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Märchenhaftes Haven

von Sira-la
Kurzbeschreibung
CrossoverMystery, Familie / P12 / Gen
Audrey Parker
12.12.2021
12.12.2021
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 Märchenhaftes Haven  

„Musst du wirklich gehen, Mum?“ Henry stand auf der untersten Treppenstufe und sah seine Mutter flehend an. „Wir wollten doch heute gemeinsam Kekse backen.“
Regina Mills wandte ihren Blick kurz vom Garderobenspiegel ab und ihrem Sohn zu. „Es tut mir leid, Liebling. Aber die Ereignisse der letzten Tage …“ Sie seufzte leise und sah wieder in den Spiegel, um ihre Frisur zu prüfen. „Die Gemeinderatsversammlung lässt sich leider nicht verschieben.“
Henry sah traurig gen Boden.
Regina seufzte erneut, trat zu ihm und umarmte ihn vorsichtig, um ihren Blazer nicht zu zerknittern. „Ich bringe dir später ein Stück Butterstollen von Granny’s mit, ja?“
Henry nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Es war ein schwacher Trost, aber vielleicht könnten sie dann zumindest gemeinsam essen. Er blieb auf der Treppe stehen, bis seine Mum das Haus verlassen hatte, und auch danach stand er noch minutenlang dort und starrte die Tür an, in der irren Hoffnung, sie würde gleich zurückkehren.
Doch natürlich tat sie das nicht.

Henry wischte sich über die Augen und ging ins Wohnzimmer. Das elektrische Kaminfeuer brannte und verbreitete eine angenehme Wärme.
Dennoch war Henry kalt. In letzter Zeit hatte seine Mum immer weniger Zeit für ihn. Natürlich wusste er, dass sie als Bürgermeisterin von Haven viel zu tun hatte, aber in den letzten Monaten wurde es immer extremer. Nicht einmal ihr gemeinsamer Nachmittag – ein Tag in der Woche, der nur ihnen beiden gehörte – fand noch statt. Nein, seine Mum hatte wieder gehen, zu einem wichtigen Termin müssen.
Henry ließ sich auf das Sofa fallen und wickelte eine dicke Decke um sich. Hatte er etwas falsch gemacht? Mochte seine Mum ihn nicht mehr? Bereute sie etwa, ihn adoptiert zu haben?
Henry zitterte. Vor einigen Wochen hatten sie in der Schule als Hausaufgabe bekommen, einen Familien-Stammbaum auszufüllen. Henry hatte einen neuen Ast für seine Mum gezeichnet und die Plätze für seine leiblichen Eltern leer gelassen. Und natürlich hatte er begonnen, seiner Mum Fragen zu stellen. Hatte sie dadurch gemerkt, dass sie ihn nicht mehr haben wollte? Seitdem hatte sie immer weniger Zeit für ihn.
Henry schluchzte und zog seine Knie an seinen Körper. Sein Blick fiel auf das Märchenbuch, das seine Lehrerin ihm als Trost geschenkt hatte, weil er die Aufgabe mit dem Stammbaum nicht vollständig hatte lösen können. Er rieb sich über die Augen und griff danach.


*****


Schon als Audrey an diesem Morgen in die Stadt fuhr, wusste sie, dass es ein typischer Haven-Tag war. Die Alternative wäre, dass die gesamte Stadt beschlossen hatte, Halloween gleich noch ein zweites Mal innerhalb einer Woche zu feiern, aber sie war sich sicher, dass irgendjemand das mal erwähnt hätte.
Das Polizeirevier war leer, als sie ankam. Das ließ zwei Schlüsse zu. Entweder stapelten sich bereits die Katastrophen und alle waren im Einsatz. Oder – und irgendwie hatte Audrey das Gefühl, dass dies zutraf – die Polizisten liefen alle da draußen in irgendwelchen Kostümen herum. Audrey seufzte. Immun gegen die Unruhen zu sein, hatte ja seine Vorteile, aber sie wünschte sich wirklich, dass es da noch jemanden gäbe, der sie unterstützen konnte, ohne dass immer lange Erklärungen nötig waren.
Ihr Weg führte Audrey in ihr Büro, in der Hoffnung, zumindest einen Hinweis auf Nathans Verbleib zu finden. Aber wenn sie ehrlich war, war sie nicht überrascht, dass es keinen gab. Erst als sie das Büro wieder verließ, wurde ihr bewusst, was sie zusätzlich störte: Es war zu still. Nicht nur die Polizisten fehlten, sondern auch die anderen Menschen, die hier normalerweise ein- und ausgingen. Es gab niemanden, der etwas melden wollte, kein einziges Telefon klingelte und auch das Faxgerät rührte sich nicht.
„Was geht hier nur vor?“, fragte sie in den leeren Raum. Klar war, sie brauchte Hilfe. Die Frage war: Nathan oder Duke? Wen sollte sie zuerst suchen? Wen würde sie schneller finden? Seufzend musste sie sich eingestehen, dass Duke die bessere Wahl wäre. Bei ihm konnte sie sich zumindest relativ sicher sein, wo er sich befand.

