Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Nicht nur eine Herzensangelegenheit

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
OC (Own Character)
11.12.2021
21.02.2023
10
46.073
4
Alle Kapitel
2 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
 
22.01.2022 4.701
 

Guten Tag,
und herzlich willkommen bei meiner Geschichte. Worum geht es hier?

Im Grunde handelt es sich um einige Szenen, die mir zu den Charakteren aus cleocatras hervorragend gestalteter Geschichte „Herzensangelegenheit“ eingefallen sind. In dieser Mitmach-Fanfiktion bin ich selbst als Gestalterin zweier Charaktere aktiv und wie das so oft im Schriftstellerischen ist, haben sie ein reges Eigenleben entwickelt. Daher kann ich auch nicht von vornherein sagen, in welche Richtung sich diese Geschichte entwickeln wird – im großen und ganzen wird sie der Hauptgeschichte folgen und dort, wo es sich anbietet, Kapitel ergänzen, Hintergründe näher beleuchten, Charaktere vielleicht in anderen Situationen zeigen.

Theoretisch muss man die Hauptgeschichte nicht gelesen haben, gerade die ersten Kapitel sollen auch für sich allein verständlich sein. Aber ich kann sie natürlich trotzdem nur allen empfehlen, sich auch cleocatras Projekt einmal anzusehen, das neben der Geschichte auch eine sehr liebevoll gestaltete Webseite umfasst, die hier zu finden ist:
H E R Z E N S A N G E L E G E N H E I T

Da sich cleocatra netterweise bereiterklärt hat, die Kapitel, die ich hier veröffentlichen werde, durchzugehen, sollte die Kohärenz mit ihrer Geschichte auch gegeben sein. Viel Spaß mit dem ersten Kapitel über Samantha. Da sie in der Hauptgeschichte relativ spät eingeführt wird, möchte ich die Gelegenheit nutzen und auch ihren Alltag hiermit etwas genauer beleuchten.


~ • ~

L E H R E




02. März 2151, Greater Phönix, Zuni        


         Samantha White          
Kaste drei


»… und es ist wichtig, dass ihr das im Kopf behaltet: Eine Reihe in einer Kopie dieses Datensatzes zu verändern, wird immer mehr Speicherplatz benötigen als eine Abänderung einer Spalte. Warum ist das so?«
Vor Samantha saß eine bunte Ansammlung an Dreier-Studierenden in variablen Stadien der Aufmerksamkeit. Einige hingen gelangweilt auf ihren Stühlen, einer ganz hinten schien sogar zu schlafen, andere sahen konzentriert auf den großen Bildschirm vorne an der Wand oder die Laptops, von denen Samantha nie so genau wusste, ob dort gerade Erklärungen mitgeschrieben oder Videospiele gespielt wurden. Nun, das war nicht ihre Sache, aber gedanklich machte sie sich eine Notiz, zu sehen, ob sich der Schlafende – Jeremiah hieß er – sich auf ein Stipendium bei ihrer Stiftung beworben hatte.
Wie meistens erhoben sich zuerst keine Hände, aber als Samantha ein paar Momente länger wartete, meldeten sich doch zwei, drei Studierende, darunter eine, die seit Beginn des Kurses noch nichts gesagt hatte: »Henrica?«
Das sonst eher schüchterne Mädchen sagte in ihrer leisen Stimme: »Weil die Abänderung einer Spalte nur einen neuen Vektor erfordert, aber die einer Reihe viele … nein, ich glaube, das stimmt so nicht.«
»Doch, das ist schon ganz richtig« , ermutigte Samantha sie. »Wer kann helfen? Wie viele neue Vektoren braucht man bei der Änderung einer Reihe für einen Datensatz mit den Maßen m x n ?«
»n neue Vektoren, Frau Dozentin.«  Serafina hatte Computerspiele auf ihren Laptop gespielt, das sah Samantha aus dem Augenwinkel, aber das schien ihre Aufmerksamkeit im Kurs nicht im Mindesten zu beeinträchtigen.
Samantha nickte erneut. »Genau. So, als Hausaufgabe möchte ich, dass Sie in diesem Datensatz die Inhalte der Reihe zwei modifizieren. Welche Modifikation es sein soll, das können Sie sich selbst überlegen; es stehen Ihnen alle Operatoren zur Verwendung frei, die Sie bisher in diesem Kurs gelernt haben. Aber am Ende müssen Sie in der Lage sein, die Modifikation so zu speichern, dass Sie nur einen neuen Vektor benötigen. Verstanden?«
Nicken unter den Anwesenden.
