem Arm hing eine einfache, schwarze Handtasche, in der das braune, ebenfalls aus Leder bestehende Portemonnaie gerade hineinpasste. An ihren Ohren entdeckte er große, silberne Ohrringe, die beinahe als Armbänder benutzt werden konnten. Als sich die junge Frau nach ihrem Kuchen gestreckt hatte, hatte er auch eine zierliche Armbanduhr aus Silber entdeckt. Die sich bewegenden Zeiger hatten ihn geblendet. Genau diese Frau stand nun in seinem Tagtraum vor ihm. Nur befanden sie sich nicht bei Sabrina im Café, sondern auf einer weiten Wiese, deren einziges Hindernis die majestätischen Berge waren, die als Wächter der Alpen dienten. Diese Frau kam in einem schwungvollem, eleganten Schritt auf ihn zu und rief immer wieder: „Hansi, mein Liebster!“ Er selber stand in seiner abgenutzten Lederhose und dem weißen, langärmeligem Hemd, die durch die passende Weste zur Hose bedeckt wurde. Um seine Beine vor der Kälte zu beschützen trug der Mann hohe, weiße Kniestrümpfe, wobei sich noch Staub vom langen Liegen löste und für immer in der Weite der Welt verschwand, und Trachtenschuhe, die trotz des Stoffes wasserfest waren. Auf dem Kopf befand sich ein Hund, dessen Höhepunkt eine Feder war. „Hansi“, rief die Frau wieder und zerstörte die friedliche Atmosphäre. Hansi wollte sich ebenfalls bewegen, um sie in den Arm zu schließen, blieb dennoch an Ort und Stelle stehen. Die Sonne betonte nur die goldenen Haare, die durch das Laufen in der Luft schwebten. „Hansi“, hörte er wieder, doch die Stimme klang auf einmal ganz anders. Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht woher. Dazu spürte er ein unangenehmes Rütteln, beinahe ein Ziehen, in seiner Schulter. „Hansi“, sprach die Stimme wieder, allerdings noch tiefer und genervter. Wieso hatte sich die Stimme der Fremde derartig verändert? „Hansi“, wütete die Stimme und er öffnete seine Augen schreckhaft. Es empfing die ewige und einsame Dunkelheit.
Verschlafen hob er seinen Kopf. Jetzt wusste er, woher die Stimme kam. Es war die seines Kollegen. „Servus, san ma a endlich wach?“, begrüßte Hubsi ihn. Hansi war schlecht gelaunt. Er hatte ihn von dieser schönen Frau weggerissen, die er so klar vor sich gesehen hatte. „Was is los? Warum hast mi gweckt? I hatte grad so an schönen Traum“, motzte Hansi zurück. Sein Kollege richtete sich gerade auf, während Hansi seinen Kopf wieder auf seinen Arm legte. Diesmal aber so, dass er Hubsi weiterhin ansehen konnte. „Die Frage sollte eher lauten, warum du hier schläfst?“, entgegnete sein Kollege. Mürrisch schnaufte Hansi. „War gestern beim Yazid“, erzählte er, wobei er das Stöhnen seines Partner deutlich wahrnahm: „Es kennt möglich sein, dass i ein oder zwei, drei, vier eventuell a fünf Bier zu viel hatte.“ Wieder stöhnte Hubsi, während Hansi immer noch sehr sauer auf ihn war. „Wer feiern kann, der kann a arbeiten. Mir ham an Auftrag. Einer aus der Anstalt is abghaut. Den soll mir wieda einfangen. Du solltest dir während der Fahrt seine Akte durchlesen“, erklärte Hubsi. Hansis Augen weiteten sich und fragte: „Wieso i? I muss do scho fahren?“ „Weil i während der Fahrt net lesen kann. Sonst muss i speien. Also kemm!“
Mühsam erhob sich der Polizist und folgte seinem Kollegen zum Streifenwagen. “Dann fahr halt du heit”, rief er Hubsi zu und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zuerst wollte sein Partner etwas erwidern, aber dann übergab Hubsi ihm die Akte und setzte sich auf den Fahrersitz. “Is vielleicht besser so, mit deim Restalkohol.” Hubsi startete den Wagen und sie fuhren zum Nervensanatorium “Mit Hirn und Herz”. “Edelbert Greifenwald, 56 Jahre alt, wurde vor neun Jahren wegen dreifachem Mord zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Der hat sei Frau, sei Mutter und sei Oma gefoltert und umbracht. Laut der Akte hier is des a Sadist ohnegleichen und hat ein Problem mit selbstbewussten Frauen!”, berichtete Hansi, nachdem er die Akte gelesen hatte und zeigte Hubsi ein Foto des Mannes, “dem macht des ois Spaß!” Der Gesuchte war laut Akte 1,72 m groß und hatte eine sportliche Gestalt. Er hatte dunkelblondes, kurzes Haar und kleine, graue Augen. Über der linken Augenbraue hatte er eine kleine Narbe. Auf einmal war Hansi hellwach und sah seinen Partner entsetzt an. Hubsi lief ein Schauer über den Rücken, als Hansi die weiteren Details vorlas. “Des reicht”, unterbrach er ihn schließlich, “das wird’s eim ja ganz anders. Und der läuft wieder frei rum?” Hansi nickte und schloss die Akte.
