Als der Traum noch lebte
von WaterSpirit
Kurzbeschreibung
Sobald die alte Mathilda Briscom die Augen schließt, befindet sie sich wieder an Bord der Titanic und in den Armen ihres Offiziers: Im Jahr 1912 begleitet die reiche Mathilda ihre ebenso vermögende Freundin nach Amerika. Zwei wohlhabende Frauen, denen es rein äußerlich gesehen an nichts fehlt. An Bord der Titanic wollen die Freundinnen nur ihre Freiheit, den Luxus und gute Gesellschaft genießen. Niemals hätte Mathilda sich erträumen lassen, auf dem Schiff auch der Liebe ihres Lebens zu begegnen. Für Mathilda könnte das Leben auf dem größten Schiff der Welt nicht schöner sein. Doch was passiert, wenn plötzlich so etwas wie das Schicksal zum Gegner wird und die Karten neu mischt? Denn niemand erahnt zu dieser Zeit die herannahende Katastrophe.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character)
Thomas Andrews
William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
14
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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12.03.2022
6.301
13. April 1912
Ein eisiger Wind traf auf das Deck der Titanic, was die Passagiere jedoch nicht davon abhielt, sich draußen an der frischen Luft aufzuhalten. Einige saßen in Decken eingewickelt auf den Liegestühlen, unterhielten sich angeregt oder blickten nachdenklich auf das weite Meer. Andere wiederum spazierten gemütlich über das Deck, während ein paar Kinder mit einem Kreisel spielten. Und wieder andere standen an der Reling und beobachteten die Wellen, die die Titanic erzeugte. Zu diesen Schaulustigen gehörte auch Mathilda. Allerdings war die junge Frau alleine unterwegs, da Edith sich bei ihrem routinemäßigen Besuch bei Dr. O'Loughlin befand. Er hatte ihr untersagt, bei diesem kalten Wind nach draußen zu gehen. Offensichtlich schien die Kälte noch immer Ediths größter Feind zu sein. Mathilda hoffte inständig, dass es in New York wärmer sein würde und es Edith schnell wieder besser ging.
Vor wenigen Minuten hatte ihr ein Page die Nachricht überbracht, dass der Arzt Edith heute Nachmittag unter Aufsicht in dem schiffseigenen Hospital behalten wollte. Den Grund hatte ihr der Page nicht genannt. Mathilda wusste nur, dass sie bis zum Abendessen auf Ediths Anwesenheit verzichten musste. Inständig hoffte Mathilda darauf, dass es um Ediths Gesundheit nicht so schlecht stand, wie sie es sich ausmalte. Allerdings würde Dr. O'Loughlin sie nicht ohne ersichtlichen Grund über mehrere Stunden unter Aufsicht bei sich behalten.
Mathilda erschauderte und schickte ein kleines Gebet in den Himmel, während sie ihre Arme auf der Reling abgelegt hatte. Ihr Blick fand den Horizont, der heute noch weiter entfernt wirkte, als gestern noch.
„Daddy, sieh nur, wie schnell sich der Kreisel dreht.“
Mathildas Blick wanderte von den rauschenden Wellen hinüber zu einem kleinen Mädchen, dessen Locken wild im Wind tanzten. Ein Lächeln huschte über Mathildas Gesicht. Sie kannte das Mädchen. Es war Manja, die da mit drei anderen Kindern den Kreisel drehen ließ.
Erst jetzt bemerkte Mathilda auch Juri Makarow, den höflichen Vater der Kleinen. Da sie sich hier auf dem Bootsdeck befanden, ahnte Mathilda, wohin der Mann und sein Kind gehörten. Neben der Brücke und den Offiziersunterkünften, war der Außenbereich des Bootsdecks in vier Promenaden unterteilt: Eine für die Erste Klasse, für die Zweite Klasse, für die Offiziere und das letzte für die Ingenieure. Da Juri kein Besatzungsmitglied und kein Passagier der Ersten Klasse war, musste er in die Zweite Klasse gehören.
Als hätte er ihre neugierigen Blicke gespürt, sah Juri nun auf und winkte Mathilda freundlich zu. „Ma'am, schön Sie wieder zu sehen.“
Er hatte sich erhoben und schritt – ungeachtet von Manja – auf Mathilda zu. Bei ihrer ersten Begegnung war es Mathilda noch nicht aufgefallen, aber als er jetzt auf sie zukam, erkannte sie, dass der Mann leicht hinkte.
„Mr. Makarow, wie geht es Ihnen und Manja?“, fragte Mathilda nach, ohne ihn auf sein Leiden anzusprechen.
„Oh, wir sind auf dem größten Schiff der Welt unterwegs, wem ginge es da schlecht?“, lachte der Mann mit den markanten Gesichtszügen. „Für Manja ist das hier ein großer schwimmender Spielplatz, voller Möglichkeiten und neuer Bekanntschaften. Es tut ihr gut, mal rauszukommen.“
Im letzten Satz schwang eine nachdenkliche Note mit und Mathilda bemerkte, dass der harte Gesichtszug des Mannes weicher wurde. Selbst wenn es Mathilda nicht unbedingt zustand, nachzufragen, so überwog doch die Neugierde. Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte: „Wie meinen Sie das? Gibt es Probleme?“
„Nun ja, wissen Sie“, Juri nahm einen tiefen Atemzug, „Manjas Mutter ist vor einiger Zeit an Tuberkulose erkrankt. Es geht ihr nicht gut und sie befindet sich momentan in einer guten Klinik in Frankreich. Für Manja ist das allerdings nicht gerade schön, da sie aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr nicht in die Nähe ihrer Mutter darf.“
Mathilda legte betroffen eine Hand auf ihre Brust. „Es tut mir so leid. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Manja das Herz zerreißen muss, ihre Mutter so leiden zu sehen.“ Mathilda bedachte das Mädchen mit einem traurigen Blick. Unbekümmert spielte Manja weiterhin mit den anderen Kindern. Ihr Lachen erhellte dabei die Gesichter einiger umstehender Erwachsener.
„Allerdings. Manja und ihre Mutter sind ein Herz und eine Seele.“ Juri blickte über seine Schulter und lächelte leicht. „Sie ist ein Sonnenschein. Ich möchte ungern, dass sie ihr Lachen verliert.“
Mathilda nickte nachdenklich. Sein Lachen zu verlieren; an dem Verlust eines geliebten Menschen zu zerbrechen – für Mathilda unvorstellbar. Trotz dem Tod ihrer eigenen Mutter und dem Zustand ihres Vaters hatte Mathilda nie ihr Lachen verloren, selbst wenn sie oft nahe dran gewesen war, daran zu zerbrechen. Edith hatte sie in diesen dunklen Stunden stets aufgefangen, wofür Mathilda ihr unendlich dankbar war.
„Nun sind wir also unterwegs nach New York. Dort lebt meine Schwester mit ihrer Familie. Sie hat uns eingeladen, damit wir aus Frankreich mal wegkommen und Manja andere Dinge sieht.“ Damit hatte Juri Mathildas nächste Frage direkt beantwortet.
Nun begann Mathilda wieder zu lächeln. Juri wirkte so positiv auf sie. Dass er über den Nordatlantik reiste, um Manja auf andere Gedanken zu bringen, rechnete Mathilda ihm hoch an. „Das klingt schön. Und ich bin mir sicher, dass es Manja auch gut tun wird. Immerhin ist sie...“
„Millie!“
So laut ihr Lachen klang – ihr Ruf nach Mathilda war noch um einiges lauter. Allerdings wunderte sich Mathilda ohnehin, dass Manja sie nicht schon eher entdeckt hatte. Das kleine Mädchen mit den wilden Locken wirbelte übertrieben mit dem Arm, als wollte sie jeden Moment abheben. Mathilda lachte und hob die Hand zum Gruß.
In der nächsten Sekunde ließ Manja ihre Freunde auch schon zurück und hüpfte auf Mathilda zu. Neben ihrem Vater kam die Siebenjährige dann zum Stehen und funkelte Mathilda aus braunen, schelmischen Augen an.
„Gefällt dir die Reise denn bisher, junge Dame?“, wollte Mathilda amüsiert wissen. Mit flinken Bewegungen zog sie den Schal enger um ihren Hals, als der Wind zunahm. Trotz der Sonne am Himmel war es eisig kalt hier draußen.
„Ja, es ist so toll hier!“, jubelte Manja und gluckste erfreut. „Unsere Kabine sieht aus wie ein Hotelzimmer. Da ist alles neu! Und meine neue Freundin Ruth hat erzählt, dass ihre Kabine riesig sei. Viel größer, als alle anderen Räume, die sie bisher gesehen hat.“
Mathilda ahnte, dass ein kleines Mädchen wie Manja leichter zu beeindrucken war und daher spielte Mathilda mit. „Oh, wirklich? Das klingt ja wirklich luxuriös.“ Die Titanic übte schon auf eine erwachsene Frau wie Mathilda eine erhebliche Faszination aus und brachte sie ständig wieder ins Staunen. Wie musste dieses Schiff dann auf ein Kind wirken?
„Oh, ja! Das ist es! Und es ist so schade, dass die Fahrt nicht länger dauert“, antwortete Manja betrübt, worin Mathilda ihr im Stillen nur beipflichten konnte. Manja schielte ein wenig um Mathilda herum und fügte hinzu: „Oh, kuckt mal. Ein Offizier.“
Sofort wanderte Mathildas Blick in die Richtung, in die Manja zeigte. Während Juri seine Tochter ermahnte, nicht mit dem Finger auf Leute zu zeigen, registrierte Mathilda schon nach wenigen Sekunden, wen sie da vor sich hatte.
„Das ist Mr. Murdoch. Er ist der Erste Offizier dieses Schiffs“, informierte Mathilda das kleine Mädchen, die nun einen erstaunten Laut von sich gab.
Mr. Murdoch unterhielt sich unter Mathildas eindringlichem Blick mit einem Paar, das sie als Daniel und Mary Marvin kennengelernt hatte.
„Darf ich mit ihm sprechen? Bitte, Daddy! Ich hab ein paar Fragen“, quengelte Manja, während sie wild auf und ab hüpfte.
„Schätzchen, das geht nicht. Offizier Murdoch hat bestimmt weitaus wichtigere Dinge zu tun, als sich deinem Fragekatalog zu stellen.“ Juri klang betrübt, was sich sofort auf Manja übertrug, denn die zog eine Schnute.
Mathilda legte einen mitleidigen Blick auf. „Vielleicht kann ich da was machen“, sagte Mathilda verheißungsvoll, wobei sie ihre Hand nach Manja ausstreckte. „Komm mal mit.“
Unter Juris misstrauischem und gleichzeitig überraschtem Blick, japste Manja vor Freude nach Luft und schnappte sich augenblicklich Mathildas Hand. Gemeinsam schritten die beiden auf den Offizier zu und bei jedem weiteren Schritt, nahm auch Mathildas Herzschlag an Tempo zu. Neben ihr vibrierte Manja vor Freude und drückte Mathildas Hand so fest es ging. Seit ihrem Spaziergang mit William Murdoch wusste Mathilda, dass sich die Offiziere öfter den Fragen der Passagieren stellen mussten. Meist erwischten die Passagiere die Männer bei einem Rundgang über das Deck. Und so wie es aussah, hatte auch Mary Marvin einige Fragen, die von William Murdoch geduldig beantwortet wurden.
Allerdings waren auch die irgendwann beantwortet und die Marvins ließen den Offizier wieder ziehen. William nickte beiden höflich zu und wandte sich zum gehen um – nur um in den nächsten Sekunden schon den nächsten Damen gegenüber zu stehen.
Überrascht hielt er in seinem Gang inne, die gerade Haltung behielt er bei. „Oh, welch angenehme Überraschung“, merkte William an und schenkte seiner gestrigen Tanzpartnerin ein Lächeln.
