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Nicht nur eine Herzensangelegenheit

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
OC (Own Character)
11.12.2021
21.02.2023
10
46.073
4
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27.12.2021 3.949
 

Guten Tag wieder,
dieses Kapitel ist aus der Sicht von cleocatras Charakter Kenna geschrieben. Auch beim Verfassen hat sie mir sehr geholfen, auch dafür also an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön.
Viel Spaß beim Lesen!



~ • ~

R E B E L L I O N




26. März 2151, Big York, Waverly  


         Kenna Drew          
Kaste sechs


Für diese sogar für eine Sondersendung ganz besondere Ausgabe des Berichts war Kenna ein kleines Wunder gelungen: Sie hatte es fertiggebracht, ihre gesamte Familie vorm Fernsehen zu versammeln. Alle von ihnen, nicht nur Sterling, Collin, Auburn, Holden, Boston, sondern auch ihre Eltern. Außerdem hatte sie es geschafft, Jack mit ein paar vagen Ausflüchten von wegen sie habe keine Zeit, und Boston auch nicht, ganz sicher nicht, abzuwimmeln, als er versucht hatte, sie zu überreden, sich die Sendung mit ihm anzusehen. Der Junge verstand wirklich nicht, dass sie kein Paar mehr waren …
In gewisser Hinsicht waren ihre Ausflüchte nicht einmal gelogen – die Sendung war um zehn Uhr abends und normalerweise wäre sie schon längst damit beschäftigt gewesen, um diese Zeit noch die bitter nötigen Haushaltsaufgaben zu erledigen, nachdem ihre jüngeren Geschwister schon längst schlafen sollten – Betonung auf ›sollten‹. Heute allerdings blieben fast alle in der Stadt länger auf.
Selbst Holden war noch wach, auch wenn sie die Vermutung hatte, dass er es nicht mehr lange bleiben würde. Prinzipiell würde die Sendung am nächsten Abend in Waverly auch noch einmal um acht Uhr ausgestrahlt werden, für diejenigen, die so spät abends schon schliefen, noch arbeiteten oder anderweitig keine Zeit hatten. Aber natürlich wollte niemand noch einen Tag länger warten, wenn es um eine Selection ging.
Vor allem der Enthusiasmus von Sterling und Auburn, die im Gegensatz zu Holden tatsächlich nicht im mindesten müde schienen, wirkte regelrecht ansteckend. Die kleine Auburn war es auch gewesen, die Kenna dazu gebracht hatte, sich für diesen Familienabend einzusetzen – nachdem in der Schule alle davon erzählt hatten, wie sie den Abend mit ihren Familien verbringen würden, hatte sie so herzzerreißend traurig gefragt, ob Mom und Dad sich den Bericht mit ihnen ansehen würden, dass Kenna es nicht übers Herz gebracht, die naheliegendste Antwort – wahrscheinlich nicht – zu geben. Selbst bei Holden war sie sich nicht sicher, wie viel von seinen Bemühungen, wach zu bleiben, der ehrlichen Aufregung über die Selection geschuldet war und wie viel dem Wunsch, endlich mal zumindest einen Abend mit ihren Eltern zu verbringen.
Sie tat, was sie konnte. Aber ihre Eltern konnte sie nicht wirklich ersetzen, und das wusste sie auch. So sehr der Abend auch ein Desaster werden konnte, gerade in diesem Moment waren alle da, und selbst Kenna spürte leichten Wehmut ob dieser Tatsache. Ashley Drew war ausnahmsweise sogar halbwegs nüchtern und schien mitzubekommen, was um sie herum geschah, und Jared Drew wirkte auf der fadenscheinigen Couch ein wenig unwohl und fehl am Platze, aber er war da.
Das alte Sofa vor dem Fernseher war eigentlich zu klein für die ganze Familie, also hielt Boston Auburn auf dem Schoß, der Vater Holden und die Mutter Collin – der sich nicht einmal damit wehrte, dass er mit elf Jahren viel zu alt dafür war –, während Sterling und Kenna sich Kissen genommen hatten und damit ihren Sitz auf den Seitenlehnen ausbalancierten. Stolz betätigte Holden die Fernbedienung – er war noch in dem Alter, wo er es toll fand, wenn die Erwachsenen ihn ›Erwachsenensachen‹ selbst machen ließen, auch wenn es nur solche Kleinigkeiten waren – und der Bericht begann, live übertragen aus Angeles in das Wohnzimmer einer kleinen Wohnung eines unbedeutenden Stadtviertels in Waverly.