Bald darauf kamen die Polizisten im Sanatorium an. Das graue Gebäude stand auf einem Grashügel und war mehr eine Festung als ein Sanatorium. Alle Fenster waren vergittert und auf den Mauern war Stacheldraht angebracht, wie bei einem Gefängnis. Doch über dem Eingangstor stand in roten und goldenen Lettern: “Mit Hirn und Herz”. Die verschnörkelte Schrift passte eher zu einer Privatklinik, während der bewaffnete Pförtner wiederrum an ein Gefängnis erinnerte. Hansi zeigte seinen Dienstausweis vor und das Tor öffnete sich. Im Innenhof empfing sie der Leiter der Anstalt, ein Dr. Dr. Kaltenbrunn: “Guten Tag, meine Herren! Ich bin froh, dass sie so schnell gekommen sind. Bitte folgen Sie mir.” Hubsi zog den Schlüssel vom Zündschloss und folgte dem Arzt in dessen Büro. Bevor sie jedoch dahin gelangten, musste der Arzt insgesamt vier Türen mit seinem Schlüssel öffnen. Alles sah sehr sicher aus und die Polizisten fragten sich, wie der Psychopath entkommen konnte. Die Männer setzten sich und Hubsi fragte zuerst das, was er am dringendsten wissen wollte: “Wie konnte der Greifenwald eigentlich entkommen?” “Das ist eine ganz perfide Geschichte”, seufzte Dr. Dr. Kaltenbrunn, “unsere hauseigene Psychologin Frau Dr. Gmeiner hatte ihn über Jahre hinweg therapiert und meinte schließlich vor einigen Wochen, dass er seine Taten bereute und bald als geheilt gelten könnte. Einem daraufhin bestellten Gutachter begegnete er aufgeschlossen und reuig, so dass entschieden wurde, dass er in eine andere Anstalt, in der es auch einen offenen Bereich gibt, überführt wird, wo er dann, bei weiterer guter Führung, sich hätte freier bewegen können. Doch bei der Überführung erstach er Frau Dr. Gmeiner und den begleitenden Beamten und flüchtete in den Wolfratshausener Forst, wo sich seine Spur verlor. Niemand weiß, wie er an das Messer kam.”
Er führte die Beamten noch in das Zimmer des Entflohenen, in dem ein schmales Eisenbett stand, dessen Füße in den Beton eingelassen waren und einen angeschraubten Schrank, der schon leer geräumt worden war. Hansi sah sich in dem kargen Zimmer um und stolperte über eins der Bettfüße. Als er sich an der Wand abstützen wollte, bröckelte etwas Putz ab und ein kleiner Hohlraum entstand, in dem eine Kette mit einem Medaillon lag. Ohne sich um Fingerabdrücke zu scheren, öffnete Hansi das Medaillon. Darin war das Foto einer jungen Frau. “Dr. Gmeiner!”, rief der Anstaltsleiter aus, “Das war unsere Psychologin, die mit dem Greifenwald gearbeitet hat.” Hansi nahm das Bild heraus und drehte es um. Auf der Rückseite stand: “In ewiger Liebe, deine Helene.” “Jetzt wissmer, wie der Psycho zu dem Messer kommen is. Des hat die liebe Helene dann leider net überlebt”, sagte Hubsi trocken.