„Mr. Murdoch, ich hoffe, wir halten Sie nicht von Ihrer Arbeit ab?“, begann Mathilda vornehm. Noch immer brannte der Kuss vom vergangenen Abend auf ihren Lippen und beim bloßen Gedanken daran, stieg eine verräterische Röte in ihren Wangen auf.
„Sie doch nicht“, meinte er charmant, ehe sein Blick auf Manja fiel. „Und wer ist diese junge Dame?“
Da Manja offenbar sehr gut erzogen worden war, hatte das aufgeregte Mädchen mit dem Sprechen gewartet, bis die Erwachsenen sich ausgetauscht und ihr das Wort erteilt hatten. „Mein Name ist Manja Makarow. Mein Daddy und ich sind unterwegs zu meiner Tante nach New York“, stellte sie sich höflich vor. „Und du bist Offizier?“
Mathilda musste ein Schmunzeln unterdrücken, als Manja das formelle Sie einfach mal außer Acht ließ und William Murdoch direkt freundschaftlich ansprach. Der Offizier schien denselben Gedanken zu haben, denn er lachte leicht, wobei sein Blick kurz Mathilda erfasste.
„Da hast du ganz richtig gehört, Manja. Gibt es etwas, das dich interessiert?“ Offenbar ahnte der Mann schon, dass sie ihn nach ein paar Dingen fragen wollte.
Manja musste nicht lange überlegen und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Bäckchen wurden ganz rot vor Freude. „Ich hab viele Fragen!“
Als ein Räuspern hinter ihnen erklang und nicht nur Mathilda bemerkte, dass Juri unauffällig Manja bremsen wollte, klimperte die Kleine unschuldig mit den Wimpern. „Ein oder zwei Fragen“, verbesserte sie schließlich und die erste Frage kam schon wie aus der Pistole geschossen. „Sind wir denn schon viele Kilometer gefahren?“
Offenbar überrascht von dieser Frage hob Mr. Murdoch die Augenbrauen. Wie gewohnt hatte er die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und den Rücken durchgestreckt. „Nun ja, heute hat die Titanic ungefähr 519 Seemeilen zurückgelegt. Fast 150 mehr als gestern“, antwortete er ihr fachmännisch.
Ihre Augen wurden groß. „Fahren wir sehr schnell?“, war Manjas nächste neugierige Frage.
„Ziemlich, ja. Wir haben zwar noch nicht die Höchstgeschwindigkeit erreicht, aber in Anbetracht unseres aktuellen Fahrtweges, wäre das auch nicht vorteilhaft“, erwiderte Mr. Murdoch und eine ernste, warnende Note schwang in dieser Antwort mit.
Mathilda gefiel der Unterton in seiner Aussage nicht und daher mischte sich die neugierige Frau direkt ein. „Was meinen Sie damit? Ist die Route denn gefährlich?“ Während Mathilda sprach, hatte Manja interessiert zu ihr aufgesehen und da sie nichts erwiderte, schien auch sie gebannt auf die Antwort zu warten. Mathilda rügte sich gedanklich jedoch für diese Frage, da sie in Manjas Augen einen leichten Anflug von Angst vernehmen konnte.
Glücklicherweise erkannte auch Mr. Murdoch diesen Umstand und legte einen beruhigenden Gesichtsausdruck auf, während er erklärte: „Um diese Jahreszeit sind Eisberge keine Seltenheit. Sie treiben von Grönland an Neufundland vorbei in Richtung Süden. Daher ist es besser, wenn wir nicht unbedingt mit Höchstgeschwindigkeit durch diese Passage fahren.“
Der Wind pfiff eisig über das Deck, wobei Mathilda sich über die Arme rieb, Manja jedoch in Gedanken versunken zu sein schien. Das kleine Mädchen nickte nun zuversichtlich. „Ja, das wäre nicht gut, wenn wir so schnell da durch fahren würden“, sagte sie, als wäre sie selbst Crewmitglied, das sich mit einem Kollegen absprach, was William Murdoch zum lachen brachte. „Und was ist, wenn ein Eisberg direkt auf uns zu schwimmt?“, fügte Manja noch unsicher hinzu.
„Dann werden wir um ihn herumfahren“, grinste William, dem Manjas liebevolle Art zu fragen offenbar gefiel. „Deswegen passen wir Offiziere oben auf der Brücke ja auch besonders gut auf.“
Manja schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, denn nun überzog ihr rundes Gesicht wieder ein strahlendes Lächeln, das selbst diese Kälte hier an Deck vertreiben konnte. Mathilda und William stimmten in dieses zauberhafte Lächeln mit ein und schenkten einander einen kurzen, aber intensiven Blick.
„Manja, kommst du bitte. Der Wind nimmt zu“, rief Juri aus der Ferne, was Manja sofort den Kopf heben ließ. Sie nickte artig und verabschiedete sich schnell von Mathilda. William Murdoch bekam sogar einen höflichen Knicks vollführt und ein glückliches „Danke“. Danach hopste sie in kindlicher Manie in Richtung ihres Vaters. Dieser hob die Hand zur Verabschiedung.
Mathilda erwiderte den Gruß und Mr. Murdoch neben ihr tippte sich höflich an die Kappe. Mathilda sah den beiden noch nach, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren.
„Kinder“, lachte Mr. Murdoch schließlich.
Im nächsten Augenblick fand Mathildas Blick den ihres geliebten Offiziers. „Sie können froh sein, dass Manja in ihrer Fragerei gebremst wurde. Sicherlich hätte die Kleine Sie über jede einzelne Schraube ausgefragt“, merkte Mathilda fröhlich an. Trotz dieser eisigen Kälte hier draußen genoss sie das erneute Zusammentreffen mit dem Ersten Offizier, der ihr seit dem vergangenen Abend noch viel näher erschien.
„Sicherlich, aber ich denke, die Eisberge haben sie ein wenig verängstigt. Vielleicht hätte ich das lieber nicht ansprechen sollen. Ich wollte sie keineswegs verängstigen.“ Mr. Murdoch wirkte schuldbewusst.
„Es ist durchaus beängstigend, das ist richtig, aber ich bin mir sicher, dass Sie und Ihre Kollegen alles im Griff haben“, wiegelte Mathilda schnell ab und lächelte ihn offen an. An eine Gefahrensituation wollte sie lieber nicht denken. Doch konnte dieses majestätische Schiff überhaupt größeren Schaden nehmen? Die Titanic wirkte äußerst stabil und unzerstörbar. Genau darauf hoffte Mathilda.
William erwiderte ihr zauberhaftes Lächeln, was ihn dazu animierte, einen Schritt näher zu kommen. „Wenn ich anmerken darf“, begann er vorsichtig und seine Stimme wurde sehr leise. „Der gestrige Abend zählt für mich definitiv zu einen der schönsten, die ich je erlebt habe.“
Aufgrund dieses Kompliments zauberte sich eine sanfte Röte auf Mathildas Wangen. „Sie scherzen“, winkte sie ab und schob verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
„Garantiert nicht. Damit scherze ich nicht“, versicherte ihr der Offizier, wobei er schelmisch anfing zu grinsen. „Ich hoffe, ich habe dich... Sie damit nicht überrumpelt. Also, gestern Abend als...“ Und plötzlich war er es, der verlegen zu werden schien.
Dieser Umstand erfüllte Mathilda mit diebischer Freude. „Kann es sein, dass Sie gerade verlegen werden?“, grinste sie, fügte aber gleich hinzu: „Nein, überrumpelt würde ich es nicht nennen. Überrascht vielleicht. Aber eine positive Überraschung.“ Mathilda sah sich kurz um, wisperte dann aber: „Ich weiß, dass es nicht schicklich ist, aber... wenn Sie mich Mathilda nennen, dann wäre mir das wirklich sehr recht.“
William Murdoch legte den Kopf schief, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können, und lächelte geschmeichelt. „Das klingt verlockend“, merkte er an. „Unter uns darfst du auch gerne Will zu mir sagen.“
„Wunderbar, das würde mir sehr gefallen, Will.“ Mathilda war versucht, ihm mit der Hand über die Wange zu streichen, doch da sie nicht alleine waren, behielt sie ihre Hand bei sich.
„Ein Jammer, dass dieser schöne Tanzabend schon vorbei ist“, merkte William plötzlich an. Sein Blick schweifte über das endlose Meer. „Von meiner Seite aus hätten wir stundenlang weiter miteinander tanzen können.“
Mathilda folgte seinem Blick. Ihr entwich ein sehnsüchtiger Seufzer. „Dem kann ich nicht widersprechen“, sagte sie und stellte sich direkt neben ihn an die Reling. „Der Abend war wunderschön und um ehrlich zu sein, habe ich gestern ebenfalls darauf gehofft, Sie... ich meine, dich wiederzusehen.“
Er lachte leise. „Dann hatten wir denselben Wunschgedanken. Schön, wenn sich Wünsche noch erfüllen.“
Für einen kurzen Moment schwiegen beide und während Mathilda Williams bohrenden Blick spürte, sah sie weiterhin glücklich beseelt auf das Meer hinaus. In ihren Gedanken tanzte sie noch immer ihre Runden mit William Murdoch und sie konnte es kaum erwarten, erneut in seine Arme zu fallen. Aktuell war es kaum möglich, da sie genügend Zeugen im Nacken hatte. Dennoch kam ihr ein Gedanke, wie sie die lästigen Schaulustigen loswerden konnte.
„Wie ist denn die Schichtaufteilung heute unter euch Offizieren?“ Für Mathilda war es noch ziemlich ungewohnt den Führungsoffizier zu duzen. Aber es erschien ihr richtig, vor allem nach dem vergangenen Abend. Einen Mann, der sich einen sehnsüchtigen Kuss von ihr gestohlen hatte, durfte sie ruhig beim Vornamen ansprechen.
„Wieso?“ Der Blick aus diesen herrlich blauen Augen wurde so stechend heiß, dass Mathilda wackelige Beine bekam.
„Bitte sag es mir doch einfach“, bat Mathilda ausweichend. Unter seinem eindringlichem Blick begann es in ihrem Brustkorb heftig zu kribbeln.
„Na schön.“ William schien kurz zu überlegen. „Von fünf Uhr bis neun Uhr abends bin ich eingeteilt. Danach darf ich eine Weile ruhen und muss um ein Uhr nachts wieder auf die Brücke.“
Nun überlegte Mathilda und schlussfolgerte: „Das bedeutet, dass du jetzt freigestellt bist?“
„Ganz richtig, schöne Frau“, bemerkte er charmant. „An was denkst du?“
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch Mathilda wollte ihn in ihrer Nähe haben. Und da Edith nicht zu Gegend war, gehörte ihr die Suite vorerst alleine. „Wenn dir danach ist, können wir den Tanzabend nochmal aufleben lassen. Vielleicht siehst du nachher in meiner Kabine nach dem Rechten. Ich glaube, dass da irgendwas mit der Fensterverriegelung nicht stimmt.“ Sie zwinkerte lächelnd.
William Murdoch verstand und offenbar amüsierte es ihn. „Na, wenn dem so ist, dann werde ich mir das doch mal ansehen. Schließlich möchte ich nicht, dass die Damen frieren“, witzelte er, ehe der Offizier leise hinzufügte. „Geh ruhig vor, ich komme direkt nach.“
Für einen kurzen Augenblick setzte Mathildas Herzschlag aus. Durch ihre Adern schienen Schwärme von Ameisen zu krabbeln, so aufgeregt war sie. Hatte sie gerade ernsthaft einen Mann zu sich in die Kabine eingeladen? Ja, das hatte sie. Einerseits war da eine gewisse Scham vorhanden, so war sie doch eine junge, vornehme Dame aus reichem Hause, die es nicht nötig hatte, Männer einzuladen. Andererseits war da dieses Gefühl, das sich Liebe nannte, und sie vergessen ließ, in welch gehobener Welt sie lebte. Mathilda war eine junge Frau, die sich unsterblich verliebt hatte, und nun diesen wundervollen Mann ganz für sich alleine haben wollte. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, wollte von ihm in den Armen gehalten und nie mehr losgelassen werden.