Es war ein lächerlich einfach zu lösendes Problem, der Datensatz musste lediglich transponiert werden. Aber das Seminar war ja auch für Erstsemester. Jeremiah, stellte sich in einem kurzen Gespräch heraus, zu dem sie ihn nach Ende der Seminarstunde noch aufforderte, hatte sich bisher nicht auf einen Platz in der Stiftung beworben, und schien ehrlich überrascht, als sie ihn dazu ermutigte.
Sie machte sich auf den Heimweg. In der Bahn traf sie auf Tessa, die auch am Lehrstuhl von Professorin Ricarda Sanchez arbeitete, als Tutorin neben ihres Studiums. Die beiden unterhielten sich etwas über Tessas letzte Hausarbeit, die die Studentin vor ein paar Stunden mit der Bestnote zurückbekommen hatte. Mit glänzenden Augen erklärte Tessa Samantha den Inhalt der Arbeit, und im Nu waren sie beide in ein Fachgespräch vertieft, das die übrigen Mitreisenden vermutlich heillos anödete. Gerade, als es spannend wurde, waren sie allerdings schon an Tessas Haltestelle angekommen – sie lebte, wie viele Studierende auch, in Nähe des Stadtzentrums, während Samantha noch eine Dreiviertelstunde fahren durfte, bis sie in ihrem Vorort ankam. Die Zeit nutzte sie allerdings produktiv – eine Musterlösung zu der von ihr gestellten Hausaufgabe für die Erstsemester schreiben, und sich dann in einen Artikel über die aktuellen Entwicklungen in der Speicherstruktur von Algorithmen hineinzulesen.
Es war schon Nachmittag, als Samantha die Haustür aufschloss und ein halblautes ›Hallo‹ in den Flur rief. Es antwortete ihr nur das Brummen des Staubsaugers. Sie zuckte mit den Achseln, holte sich ein Glas Orangensaft und einen laktosefreien Schokoriegel aus der Küche und folgte dann dem Geräusch des Staubsaugers bis ins Wohnzimmer.
Ihr Vater stellte den Sauger aus, als er sie im Türrahmen sah. »Ach, du bist schon zurück. Wie war die Universität heute, Liebes?«
»Ganz gut. Studierenden im ersten Semester Programmieren beizubringen, ist halt immer ein wenig … nun ja, man weiß nie, was daraus wird.«
»Aber das ist ja auch das Schöne daran, oder? Man gibt den jungen Leuten Werkzeuge an die Hand, die sie für ihre gesamte Zukunft benutzen können, und sieht, wie sie sich entwickeln.«
»Absolut.«  Die Liebe zum Unterrichten war eine der vielen Gemeinsamkeiten, die sie in dieser Familie hatten.
Und wie immer lag ihr die Frage auf der Zunge, ob ihr Vater nicht endlich wieder in seinen Beruf zurückkehren wollte. Früher war er Lehrer gewesen, hatte die Arbeit aber aufgegeben, als seine Frau erfolgreich geworden war, um sich um Samantha zu kümmern und ihr ein warmes Nest zu geben. Inzwischen war sie erwachsen, den halben Tag nicht mehr im elterlichen Heim, er hätte genug Zeit gehabt, wieder zu lehren. Aber.
Den ersten Streit über dieses Thema hatte sie mit ihrem Vater vor einigen Jahren geführt, kurz nach ihrer Immatrikulation. Sie war jünger gewesen, selbstverständlich, war gerade aus der Schule gekommen, und hatte sich, wie all ihre Altersgenossen, schrecklich erwachsen gefühlt. Und selbstverständlich war es richtig gewesen, dass sie kein kleines Kind mehr war. Sie saß nicht mehr neben ihrem Vater am Küchentisch und ließ sich von ihm Spanisch beibringen, sondern beherrschte die Sprache selbst. Sie musste nicht mehr von ihm hochgehoben werden, um die Wasserkaraffen vom oberen Regalbrett zu heben. Sie suchte sich die Antworten auf alltägliche Fragen mit einigen Klicks selbst heraus und ließ sich nicht mehr die Welt von ihm erklären.