***

Die Cape Rouge lag zu Audreys Erleichterung tatsächlich an ihrem Ankerplatz. Den Mann, der an Deck auf- und ablief, erkannte sie allerdings erst auf den zweiten Blick.
„Duke?“
Er drehte sich zu ihr um. „Captain Duke Crocker“, sagte er und legte eine Hand auf den Säbel, den er am Gürtel trug. „Und wer sind Sie, Miss? Frauen haben an Deck nichts zu suchen!“
Audrey wich einen Schritt zurück. Seit wann durfte sie nicht mehr an Bord kommen? Unsicher musterte sie Duke. Er hatte seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihm gut stand, sie aber noch nie bei ihm gesehen hatte. Die Augenklappe war ebenfalls neu, genau wie das dunkelrote Kopftuch, der lange Ledermantel und die hohen Stiefel. „Bist du ein Pirat?“
Er grinste und für einen Moment sah er trotz des ungewohnten Outfits aus wie der Duke, den sie kannte. „Der beste der sieben Weltmeere. Und wer sind Sie?“ Langsam zog er den Säbel. „Ich frage nur ungern zweimal, Miss.“
Audrey lächelte und zeigte ihre leeren Handflächen. „Mein Name ist Audrey Parker. Ich bin …“ Sie zögerte. Dem Piraten zu sagen, dass sie eine Polizistin war, erschien ihr nicht sonderlich klug. Schon ihr Duke war nicht sonderlich begeistert von ihrem Beruf. „Eine Freundin“, sagte sie also.
Er musterte sie. „Sie tragen seltsame Kleidung für eine Frau, Miss Parker.“
Audrey sah an sich herunter. Jacke, Shirt, Jeans, so ungewöhnlich war das für sie nun nicht. Was ging hier nur vor?

***

Sie hatte Duke auf seinem Schiff zurückgelassen. Er warte gerade auf seine Crew, damit sie auslaufen konnten, hatte er ihr mitgeteilt und sich geweigert, an Land zu gehen. Audrey war also alleine zu Nathan gefahren. Zu ihrem Unmut war dieser allerdings nicht zu Hause. Eventuell hatte er bei Jordan übernachtet, aber deren Adresse kannte Audrey nicht.
Sie seufzte und ging zurück zu ihrem Auto.
Noch immer wusste sie nicht genau, was für eine Unruhe die Stadt heimsuchte. Inzwischen waren ihr aber einige Dinge aufgefallen. Sie war tatsächlich die einzige Frau, die eine Hose trug, was Dukes Worte in ein ganz anderes Licht rückte. Außerdem hatte sie bemerkt, dass viele Leute zwar äußerst merkwürdig gekleidet waren, alles aber altmodisch, gar mittelalterlich wirkte.
Zu dieser Feststellung passte auch die Tatsache, dass Audrey die einzige war, die Auto fuhr. Die Vermutung, dass Haven durch eine Unruhe einfach nur Halloween wiederholte, hatte sie jedenfalls inzwischen revidiert.
Etwas ziellos fuhr sie langsam durch die Straßen und hielt Ausschau nach … Sie wusste es nicht genau. Natürlich musste sie die Person finden, die für das alles hier verantwortlich war. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das tun sollte. Behaftungen, die die ganze Stadt komplett veränderten, waren selten. Und bis jetzt hatte sie immer Unterstützung gehabt, von Nathan oder Duke oder beiden. Sie hatte immer auf Hilfe zählen können, auch wenn dafür manchmal einige Erklärungen nötig gewesen waren.
An der nächsten Kreuzung bog sie ab und hielt kurz darauf vor dem Haven Herald an. Die Tür war verschlossen und Audrey gab einen frustrierten Laut von sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie beschloss, ihr Auto hier stehenzulassen und zu Fuß weiterzusuchen. Nathan, Dwight, Vince, Dave, sie musste einfach irgendjemanden finden, der ihr helfen konnte.