Sie stimmte ihm nickend zu, ehe sich die junge Frau zögerlich von ihm abwandte. Während Mathilda nun ins Innere des Schiffes verschwand, überlegte sie, ob er wohl wusste, in welcher Kabine sie untergebracht war. Sicherlich konnte er das herausfinden oder fand jemanden, der es wusste.
Mathilda beeilte sich, um in ihre Kabine zu kommen. Dort angekommen vergewisserte sie sich, dass niemand hier war. Allerdings fühlte sie sich sofort wieder schäbig, da Edith nicht grundlos fern von ihrer Kabine blieb. Dennoch war sich Mathilda sicher, dass ihre Freundin sich köstlich darüber amüsieren würde. Dieses Mal nahm sich Mathilda fest vor, ihre Freundin direkt einzuweihen, wenn sie zurück war. Sicherlich würde es Edith amüsieren und aufbauen.
Mathilda zog ihre Jacke aus. Danach folgten Schal und Handschuhe. Nervös blickte sie sich um, als wolle sie sicher gehen, dass es hier aufgeräumt war. Wie zu erwarten fand Mathilda nichts, was es zu bemängeln gab. Bevor sie sich jedoch weiter Gedanken über den Zustand der Kabine machen konnte, klopfte es gegen die Türe.
Sie zuckte kurz in sich zusammen, ehe sie sich beeilte, die Türe zu öffnen. Für einen Augenblick hoffte Mathilda darauf, dass das erneute Treffen in der Kabine kein leeres Versprechen des Ersten Offiziers war, doch als sie im Türrahmen eben selbigen vorfand, verwarf sie diesen absurden Gedanken wieder. Niemals hätte ihr dieser Mann eine Lüge aufgetischt.
„Ma'am, wie ich hörte, haben Sie Probleme beim Öffnen und Schließen der Fenster“, erklärte er im strengen Offizierstonfall. Dabei setzte er einen gespielt ernsten Gesichtsausdruck auf.
Beinahe hätte Mathilda laut gelacht. Er war wirklich überzeugend, also spielte sie mit. Sie nahm eine gerade Haltung an. „Mr. Murdoch, wie gut, dass Sie die Zeit dafür erübrigen konnten. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie sich das mal ansehen könnten. Bitte, kommen Sie doch rein.“ Die junge Frau trat einen Schritt zur Seite, um den uniformierten Mann reinzulassen.
William schritt an ihr vorbei in die Kabine, konnte dabei aber sein amüsiertes Lachen nicht verstecken. Hinter ihm schloss Mathilda schnell die Türe, bevor noch jemand über den Gang schreiten und sie sehen konnte.
„Kein Wunder, dass diese Kabinen zu den teuersten gehören. Wirklich wunderschön.“ Der Klang seiner Stimme war nicht verachtend, sondern vielmehr beeindruckt. Neugierig sah sich der Mann um, blieb aber an Ort und Stelle stehen.
„Ja, das ist richtig. Edith hatte sich die Kabine ausgesucht. Sie hat einen unfassbar guten Geschmack. Für mich wäre eine kleinere Kabine aber auch akzeptabel gewesen“, merkte Mathilda an, während sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließ.
Der Erste Offizier schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Unsere Unterkünfte sind weitaus bescheidener. Ein Bett, ein Schrank, ein Waschtisch und ein Schreibtisch. Mehr nicht“, erzählte William, der sich immer noch nicht rührte, da auch Mathilda keine Anstalten machte, voran in einen anderen Raum zu gehen. Da kam wohl wieder der Gentleman in ihm durch. Sich in einer fremden Kabine umzusehen, gehörte sich schließlich nicht.
„Klingt bescheiden, aber ausreichend, schätze ich.“ Mathilda nestelte unruhig an ihrem Armband. Ihn direkt hier, in all ihrer Privatsphäre vor sich stehen zu haben, machte sie nervös. Sie waren unter sich, ohne neugierige Blicke.
William lächelte leicht. „Durchaus ausreichend, ja. Aber auf einem Schiff bin ich selten zum Vergnügen.“ Sein Blick veränderte sich plötzlich. „Nur diese Überfahrt ist irgendwie anders, was wohl an dieser wunderschönen Dame direkt vor mir liegen muss.“
Augenblicklich errötete Mathilda. Ihr Herz schien einen Überschlag zu machen. Komplimente verteilen konnte dieser Mann wie kein zweiter. Mathilda war Schmeicheleien durchaus gewohnt, aber meist waren diese nur oberflächlich oder es steckten zweideutige Absichten dahinter. William Murdoch verstand es jedoch, ihr durch seine ehrlichen Worte ein gutes Gefühl zu geben – und sie genoss es wie noch nie.
„Du hast bestimmt schon genügend hübsche Frauen gesehen“, sagte sie schließlich, als sie in all dem emotionalen Durcheinander, das in ihrem Inneren herrschte, ihre Fähigkeit zu sprechen wieder gefunden hatte.
Nun kam etwas Bewegung in den Mann, als er einen Schritt auf sie zu ging. Er streckte die Arme aus und griff nach ihren Schultern. Keineswegs grob, sondern vielmehr zärtlicher Natur. „Sicherlich gibt es viele hübsche Damen und einige davon haben durchaus schon mal meinen Weg gekreuzt“, begann William vorsichtig und bedachte sie mit einem tiefen Blick. Beinahe flüsternd fuhr er fort: „Aber niemals hat eine Frau mein Herz berührt. Und dann bist du mir begegnet.“
Diese Worte von ihm ausgesprochen zu hören, glich einem Traum. Ihre Unterlippe zitterte vor Aufregung und die Freudentränen standen ihr bereits in den Augen. Niemals hatte Mathilda solch schöne Worte von einem Mann gehört. Einem Mann, den sie ihr Herz geschenkt hatte, und offenbar empfand er dasselbe für sie.
Erfüllt vom Glück griff Mathilda nach seinen Händen, die noch immer auf ihren Schultern ruhten; spürte die Wärme, die von seiner Haut ausging.
Mathilda musste nun damit rechnen, dass ihre Beine jeden Moment nachgeben konnten, daher fragte sie direkt: „Darf ich dich denn jetzt, um den heutigen Tanz bitten?“
William zog amüsiert eine Augenbraue nach oben und nahm seine Hände langsam von ihren Schultern. Pietätvoll entfernte er sich einen Schritt, ehe er sich leicht vor ihr verbeugte. „Selbstverständlich, Mylady.“
Humor hatte dieser Mann, was Mathilda wieder schmunzelnd feststellen musste. „Ich wusste doch, dass in Schottland Manieren groß geschrieben werden. Ich bin entzückt, mein Herr“, stieg Mathilda in sein Theater mit ein. Hingebungsvoll knickste sie vor ihm.
Der eigentlich so standhafte Erste Offizier grinste spitzbübisch wie ein junger Bursche und hielt ihr auffordernd den Arm hin. „Die Briten mögen die Höflichkeit erfunden haben, aber wir Schotten wissen es, diese in Worte umzusetzen“, merkte William an, ehe er nun das schauspielerische Werk beendete und nachfragte: „Aber uns fehlt das Orchester zum tanzen. Oder singst du und ich pfeife im Takt mit?“
„Sicher nicht, aber ich habe meine eigene Musik. Folgen Sie mir unauffällig, Offizier Murdoch.“ Mathilda zwinkerte keck, was William überrascht dreinblicken ließ. Offenbar hatte der Offizier nicht mit einer solch flirtenden Gestik gerechnet. Allerdings erwiderte er nichts dergleichen, sondern folgte ihr in den nebengelegenen Raum. Mathildas Herz schlug bis zum Hals und nur mit großer Mühe konnte sie das Tuch von dem Grammophon ziehen, da ihre Hände vor Aufregung unkontrolliert zitterten.
William Murdoch stieß einen beeindruckten Pfiff aus. „Na, das nenne ich ein Orchester.“
„Ich habe es von meinem Vater bekommen. Ich liebe dieses wunderbare Musikinstrument!“ Mathilda reichte William stolz einige Platten. „Hier sind ein paar Musikstücke, die mir besonders gefallen.“
Williams Augen funkelten neugierig. Interessiert sah er die Platten durch und lachte bei einigen Titeln kurz auf. „Bill Murray, Ada Jones, Sophie Tucker – sogar Peerless Quartet. Ganz ohne Zweifel sind das großartige Künstler.“
„Ja, nicht wahr?“ Mathilda begann zu strahlen. Aus tiefstem Herzen erfreute sie sich daran, dass der Mann, der so dicht vor ihr stand, ihre Leidenschaft für Musik offenbar zu teilen schien.
„Vor allem dieses hier“, William drehte die Platte so, damit Mathilda das Cover sehen konnte, „Some of these days.“ Sein Blick fiel wieder auf das Musikstück in seinen Händen und ein familiäres Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er wirkte gedankenverloren. „Sophie Tucker gehört zu den liebsten Sängerinnen meiner Schwestern“, erzählte er. „Margaret und Agnes können stundenlang dazu tanzen.“
Über Mathildas Arme zog sich eine ausgewachsene Gänsehaut. Der liebevolle Tonfall, der aus seiner Erzählung mitschwang, rührte sie zutiefst. William Murdoch schien ein sehr familiärer Mensch zu sein und so hingebungsvoll wie er von seinen Schwestern sprach, konnte Mathilda ein Seufzen nicht unterdrücken.
„Offensichtlich haben deine Schwestern einen guten Musikgeschmack“, erkannte Mathilda an. Still fragte sie sich, ob sie die beiden wohl jemals kennenlernen würde? Und ob die Frauen ihrem Bruder ähnlich sahen? Vielleicht dieselben blauen Augen?
„Oh, du würdest sie garantiert mögen“, lachte William, wobei ihr der fröhliche Klang seines Lachens direkt warm unter die Haut kroch. „Allerdings war das für mich immer die reinste Qual gewesen, wenn die beiden getanzt und gesungen haben. Nicht etwa, weil sie schlecht waren, sondern vielmehr deshalb, weil sich mein Zimmer direkt unter dem der Mädchen befunden hat. Und mit ihren Tanzeinlagen haben sie mir meist den Schlaf geraubt.“
Während er von seinen emsigen Schwestern erzählte, erlaubte sich Mathilda, ihn nochmal genauer unter die Lupe zu nehmen und obwohl sie es niemals für möglich gehalten hätte, so bemerkte sie, dass dieser Mann von Sekunde zu Sekunde besser wurde. Mathilda war bis über beide Ohren verliebt, das konnte sie keinesfalls mehr leugnen. So erhoffte sie sich nun, seine Schwestern in Zukunft persönlich kennenlernen zu dürfen. Seine Familie klang so liebenswert, dass sich Mathilda bei seiner Erzählung sofort heimisch fühlte.
„Herrje, das klingt nach einer Menge.... Spaß“, grinste Mathilda und musste kindlich kichern, als sie Williams verschmitzten Blick auffing. Für ihn schien es damals eine echte Tortur gewesen zu sein.
„Ich weiß, es ist ein bisschen vorausgegriffen, aber...“ Unschlüssig drehte William die Platten ein seinen Händen hin und her. „Vielleicht möchtest du mich nach dieser Reise für eine kurze Zeit in meine Heimat begleiten?“
Für einen Augenblick hatte Mathilda diese Aussage als Spinnerei abgetan, aber sein Blick sprach eine andere Sprache. Was, wenn er es wirklich ernst meinte?