Es war nicht ideal, der Abend würde vermutlich spektakulär explodieren, denn sie war nur Kenna Drew, ständig überforderte Näherin aus Waverly und im Grunde Aufsichtsperson über all diese kaputten Zeitbomben. Aber für einen kurzen Moment war sie hochzufrieden mit sich und, wenn nicht der Welt, dann zumindest ihrer Familie.
Sobald die Nationalhymne ihren letzten, besonders hohen Ton erreichte, kniffen sich die Augen ihrer Mutter vor Schmerz zusammen. »Verdammte Scheiß-Nachrichten. Warum wolltest du noch einmal, dass ich mir den Scheiß antue, Kenna?« Kenna setzte nicht einmal zu einer Antwort an, weil sie wusste, dass sowieso niemand diese hören wollte. »Ich habe wirklich besseres mit meiner Zeit zu tun, als zu sehen, wie irgendwelche Zweier-Tussis oder vielleicht irgendso eine Titelträgerin aus Kaste drei, die mit zwanzig schon Professorin von was-weiß-ich ist, oder wenn’s hoch kommt, mal eine reiche Vier erfahren, dass sie einem bescheuerten Macker wie läufige Hündinnen hinterher rennen können. Leute wie uns geht das doch nichts an.« Sie presste sich die Hand gegen die Schläfen, und Collin auf ihrem Schoß sank ein wenig in sich zusammen.
Kenna sagte nicht, dass ihre Mutter definitiv nichts ›besseres‹ zu tun hatte, und sie verbiss sich den Kommentar, dass sie es tatsächlich fertig gebracht hatte, die Tatsache zu übersehen, dass sich fast alle jungen Frauen im entsprechenden Alter in ihrer Nachbarschaft beworben hatten.
Zwar liebten der Großteil der Sechser und Siebener die Königsfamilie nicht, fast jeder von ihnen würde einfach wegsehen, wenn er Aktivitäten, die nach Rebellen rochen, an der Straßenecke beobachtete, und die Chancen, erwählt zu werden, waren mehr als nur ausgesprochen gering, aber das hieß nicht, dass die Mädchen sich die Gelegenheit entgehen lassen hätten, im Palast zu wohnen und ihren Familien Geld zu schicken, egal, wie winzig die Wahrscheinlichkeit war, dass dieser Traum Realität wurde.
»Es haben sich viele von unseren Leuten beworben«, sagte Kenna, und begann, aufzuzählen. »Posie von nebenan, beide Töchter von Marcy, Hannah Whisps, meine Kollegin Abby und –«
»Na und?« Ihr Vater schnitt ihr rüde das Wort ab, und seine tiefliegenden Augen glommen. Zorn, wusste Kenna, Zorn, der nie so richtig verschwand, weil er sich gegen alles und jeden richtete. »Von uns wird keiner erwählt. Die da oben scheren sich nicht um uns. Losverfahren? Für den Arsch. Du wirst sehen: Und wenn sich nur eine Zwei aus Waverly beworben hat, und alle anderen zu uns gehören, dann wird es immer noch die Zwei sein. Sei nicht so naiv, Kenna. Ich habe dich nicht dazu aufgezogen, diese beschissene Welt und die Lügen von denen da oben einfach so hinzunehmen. Wir stehen für uns alleine.«
Aber während er sprach, strich er Holden leicht, fast gedankenverloren über das feine blonde Haar, also sagte Kenna nichts zu ihrer Verteidigung, sondern sah nur auf den flimmernden Bildschirm. Es brachte ohnehin nichts, mit ihrem Vater und seiner ewigen Bitterkeit zu streiten, also konnte sie genauso gut ruhig sein und ihren kleinen Bruder die Anwesenheit seines Vaters so lange genießen lassen, wie es nur möglich war.
Sie wusste, dass die Familie ohne ihn vermutlich besser dran gewesen wäre, wenn er und ihre Mutter von einem Tag auf den anderen einfach verschwänden – die ewig nörgelnde, trinkende Mutter, der abwesende Vater, der gefangen war in einer Welt aus Zorn und Hass und Bitterkeit.