Sie hatte ihre Argumente aufgeschrieben, strukturiert, mit Praxisbeispielen und ethischen Grundwerten verknüpft. Aber er hatte sich nicht davon beeindrucken lassen. Hatte ihr dasselbe Argument vorgehalten, immer und immer wieder, und sie, mit dem vollen Bewusstsein, längst erwachsen zu sein, war an die Decke gegangen, weil er sich weigerte, damit aufzuhören, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, um die Spülmaschine abends einzuschalten und morgens aufzuräumen, die Fenster zu wischen, das Abendessen zu kochen und die Wäsche aufzuhängen. Tag für Tag.
Es war ihr vorgekommen – kam ihr immer noch vor –, als klammere er sich an ihr als jungem Mädchen fest, an einem schutzbedürftigen Kind, das ein warmes Nest braucht, und nicht an einer Frau, die in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern.
Deshalb war seine nächste Frage auch wenig überraschend für sie: »Soll ich dich morgen zur Uni fahren? Bei den Vorlesungen um zwölf fährt die Bahn doch immer so unpraktisch.«
Es war nicht so, als wäre es Samantha peinlich gewesen, dass sie mit zweiundzwanzig Jahren noch immer keinen Führerschein hatte und daher öfters von ihrem Vater an die Universität gebracht wurde, eine Universität, zudem, an der sie nun keine Studentin mehr war, sondern seit neuestem Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin. Aber um ehrlich zu sein, sah sie auch keinen Grund, sich chauffieren zu lassen, wenn es nur darum ging, ein paar Minuten an einer Haltestelle warten zu müssen oder eben nicht. »Die Bahn fährt prima. Gut, es sind für die Vorlesung um zwölf etwas längere Wartezeiten, aber … das ist doch kein Problem. Ich habe ja genug Lesestoff. Meine Zeit nutze ich schon sinnvoll.«  Ihr Vater hielt immer dagegen, dass sie das in der Uni oder Zuhause besser könne. Aber sie wussten beide, dass das nicht der wahre Grund war.
Aber heute lenkte er schnell ein: »Wenn du meinst, meine Kleine.«  
Sie ging zu ihm und umarmte ihn. »Ja, Papa.«
Es war ihr noch nie etwas passiert. Auf einer Bahnstrecke wie der, die sie fast täglich zur Universität nahm, passierte nichts. Es ging durch den beschaulichen Vorort, eine Einkaufsmeile, die studentischen Stadtteile direkt zum Universitätsviertel, eine sichere Angelegenheit. Aber das beruhigte die Sorgen ihres Vaters nicht.
Sie war sich todsicher, dass es diese Sorgen waren – und nicht etwa der vorgeschobene Grund, sie würde ihre Zeit mit den zehn Minuten zwischen zwei Bahnen verschwenden –, die dafür sorgten, dass Arzttermine und größere Einkaufstrips so geplant waren, dass er sie zufälligerweise mit in die Stadt nehmen konnten, oder dass er die Läden und Praxen im Stadtzentrum frequentierte, statt die wesentlich näheren lokalen Einrichtungen.
Er bestätigte das, als er sie los ließ und leise sagte: »Es gab wieder Überfälle im Paloma.«
»Die gibt es doch ständig« , sagte Samantha. »Paloma ist eine riesige Provinz, aber außer Solarzellen haben sie dort nicht viel. Na ja, abgesehen von ländlicher Unterschicht, die sich nicht auf den strukturellen Wandel einlassen will. Du weißt, dass es da Probleme mit Kriminellen gibt. Wie gut, dass Zuni technologisch so viel fortgeschrittener ist und niemand auf die Idee käme, mit irgendwelchen hirnlosen Gewalttaten nach Aufmerksamkeit zu schreien. Kein Grund zur Sorge.«  Es tat ihrem Vater nicht gut, so viele Nachrichten zu schauen, auch darüber hatten sie gesprochen. Aber er machte es trotzdem.
»Wir sind deine Eltern. Wir werden uns immer Sorgen um dich machen, das weißt du, kleines Küken« , sagte er, und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ja, das weiß ich.«  Leider. »Und du weißt auch, dass ich froh darüber bin, dass ihr euch um mich kümmert. Aber die Bahn nehme ich trotzdem.«
Ihr wäre es auch nicht in den Sinn gekommen, sich über seine Fürsorglichkeit zu beschweren. Sie hatte ja alles: Eine liebende Familie, fünf entzückende Vögel, liebenswerte, wenn auch manchmal etwas abgelenkte Studierende, eine familieneigene Stiftung, um eben jenen die Studiengebühren und zumindest einen Teil der in den letzten Jahren exorbitant gestiegenen Mieten zu finanzieren. Eine Stiftung, für die ihr in diesem Moment einfiel, dass sie die neuen Bewerbungen für das nächste Semester noch durchgehen musste – sie hatte ihren Eltern versprochen, es zu tun, um sich mit den organisatorischen Tätigkeiten der Stiftung etwas mehr auseinanderzusetzen.