Offenbar missverstand er ihre plötzliche Verschwiegenheit und erklärte schnell: „Entschuldige, da war ich wohl ziemlich voreilig. Tut mir leid, wenn ich dich damit bedrängt habe.“
„Was? Nein, ganz und gar nicht! Ich war nur... es ist... naja...“ Mathilda wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Ihr ganzer Kopf schien wie in Nebel gehüllt zu sein, was sie am Denken hinderte. Sie wedelte wild mit den Armen und fand schließlich ein paar Worte, die irgendwie doch noch einen Satz ergaben. „Ich hatte nur nicht angenommen, dass du es ernsthaft in Erwägung ziehen könntest, mich in deine Heimat mitzunehmen.“
Nun lächelte der Mann wieder. In seinen blauen Augen blitzte Erleichterung auf. „Wie könnte ich dich anlügen, meine Liebe?“, sagte er nun voller Wärme und Hingabe.
Mathildas Puls galoppierte los wie ein wildes Pferd. „Du machst es meinem Gemüt nicht einfach. Mein Puls schnellt schon wieder nach oben“, warf sie ihm mutig entgegen. „Such dir ein Lied aus. Bitte, sonst bringst du mich wieder in Verlegenheit.“ Langsam wurde Mathilda ungeduldig. Bei all diesen liebevollen Worten konnte sie kaum mehr an sich halten. Sie wollte diesem Mann einfach nur nahe sein!
Ein heiteres Lachen erfüllte den Raum. „Ich kann dich weder anlügen noch dir einen Wunsch abschlagen. Also schön.“ Erneut sah sich William die Platten durch, obwohl er sie wahrscheinlich schon auswendig kennen musste. „By the light of the silvery moon“, entschied er sich schließlich.
„Dein Wunsch sei mir Befehl.“ Mathilda nahm ihm das gewünschte Musikstück aus der Hand, zog die Platte aus der Hülle und platzierte sie auf dem Grammophon. Mit einigen flinken Fingerbewegungen drehte sich die Scheibe schließlich und begann damit, die gewünschte Melodie abzuspielen.
William Murdoch entledigte sich seines Mantels und hängte ihn sachte über die Lehne des nächstbesten Stuhls. Mit zitternden Händen ergriff Mathilda die Hände ihres Liebsten. Auf der Feier von Bernard Middleton war sie noch um einiges mutiger und selbstbewusster gewesen. So war sie dort doch gefangen in dem Rausch des Moments, welchen Middletons Feier getragen hatte. Die vielen Menschen, die nichts anderes wollten, als glücklich zu sein, Spaß zu haben und einen schönen Abend zu genießen. Mathilda war eine von ihnen gewesen. Sie war wie benebelt von dem rauschenden Fest.
Aber hier, in ihrer Kabine, war sie alleine mit ihm. Und so sehr sie es genoss, ihn ganz für sich zu haben, so ängstigte sie es auch irgendwie. Allerdings verpuffte diese Angst gleich wieder, als William sie nahe an sich heranzog. Sofort kehrte das Gefühl von Sicherheit zurück und Mathilda fühlte sich augenblicklich wieder wohl. Niemals wieder wollte sie diesen schützenden Hafen verlassen.
Mittlerweile hatten die beiden einen gemeinsamen Rhythmus gefunden und drehten langsam ihre Kreise, wobei sie sich ständig neckisch anlächelten, amüsiert miteinander Worte austauschten und in gewissen Momenten bei der Melodie mitsummten.
Mathilda genoss diese wenigen Minuten, die für sie ewig anhalten könnten. Sehnsüchtig blickte sie in sein sympathisches Gesicht, woraus sie sein herrliches Augenpaar anstrahlte. Das Glitzern darin erinnerte sie an das wunderschöne Meer, das sie umgab. Stundenlang hätte sich Mathilda in seinen Augen verlieren können.
„Könnten wir noch ein anderes Lied auflegen?“ Seine Frage kam aus dem Nichts und überraschte Mathilda, die irritiert nickte. „Gut.“ William unterbrach den Tanz, wandte sich zum Tisch um und suchte nach der entsprechenden Platte. Er wurde schnell fündig, denn im Handumdrehen hatte er die Platten ausgetauscht und ein neuer Song erfüllte den Raum.
Erneut meldeten sich Mathildas Hormone, die ihrem Herzschlag wieder Dampf machten. Die Klänge von „Let me call you Sweetheart“ des Peerless Quartets schwangen nun lieblich durch den Raum. Mathilda lauschte verträumt dem Klang, während William sich mit einer lockeren Handbewegung die Kappe vom Kopf fischte und ebenfalls auf den Stuhl legte. Er fuhr sich einmal geschwind durch die braunen Haare, ehe er Mathilda wieder an sich heranzog.
Mathilda lachte entzückt, als sie wieder ganz dicht bei ihm stand. Nun war er ihr noch gefühlt ein Stück näher, was Mathilda zwar nicht aus der Fassung brachte, aber sämtliche Hormone durcheinander wirbeln ließ. Nie zuvor hatte sie solch eine Achterbahnfahrt der Gefühle erlebt.
William zog sie so dicht an sich, dass zwischen ihre Körper nicht einmal mehr ein Blatt Papier gepasst hätte. Mathilda ließ es zu und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie fühlte sich unendlich geborgen, was ihr erlaubte, die Augen zu schließen. Eine ihrer Hände ruhte mittlerweile auf seiner Brust und sie konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. William hatte eine seiner Hände unterdessen auf ihrem Rücken liegen und strich in sanften Bewegungen auf und ab.
Ein seliges Lächeln überzog Mathildas hübsches Gesicht. Die Wärme, die von ihm ausging, und der ihr vertraute Geruch des Rasierwassers hüllten Mathilda in eine schützende Wolke ein. Sie ließ sich komplett fallen und genoss einfach nur noch. William schien ihre entspannte Haltung zu bemerken und drückte sie noch ein Stück enger an sich, während er seine Wange an ihre Schläfe legte.
Der rhythmische Tanz war in der Zwischenzeit nur noch zu einem verträumten Schunkeln geworden, was Mathilda allerdings nicht störte. Im Gegenteil – es erlaubte ihr, seine Nähe voll und ganz zu genießen.
„Let me call you Sweetheart, I'm in love with you“, wisperte William leise in ihr Ohr und bescherte ihr somit eine wiederkehrende Gänsehaut, die sich über Mathildas kompletten Körper zog. „Let me hear you whisper that you love me too.“ Er lachte leise.
Mathilda hob ihren Kopf, der bis gerade eben noch auf seiner Schulter geruht hatte, und blickte ihm verlangend in die Augen. „Keep the love-light glowing in your eyes so true. Let me call you Sweetheart“, vervollständigte Mathilda die Strophe und fügte leise, aber mit Nachdruck hinzu: „I'm in love with you.“
Das Schunkeln wurde weniger, da William sie im Augenblick eindringlich zu mustern schien. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Wog er ab, ob sie es ernst meinte? Als er in der Tanzbewegung komplett inne hielt, änderte Mathilda die Position ihrer Hände und glitt damit langsam an seinen Hals, spürte seine warme Haut unter ihren Fingerkuppen, die unter Strom zu stehen schienen.
In seinen Augen brannte das Verlangen, das Mathilda nur allzu bekannt war. Ihr ging es nicht anders. Und so stand ihr Herz einen Augenblick still, als er seinen Kopf langsam zu ihr hinabbeugte. Zuerst dachte Mathilda, er wolle seine Stirn gegen ihre lehnen, wie er es am Tag zuvor getan hatte, doch sie irrte sich.
William bat dieses Mal weder um Erlaubnis noch warnte er sie vor – nein, er tat es einfach. Und als Mathilda seine Lippen auf ihren spürte, kam dieser innere Sturm wieder auf, der sie in die Knie zu zwingen drohte. Tausend Schmetterlinge tanzten durch ihre Glieder und das Feuer, das ihre Mitte erfüllte, drohte sich auszubreiten.
Doch im Vergleich zum vergangenen Abend, war dieser Kuss um einiges intensiver, fast schon stürmisch. Mathilda stand in Flammen, als seine Zunge langsam über ihre Lippen strich und wie von selbst drückte sie sich noch enger an ihn, öffnete ihren Mund und ließ sich auf dieses leidenschaftliche Spiel ein.
Die kleine Stimme in ihrem Kopf, die sie ermahnte und in Erinnerung rief, dass sie verbotener Weise einen Schiffsoffizier auf dessen Dienstreise in stiller Zweisamkeit küsste, war selbstverständlich da, doch Mathilda ignorierte sie. Sollte diese Stimme doch schreien, toben und sie ermahnen – ihr war es egal. Mathilda lag in den Armen ihres Liebsten, der ihr mit diesem Song durch die Blume mitgeteilt hatte, sie zu lieben. Gedanklich warf Mathilda all ihre guten Manieren und das damenhafte Gehabe über Bord und ließ sich von der Leidenschaft und der Erregung, die ihren Körper vibrieren ließ, führen.
Ihre Hände wanderten von seinem Hals in seinen Nacken und schließlich strich sie sanft, aber bestimmend durch seine Haare. Am liebsten hätte sie laut in die Welt hinausgeschrien, wie glücklich sie war, aber ihr reichte es im Moment aus, dass sie ihren Will so nah bei sich spüren konnte.
William gab ihr einen Moment Raum, um Luft zu holen, wanderte mit seinen Lippen aber zärtlich über ihre erhitzten Wangen und hinab an ihren Hals. In dieser Sekunde keuchte Mathilda erschrocken auf. Ein Kribbeln peitschte durch ihren Körper und die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Es fühlte sich unglaublich gut an, wie dieser Mann sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich berührte.
Mathilda biss sich neckisch auf die Lippe, ihr Griff in seinem Haar hatte sich verstärkt und in ihren Augen hätte dieser Moment nicht enden dürfen.
Doch er tat es – in Form eines lauten Klopfens an der Türe.
Erschrocken fuhren Mathilda und William auseinander. In den Augen des jeweils anderen war Enttäuschung zu lesen. In Mathildas Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das erst wieder sortiert werden musste.
Erst beim zweiten Klopfen wusste Mathilda, dass sie jetzt reagieren musste. Im Augenwinkel erkannte sie, wie William sich außer Sichtweite stellte, um vom Verursacher des Klopfens nicht gesehen zu werden.
Mathilda schmunzelte. Trotz der Tatsache, dass es in der höheren, verbohrten Gesellschaft nicht gern gesehen wurde, was sie da tat, gefiel Mathilda der Reiz des Verbotenen. Obwohl es ihr lieber gewesen wäre, aller Welt zu zeigen, dass dieser Mann zu ihr gehörte.
Mathilda öffnete schnell die Türe und blickte in das Gesicht eines Stewarts, der gerade erneut die Hand hob, um zu klopfen. „Ja, bitte?“
„Oh, Miss Briscom, verzeihen Sie die Störung, aber Dr. O'Loughlin lässt nach Ihnen schicken“, eröffnete der Mann mit dem dunklen Haar und der langen, geraden Nase.
Die Hitze in Mathildas Körper sank auf den Nullpunkt. Das klang nicht gut und sie ahnte, dass es mit Edith zu tun hatte. „Was? Wieso?“
„Er sagte nur, dass er Sie gerne sprechen möchte. Bitte, ich geleite Sie gerne.“ Der höfliche Stewart bot ihr einen Arm an, doch Mathilda verneinte freundlich.
Der Stewart nahm das zur Kenntnis und verabschiedete sich. Mathilda schloss gedankenverloren die Türe und blieb erst einmal regungslos dort stehen. Unterdessen kam auch William wieder um die Ecke. Inzwischen trug er auch seine Kappe und den Mantel wieder.
„Ich begleite dich, wenn du möchtest“, bot ihr William Murdoch an.
Mathilda nickte abwesend. Sollte jeder doch sehen, dass der Erste Offizier sie zum Schiffsarzt geleitete. Ihr war es egal. Nach diesem traumhaft schönen Moment mit William, holte sie die verzwickte, ernste Situation mit Edith wieder ein.