***

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Audrey beschloss, eine Pause zu machen. Sie vermutete, dass es früher Nachmittag war, aber nachprüfen konnte sie es nicht. Sie war so abgelenkt gewesen von allem, was vor sich ging, dass ihr erst nach Stunden aufgefallen war, dass weder ihre Armband- noch ihre Handyuhr funktionierten. Beide standen auf 8:15 Uhr. Am Morgen hatte sie das p.m. noch nicht wirklich wahrgenommen, aber wer rechnete auch damit, dass sein Handy nicht mehr die richtige Uhrzeit anzeigte? Jedenfalls war sie hungrig. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, und so war Audrey mehr als nur erleichtert, dass die Türen von Granny’s, einem gemütlichen kleinen Café, weit geöffnet waren. Die Inneneinrichtung hatte sich nicht wirklich geändert, die Bedienung dagegen sehr. Audrey wusste, dass hier Granny selbst und ihre Enkeltochter Ruby arbeiteten. Letztere fiel normalerweise durch äußerst freizügige Kleidung auf. Heute allerdings trug sie ein langes Kleid und – was noch viel verwunderlicher war – einen langen roten Kapuzenumhang. Zum Glück war das Menü wie gewohnt und so konnte Audrey sich einen großen Kaffee und ein Muffin bestellen.
„Passen Sie auf da draußen“, sagte Ruby, als sie Audrey das Gewünschte reichte. „Der Wolf geht um.“
Audrey runzelte die Stirn. „Der Wolf?“
Ruby nickte. „Sie sollten sich einen roten Umhang besorgen, Miss. Er beschützt sie vor dem Wolf. Meine Großmutter hat mir diesen hier geschenkt.“
Zu Audreys Glück war sie – oder eher die andere Audrey Parker – als Kind ein gewaltiger Fan von Märchen gewesen, und so erkannte sie die Referenz. „Rotkäppchen?“
Ruby lächelte strahlend. „So werde ich genannt, ja. Bitte entschuldigen Sie, die nächsten Gäste warten.“
Audrey nickte und ging zu einem der Tische, um in Ruhe zu essen und nachzudenken. Sie musterte die Neuankömmlinge, eine Gruppe von sieben Männern, die sie noch nie gemeinsam gesehen hatte, die sich aber verhielten, als seien sie beste Freunde. Jeder von ihnen trug eine Mütze und – Audrey blinzelte verblüfft – eine große Hacke bei sich. Waren das etwa die sieben Zwerge?
Einmal darauf aufmerksam geworden, erkannte Audrey auf der Straße immer mehr Märchenfiguren. Die junge Lehrerin der Grundschüler stellte sich als Schneewittchen heraus, in einem wunderschönen weißen Kleid und mit einem kleinen, blauen Vogel auf ihrer Hand, dem sie vorsang. Nur eine Straße weiter stieß Audrey beinahe gegen die Bürgermeisterin, die ein ausladendes schwarzes Kleid trug und begann, über „den Pöbel“ zu schimpfen. Der rote Apfel, den sie aus der Luft zu pflücken schien und Audrey anbot, brachte diese zu der Vermutung, der bösen Königin, Schneewittchens Stiefmutter, gegenüberzustehen. Sie lehnte dankend ab und deutete an, Schneewittchen am anderen Ende der Stadt gesehen zu haben. Tatsächlich machte die Bürgermeisterin sich sofort auf den Weg, um Schneewittchen zu finden, und Audrey atmete erleichtert auf. Einen Mord unter Märchenfiguren konnte sie jetzt wahrlich überhaupt nicht gebrauchen. Sie wusste nur immer noch nicht, wer für das Märchenchaos verantwortlich war.