Sie entschied, dass es damit nun auch wieder nicht so sehr eilen sollte. In ihrem Zimmer angekommen, öffnete sie erst einmal die Datei, an der sie am Vorabend noch gearbeitet hatte.
Sie enthielt einen Teil des Pegasus-Quellcodes, den Samantha für ihre Dissertation verwenden wollte. Nicht nur, weil Pegasus eine von ihrer Mutter entwickelte Programmiersprache war, sondern weil sie dadurch, dass sie das effektive Speichern von Daten in zentralen Systemen erlaubte, hervorragend für das Thema ihrer Dissertation geeignet war.
Auch der Palast verwendete Pegasus, und die ständigen Arbeiten, die die Programme von ihr verlangten, hatten Samanthas Mutter zu einer nicht nur viel gefragten, sondern auch viel beschäftigten Frau gemacht. Sie war oft Ewigkeiten weg, um Updates rechtzeitig auf den Weg zu bringen.
Samanthas Fokus war ein anderer: Sie beschäftigte sich für ihre Forschung damit, wie sich Daten effizienter in das System einspeisen ließen. Um beispielsweise einen Datensatz mit einem Bild zu erfassen – wie es bei der angehenden Selection wohl millionenfach der Fall sein würde –, brauchte ein gewöhnlicher Computer immer noch eine gewisse Zeit für jedes einzelne Bild. Das war bei kleineren Systemen oder Datensätzen nicht das Problem. Bei größeren dagegen schon, und genau hier machte sich Samantha voller Enthusiasmus ans Werk.
An diesem Tag kam ihre Mutter pünktlich nach Hause zurück – nicht, dass Samantha das merkte. Nicola White mochte an diesem Tag früh von ihrer Arbeit zurückgekommen sein, Samantha war aber immer noch in ihre Unterlagen vertieft und hörte die Stimme ihres Vaters, der zum Abendessen rief, erst beim zweiten Rufen.
Die Bewerbungen hatte sie noch nicht eingesehen. Na ja, die würden dann wohl etwas warten müssen.
Nun konzentrierte Samantha sich nämlich lieber auf die köstliche, selbstgemachte Lasagne und die Gespräche am Esstisch.
»Ich kann es wirklich kaum erwarten, dass deine Studierenden ihren Abschluss machen, Liebling« , sagte ihre Mutter. »Das Unternehmen wächst stetig weiter, und ich wäre glücklich, wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass die Bewerber auf die neuen Stellen ihr Fach verstehen. Natürlich kümmert sich die Personalabteilung um das meiste, aber das, was ich von da höre, ist erschreckend.«  Eine Nudelplatte fiel von ihrer Gabel und Samanthas Mutter verbrachte einen Moment, das impertinente Stück Nahrung missbilligend anzustarren, bevor sie es wieder an seinen Platz zurückbeförderte. »Unsere neuste Koryphäe der Inkompetenz war ein Zweier, der ohne jegliches Vorwissen bei uns angekommen ist – bezüglich seiner Erfahrungen hat er auf ein abgebrochenes Studium von vor fünf Jahren verwiesen. Nach einem Semester abgebrochen, will ich noch sagen. Trotzdem war der junge Mann vollkommen perplex, als Connor ihm mitgeteilt hat, dass er nicht ganz unserem Erwartungsprofil entspricht.«
Sie schob sich die Gabel in den Mund und kaute, während von den restlichen Mitgliedern der Familie Beileidsbekundungen kamen.
»Ich bin unglaublich froh, dass du mit deinem Leben etwas Gescheites anstellst, Schatz. Hätte ich so etwas großgezogen, würde ich mich in Grund und Boden schämen.«
Ihr Vater nickte zustimmend.
»Habt ihr denn wenigstens jemand passenden gefunden?« , erkundigte sich Samantha, obwohl sie die Antwort schon ahnte.