Gedanklich war Mathilda schon bei Edith, jedoch entging es ihr nicht, wie sich starke Arme von hinten um ihren Körper schlängelten und ihr den nötigen Halt gaben. Obwohl das Grammophon längst keinen Ton mehr spielte, summte eine Stimme in Mathildas Kopf immer weiter.
„When the silvery moonlight gleams, still I wander on in dreams. In a land of love, it seems, just with you.“
Und wenn ich aufwache, ist da nur noch Stille. Kein schützender Halt, keine Musik, kein Tanz. Nur ich in meiner Einsamkeit.
Ein eisiger Wind traf auf das Deck der Titanic, was die Passagiere jedoch nicht davon abhielt, sich draußen an der frischen Luft aufzuhalten. Einige saßen in Decken eingewickelt auf den Liegestühlen, unterhielten sich angeregt oder blickten nachdenklich auf das weite Meer. Andere wiederum spazierten gemütlich über das Deck, während ein paar Kinder mit einem Kreisel spielten. Und wieder andere standen an der Reling und beobachteten die Wellen, die die Titanic erzeugte. Zu diesen Schaulustigen gehörte auch Mathilda. Allerdings war die junge Frau alleine unterwegs, da Edith sich bei ihrem routinemäßigen Besuch bei Dr. O'Loughlin befand. Er hatte ihr untersagt, bei diesem kalten Wind nach draußen zu gehen. Offensichtlich schien die Kälte noch immer Ediths größter Feind zu sein. Mathilda hoffte inständig, dass es in New York wärmer sein würde und es Edith schnell wieder besser ging.
Vor wenigen Minuten hatte ihr ein Page die Nachricht überbracht, dass der Arzt Edith heute Nachmittag unter Aufsicht in dem schiffseigenen Hospital behalten wollte. Den Grund hatte ihr der Page nicht genannt. Mathilda wusste nur, dass sie bis zum Abendessen auf Ediths Anwesenheit verzichten musste. Inständig hoffte Mathilda darauf, dass es um Ediths Gesundheit nicht so schlecht stand, wie sie es sich ausmalte. Allerdings würde Dr. O'Loughlin sie nicht ohne ersichtlichen Grund über mehrere Stunden unter Aufsicht bei sich behalten.
Mathilda erschauderte und schickte ein kleines Gebet in den Himmel, während sie ihre Arme auf der Reling abgelegt hatte. Ihr Blick fand den Horizont, der heute noch weiter entfernt wirkte, als gestern noch.
„Daddy, sieh nur, wie schnell sich der Kreisel dreht.“
Mathildas Blick wanderte von den rauschenden Wellen hinüber zu einem kleinen Mädchen, dessen Locken wild im Wind tanzten. Ein Lächeln huschte über Mathildas Gesicht. Sie kannte das Mädchen. Es war Manja, die da mit drei anderen Kindern den Kreisel drehen ließ.
Erst jetzt bemerkte Mathilda auch Juri Makarow, den höflichen Vater der Kleinen. Da sie sich hier auf dem Bootsdeck befanden, ahnte Mathilda, wohin der Mann und sein Kind gehörten. Neben der Brücke und den Offiziersunterkünften, war der Außenbereich des Bootsdecks in vier Promenaden unterteilt: Eine für die Erste Klasse, für die Zweite Klasse, für die Offiziere und das letzte für die Ingenieure. Da Juri kein Besatzungsmitglied und kein Passagier der Ersten Klasse war, musste er in die Zweite Klasse gehören.
Als hätte er ihre neugierigen Blicke gespürt, sah Juri nun auf und winkte Mathilda freundlich zu. „Ma'am, schön Sie wieder zu sehen.“
Er hatte sich erhoben und schritt – ungeachtet von Manja – auf Mathilda zu. Bei ihrer ersten Begegnung war es Mathilda noch nicht aufgefallen, aber als er jetzt auf sie zukam, erkannte sie, dass der Mann leicht hinkte.
„Mr. Makarow, wie geht es Ihnen und Manja?“, fragte Mathilda nach, ohne ihn auf sein Leiden anzusprechen.
„Oh, wir sind auf dem größten Schiff der Welt unterwegs, wem ginge es da schlecht?“, lachte der Mann mit den markanten Gesichtszügen. „Für Manja ist das hier ein großer schwimmender Spielplatz, voller Möglichkeiten und neuer Bekanntschaften. Es tut ihr gut, mal rauszukommen.“
Im letzten Satz schwang eine nachdenkliche Note mit und Mathilda bemerkte, dass der harte Gesichtszug des Mannes weicher wurde. Selbst wenn es Mathilda nicht unbedingt zustand, nachzufragen, so überwog doch die Neugierde. Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte: „Wie meinen Sie das? Gibt es Probleme?“
„Nun ja, wissen Sie“, Juri nahm einen tiefen Atemzug, „Manjas Mutter ist vor einiger Zeit an Tuberkulose erkrankt. Es geht ihr nicht gut und sie befindet sich momentan in einer guten Klinik in Frankreich. Für Manja ist das allerdings nicht gerade schön, da sie aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr nicht in die Nähe ihrer Mutter darf.“
Mathilda legte betroffen eine Hand auf ihre Brust. „Es tut mir so leid. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Manja das Herz zerreißen muss, ihre Mutter so leiden zu sehen.“ Mathilda bedachte das Mädchen mit einem traurigen Blick. Unbekümmert spielte Manja weiterhin mit den anderen Kindern. Ihr Lachen erhellte dabei die Gesichter einiger umstehender Erwachsener.
„Allerdings. Manja und ihre Mutter sind ein Herz und eine Seele.“ Juri blickte über seine Schulter und lächelte leicht. „Sie ist ein Sonnenschein. Ich möchte ungern, dass sie ihr Lachen verliert.“
Mathilda nickte nachdenklich. Sein Lachen zu verlieren; an dem Verlust eines geliebten Menschen zu zerbrechen – für Mathilda unvorstellbar. Trotz dem Tod ihrer eigenen Mutter und dem Zustand ihres Vaters hatte Mathilda nie ihr Lachen verloren, selbst wenn sie oft nahe dran gewesen war, daran zu zerbrechen. Edith hatte sie in diesen dunklen Stunden stets aufgefangen, wofür Mathilda ihr unendlich dankbar war.
„Nun sind wir also unterwegs nach New York. Dort lebt meine Schwester mit ihrer Familie. Sie hat uns eingeladen, damit wir aus Frankreich mal wegkommen und Manja andere Dinge sieht.“ Damit hatte Juri Mathildas nächste Frage direkt beantwortet.
Nun begann Mathilda wieder zu lächeln. Juri wirkte so positiv auf sie. Dass er über den Nordatlantik reiste, um Manja auf andere Gedanken zu bringen, rechnete Mathilda ihm hoch an. „Das klingt schön. Und ich bin mir sicher, dass es Manja auch gut tun wird. Immerhin ist sie...“
„Millie!“
So laut ihr Lachen klang – ihr Ruf nach Mathilda war noch um einiges lauter. Allerdings wunderte sich Mathilda ohnehin, dass Manja sie nicht schon eher entdeckt hatte. Das kleine Mädchen mit den wilden Locken wirbelte übertrieben mit dem Arm, als wollte sie jeden Moment abheben. Mathilda lachte und hob die Hand zum Gruß.
In der nächsten Sekunde ließ Manja ihre Freunde auch schon zurück und hüpfte auf Mathilda zu. Neben ihrem Vater kam die Siebenjährige dann zum Stehen und funkelte Mathilda aus braunen, schelmischen Augen an.
„Gefällt dir die Reise denn bisher, junge Dame?“, wollte Mathilda amüsiert wissen. Mit flinken Bewegungen zog sie den Schal enger um ihren Hals, als der Wind zunahm. Trotz der Sonne am Himmel war es eisig kalt hier draußen.
„Ja, es ist so toll hier!“, jubelte Manja und gluckste erfreut. „Unsere Kabine sieht aus wie ein Hotelzimmer. Da ist alles neu! Und meine neue Freundin Ruth hat erzählt, dass ihre Kabine riesig sei. Viel größer, als alle anderen Räume, die sie bisher gesehen hat.“
Mathilda ahnte, dass ein kleines Mädchen wie Manja leichter zu beeindrucken war und daher spielte Mathilda mit. „Oh, wirklich? Das klingt ja wirklich luxuriös.“ Die Titanic übte schon auf eine erwachsene Frau wie Mathilda eine erhebliche Faszination aus und brachte sie ständig wieder ins Staunen. Wie musste dieses Schiff dann auf ein Kind wirken?
„Oh, ja! Das ist es! Und es ist so schade, dass die Fahrt nicht länger dauert“, antwortete Manja betrübt, worin Mathilda ihr im Stillen nur beipflichten konnte. Manja schielte ein wenig um Mathilda herum und fügte hinzu: „Oh, kuckt mal. Ein Offizier.“
Sofort wanderte Mathildas Blick in die Richtung, in die Manja zeigte. Während Juri seine Tochter ermahnte, nicht mit dem Finger auf Leute zu zeigen, registrierte Mathilda schon nach wenigen Sekunden, wen sie da vor sich hatte.
„Das ist Mr. Murdoch. Er ist der Erste Offizier dieses Schiffs“, informierte Mathilda das kleine Mädchen, die nun einen erstaunten Laut von sich gab.
Mr. Murdoch unterhielt sich unter Mathildas eindringlichem Blick mit einem Paar, das sie als Daniel und Mary Marvin kennengelernt hatte.
„Darf ich mit ihm sprechen? Bitte, Daddy! Ich hab ein paar Fragen“, quengelte Manja, während sie wild auf und ab hüpfte.
„Schätzchen, das geht nicht. Offizier Murdoch hat bestimmt weitaus wichtigere Dinge zu tun, als sich deinem Fragekatalog zu stellen.“ Juri klang betrübt, was sich sofort auf Manja übertrug, denn die zog eine Schnute.
Mathilda legte einen mitleidigen Blick auf. „Vielleicht kann ich da was machen“, sagte Mathilda verheißungsvoll, wobei sie ihre Hand nach Manja ausstreckte. „Komm mal mit.“
Unter Juris misstrauischem und gleichzeitig überraschtem Blick, japste Manja vor Freude nach Luft und schnappte sich augenblicklich Mathildas Hand. Gemeinsam schritten die beiden auf den Offizier zu und bei jedem weiteren Schritt, nahm auch Mathildas Herzschlag an Tempo zu. Neben ihr vibrierte Manja vor Freude und drückte Mathildas Hand so fest es ging. Seit ihrem Spaziergang mit William Murdoch wusste Mathilda, dass sich die Offiziere öfter den Fragen der Passagieren stellen mussten. Meist erwischten die Passagiere die Männer bei einem Rundgang über das Deck. Und so wie es aussah, hatte auch Mary Marvin einige Fragen, die von William Murdoch geduldig beantwortet wurden.
Allerdings waren auch die irgendwann beantwortet und die Marvins ließen den Offizier wieder ziehen. William nickte beiden höflich zu und wandte sich zum gehen um – nur um in den nächsten Sekunden schon den nächsten Damen gegenüber zu stehen.
Überrascht hielt er in seinem Gang inne, die gerade Haltung behielt er bei. „Oh, welch angenehme Überraschung“, merkte William an und schenkte seiner gestrigen Tanzpartnerin ein Lächeln.
„Mr. Murdoch, ich hoffe, wir halten Sie nicht von Ihrer Arbeit ab?“, begann Mathilda vornehm. Noch immer brannte der Kuss vom vergangenen Abend auf ihren Lippen und beim bloßen Gedanken daran, stieg eine verräterische Röte in ihren Wangen auf.