Manchmal, wenn sie diese Gedanken dachte, kam sie sich schrecklich vor. Diese Menschen hatten sie aufgezogen, und ihr wenigstens ein kleines Nest gegeben. Und es war ja auch nicht nur ihre Schuld, dass sie heute Wracks waren – denn das waren sie: Ein Vater, der vergessen hatte, wie es sich anfühlte, nicht nur für seine Familie zu kämpfen, sondern für sie da zu sein, eine Mutter, der der mit Methanol vergiftete Fusel langsam das Augenlicht raubte, die ihn aber trotzdem immer weiter trank, weil sie die schmerzenden Glieder sonst nicht mehr ertrug.
Aber Kenna konnte ihnen ihr Verhalten trotzdem nicht verzeihen. Es ging nicht. Dafür gab es zu viele Menschen, die die gleichen Dinge durchlebten, ohne alle, die sie liebten, mit in den Abgrund zu reißen, ohne »Jetzt, wo wir zwei Einkommen haben, versorgst du die Familie und ich den Widerstand« zu sagen, oder »Die paar Tage ohne fließend Wasser kriegt ihr hin. Sei nicht wütend auf mich, seit wütend auf das System«, oder »Du kriegst das so toll hin, ihr braucht mich ja gar nicht« zu einer Elfjährigen lallen und sich dann auf die Couch zu schmeißen.
Und jedes Mal, wenn sie die Geduld verlor, fragte sie sich, wie weit sie davon entfernt war, genauso zu werden. Ob irgendwann ihre Geschwister sie ansehen und »Dein Leben war scheiße, aber das entschuldigt nicht, was du uns angetan hast« sagen würden.
Auch an diesem Abend öffnete ihr Vater den Mund, um eine Tirade über das Königshaus und das Kastensystem zu beginnen, doch bevor er anfing, hielt er inne, sah auf den Sohn auf seinem Schoß hinab und sagte lediglich: »Es ist alles ungerecht.«
Der Sonderteil des Berichts fing an, aber die Familie hörte höchstens mit einem halben Ohr zu. Die Mutter murmelte im Hintergrund weiter von der Sinnlosigkeit des Ganzen, Boston redete laut und schnell über irgendetwas, was ihm Jack erzählt hatte und was er unglaublich cool fand, um seine Geschwister von den nicht unbedingt regierungstreuen Ansichten beider Elternteile abzulenken, und deswegen ließ Kenna ihn ausnahmsweise gewähren. Trotzdem würde sie hinterher ein ernstes Wort mit ihm und Collin reden und ihnen einbläuen müssen, dass die Sache, über die er da sprach – es ging um Feuer und den Beitrag, den Alkohol zu dessen Ausbreitung leisten konnte – tatsächlich nicht ›unglaublich cool‹, sondern vor allem unglaublich gefährlich war.
Sterling schimpfte leise darüber, dass sie wieder einmal das Gesagte höchstens zur Hälfte verstand und Holden war trotz seiner Aufregung darüber, dass er für diesen Bericht ausnahmsweise mal länger aufbleiben durfte, schon fast eingeschlafen.
Als Holden wieder einmal herzhaft gähnte und ihm die Augen zum wiederholten Male zufielen, stand ihr Vater mit den Worten »Ab ins Bett, kleiner Affe« auf und trug ihn unter schwachen Protesten aus dem Zimmer, eine Hand schützend auf Holdens Hinterkopf gelegt. Kenna wäre gerührt gewesen, hätte sie es nicht besser gewusst.
»Ganz unrecht hat Papa nicht mit unseren Chancen«, sagte Boston, nachdem er weg war – mutmaßlich, damit Jared Drew nicht denken würde, irgendeines seiner Kinder stünde auf seiner Seite –, während die Königsfamilie irgendetwas davon plapperte, dass die Königin die letzte Selection dadurch gewonnen hatte, ›sie selbst‹ zu sein. Eine Erbin einer steinreichen Architektenfamilie aus Kaste drei zu sein, hatte da bestimmt nicht mitgeholfen. »Wozu das Ganze? Niemand, den wir mögen, wird gewinnen.«
»So einfach ist das nicht. Es geht ja nicht nur um persönliche Sympathie. Eine von denen wird Königin. Es wird nicht schaden, sich frühzeitig damit zu befassen, wer das sein könnte. Egal, was man über die Monarchie denkt«, sagte sie und hoffte, dass Boston den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Selbstverständlich wusste ihre Mutter von ihren Aktivitäten in der Rebellion – anders als ihr Vater – ebenso wenig wie die jüngeren Geschwister, aus besten Gründen.