»Nun ja, einen jungen Mann, der hatte einen Abschluss aus Denbeigh. Denbeigh, also wirklich. Nur, weil man die Studiengänge dort hinterher geschmissen bekommt, heißt das noch lange nicht, dass ein Abschluss von da etwas wert ist. Aber lassen wir das.«  Sie schien sich gewaltsam davon abzuhalten, weiter über das Thema zu sprechen. »Wie war dein Tag, Schatz?«
»Ach, ganz in Ordnung. Ich denke, eine unserer Tutorinnen sollte bald fertig sein, sie hat ihre vorletzte Note bekommen. Tessa McCarthy. Ich schicke sie zu dir« , sagte Samantha. »Sie hat schon Interesse signalisiert, bei uns einzusteigen. Nicht, dass das eine Überraschung wäre. Man bekommt ja nicht alle Tage, die Möglichkeit, mit jemandem wie dir zusammenzuarbeiten.«
Ihre Mutter nickte geschmeichelt.
Samantha wurde ernster: »Einer der Studenten ist im Kurs mal wieder eingeschlafen.«  Sie seufzte. »Das passiert ständig. Jede Wette, dass es sich wieder um einen Sohn einer ärmeren Lehrerfamilie oder einer in ihrem letzten Projekt gescheiterten Erfinderin handelt, der wegen einer Erhöhung seiner Miete die ganze Nacht Kellnern war. Bei den Mietpreisen und Gebühren können sich unsere Studieren ihr Studium ja kaum noch leisten! Bei all ihren Mängeln, die in Denbeigh machen es richtig, wenn sie die Gebühren senken.«
»Du hast eine interessante Sicht auf die Dinge« , erwiderte ihre Mutter. »Andere würden es als Beleidigung auffassen und denken, die Studierenden würden ihre Seminare für langweilig halten, wenn sie dabei einschlafen würden.«
Samantha lachte. »Dafür müsste ich erst einmal glauben, dass irgendjemand mein Fach für langweilig halten könnte.«  Sie tauschten noch ein paar Tagesanekdoten, und Samantha merkte kaum, wie sich ihr Teller leerte.
Im Handumdrehen schien es Zeit zum Abräumen geworden zu sein. Sie stapelte die Teller und nahm das Besteck an, während ihr Vater die übrige Lasagne aus der Form in eine Box tat, um sie für den nächsten Tag frisch zu halten, und ihre Mutter sich um die Gläser kümmerte.
Samantha war schon halb aus dem Raum, als ihr Vater sie aufhielt. »Samantha? Liebes? Wartest du noch kurz?«
Plötzlich bekam Samantha ein flaues Gefühl im Magen. Ihr Vater klang schon wieder so, als fühle er sich schuldig. Vielleicht – hoffentlich – wollte er nur die Diskussion vom Mittag wieder anfangen, über ihren Weg zur Universität. Das konnte sie immer ziemlich gut abwiegeln – zur Not würde sie einfach wieder drohen, in eine Wohnung im Stadtkern zu ziehen. Dann endete die Diskussion nämlich immer sehr zuverlässig – ihren Eltern waren entsetzt bei dem Gedanken, dass ihr kleines Küken ans Ausziehen dachte. Und damit war das Thema Wohnung auch erst einmal erledigt.
Heute ging es aber ausnahmsweise nicht um ihre Bahnstrecke. »Die Post ist gekommen« , sagte ihr Vater. »Der Brief von der Selection, die sie gestern im Bericht angekündigt haben, ist da.«  Mit einer Miene, als sei jemand gestorben, legte er das dicke, königliche Kuvert auf den Tisch und setzte sich wieder.
Samantha schaute den Bericht schon seit einer Weile nicht mehr. Sie hatte meistens besseres zu tun, als einer Zwei zuzuhören, die meinte, die Welt erklären zu müssen. Aber selbstverständlich hatte sie in der Uni mitgekriegt, dass ein Casting verkündet worden war – vor allem unter der weiblichen, sich im entsprechenden Alter befindenden Studierenden hatte es eifrige Spekulationen gegeben. »Ihr meint, die Papiere, mit denen man sich bewerben kann.«
»Ja. Du bist ja zweiundzwanzig« , stellte der Vater fest. »Im Altersfenster.«
»Ja, und?«
»Dann solltest du dich auch bewerben« , sagte die Mutter. »So eine Chance kann man sich nicht entgehen lassen.«
»Mama, warum sollte ich?«  Sie lachte bei dem Gedanken. »Es gibt genügend Leute, die nichts besseres zu tun haben, als den Prinzen heiraten zu wollen. Ich werde hier gebraucht, ich habe meine Forschungen, meine Studierenden …«
»Es geht doch bei einer Selection nicht nur darum, den Prinzen zu heiraten« , unterbrach die Mutter Samantha.
»Ach, nein? Der Brief klingt aber ganz danach« , stellte die junge Wissenschaftlerin fest, nachdem sie ihn überflogen hatte.