„Sie doch nicht“, meinte er charmant, ehe sein Blick auf Manja fiel. „Und wer ist diese junge Dame?“
Da Manja offenbar sehr gut erzogen worden war, hatte das aufgeregte Mädchen mit dem Sprechen gewartet, bis die Erwachsenen sich ausgetauscht und ihr das Wort erteilt hatten. „Mein Name ist Manja Makarow. Mein Daddy und ich sind unterwegs zu meiner Tante nach New York“, stellte sie sich höflich vor. „Und du bist Offizier?“
Mathilda musste ein Schmunzeln unterdrücken, als Manja das formelle Sie einfach mal außer Acht ließ und William Murdoch direkt freundschaftlich ansprach. Der Offizier schien denselben Gedanken zu haben, denn er lachte leicht, wobei sein Blick kurz Mathilda erfasste.
„Da hast du ganz richtig gehört, Manja. Gibt es etwas, das dich interessiert?“ Offenbar ahnte der Mann schon, dass sie ihn nach ein paar Dingen fragen wollte.
Manja musste nicht lange überlegen und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Bäckchen wurden ganz rot vor Freude. „Ich hab viele Fragen!“
Als ein Räuspern hinter ihnen erklang und nicht nur Mathilda bemerkte, dass Juri unauffällig Manja bremsen wollte, klimperte die Kleine unschuldig mit den Wimpern. „Ein oder zwei Fragen“, verbesserte sie schließlich und die erste Frage kam schon wie aus der Pistole geschossen. „Sind wir denn schon viele Kilometer gefahren?“
Offenbar überrascht von dieser Frage hob Mr. Murdoch die Augenbrauen. Wie gewohnt hatte er die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und den Rücken durchgestreckt. „Nun ja, heute hat die Titanic ungefähr 519 Seemeilen zurückgelegt. Fast 150 mehr als gestern“, antwortete er ihr fachmännisch.
Ihre Augen wurden groß. „Fahren wir sehr schnell?“, war Manjas nächste neugierige Frage.
„Ziemlich, ja. Wir haben zwar noch nicht die Höchstgeschwindigkeit erreicht, aber in Anbetracht unseres aktuellen Fahrtweges, wäre das auch nicht vorteilhaft“, erwiderte Mr. Murdoch und eine ernste, warnende Note schwang in dieser Antwort mit.
Mathilda gefiel der Unterton in seiner Aussage nicht und daher mischte sich die neugierige Frau direkt ein. „Was meinen Sie damit? Ist die Route denn gefährlich?“ Während Mathilda sprach, hatte Manja interessiert zu ihr aufgesehen und da sie nichts erwiderte, schien auch sie gebannt auf die Antwort zu warten. Mathilda rügte sich gedanklich jedoch für diese Frage, da sie in Manjas Augen einen leichten Anflug von Angst vernehmen konnte.
Glücklicherweise erkannte auch Mr. Murdoch diesen Umstand und legte einen beruhigenden Gesichtsausdruck auf, während er erklärte: „Um diese Jahreszeit sind Eisberge keine Seltenheit. Sie treiben von Grönland an Neufundland vorbei in Richtung Süden. Daher ist es besser, wenn wir nicht unbedingt mit Höchstgeschwindigkeit durch diese Passage fahren.“
Der Wind pfiff eisig über das Deck, wobei Mathilda sich über die Arme rieb, Manja jedoch in Gedanken versunken zu sein schien. Das kleine Mädchen nickte nun zuversichtlich. „Ja, das wäre nicht gut, wenn wir so schnell da durch fahren würden“, sagte sie, als wäre sie selbst Crewmitglied, das sich mit einem Kollegen absprach, was William Murdoch zum lachen brachte. „Und was ist, wenn ein Eisberg direkt auf uns zu schwimmt?“, fügte Manja noch unsicher hinzu.
„Dann werden wir um ihn herumfahren“, grinste William, dem Manjas liebevolle Art zu fragen offenbar gefiel. „Deswegen passen wir Offiziere oben auf der Brücke ja auch besonders gut auf.“
Manja schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, denn nun überzog ihr rundes Gesicht wieder ein strahlendes Lächeln, das selbst diese Kälte hier an Deck vertreiben konnte. Mathilda und William stimmten in dieses zauberhafte Lächeln mit ein und schenkten einander einen kurzen, aber intensiven Blick.
„Manja, kommst du bitte. Der Wind nimmt zu“, rief Juri aus der Ferne, was Manja sofort den Kopf heben ließ. Sie nickte artig und verabschiedete sich schnell von Mathilda. William Murdoch bekam sogar einen höflichen Knicks vollführt und ein glückliches „Danke“. Danach hopste sie in kindlicher Manie in Richtung ihres Vaters. Dieser hob die Hand zur Verabschiedung.
Mathilda erwiderte den Gruß und Mr. Murdoch neben ihr tippte sich höflich an die Kappe. Mathilda sah den beiden noch nach, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren.
„Kinder“, lachte Mr. Murdoch schließlich.
Im nächsten Augenblick fand Mathildas Blick den ihres geliebten Offiziers. „Sie können froh sein, dass Manja in ihrer Fragerei gebremst wurde. Sicherlich hätte die Kleine Sie über jede einzelne Schraube ausgefragt“, merkte Mathilda fröhlich an. Trotz dieser eisigen Kälte hier draußen genoss sie das erneute Zusammentreffen mit dem Ersten Offizier, der ihr seit dem vergangenen Abend noch viel näher erschien.
„Sicherlich, aber ich denke, die Eisberge haben sie ein wenig verängstigt. Vielleicht hätte ich das lieber nicht ansprechen sollen. Ich wollte sie keineswegs verängstigen.“ Mr. Murdoch wirkte schuldbewusst.
„Es ist durchaus beängstigend, das ist richtig, aber ich bin mir sicher, dass Sie und Ihre Kollegen alles im Griff haben“, wiegelte Mathilda schnell ab und lächelte ihn offen an. An eine Gefahrensituation wollte sie lieber nicht denken. Doch konnte dieses majestätische Schiff überhaupt größeren Schaden nehmen? Die Titanic wirkte äußerst stabil und unzerstörbar. Genau darauf hoffte Mathilda.
William erwiderte ihr zauberhaftes Lächeln, was ihn dazu animierte, einen Schritt näher zu kommen. „Wenn ich anmerken darf“, begann er vorsichtig und seine Stimme wurde sehr leise. „Der gestrige Abend zählt für mich definitiv zu einen der schönsten, die ich je erlebt habe.“
Aufgrund dieses Kompliments zauberte sich eine sanfte Röte auf Mathildas Wangen. „Sie scherzen“, winkte sie ab und schob verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
„Garantiert nicht. Damit scherze ich nicht“, versicherte ihr der Offizier, wobei er schelmisch anfing zu grinsen. „Ich hoffe, ich habe dich... Sie damit nicht überrumpelt. Also, gestern Abend als...“ Und plötzlich war er es, der verlegen zu werden schien.
Dieser Umstand erfüllte Mathilda mit diebischer Freude. „Kann es sein, dass Sie gerade verlegen werden?“, grinste sie, fügte aber gleich hinzu: „Nein, überrumpelt würde ich es nicht nennen. Überrascht vielleicht. Aber eine positive Überraschung.“ Mathilda sah sich kurz um, wisperte dann aber: „Ich weiß, dass es nicht schicklich ist, aber... wenn Sie mich Mathilda nennen, dann wäre mir das wirklich sehr recht.“
William Murdoch legte den Kopf schief, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können, und lächelte geschmeichelt. „Das klingt verlockend“, merkte er an. „Unter uns darfst du auch gerne Will zu mir sagen.“
„Wunderbar, das würde mir sehr gefallen, Will.“ Mathilda war versucht, ihm mit der Hand über die Wange zu streichen, doch da sie nicht alleine waren, behielt sie ihre Hand bei sich.
„Ein Jammer, dass dieser schöne Tanzabend schon vorbei ist“, merkte William plötzlich an. Sein Blick schweifte über das endlose Meer. „Von meiner Seite aus hätten wir stundenlang weiter miteinander tanzen können.“
Mathilda folgte seinem Blick. Ihr entwich ein sehnsüchtiger Seufzer. „Dem kann ich nicht widersprechen“, sagte sie und stellte sich direkt neben ihn an die Reling. „Der Abend war wunderschön und um ehrlich zu sein, habe ich gestern ebenfalls darauf gehofft, Sie... ich meine, dich wiederzusehen.“
Er lachte leise. „Dann hatten wir denselben Wunschgedanken. Schön, wenn sich Wünsche noch erfüllen.“
Für einen kurzen Moment schwiegen beide und während Mathilda Williams bohrenden Blick spürte, sah sie weiterhin glücklich beseelt auf das Meer hinaus. In ihren Gedanken tanzte sie noch immer ihre Runden mit William Murdoch und sie konnte es kaum erwarten, erneut in seine Arme zu fallen. Aktuell war es kaum möglich, da sie genügend Zeugen im Nacken hatte. Dennoch kam ihr ein Gedanke, wie sie die lästigen Schaulustigen loswerden konnte.
„Wie ist denn die Schichtaufteilung heute unter euch Offizieren?“ Für Mathilda war es noch ziemlich ungewohnt den Führungsoffizier zu duzen. Aber es erschien ihr richtig, vor allem nach dem vergangenen Abend. Einen Mann, der sich einen sehnsüchtigen Kuss von ihr gestohlen hatte, durfte sie ruhig beim Vornamen ansprechen.
„Wieso?“ Der Blick aus diesen herrlich blauen Augen wurde so stechend heiß, dass Mathilda wackelige Beine bekam.
„Bitte sag es mir doch einfach“, bat Mathilda ausweichend. Unter seinem eindringlichem Blick begann es in ihrem Brustkorb heftig zu kribbeln.
„Na schön.“ William schien kurz zu überlegen. „Von fünf Uhr bis neun Uhr abends bin ich eingeteilt. Danach darf ich eine Weile ruhen und muss um ein Uhr nachts wieder auf die Brücke.“
Nun überlegte Mathilda und schlussfolgerte: „Das bedeutet, dass du jetzt freigestellt bist?“
„Ganz richtig, schöne Frau“, bemerkte er charmant. „An was denkst du?“
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch Mathilda wollte ihn in ihrer Nähe haben. Und da Edith nicht zu Gegend war, gehörte ihr die Suite vorerst alleine. „Wenn dir danach ist, können wir den Tanzabend nochmal aufleben lassen. Vielleicht siehst du nachher in meiner Kabine nach dem Rechten. Ich glaube, dass da irgendwas mit der Fensterverriegelung nicht stimmt.“ Sie zwinkerte lächelnd.
William Murdoch verstand und offenbar amüsierte es ihn. „Na, wenn dem so ist, dann werde ich mir das doch mal ansehen. Schließlich möchte ich nicht, dass die Damen frieren“, witzelte er, ehe der Offizier leise hinzufügte. „Geh ruhig vor, ich komme direkt nach.“
Für einen kurzen Augenblick setzte Mathildas Herzschlag aus. Durch ihre Adern schienen Schwärme von Ameisen zu krabbeln, so aufgeregt war sie. Hatte sie gerade ernsthaft einen Mann zu sich in die Kabine eingeladen? Ja, das hatte sie. Einerseits war da eine gewisse Scham vorhanden, so war sie doch eine junge, vornehme Dame aus reichem Hause, die es nicht nötig hatte, Männer einzuladen. Andererseits war da dieses Gefühl, das sich Liebe nannte, und sie vergessen ließ, in welch gehobener Welt sie lebte. Mathilda war eine junge Frau, die sich unsterblich verliebt hatte, und nun diesen wundervollen Mann ganz für sich alleine haben wollte. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, wollte von ihm in den Armen gehalten und nie mehr losgelassen werden.
Sie stimmte ihm nickend zu, ehe sich die junge Frau zögerlich von ihm abwandte. Während Mathilda nun ins Innere des Schiffes verschwand, überlegte sie, ob er wohl wusste, in welcher Kabine sie untergebracht war. Sicherlich konnte er das herausfinden oder fand jemanden, der es wusste.
Mathilda beeilte sich, um in ihre Kabine zu kommen. Dort angekommen vergewisserte sie sich, dass niemand hier war. Allerdings fühlte sie sich sofort wieder schäbig, da Edith nicht grundlos fern von ihrer Kabine blieb. Dennoch war sich Mathilda sicher, dass ihre Freundin sich köstlich darüber amüsieren würde. Dieses Mal nahm sich Mathilda fest vor, ihre Freundin direkt einzuweihen, wenn sie zurück war. Sicherlich würde es Edith amüsieren und aufbauen.
Mathilda zog ihre Jacke aus. Danach folgten Schal und Handschuhe. Nervös blickte sie sich um, als wolle sie sicher gehen, dass es hier aufgeräumt war. Wie zu erwarten fand Mathilda nichts, was es zu bemängeln gab. Bevor sie sich jedoch weiter Gedanken über den Zustand der Kabine machen konnte, klopfte es gegen die Türe.
Sie zuckte kurz in sich zusammen, ehe sie sich beeilte, die Türe zu öffnen. Für einen Augenblick hoffte Mathilda darauf, dass das erneute Treffen in der Kabine kein leeres Versprechen des Ersten Offiziers war, doch als sie im Türrahmen eben selbigen vorfand, verwarf sie diesen absurden Gedanken wieder. Niemals hätte ihr dieser Mann eine Lüge aufgetischt.
„Ma'am, wie ich hörte, haben Sie Probleme beim Öffnen und Schließen der Fenster“, erklärte er im strengen Offizierstonfall. Dabei setzte er einen gespielt ernsten Gesichtsausdruck auf.
Beinahe hätte Mathilda laut gelacht. Er war wirklich überzeugend, also spielte sie mit. Sie nahm eine gerade Haltung an. „Mr. Murdoch, wie gut, dass Sie die Zeit dafür erübrigen konnten. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie sich das mal ansehen könnten. Bitte, kommen Sie doch rein.“ Die junge Frau trat einen Schritt zur Seite, um den uniformierten Mann reinzulassen.
William schritt an ihr vorbei in die Kabine, konnte dabei aber sein amüsiertes Lachen nicht verstecken. Hinter ihm schloss Mathilda schnell die Türe, bevor noch jemand über den Gang schreiten und sie sehen konnte.
„Kein Wunder, dass diese Kabinen zu den teuersten gehören. Wirklich wunderschön.“ Der Klang seiner Stimme war nicht verachtend, sondern vielmehr beeindruckt. Neugierig sah sich der Mann um, blieb aber an Ort und Stelle stehen.
„Ja, das ist richtig. Edith hatte sich die Kabine ausgesucht. Sie hat einen unfassbar guten Geschmack. Für mich wäre eine kleinere Kabine aber auch akzeptabel gewesen“, merkte Mathilda an, während sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließ.
Der Erste Offizier schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Unsere Unterkünfte sind weitaus bescheidener. Ein Bett, ein Schrank, ein Waschtisch und ein Schreibtisch. Mehr nicht“, erzählte William, der sich immer noch nicht rührte, da auch Mathilda keine Anstalten machte, voran in einen anderen Raum zu gehen. Da kam wohl wieder der Gentleman in ihm durch. Sich in einer fremden Kabine umzusehen, gehörte sich schließlich nicht.
„Klingt bescheiden, aber ausreichend, schätze ich.“ Mathilda nestelte unruhig an ihrem Armband. Ihn direkt hier, in all ihrer Privatsphäre vor sich stehen zu haben, machte sie nervös. Sie waren unter sich, ohne neugierige Blicke.
William lächelte leicht. „Durchaus ausreichend, ja. Aber auf einem Schiff bin ich selten zum Vergnügen.“ Sein Blick veränderte sich plötzlich. „Nur diese Überfahrt ist irgendwie anders, was wohl an dieser wunderschönen Dame direkt vor mir liegen muss.“
Augenblicklich errötete Mathilda. Ihr Herz schien einen Überschlag zu machen. Komplimente verteilen konnte dieser Mann wie kein zweiter. Mathilda war Schmeicheleien durchaus gewohnt, aber meist waren diese nur oberflächlich oder es steckten zweideutige Absichten dahinter. William Murdoch verstand es jedoch, ihr durch seine ehrlichen Worte ein gutes Gefühl zu geben – und sie genoss es wie noch nie.
„Du hast bestimmt schon genügend hübsche Frauen gesehen“, sagte sie schließlich, als sie in all dem emotionalen Durcheinander, das in ihrem Inneren herrschte, ihre Fähigkeit zu sprechen wieder gefunden hatte.
Nun kam etwas Bewegung in den Mann, als er einen Schritt auf sie zu ging. Er streckte die Arme aus und griff nach ihren Schultern. Keineswegs grob, sondern vielmehr zärtlicher Natur. „Sicherlich gibt es viele hübsche Damen und einige davon haben durchaus schon mal meinen Weg gekreuzt“, begann William vorsichtig und bedachte sie mit einem tiefen Blick. Beinahe flüsternd fuhr er fort: „Aber niemals hat eine Frau mein Herz berührt. Und dann bist du mir begegnet.“
Diese Worte von ihm ausgesprochen zu hören, glich einem Traum. Ihre Unterlippe zitterte vor Aufregung und die Freudentränen standen ihr bereits in den Augen. Niemals hatte Mathilda solch schöne Worte von einem Mann gehört. Einem Mann, den sie ihr Herz geschenkt hatte, und offenbar empfand er dasselbe für sie.
Erfüllt vom Glück griff Mathilda nach seinen Händen, die noch immer auf ihren Schultern ruhten; spürte die Wärme, die von seiner Haut ausging.
Mathilda musste nun damit rechnen, dass ihre Beine jeden Moment nachgeben konnten, daher fragte sie direkt: „Darf ich dich denn jetzt, um den heutigen Tanz bitten?“
William zog amüsiert eine Augenbraue nach oben und nahm seine Hände langsam von ihren Schultern. Pietätvoll entfernte er sich einen Schritt, ehe er sich leicht vor ihr verbeugte. „Selbstverständlich, Mylady.“
Humor hatte dieser Mann, was Mathilda wieder schmunzelnd feststellen musste. „Ich wusste doch, dass in Schottland Manieren groß geschrieben werden. Ich bin entzückt, mein Herr“, stieg Mathilda in sein Theater mit ein. Hingebungsvoll knickste sie vor ihm.
Der eigentlich so standhafte Erste Offizier grinste spitzbübisch wie ein junger Bursche und hielt ihr auffordernd den Arm hin. „Die Briten mögen die Höflichkeit erfunden haben, aber wir Schotten wissen es, diese in Worte umzusetzen“, merkte William an, ehe er nun das schauspielerische Werk beendete und nachfragte: „Aber uns fehlt das Orchester zum tanzen. Oder singst du und ich pfeife im Takt mit?“
„Sicher nicht, aber ich habe meine eigene Musik. Folgen Sie mir unauffällig, Offizier Murdoch.“ Mathilda zwinkerte keck, was William überrascht dreinblicken ließ. Offenbar hatte der Offizier nicht mit einer solch flirtenden Gestik gerechnet. Allerdings erwiderte er nichts dergleichen, sondern folgte ihr in den nebengelegenen Raum. Mathildas Herz schlug bis zum Hals und nur mit großer Mühe konnte sie das Tuch von dem Grammophon ziehen, da ihre Hände vor Aufregung unkontrolliert zitterten.
William Murdoch stieß einen beeindruckten Pfiff aus. „Na, das nenne ich ein Orchester.“
„Ich habe es von meinem Vater bekommen. Ich liebe dieses wunderbare Musikinstrument!“ Mathilda reichte William stolz einige Platten. „Hier sind ein paar Musikstücke, die mir besonders gefallen.“
Williams Augen funkelten neugierig. Interessiert sah er die Platten durch und lachte bei einigen Titeln kurz auf. „Bill Murray, Ada Jones, Sophie Tucker – sogar Peerless Quartet. Ganz ohne Zweifel sind das großartige Künstler.“
„Ja, nicht wahr?“ Mathilda begann zu strahlen. Aus tiefstem Herzen erfreute sie sich daran, dass der Mann, der so dicht vor ihr stand, ihre Leidenschaft für Musik offenbar zu teilen schien.
„Vor allem dieses hier“, William drehte die Platte so, damit Mathilda das Cover sehen konnte, „Some of these days.“ Sein Blick fiel wieder auf das Musikstück in seinen Händen und ein familiäres Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er wirkte gedankenverloren. „Sophie Tucker gehört zu den liebsten Sängerinnen meiner Schwestern“, erzählte er. „Margaret und Agnes können stundenlang dazu tanzen.“
Über Mathildas Arme zog sich eine ausgewachsene Gänsehaut. Der liebevolle Tonfall, der aus seiner Erzählung mitschwang, rührte sie zutiefst. William Murdoch schien ein sehr familiärer Mensch zu sein und so hingebungsvoll wie er von seinen Schwestern sprach, konnte Mathilda ein Seufzen nicht unterdrücken.
„Offensichtlich haben deine Schwestern einen guten Musikgeschmack“, erkannte Mathilda an. Still fragte sie sich, ob sie die beiden wohl jemals kennenlernen würde? Und ob die Frauen ihrem Bruder ähnlich sahen? Vielleicht dieselben blauen Augen?
„Oh, du würdest sie garantiert mögen“, lachte William, wobei ihr der fröhliche Klang seines Lachens direkt warm unter die Haut kroch. „Allerdings war das für mich immer die reinste Qual gewesen, wenn die beiden getanzt und gesungen haben. Nicht etwa, weil sie schlecht waren, sondern vielmehr deshalb, weil sich mein Zimmer direkt unter dem der Mädchen befunden hat. Und mit ihren Tanzeinlagen haben sie mir meist den Schlaf geraubt.“
Während er von seinen emsigen Schwestern erzählte, erlaubte sich Mathilda, ihn nochmal genauer unter die Lupe zu nehmen und obwohl sie es niemals für möglich gehalten hätte, so bemerkte sie, dass dieser Mann von Sekunde zu Sekunde besser wurde. Mathilda war bis über beide Ohren verliebt, das konnte sie keinesfalls mehr leugnen. So erhoffte sie sich nun, seine Schwestern in Zukunft persönlich kennenlernen zu dürfen. Seine Familie klang so liebenswert, dass sich Mathilda bei seiner Erzählung sofort heimisch fühlte.
„Herrje, das klingt nach einer Menge.... Spaß“, grinste Mathilda und musste kindlich kichern, als sie Williams verschmitzten Blick auffing. Für ihn schien es damals eine echte Tortur gewesen zu sein.
„Ich weiß, es ist ein bisschen vorausgegriffen, aber...“ Unschlüssig drehte William die Platten ein seinen Händen hin und her. „Vielleicht möchtest du mich nach dieser Reise für eine kurze Zeit in meine Heimat begleiten?“
Für einen Augenblick hatte Mathilda diese Aussage als Spinnerei abgetan, aber sein Blick sprach eine andere Sprache. Was, wenn er es wirklich ernst meinte?
Offenbar missverstand er ihre plötzliche Verschwiegenheit und erklärte schnell: „Entschuldige, da war ich wohl ziemlich voreilig. Tut mir leid, wenn ich dich damit bedrängt habe.“
„Was? Nein, ganz und gar nicht! Ich war nur... es ist... naja...“ Mathilda wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Ihr ganzer Kopf schien wie in Nebel gehüllt zu sein, was sie am Denken hinderte. Sie wedelte wild mit den Armen und fand schließlich ein paar Worte, die irgendwie doch noch einen Satz ergaben. „Ich hatte nur nicht angenommen, dass du es ernsthaft in Erwägung ziehen könntest, mich in deine Heimat mitzunehmen.“
Nun lächelte der Mann wieder. In seinen blauen Augen blitzte Erleichterung auf. „Wie könnte ich dich anlügen, meine Liebe?“, sagte er nun voller Wärme und Hingabe.
Mathildas Puls galoppierte los wie ein wildes Pferd. „Du machst es meinem Gemüt nicht einfach. Mein Puls schnellt schon wieder nach oben“, warf sie ihm mutig entgegen. „Such dir ein Lied aus. Bitte, sonst bringst du mich wieder in Verlegenheit.“ Langsam wurde Mathilda ungeduldig. Bei all diesen liebevollen Worten konnte sie kaum mehr an sich halten. Sie wollte diesem Mann einfach nur nahe sein!
Ein heiteres Lachen erfüllte den Raum. „Ich kann dich weder anlügen noch dir einen Wunsch abschlagen. Also schön.“ Erneut sah sich William die Platten durch, obwohl er sie wahrscheinlich schon auswendig kennen musste. „By the light of the silvery moon“, entschied er sich schließlich.
„Dein Wunsch sei mir Befehl.“ Mathilda nahm ihm das gewünschte Musikstück aus der Hand, zog die Platte aus der Hülle und platzierte sie auf dem Grammophon. Mit einigen flinken Fingerbewegungen drehte sich die Scheibe schließlich und begann damit, die gewünschte Melodie abzuspielen.
William Murdoch entledigte sich seines Mantels und hängte ihn sachte über die Lehne des nächstbesten Stuhls. Mit zitternden Händen ergriff Mathilda die Hände ihres Liebsten. Auf der Feier von Bernard Middleton war sie noch um einiges mutiger und selbstbewusster gewesen. So war sie dort doch gefangen in dem Rausch des Moments, welchen Middletons Feier getragen hatte. Die vielen Menschen, die nichts anderes wollten, als glücklich zu sein, Spaß zu haben und einen schönen Abend zu genießen. Mathilda war eine von ihnen gewesen. Sie war wie benebelt von dem rauschenden Fest.
Aber hier, in ihrer Kabine, war sie alleine mit ihm. Und so sehr sie es genoss, ihn ganz für sich zu haben, so ängstigte sie es auch irgendwie. Allerdings verpuffte diese Angst gleich wieder, als William sie nahe an sich heranzog. Sofort kehrte das Gefühl von Sicherheit zurück und Mathilda fühlte sich augenblicklich wieder wohl. Niemals wieder wollte sie diesen schützenden Hafen verlassen.
Mittlerweile hatten die beiden einen gemeinsamen Rhythmus gefunden und drehten langsam ihre Kreise, wobei sie sich ständig neckisch anlächelten, amüsiert miteinander Worte austauschten und in gewissen Momenten bei der Melodie mitsummten.
Mathilda genoss diese wenigen Minuten, die für sie ewig anhalten könnten. Sehnsüchtig blickte sie in sein sympathisches Gesicht, woraus sie sein herrliches Augenpaar anstrahlte. Das Glitzern darin erinnerte sie an das wunderschöne Meer, das sie umgab. Stundenlang hätte sich Mathilda in seinen Augen verlieren können.
„Könnten wir noch ein anderes Lied auflegen?“ Seine Frage kam aus dem Nichts und überraschte Mathilda, die irritiert nickte. „Gut.“ William unterbrach den Tanz, wandte sich zum Tisch um und suchte nach der entsprechenden Platte. Er wurde schnell fündig, denn im Handumdrehen hatte er die Platten ausgetauscht und ein neuer Song erfüllte den Raum.
Erneut meldeten sich Mathildas Hormone, die ihrem Herzschlag wieder Dampf machten. Die Klänge von „Let me call you Sweetheart“ des Peerless Quartets schwangen nun lieblich durch den Raum. Mathilda lauschte verträumt dem Klang, während William sich mit einer lockeren Handbewegung die Kappe vom Kopf fischte und ebenfalls auf den Stuhl legte. Er fuhr sich einmal geschwind durch die braunen Haare, ehe er Mathilda wieder an sich heranzog.
Mathilda lachte entzückt, als sie wieder ganz dicht bei ihm stand. Nun war er ihr noch gefühlt ein Stück näher, was Mathilda zwar nicht aus der Fassung brachte, aber sämtliche Hormone durcheinander wirbeln ließ. Nie zuvor hatte sie solch eine Achterbahnfahrt der Gefühle erlebt.
William zog sie so dicht an sich, dass zwischen ihre Körper nicht einmal mehr ein Blatt Papier gepasst hätte. Mathilda ließ es zu und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie fühlte sich unendlich geborgen, was ihr erlaubte, die Augen zu schließen. Eine ihrer Hände ruhte mittlerweile auf seiner Brust und sie konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. William hatte eine seiner Hände unterdessen auf ihrem Rücken liegen und strich in sanften Bewegungen auf und ab.
Ein seliges Lächeln überzog Mathildas hübsches Gesicht. Die Wärme, die von ihm ausging, und der ihr vertraute Geruch des Rasierwassers hüllten Mathilda in eine schützende Wolke ein. Sie ließ sich komplett fallen und genoss einfach nur noch. William schien ihre entspannte Haltung zu bemerken und drückte sie noch ein Stück enger an sich, während er seine Wange an ihre Schläfe legte.
Der rhythmische Tanz war in der Zwischenzeit nur noch zu einem verträumten Schunkeln geworden, was Mathilda allerdings nicht störte. Im Gegenteil – es erlaubte ihr, seine Nähe voll und ganz zu genießen.
„Let me call you Sweetheart, I'm in love with you“, wisperte William leise in ihr Ohr und bescherte ihr somit eine wiederkehrende Gänsehaut, die sich über Mathildas kompletten Körper zog. „Let me hear you whisper that you love me too.“ Er lachte leise.
Mathilda hob ihren Kopf, der bis gerade eben noch auf seiner Schulter geruht hatte, und blickte ihm verlangend in die Augen. „Keep the love-light glowing in your eyes so true. Let me call you Sweetheart“, vervollständigte Mathilda die Strophe und fügte leise, aber mit Nachdruck hinzu: „I'm in love with you.“
Das Schunkeln wurde weniger, da William sie im Augenblick eindringlich zu mustern schien. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Wog er ab, ob sie es ernst meinte? Als er in der Tanzbewegung komplett inne hielt, änderte Mathilda die Position ihrer Hände und glitt damit langsam an seinen Hals, spürte seine warme Haut unter ihren Fingerkuppen, die unter Strom zu stehen schienen.
In seinen Augen brannte das Verlangen, das Mathilda nur allzu bekannt war. Ihr ging es nicht anders. Und so stand ihr Herz einen Augenblick still, als er seinen Kopf langsam zu ihr hinabbeugte. Zuerst dachte Mathilda, er wolle seine Stirn gegen ihre lehnen, wie er es am Tag zuvor getan hatte, doch sie irrte sich.
William bat dieses Mal weder um Erlaubnis noch warnte er sie vor – nein, er tat es einfach. Und als Mathilda seine Lippen auf ihren spürte, kam dieser innere Sturm wieder auf, der sie in die Knie zu zwingen drohte. Tausend Schmetterlinge tanzten durch ihre Glieder und das Feuer, das ihre Mitte erfüllte, drohte sich auszubreiten.
Doch im Vergleich zum vergangenen Abend, war dieser Kuss um einiges intensiver, fast schon stürmisch. Mathilda stand in Flammen, als seine Zunge langsam über ihre Lippen strich und wie von selbst drückte sie sich noch enger an ihn, öffnete ihren Mund und ließ sich auf dieses leidenschaftliche Spiel ein.
Die kleine Stimme in ihrem Kopf, die sie ermahnte und in Erinnerung rief, dass sie verbotener Weise einen Schiffsoffizier auf dessen Dienstreise in stiller Zweisamkeit küsste, war selbstverständlich da, doch Mathilda ignorierte sie. Sollte diese Stimme doch schreien, toben und sie ermahnen – ihr war es egal. Mathilda lag in den Armen ihres Liebsten, der ihr mit diesem Song durch die Blume mitgeteilt hatte, sie zu lieben. Gedanklich warf Mathilda all ihre guten Manieren und das damenhafte Gehabe über Bord und ließ sich von der Leidenschaft und der Erregung, die ihren Körper vibrieren ließ, führen.
Ihre Hände wanderten von seinem Hals in seinen Nacken und schließlich strich sie sanft, aber bestimmend durch seine Haare. Am liebsten hätte sie laut in die Welt hinausgeschrien, wie glücklich sie war, aber ihr reichte es im Moment aus, dass sie ihren Will so nah bei sich spüren konnte.
William gab ihr einen Moment Raum, um Luft zu holen, wanderte mit seinen Lippen aber zärtlich über ihre erhitzten Wangen und hinab an ihren Hals. In dieser Sekunde keuchte Mathilda erschrocken auf. Ein Kribbeln peitschte durch ihren Körper und die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Es fühlte sich unglaublich gut an, wie dieser Mann sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich berührte.
Mathilda biss sich neckisch auf die Lippe, ihr Griff in seinem Haar hatte sich verstärkt und in ihren Augen hätte dieser Moment nicht enden dürfen.
Doch er tat es – in Form eines lauten Klopfens an der Türe.
Erschrocken fuhren Mathilda und William auseinander. In den Augen des jeweils anderen war Enttäuschung zu lesen. In Mathildas Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das erst wieder sortiert werden musste.
Erst beim zweiten Klopfen wusste Mathilda, dass sie jetzt reagieren musste. Im Augenwinkel erkannte sie, wie William sich außer Sichtweite stellte, um vom Verursacher des Klopfens nicht gesehen zu werden.
Mathilda schmunzelte. Trotz der Tatsache, dass es in der höheren, verbohrten Gesellschaft nicht gern gesehen wurde, was sie da tat, gefiel Mathilda der Reiz des Verbotenen. Obwohl es ihr lieber gewesen wäre, aller Welt zu zeigen, dass dieser Mann zu ihr gehörte.
Mathilda öffnete schnell die Türe und blickte in das Gesicht eines Stewarts, der gerade erneut die Hand hob, um zu klopfen. „Ja, bitte?“
„Oh, Miss Briscom, verzeihen Sie die Störung, aber Dr. O'Loughlin lässt nach Ihnen schicken“, eröffnete der Mann mit dem dunklen Haar und der langen, geraden Nase.
Die Hitze in Mathildas Körper sank auf den Nullpunkt. Das klang nicht gut und sie ahnte, dass es mit Edith zu tun hatte. „Was? Wieso?“
„Er sagte nur, dass er Sie gerne sprechen möchte. Bitte, ich geleite Sie gerne.“ Der höfliche Stewart bot ihr einen Arm an, doch Mathilda verneinte freundlich.
Der Stewart nahm das zur Kenntnis und verabschiedete sich. Mathilda schloss gedankenverloren die Türe und blieb erst einmal regungslos dort stehen. Unterdessen kam auch William wieder um die Ecke. Inzwischen trug er auch seine Kappe und den Mantel wieder.
„Ich begleite dich, wenn du möchtest“, bot ihr William Murdoch an.
Mathilda nickte abwesend. Sollte jeder doch sehen, dass der Erste Offizier sie zum Schiffsarzt geleitete. Ihr war es egal. Nach diesem traumhaft schönen Moment mit William, holte sie die verzwickte, ernste Situation mit Edith wieder ein.
Gedanklich war Mathilda schon bei Edith, jedoch entging es ihr nicht, wie sich starke Arme von hinten um ihren Körper schlängelten und ihr den nötigen Halt gaben. Obwohl das Grammophon längst keinen Ton mehr spielte, summte eine Stimme in Mathildas Kopf immer weiter.
„When the silvery moonlight gleams, still I wander on in dreams. In a land of love, it seems, just with you.“
Und wenn ich aufwache, ist da nur noch Stille. Kein schützender Halt, keine Musik, kein Tanz. Nur ich in meiner Einsamkeit.