***

Audrey ließ sich frustriert auf eine Bank fallen. Sie hatte sich für eine strategische Suche entschieden, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie den Verursacher der ganzen Geschichte hier eigentlich erkennen sollte. Die meisten Menschen waren relativ einfach gekleidet, wie Arbeiter, Bauern, Fischer und ähnliches. Einige Männer waren auch in Ritterrüstungen unterwegs. Die ihr bekannten Märchenfiguren hatte Audrey inzwischen auch alle entdeckt.
Dornröschen schlief in dem Pavillon auf dem Hügel, um dessen Streben mit atemberaubender Geschwindigkeit die Rosenbüsche wucherten. Für einen Moment hatte Audrey überlegt, der jungen Frau zu helfen. Aber da sie wusste, dass Dornröschen in ihrer Geschichte nicht starb, hatte sie sich wieder dem dringlicheren Problem gewidmet und ihre Suche fortgesetzt.
Vor dem Antiquitätengeschäft in der Innenstadt hatte sie für einen Moment die junge Bibliothekarin in einem goldgelben Ballkleid gesehen, höchstwahrscheinlich die Schöne auf der Suche nach ihrem Biest.
Erstaunlicherweise war Audrey noch keinem der Prinzen begegnet, aber dann … soweit sie sich an die Märchen erinnern konnten, hatten die meisten von ihnen nicht einmal Namen. Allerdings hatte sie auch Nathan noch immer nicht gefunden. Dwight dagegen hielt sich im Moment für Little John, den Gefährten von Robin Hood – wer auch immer dessen Identität angenommen hatte. Auch Vince und Dave waren aufgetaucht, als Herolde auf dem Marktplatz, die in altmodisch anmutender Sprache verkündet hatten, dass Fischer sich in Acht vor Piraten nehmen mussten.
„Habt Ihr ein wenig Brot für uns?“ „Bitte, ein wenig Brot?“
Audrey blieb stehen und kniete sich vor die beiden Kinder, die sie angesprochen hatten. „Wie heißt ihr denn?“, wollte sie wissen, während sie ein paar Münzen aus ihrer Hosentasche zog.
„Ich bin Gretel, das ist Hänsel“, sagte das Mädchen.
Audrey lächelte und gab Gretel die Münzen in die Hand. „Hier, holt euch etwas zu essen. Und haltet euch vom Wald fern.“
Die beiden nickten eifrig, bevor sie sich bedankten und davonrannten. Audrey richtete sich wieder auf. Es waren erstaunlich wenig Kinder unterwegs, und Audrey beschloss, zur Schule zu gehen. Vielleicht waren sie ja dort. Egal, was hier gerade vor sich ging, es wurde Abend und die Kinder gehörten nach Hause.

***

Die Schule war leer, aber auf dem Klettergerüst hinter dem Pausenhof entdeckte Audrey einen Jungen, der auf der obersten Plattform saß und die Beine baumeln ließ. Zu Audreys großem Erstaunen trug er eine Jeans und eine ganz normale Regenjacke.
„Hi“, sagte sie und lächelte zu ihm hinauf.
„Hallo“, antwortete er leise und wischte sich einmal mit dem Ärmel über die Nase.
„Ist alles in Ordnung?“, wollte Audrey wissen. Es musste etwas zu bedeuten haben, dass er als einziger Mensch, dem sie bis jetzt heute begegnet war, normale Kleidung trug.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich kann meine Mum nicht finden.“
Audrey lächelte traurig. „Das Problem kenne ich“, murmelte sie. „Kann ich dir vielleicht helfen?“, fügte sie dann lauter hinzu. „Ich heiße Audrey. Wie heißt du denn?“
„Henry Mills.“
„Mills wie die Bürgermeisterin?“
Henry nickte. „Das ist meine Mum“, sagte er. „Aber ich glaube, sie hat mich nicht mehr lieb.“
Audrey kletterte zu ihm hinauf und setzte sich neben ihn. Sie hatte das Gefühl, dass sie hier gerade eine gute Spur für ihr Märchenproblem gefunden hatte. „Wieso glaubst du das?“
„Sie ist nicht nach Hause gekommen.“ Er blinzelte heftig und starrte Richtung Boden.
Audrey seufzte leise. Sie wusste, dass der Gemeinderat in letzter Zeit sehr häufig tagte. Nathan hatte sich auch bereits darüber beschwert, aber für ein Kind musste das noch viel schlimmer sein. „Bestimmt hast du nur schon geschlafen, als sie gekommen ist.“
Henry schüttelte den Kopf. „Sie wollte mir Butterstollen bringen“, sagte er. „Von Granny’s, als Abendessen. Aber sie ist nicht nach Hause gekommen.“
„War das gestern?“, wollte Audrey wissen.
Henry nickte.
„Hast du seitdem etwas gegessen?“
Jetzt schüttelte er den Kopf. „Ich mag keine Äpfel“, sagte er.
Audrey runzelte die Stirn. „Aber doch bestimmt etwas anderes.“
„Es waren aber nur noch Äpfel da. Überall im ganzen Haus.“ Zum ersten Mal sah er sie an. „War das so ein Haven-Ding? Mum hat gesagt, dass manchmal komische Sachen in Haven passieren.“
Audrey schnaubte. Der Kleine hatte ja keine Ahnung. „Wie wäre es, wenn wir zu Granny’s gehen und ich dir ein Stück Butterstollen spendiere?“
Henry biss sich auf die Unterlippe.
„Wir könnten danach deine Mum suchen“, fügte Audrey hinzu.
„Ich hab sie schon gesucht“, antwortete Henry leise. „Aber alle Leute sind so komisch. Ich hab nach ihr gefragt, aber niemand kannte sie.“
Audrey seufzte. „Ich denke, ich weiß, wie wir sie finden können. Aber zuerst musst du etwas essen.“

***

Ruby stellte einen Teller mit dem größten Stück Butterstollen, das Audrey je gesehen hatte, und eine Tasse heiße Schokolade mit Zimtpulver auf der Schlagsahne vor Henry auf den Tisch, bevor sie sich zu ihnen setzte. „Ich leiste dir ein bisschen Gesellschaft, okay Kleiner?“
Henry nippte an der Tasse und musterte sie. „Warum bist du so anders angezogen?“, fragte er.
Ruby sah an sich herunter. „Was meinst du? Ich trage doch immer meinen roten Umhang. Er beschützt mich vor dem bösen Wolf.“
Henry runzelte die Stirn. „Wie?“
Audrey lächelte. „Kannst du eine Weile mit Ruby hierbleiben? Ich glaube, ich weiß, wo deine Mum sein könnte. Ich bringe sie hierher, einverstanden?“
Henry nickte und Audrey stand auf. Sie hatte eine Idee, wie sie die Unruhe beenden konnte. Der Junge schien für das Märchenchaos verantwortlich zu sein, ohne es zu wissen. Seine Mutter zu ihm zu bringen, erschien Audrey nach einer guten Idee, die Sache zu beenden.


*****


Henry starrte die Tür an, während er eher abwesend seine heiße Schokolade trank. Ruby stellte ihm immer wieder eine neue Tasse hin, sobald eine leer war. Inzwischen war er bei der dritten und Audrey war immer noch nicht wieder zurückgekommen. Henry umklammerte die Tasse fester. Was, wenn sie seine Mum nicht fand? Was, wenn sie seine Mum fand, diese aber nicht zu ihm kommen wollte?
Ein Wind fegte durch Granny’s, ein raschelndes Geräusch wie das Umblättern einer Buchseite ertönte, und plötzlich veränderten sich die Menütafeln, die über dem Tresen hingen. Statt schwarzen Schiefertafeln waren sie nun einfache Holzbretter und statt Butterstollen und Birnenkuchen priesen sie nun Kräuter- und Wildpasteten an. Henry sah sich verblüfft um. Er war nicht der einzige Gast hier, aber jetzt war er der einzige, der eine ganz normale Porzellantasse in der Hand hielt. Sämtliches anderes Geschirr hatte sich ebenfalls verändert und war zu Holz geworden. Bis auf ihn schien sich aber niemand darüber zu wundern.
„Was hast du da?“
Henry sah zu Ruby, die an seinen Tisch getreten war. „Heiße Schokolade“, antwortete er verwirrt.
„Was ist das?“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte dann. „Möchtest du einen Kräutertee und eine Pastete?“
Henry lehnte ab. „Ich warte nur auf …“ Ja, auf wen wartete er. Audrey? Seine Mum? Ein Wunder? Seine Mum hatte ihn alleine gelassen, seit gestern. Und jetzt …

Mit einem lauten Krachen flog die Tür zu Granny’s auf. Dunkelviolette Nebelschwaden strömten in den Raum. Henry hörte jemanden husten, und kurz darauf betrat Audrey das Café.
„Kommen Sie, Hoheit, hier entlang.“ Sie winkte Henry zu, der das Geschehen verwirrt beobachtete.
Hinter Audrey zeichnete sich eine zweite Gestalt ab, eine Frau in einem wallenden Kleid.
„Mum?“, flüsterte Henry verblüfft, als er sie erkannte. Aber sie sah so völlig anders aus. So … böse. Er wischte sich über die Augen. Er wollte nicht weinen, aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Seine Mum wollte ihn nicht mehr.
Erneut ertönte das merkwürdige Geräusch und dann wurde es dunkel. Der violette Nebel drückte von außen gegen die Fenster des Cafés. Henry kauerte sich ängstlich zusammen. Was war das?
„Das Wetter ist heute wieder so richtig Haven-haft, nicht wahr?“ Audrey hatte die Frau, die aussah wie Henrys Mum aber dann auch doch nicht, am Arm gepackt und bugsierte sie auf die Sitzbank Henry gegenüber. „Henry, das ist die böse Königin. Königin, Henry.“
Die Frau, die böse Königin musterte ihn. „Du trägst den Namen meines Vaters“, sagte sie mit kalter Stimme. „Sprich, wer bist du?“
Henry sah sie erstaunt an. „Den Namen von deinem Vater?“, wiederholte er. Das hatte er nicht gewusst. Seine Mum hatte ihm erzählt, dass sie seinen Namen ausgesucht hatte, als sie ihn adoptiert hatte, aber nicht, weshalb sie ihn gewählt hatte.
„Königin“, mischte sich Audrey ein. „Das ist Euer Sohn. Ein … äh … die böse Hexe des Westens hat Euch verflucht, ihn zu vergessen.“
Die böse Königin musterte Henry erneut. „Mein Sohn?“ Sie blinzelte, schüttelte den Kopf, als würde sie wirklich versuchen, einen Fluch zu vertreiben. Dann erwärmte sich ihr Blick. „Hen… Henry?“
„Mum?“
„Henry!“ Die Königin sprang auf und Henry überlegte nicht länger. Auch er sprang auf und seiner Mum in die Arme. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen sie, ließ sich in die Umarmung fallen. „Oh Henry, es tut mir so leid, dass es gestern so spät geworden ist.“
Er schluchzte leise.
Sie schob ihn leicht von sich, damit sie sich vor ihn knien konnte. „Ich habe dich so lieb!“ Erneut umarmte sie ihn. Dann gab sie ihm einen sanften Kuss auf die Stirn.
Henry spürte, wie Wärme seinen ganzen Körper ausfüllte. Er schloss für einen Moment die Augen. Ein starker Wind fegte um ihn und als er die Augen wieder öffnete, kniete seine Mum vor ihm. Seine wirkliche Mum, mit ihrem Blazer und dem liebevollen Blick, mit dem sie ihn am Abend immer ins Bett brachte. Ganz kurz sah er sich um. Der Nebel war verschwunden und das Café sah wieder so aus, wie es aussehen sollte. Ruby stand hinter dem Tresen und zupfte ihr knappes Shirt zurecht, bevor sie die Kaffeemaschine anschaltete.
Audrey zwinkerte ihm zu. „Gut gemacht, Kleiner“, sagte sie. Henry verstand nicht, was sie meinte, aber das war ja auch egal.
„Ich hab dich auch lieb, Mum“, antwortete er endlich und lehnte sich erneut an sie. Wie hatte er nur denken können, dass sie ihn nicht mehr wollte? Sie war seine Mum und mehr Familie als sie brauchte er doch auch gar nicht. „Unendlich lieb.“


~*~*~*~*~

Ich wünsche euch einen wunderschönen dritten Advent.

Diese Geschichte entstand für den Serienadventskalender 2021. Meine Begriffe waren „Kaminfeuer“ und „Butterstollen“.
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