»Du kannst die Königsfamilie treffen. Kontakte knüpfen. Beziehungen verbessern« , hielt ihre Mutter dagegen.
»Ich denke, unsere Beziehungen zu denen sind gut.«
»Zum Königshaus sind unsere Beziehungen gut. Nicht zu der Königsfamilie. Unsere Kontakte sind Politiker, nicht der König, nicht die Königin, kein Prinz und keine Prinzessin – dabei könnte sich genau das in Zukunft als wertvoll für uns erweisen. Und du warst noch nie in Angeles, es wird dir nicht schaden, etwas mehr von diesem wunderschönen Land zu sehen, und ein paar neue Leute kennenzulernen.«
»Ich habe sehr viel von Illeá gesehen« , protestierte Samantha. »Ich kenne Clermont und Oma und Opa in Sonage besuchen wir alle paar Monate und hier in Zuni waren wir schon oft am Grand Canyon und …«
»Und?«  Die Mutter hob die Augenbraue, in einer dieser winzigen, aber eindeutigen Gesten einer Frau, deren Argument die Diskussion gewonnen hatte.
»Und ich mag es hier. Ihr doch auch.«
»Natürlich tun wir das« , warf ihre Mutter ein. »Aber das heißt nicht, dass wir uns davor verschließen sollten, auch mit anderen Menschen und Regionen in einen Austausch zu treten. Vor allem, wenn man noch so jung ist wie du.
Und ich glaube, auch für die Königskinder ist die Selection wichtig. Überlege mal, sie haben fast ihr ganzes Leben im Palast verbracht. Für die Erweiterung ihres Horizontes, für ihre Bildung muss das schwierig gewesen sein.«
Das war allerdings ein Punkt. Schon länger war Samantha die Frage durch den Kopf gegangen, ob, und wenn ja, wie, Maude und Grayson eigentlich studierten oder studiert haben könnten, wenn es doch allgemein bekannt war, dass sie den Palast nur zu offiziellen Angelegenheiten verließen – oder eben, wann auch immer Maude danach war, ihren Ruf noch weiter zu ruinieren. Selbst der Bericht wurde im Palast gedreht, wenn die königliche Familie daran teilnahm.
Natürlich würde es im Palast Privatlehrkräfte geben, aber dass die eine ganze Universität ersetzen konnten, das konnte Samantha nicht glauben. Vielleicht war das ein Grund, warum die aktuelle Generation der Königsfamilie … nun ja, nicht gerade durch akademisch herausragende Leistungen brillierte. Obwohl ihre Mutter, die Königin, ja eine Drei gewesen war. »Also denkt ihr wirklich, ich sollte die Bewerbung ausfüllen?«
»Natürlich. Was danach kommt, das werden wir dann sehen. Vielleicht gar nichts. Vielleicht kannst du der jungen Generation der Königsfamilie etwas beibringen, ihnen ein bisschen was von unserer Arbeit erzählen« , überlegte ihre Mutter laut. »Wer weiß, vielleicht verliebst du dich sogar in den Prinzen. Oder auch nicht. Das werden wir früh genug erfahren. Aber in jedem Fall …«  Sie suchte nach der richtigen Formulierung. »Wird dir nicht entgangen sein, dass die Politik an einigen – an vielen Stellen Unterstützung aus der Wissenschaft dringend brauchen kann.«
Da gab es in der Tat vieles, das anzugehen wäre. »Aber warum eigentlich?« , fragte Samantha. »Die Königin ist schließlich selbst eine Drei – oder ist es eben gewesen. Sie muss doch diese Probleme längst bemerkt haben.«
»Ja, aber sie ist auch eine Ästhetin. Die Selection dient in erster Linie der Unterhaltung des Volkes, und das heißt, weil sie das Volk lenken, der Medien – Medien, die zwar vom Königshaus beaufsichtigt, aber von Zweiern produziert werden. Und wir wissen doch alle, dass es nicht deren Aufgabe ist, die Gesellschaft weiterzubringen und zu bilden, sondern die Massen zu unterhalten. Und das können sie gut – so gut, dass die billigen Seifenopern, die sie als ›Nachrichten‹ verkaufen, unserem Staat gefährlich werden könnten, sollte deren Kontrolle der Königsfamilie entgleiten.«
»Aber warum sind die Leute überhaupt so ungebildet, dass sie jeden Blödsinn glauben, der in den Zeitschriften steht und im Fernsehen kommt?«  Noch während sie die Frage aussprach, kam ihr die Antwort in den Sinn: Weil, natürlich, jeder in Illeá einen Fernseher besaß, während ein Studium selbst für manche Dreien inzwischen besorgniserregend teuer war.