Subtilität war allerdings nicht Bostons Stärke, noch weniger als Kennas. »Denkst du, dass es auch Erwählte geben wird, die nicht … alles am Königshaus unterstützen?«
»Wer weiß? Vielleicht ja schon. Aber dafür müssen wir den Bericht gucken«, antwortete Kenna in einem Versuch, ein implizites ›Halt die Klappe‹ möglichst unauffällig herüberzubringen, und hoffte, dass Boston seine Hoffnungen, unter den Kandidatinnen mögen sich Rebellensympathisantinnen befinden, etwas stärker hinter dem Berg halten würde.
Immerhin blieb ihm von diesem Moment an nicht mehr viel Gelegenheit zum Plappern für den Rest der Sendung, wenn sie das Ausrufen der Kandidatinnen nicht verpassen wollten, das in diesem Moment begann:
»Unsere erste Erwählte ist Miss Gabrielle Saintemillon aus Allens, Kaste zwei.« Das Mädchen starrte fast schon teilnahmslos in die Kamera; Kenna musste bei ihrem Anblick an ein leeres Blatt Papier denken.
»Direkt hier aus Angeles erwählt wurde Miss Soleil Archer, Angehörige der Kaste zwei.« Hätte jemand sich die Mühe gemacht, die Karikatur einer Zwei zu zeichnen, hätte Soleil Archer ihr mit ihrem vor Arroganz strotzenden Gesichtsausdruck perfekt entsprochen – sie lächelte in die Kamera, als erwarte sie, die gesamte Welt würde sie lieben.
»Die Erwählte aus Atlin ist Miss Alexandra Eastcoll, ebenfalls der Kaste zwei angehörig.« Etwas weniger aufgetakelt als Soleil Archer, aber der selbstsichere Ausdruck auf ihrem Gesicht widerte Kenna an.
»Glaubst du, sie haben sich entschieden, nur noch Zweier auszuwählen?«, fragte Boston, gerade als das Gesicht der Erwählten aus Atlin durch das jener als Baffin ersetzt wurde. Beinahe hätte Kenna durch seine Frage überhört, wie die Stimme bei der Erwählten dieser abgelegenen Provinz verkündete: »Kaste vier.«
Wenig überraschend, dort gab es wenige Menschen höherer Kasten. Trotzdem war die Rebellion dort nicht stark verwurzelt, also mussten sie sich wegen dieser Meriwa Irniq nicht allzu viele Gedanken machten – dadurch, dass die Bewohner Baffins in erster Linie in kleineren Ortschaften lebten, von der Außenwelt durch hunderte Meilen Eis und Schnee abgetrennt, war eine strenge Durchsetzung des Kastensystems nicht immer möglich, und die Einwohner kümmerten sich wenig um den Rest Illeás.
Trotzdem versuchte sie, etwas von Bostons Optimismus zu teilen und sich einzureden, dass sie nicht die Einzigen waren, die die Selection eben nicht schauten, weil sie davon träumten, dass eine Tochter, Schwester, Freundin oder sie selbst in den Palast ziehen würden, sondern in der Hoffnung, dass eine Gleichgesinnte erwählt wurde, dass es nicht nur für sie selbst war.
Nachdem eine »Delilah Landes, Kaste 5« für Bonita aufgerufen wurde, versuchte Kenna, die Namen der folgenden Erwählten in ihrem Kopf nachhallen zu lassen, denn sie war sich sicher, dass sie einige der Frauen kennen musste – Ian Reynes, die Erwählte aus Carolina beispielsweise, war irgendeine Sängerin, aber auch wenn sie eine Zwei war, glaubte Kenna, mal gehört zu haben, wie Abby davon erzählte, dass Teile ihrer Familie aus Kaste vier oder fünf kamen.
Die Erwählte aus Columbia kam ihr entfernt bekannt vor, irgendeine Schauspielerin, und bei der aus Denbeigh – Bailee Baseav – war sie sich sicher, dass ihren Eltern ein Pharmakonzern gehörte. Vor einiger Zeit hatte es irgendeine Schlagzeile über den gegeben, aber sie kam beim besten Willen nicht mehr darauf, welche.