Sonja hatte inzwischen den Entflohenen zur Fahndung ausgeschrieben und als Hubert und Staller bei Sabrina in der Bäckerei ankamen, prangte sein Bild schon von der Abendzeitung. “Wieder oiner, der aus der Anstalt gflohn is”, begann die Bäckerin und brachte Hubert und Staller ihren Kaffee, “dass ihr so spät überhaupt no an Kaffee trinken könnt! I tät da die ganze Nacht wach liegen!” “Des solltest du vielleicht auch”, warnte sie Hubsi, “der Greifenwald is zu allem fähig!” “Sperr gut ab, Sabrina!”, bat Hansi, “Oder soll i heit Nacht besser bei dir bleibn?” Sabrina wehrte den freundlichen Vorschlag jedoch sofort ab: “Na Hansi, des brauchst net, oder was meinst du, Hubsi?” Sie schenkte dem Polizisten ihr schönstes Lächeln, doch der schob sie zur Seite und verabschiedete sich: “I mein, dass i jetzt Feierobend mach. Servus, Sabrina!” Hansi grinste die Bäckerei entschuldigend an und folgte seinem Partner. “Hubsi, jetzt wart doch! Mir kenna doch net oifach Feierobend machen und unschuldige Leit, wie die Sabrina mit dem Psycho alloi lassn!”, beschwor er seinen Kollegen, “Denk doch au an die Anja!” “Die Sabrina kommt gut alloi zurecht und die Anja au”, behauptete Hubsi, doch jetzt war er doch beunruhigt, da beide Frauen in das Beuteschema des Psychopathen passten. Auf dem Heimweh radelte er noch schnell an der Pathologie vorbei, doch Anjas Auto stand nicht mehr auf dem Klinikparkplatz. Deshalb nahm er noch den Umweg über Anjas Wohnung in Kauf und war beruhigt, dass ihr Auto in der Einfahrt stand und er Anjas Silhouette im Küchenfenster sah. Einige Minuten beobachtete er seine Ex-Frau und dachte an die Jahre, in denen er zu ihr nach Hause kommen durfte. “Jetzt wirst au no sentimantal auf deine oiden Tage!”, schimpfte er mit sich selbst und riss sich von ihrem Anblick los.
Edelbert Greifenwald zog das Messer aus der toten Frau. Ihre Augen hatten noch immer den überraschten Ausdruck und waren weit aufgerissen. Irgendwie hatte er sie tatsächlich geliebt, wie er auch seine Frau, seine Mutter und seine Oma geliebt hatte. Doch sie leiden zu sehen und schreien zu hören hatte ihn auf eine Art und Weise befriedigt, wie er es sonst nie erlebt hatte. Der tote Wärter war ihm egal. Ihn hatte er schnell mit einem Stich in die Halsschlagader getötet. Die Frauen waren es, die er quälte und erst dann tötete, wenn der Reiz verflogen war. Zärtlich küsste er die Leiche auf den kalten Mund und zog sich von beiden Leichen Teile der Kleidung an. Da er schmal war, passten ihm die Jeans der Frau Doktor und dann zog er noch das T-Shirt des Wärters an und spazierte am Abend aus dem Forst in den Ort. Unauffällig wie er war würde ihn nicht so schnell jemand erkennen, da war er sich sicher. Von einer Wäscheleine stahl er sich im Schutz der Dunkelheit eine andere Jeans und aus einem weiteren Garten ein Hemd und einen Pullover. Die andere Kleidung warf er in einen Altkleidercontainer, wo er auch ein passendes Paar Turnschuhe und eine Baseballkappe fand, die er sich aufsetzte. Unerkannt kaufte er sich vom Geld, dass ihm die Frau Doktor noch zugesteckt hatte, eine Leberkässemmel und verabschiedete sich höflich von der netten Bäckerin. Kurz überlegte er, doch sie war nicht sein Typ. Wie ein normaler Tourist mietete er sich in einer kleinen Pension am See ein und schlief seit Jahren wieder einmal in einem bequemen Bett, das nicht am Boden verankert war.