Ihre Mutter lächelte. »Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass die Angehörigen der Königsfamilie – und das Volk, das sie repräsentieren – engere Verbindungen zu den akademischen Kreisen knüpfen und ihre Abhängigkeit von der Kaste zwei verringern. Du siehst, du solltest dich dringend bewerben.«
Der Vater nickte bestätigend und ergänzte: »Und wenn du angekommen bist, dann verbünde dich mit den anderen Dreiern. Wenn eine von euch Königin wird, könnt ihr all das ändern.«
Das war in der Tat ein guter Grund. Samantha malte sich aus, was sie alles erreichen könnte: Mehr Geld für die Forschung, eine Abschaffung der Studiengebühren, Stipendien für alle Dreien, die an die Universität gingen, bessere Bildung für ganz Illeá, kompetentere Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Grundlagen statt wie bisher durch irgendwelche Zweier-Politiker … vielleicht würde sie Königin werden, vielleicht nicht, aber solange sie umsetzen konnte, was umgesetzt werden sollte, musste das doch gar nicht wichtig sein.
Und trotzdem gab es da ein paar Probleme. »Aber wer soll dann, wenn ich nach Angeles muss, die ganzen Sachen machen? Ich muss noch einige Arbeiten bewerten und die Bewerbungen und die Vorlesung morgen und das Seminar nächste Woche …«
»Nächste Woche wirst du in jedem Fall noch hier sein, Schätzchen. Selbst wenn du erwählt würdest, würden wir das nicht vor dem Sechsundzwanzigsten erfahren« , erinnerte ihre Mutter sie. »Die werden in der Uni schon jemanden finden, der deine Kurse übernimmt. Ich kann morgen gleich anrufen und sagen, sie sollen jemanden in petto haben, falls du in den Palast ziehst.«
Samantha nickte. Sie hatte kein schlechtes Gewissen, weil ihre Mutter sich so für sie einsetzen würde – aktuell schien es, als entwickelte sie ihre Programme ohnehin schneller, als die Systeme in abgelegenen Provinzen, wie Baffin oder Whites, überhaupt nachkommen konnten. Auch das, dachte Samantha, war ein Punkt, wo etwas mehr Kompetenz und Sachkenntnis der Regierung eine große Hilfe sein würden.
»Um die Bewerbungen kann ich mich kümmern« , bot der Vater an, und erinnerte sie auch daran, dass, obwohl die Stiftung natürlich auf ihren Familiennamen lief – es wäre merkwürdig gewesen, eine Studienstiftung auf den Namen eines Hausmannes laufen zu lassen – er derjenige war, dessen Idee sie ursprünglich gewesen war. Menschen zu helfen, war ihm immer schon ein Anliegen gewesen. Anders als sie zögerte er auch nicht so lange bei der Frage, wer ein Stipendium bekommen sollte. Es war ihr Versuch, benachteiligten Menschen zu helfen, also bekamen es benachteiligte Menschen, ganz egal, wie viele reiche Studierende mit Bestnoten und hervorragenden Empfehlungen sich aus Prestige-Gründen bewarben.
Sie verstand sein Prinzip. Es ergab keinen Sinn, Stipendien an diejenigen zu vergeben, die ohnehin genug Geld hatten.
Manchmal fragte sie sich, ob er deshalb seinen Posten als Lehrer aufgegeben hatte – um an einer Stelle helfen zu können, an die nicht jeder Dreier mit einem passablen Abschluss heran kam.
Und obwohl – oder gerade weil – er nur das Beste für alle Menschen und seine Tochter wollte, hörte Samantha später am Abend, als sie gerade ins Bett gehen wollte und in ihrem Schlafanzug oben im Flur stand, wie sich ihre Eltern unten an der Treppe stritten:
»Du kannst nicht von unserer Tochter verlangen, dass sie sich eine solche Gelegenheit entgehen lässt! Sie kann Königin werden, sie kann alles erreichen, was sie sich je für Illeá gewünscht hat!« , protestierte ihre Mutter gedämpft.