Sie war so in den Gedanken vertieft, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als Boston plötzlich freudig aufschrie: »Eine Acht!«
»Was?«, fragte sie verwirrt, und sah gerade noch, wie das Bild eines schwarzen Mädchens mit Lockenkopf verblasste.
»Das ist die Erwählte von Dominica, eine Acht! Die müssen wir doch …«
Kenna sah ihn streng an, und Boston fing sich gerade noch rechtzeitig. »Na ja, unterstützen. Solidarität unter den niedrigeren Kasten und so.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu unterstützen gäbe«, sagte ihre Mutter. »Sie wird wahrscheinlich sowieso am ersten Tag rausgeworfen. Und selbst wenn eine Obdachlose Königin würde, was dann? Sie ist eine Acht, die weiß, dass man sich immer selbst die Nächste ist. Die würde sich genauso einen Scheißdreck um uns kümmern wie irgendeine Film-Schlampe. Nur dass es jemandem schlecht geht, macht ihn nicht zu einem besseren Menschen.«
Wie du ja eindrücklich beweist, dachte Kenna sich, nicht ohne eine Spur von Bitterkeit.
Auburn, Collin und Boston waren schon ganz bei der nächsten Kandidatin mit ihrer Aufmerksamkeit, einer Fünf, gefolgt von einer Vier. Na ja, wenigstens bewahrheitete sich Bostons Verdacht, dass es dieses Jahr eine Selection voller Zweier geben würde, nicht.
Dann erschien die Erwählte aus Honduragua auf dem Bildschirm.
»Yadira Casales.« Kenna war erstarrt. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Wenn sie jemanden nicht auf dem Thron sehen wollte, dann war es eine Casales, denn die entstammten einer Familie, die seit Jahren die Gouverneure Honduraguas stellte und zu den engsten Verbündeten des Königs gehörten.
Dank ihrem Vater, Andrés Casales, waren die Regenwälder der Provinz von Divisionen von Soldaten geflutet worden, die das bis dahin sichere Rebellenversteck durchkämmten und jeden, den sie antrafen, ob Rebellin oder Zivilistin, Mann, Frau oder Kind, in eines dieser schrecklichen Arbeitslager zu stecken, falls sie sie nicht … Nun ja, was man aus den Urwäldern Honduraguas‘ hörte, bot genug Stoff für eintausend Albträume. Selbst gemessen an den generell regierungsnahen Politikerfamilien galten die Casales als außergewöhnlich skrupellos – auch wenn selbst sie es nicht schafften, die Wälder zu kontrollieren.
Vor ihr zogen weitere Bilder vorbei, Zweier und Dreier, eine Vier, eine Fünf. Einige wenige kannte sie, die meisten nicht, und die Gesichter auf dem Bildschirm verschwammen langsam. Während sie anfangs noch nach Hinweisen auf den Charakter in den Gesichtern der Frauen gesucht hatte, schaffte sie es nicht mehr, in ihnen etwas anderes zu erkennen als ihr privilegiertes Leben.
Boston, sah sie aus dem Augenwinkel, hatte begonnen, sich Notizen zu machen. Eine Strichliste der Erwählten nach Kasten – viele Striche für die Kasten Zwei und Drei, ein paar für Kaste Vier, drei für Kaste Fünf – Kenna musste eine Erwählte übersehen haben, denn sie erinnerte sich nur an Delilah Landes aus Bonita und eine mit seltsamen Namen aus Fennley –, ein einzelner für Kaste acht. Niemand aus Kaste sechs oder sieben bisher, aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Sie fragte sich nur, warum das Königshaus ausgerechnet eine Acht gewählt hatte. Als Alibi, um jene zu beruhigen, die das ganze Verfahren für die Farce hielten, die es war? Wobei dazu eine Sieben oder Sechs besser geeignet gewesen wäre – im Vergleich zu denen gab es nämlich wenige Achter.
»… nimmt die Sechs Miss Elizabeth Graham an der Selection teil.«
Dieser Satz brachte Kennas Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig zurück zum Bildschirm, um das verblassende Bild einer jungen, blonden Frau zu sehen, und beinahe konnte sie sich vorstellen, dass es doch möglich wäre, als Mitglied der Kaste Sechs an einer Selection teilzunehmen.
Sterling klatschte laut in die Hände, und Auburn war aufgesprungen, die Fäuste in Siegerpose in die Luft gereckt. »Sie ist auch eine Sechs! Sie ist wie wir! Vielleicht näht sie ja genauso wie du, Kenna!«
»Vielleicht«, schaffte Kenna es gerade noch zu sagen, bevor das Bild wieder ausgeblendet wurde. Die nächste Provinz würde Waverly sein.
Kenna hatte es vermieden, über die Erwählte aus ihrer Provinz nachzudenken. Sie hatte sich selbst vielleicht auch ein bisschen damit getröstet, dass die Chance, dass jemand, den sie kannte, erwählt würde, äußerst gering wäre. Denn so sehr sie es sich auch wünschte, dass eine Rebellin in den Palast geschleust wurde, Abby vielleicht, oder Chris, bereitete es ihr Angst, sich vorzustellen, wie eines der anderen Mädchen und Frauen erwählt wurde und sie auf dem Bildschirm zusehen musste, wie sie vorgab, nie eine Näherin oder Fabrikarbeiterin oder Putzhilfe gewesen zu sein, sondern sich benahm, als sei das etwas, für das man sich schämen musste. Und am meisten fürchtete sie sich davor, selbst so handeln zu müssen.
Der nächste Satz fegte in einer Sekunde alle ihre Gedanken fort:
»Aus Waverly stammend ist die Erwählte Miss Kenna Drew, ebenfalls eine Sechs.«
Als Kenna nicht gedacht hatte, dass sie an dieser Sendung irgendetwas noch schockieren könnte, nachdem eine Acht und Yadira Casales erwählt worden waren, hatte sie sich gründlich geirrt. Während sie schocksteif auf den Bildschirm starrte, auf dem schon das Bild einer gewissen »Aurora Tapeesa Stonemoss, Kaste drei« prangte, fielen Sterling und Auburn sich in die Arme, und Boston schubste Collin mit vorsichtigem Ungestüm von seinem Schoß, um Kennas vor den Mund geschlagenen Händen ein High Five zu geben.
»Du bist erwählt.« Er lachte ungläubig und schien nicht zu bemerken, dass er ihr mit seinem High Five quasi ins Gesicht schlug. »Ich kann es kaum fassen, die haben dich wirklich erwählt!«
Ashley Drew starrte den Fernsehbildschirm an, dann stieß sie ein gackerndes Geräusch aus. »Mann!«, rief sie in den Flur.
So rief sie ihn immer. Nicht »Jared«, nicht »Dad«.
»Nicht so laut«, sagte Kenna reflexartig. Holden sollte schließlich schon schlafen.
»Was ist?«, brummte der Vater, als er ins Zimmer kam, aber immerhin in einer erträglichen Lautstärke. »Ich war bei meinem Sohn. Das wollt ihr alle doch immer.«
Bostons Euphorie verschwand bei diesen Worten, und er und Kenna tauschten einen Blick.
»Wenn du glaubst, mich würde es interessieren, wo du dich herum treibst, dann liegst du mal sowasvon falsch«, keifte ihre Mutter. »Du zahlst keine Miete, also kannst du deinen Fettarsch meinetwegen nie wieder über diese Türschwelle schleppen.«
»Jetzt sei still!«, fauchte Sterling, bevor sie sich an ihren Vater wandte. »Kenna ist Erwählte.«
Das machte ihn tatsächlich um eine Erwiderung an seine Frau verlegen, und Jared Drew starrte entgeistert zwischen Sterling, Kenna und dem Rest seiner auf einmal stillen Kinder hin und her. »Erzähl keinen Scheiß. Du verarschst mich doch.«
Kenna fühlte sich gedrängt, aufzustehen, obwohl ihre Beine sich anfühlten, als würden sie sie nicht mehr richtig tragen. »Nein. Tut sie nicht. Ich bin erwählt.«
»Tja, ich wusste schon immer, dass unsere kleine Fledermaus es einmal groß herausbringt.« Mit einem heiseren Lachen erhob sich auch Kennas Mutter, vergaß, dass Collin auf ihrem Schoß saß, fiel fast um und umarmte Kenna unkoordiniert und fest.
Es fühlte sich an wie ein Käfig, und erst als ihre Arme sich von ihr lösten, hatte Kenna wieder das Gefühl, atmen zu können.
»Ich habe immer gesagt, das Mädchen bringt es im Leben zu etwas.« Mit erhobenem Zeigefinger unterschrieb ihre Mutter jedes Wort.
»Hast du nicht«, erinnerte Kenna sie leise. »Das hast du nicht.«
»Jetzt hör mal zu, junge Dame, jetzt sei nicht so ein undankbares Biest, nur weil du für einen Prinzen mit dem Arsch wackeln darfst!«
Da kam also die Explosion. Der Timer der Zeitbomben waren heute hoch eingestellt gewesen.
»Du tust ja so, als hätte ich dir nie was zugetraut. Glaubst du, ich hätte einer unfähigen dummen Ziege die Verantwortung für ihre Geschwister übertragen, na? Glaubst du, ich hätte mir keine Gedanken dabei gemacht?«
Sie hätte viel zu erwidern gehabt, aber sie hatte keine Lust, wieder den gleichen Streit zu führen. Boston wohl: »Ach, zu betrunken zu sein, um sich um deine Kinder zu kümmern, ist auf einmal ›wem Verantwortung geben‹? Für’n Arsch, Mom, für’n Arsch.«
»Sterling, kannst du Collin und Auburn ins Bett bringen?«, fragte Kenna, während der Streit wuchs.
Sterling schnaubte. »Glaub mir, man hört auch ein Zimmer weiter noch alles, was hier gesagt wird.«
Ein lautes Klirren ließ sie alle zusammenzucken, und der hässliche Blumenpott mit der einen Pflanze, die Kenna mühsam am Leben erhalten hatte, lag zertrümmert auf dem Boden.
»Hört ihr jetzt mal mit dem Gekeife auf?« Jared Drew klopfte sich Erde von der Hose. »Ihr verhaltet euch wie Kinder. Allesamt. Seid ihr zu sehr damit beschäftigt, aufeinander rumzuhacken, um die Chance zu sehen, die sich uns jetzt auftut? Kenna ist eine Erwählte, das heißt –«
Die Wut, die Kenna durchzuckte, war hell und heiß, und für einen schrecklichen Moment hätte sie am liebsten geschrien. So viel zu seinen fürsorglichen Anwandlungen. »Schnauze halten«, fuhr sie ihren Vater an. »Wenn du reden willst, dann draußen. Keiner in diesem Zimmer muss sich anhören, wie scheißegal dir unsere Familie ist, wenn es hart auf hart kommt.«
Hätte sie geschrien oder ihm ins Gesicht geschlagen, er hätte nicht überraschter ausgesehen.
Kenna nutzte die Gunst des Augenblicks, um ihn am Ärmel zu packen und aus der Wohnung zu zerren, die Treppe hinunter, vor die Haustür, damit er seine aufrührerischen Reden nicht vor den Kleinen halten musste.
Aber trotz ihrer Wut blieben sie beide Stunden in der kühlen Nachtluft draußen stehen. Zuerst stritten sie, dann diskutierten sie. Über Erwählte, zu denen Kenna mehr Informationen brauchte. Über Strategien. Über mögliche Formen der Kommunikation in den nächsten Tagen und im Palast.
Es ging nicht um sie. Natürlich nicht. Nicht um ihre Gefühle oder ihre Ängste, und auch nicht darum, was sie mit dem Geld, das sie für ihre Teilnahme erhalten würde, anstellen sollte. Aber sie hatte das auch nicht erwartet, und deshalb war sie nicht enttäuscht.
Eigentlich eher im Gegenteil, auch wenn das fast schon peinlich war. Denn mit dem Rebellen Jared Drew konnte sie reden und diskutieren. Sie durfte sich nur nicht daran erinnern, wie er sie auf seinen Knien reiten gelassen, oder wie er ihr eröffnet hatte, dass sie nun Alleinverdienerin war, oder wie sie er sie letztendlich vollkommen betrogen angesehen hatte, als sie ihm mit der Polizei gedroht hatte, sollte er es wagen, eines der Kleinen je wieder in seine Machenschaften zu ziehen zu versuchen.
Wenn sie all das ignorierte, konnte sie mit ihm reden. Und sie konnte es ignorieren. Musste es. Denn mit einer Sache hatte er recht: Sie war nicht nur Kenna Drew, Näherin, Kellnerin und Verantwortliche für ihre Familie, sie war auch eine Rebellin.
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