»Wenn sie es will. Aber will sie das überhaupt? Es kann sein, dass sie all das aufgeben muss, was ihr so am Herzen liegt. Ihre Studierenden, ihre Forschung …«
»Das werden wir dann sehen. Es wird ohnehin höchste Zeit, dass die Leute lernen, dass die Königin in erster Linie eine Autorität ist, und kein beliebiges Model, dessen Kleid die höchste Aufmerksamkeit der Zeitungen gewidmet werden sollte.«  Die Mutter seufzte leise. »Aber das ist nicht der wahre Grund, warum du es nicht willst, nicht wahr, James?«
»Nein. Der wahre Grund ist, dass ihr mir zu wichtig seid, um euch für dieses Land zu opfern« , sagte James White, Ehemann einer der wichtigsten Informatikerinnen Zunis, und Vater eines aufstrebenden Sterns.
»›Sich zu opfern‹? Also wirklich.«  Samantha hörte, wie ihre Mutter schnaubte. »Ja, wir tun viel für dieses Land. Ich weiß auch, dass ich so oft verspreche, früher nach Hause zu kommen, und ihr dann doch alleine zu Abend essen müsst. Dass Samantha auf viel von dem Unsinn, den andere Jugendliche und Studentinnen machen, verzichten musste, weil sich akademische Exzellenz nun einmal nicht mit Partys und anderen Flausen erreichen lässt. Uns ist niemals etwas in den Schoß gefallen. Aber haben wir nicht gerade deswegen immer alles erreicht, was wir uns erträumt haben, weil wir es uns erarbeitet haben? Und ist es nicht gerade darum nur fair, dass wir unser Tochter dasselbe zubilligen? Dass sie die Königin wird? Sie ist klug, sie arbeitet hart, sie wird mehr erreicht haben als jede andere Kandidatin. Ich kenne keinen Menschen, der es so sehr verdient hätte wie sie.«
Samantha wusste natürlich, dass die allermeisten Mütter ihre Kinder für die besten Menschen der Welt hielten, aber trotzdem war sie von den Worten gerührt.
Ihr Vater atmete tief durch. »Verdient hätte sie es natürlich, das sicherlich, aber sie würde auch all das hier aufgeben. Und dann sind da die … Sicherheitsrisiken.«
Nicolas Stimme wurde augenblicklich flach, emotionslos. »Du sprichst von den Rebellen.«
»Natürlich tue ich das. Ihr habt wegen deiner Arbeit quasi schon ein Fadenkreuz auf dem Rücken, ich mache mir jeden Mal Sorgen um ihr Leben, wenn sie in diese verdammte Bahn steigt, sage ihr jeden Morgen, dass ich sie liebe, weil ich nicht weiß, ob ich sie abends wiedersehe. Du weißt, was mit dem Bruder und Vorgänger des jetzigen Königs passiert ist. Und was, wenn es in der nächsten Generation die Königin trifft?«
»James, das ist fünfundzwanzig Jahre her, Samantha war noch nicht einmal geboren. Du siehst, ich erinnere mich genau. Ich weiß noch genau, wie schrecklich es damals war. Aber früher war eine vollkommen andere Zeit, die Rebellenstrukturen, die damals das ganze Land durchzogen haben, sind samt und sonders vernichtet worden. Auch« , bemerkte Nicola nicht ohne einen gewissen Stolz in ihrer Stimme, »wegen meiner Arbeit, wie du dich erinnern wirst.«  Dann fand sie zu ihrer üblichen rationalen Haltung zurück: »Außerdem ist der Palast das wahrscheinlich am besten bewachte Gebäude Illeás. Jede Erwählte hat eine Leibwache bei sich. Wenn überhaupt eine Gefahr droht, dann ist sie in Angeles wahrscheinlich noch sicherer als hier.«
»Ich … ich schätze, du hast Recht, Schatz. Entschuldige, ich habe mich da wohl etwas hinreißen lassen. Ich mache mir nur Sorgen.«
Nicolas Stimme wurde wärmer. »Es ist nie leicht, das eigene Kind loszulassen. Samantha ist noch so jung, aber sie ist klug und sie wird eine wundervolle Königin sein.«
Ihre Eltern hatten nie etwas vor ihr geheim gehalten, und waren daher auch nicht überrascht, als Samantha die Treppe hinunterkam und sie beide umarmte. »Papa, ich weiß, du machst dir immer Sorgen. Aber das musst du nicht. Falls sie mich als Königin haben wollen, werde ich bereit sein, was auch immer auf mich zukommt.«  Ihr Vater streichelte ihr über den Rücken und Samantha lächelte. »Schließlich hatte ich die besten Lehrenden, die man sich nur wünschen kann.«
Review schreiben
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast