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Als der Traum noch lebte

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character) Thomas Andrews William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
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Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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12.01.2022 5.933
 
12. April 1912


Mittlerweile befand sich die Titanic weit auf dem offenem Meer. Ringsherum nur der unendliche Ozean, der mit dem blauen Himmel um die Wette glitzerte. Die Crew hätte sich kein besseres Wetter und keine ruhigere See wünschen können.
Mathilda und Edith befanden sich inzwischen im Speisesalon der Ersten Klasse, durch dessen Bleiglasfenster die Sonne ins Innere schien und die gute Laune der Gäste ins Unermessliche steigen ließ. Jeder Einzelne von ihnen genoss die gute Gesellschaft, die informativen Gespräche und vor allem das großartige Essen!

Mathilda genehmigte sich neben frischen Früchten auch geräucherten Lachs und ein Omelett mit Tomaten. Edith hatte sich für Backäpfel, Gemüse-Eintopf und einem gekochten Ei entschieden. Hinzu gab es für jede von ihnen Maisbrot, Honig, Marmelade und ihren geliebten Tee.
Mathilda genoss das reichhaltige Frühstück und ignorierte Ediths bohrende Blicke, die sie seit dem Erwachen ereilte. Sie grinste amüsiert, was Edith sicherlich nicht gefiel.

Das rhythmische Klopfen, das der Löffel verursachte, als Edith das weich gekochte Ei bearbeitete, unterstrich ihren starren Blick, der auf Mathilda gerichtet war. Ihr lag eindeutig etwas auf der Zunge, was sie im nächsten Moment elegant umschrieb.
„Du warst gestern ganz schön lange weg. Ich habe natürlich schon geschlafen, als du zurück gekommen bist“, erklärte Edith, wobei sie den Blickkontakt zu ihrer Freundin kurz unterbrach, um nach ihrer Teetasse zu greifen.

In ihrer eigenen Tasse drehte Mathilda mit dem Löffel munter ihre Kreise und schenkte Edith ein gemeines Grinsen. Tatsächlich war sie noch eine ganze Zeit lang mit Mr. Murdoch an Deck unterwegs gewesen. Ein Gespräch mit dem sympathischen Offizier zu führen war sehr einfach, da er ein wirklich umgänglicher Mensch war. Außerdem – und das überwog – fühlte sich Mathilda in seiner Nähe sehr wohl. Und so hatten sie sich über alle möglichen Themen ausgetauscht. Edith hatte tatsächlich schon geschlafen, als Mathilda durch die Türe gekommen war.
„Das habe ich bemerkt.“ Mathilda grinste noch immer. „Dass du nicht auf mich gewartet hast, kränkt mich.“

Ediths giftiger Blick wanderte über den Tisch. Sie hielt in ihrer Bewegung inne, wobei ihre Hand gerade nach dem Gläschen mit der Marmelade greifen wollte. „Irgendwann muss auch ich schlafen. Meine Haut benötigt viel Schlaf. Außerdem hättest du mich kurz wecken und mir alles berichten können“, brummte Edith und zog das Glas zu sich heran.

„Damit du so aufgeregt bist und keine Ruhe mehr findest?“, konterte Mathilda süffisant. Sie war äußerst zufrieden, wie der Abend abgelaufen war und allein bei dem Gedanken an die zärtliche Berührung auf ihrer Wange, prasselte ein kleines Feuer in ihrem Inneren.

Ediths finsterer Blick wurde schnell wieder sanft. Nun lächelte auch sie wieder. „Du wirkst auf mich sehr glücklich. Das freut mich“, entgegnete sie. „Aber jetzt möchte ich es genau wissen“, Edith lehnte sich leicht über den Tisch, „habt ihr nur geredet?“

„Was sollten wir sonst getan haben?“ Mathildas neu gewonnenes Selbstbewusstsein verabschiedete augenblicklich und die Röte kroch ihr verräterisch in die Wangen. Hastig griff sie mit ihrer Gabel nach einer Scheibe Räucherlachs und platzierte sie auf ihrem Maisbrot.

„Du errötest“, stellte Edith überflüssig fest. Zufrieden lehnte sich die elegante Frau in ihrem Stuhl zurück. „Gut, du willst es mir also nicht erzählen. Das finde ich wirklich beklagenswert.“

Bevor Mathilda etwas erwidern konnte, betrat Mr. Andrews den Raum. Wie immer war er äußerst elegant gekleidet und als der kluge Mann die beiden Frauen erspähte, nickte er ihnen höflich zu. Mathilda und Edith erwiderten den Gruß gleichzeitig.
„Gestern ist uns Mr. Andrews an Deck begegnet. Er ist ein ganz wunderbarer Mann. Du ahnst gar nicht, worüber er sich Gedanken macht“, wechselte Mathilda elegant das Thema.

Glücklicherweise ging Edith auf dieses Thema sogar ein, indem sie sagte: „Das kann ich mir gut vorstellen. Immerhin schleppt er ja auch ständig dieses Notizbuch mit sich. Aber sag mal, hat dir Mr. Murdoch zufällig was erzählt, was wir heute auf dem Schiff unternehmen könnten?“

Zwar schwang in Ediths letztem Satz deutlich eine Frage nach dem freundlichen Offizier mit, aber Mathilda ignorierte es gekonnt. Sie wusste, dass Edith nur wissen wollte, worüber sie und der Offizier gesprochen hatten. „Tatsächlich hat er mir von dem Schwimmbad und dem Türkischen Bad erzählt. Letzteres besteht aus Dampf-, Heiß- und Warmbad. Und natürlich aus einem Abkühlraum“, erzählte Mathilda aufgeregt.

„Das ist grandios. Sowas hat es noch nie auf irgendeinem anderen Schiff gegeben!“, freute sich Edith. „Was meinst du, wenn wir uns diese Räumlichkeiten heute mal ansehen?“

„Von mir aus gerne. Laut Mr. Murdoch befinden sich diese Räume auf dem F-Deck, wo immer das auch sein mag.“ Mathilda bemerkte Ediths triumphierendes Grinsen. „Ja, du weißt natürlich, wo sich das befindet. Übrigens, Sherlock Holmes, ab zehn Uhr bis dreizehn Uhr dürfen die Damen den Bereich nutzen. Wir könnten uns also gleich mal eintragen.“


*****



Es war keine sonderlich große Überraschung gewesen, dass Edith tatsächlich wusste, wohin sie gehen mussten. Mathilda konnte wirklich von Glück reden, eine Freundin zu haben, die sich so vorbildlich in ihrer Umgebung zurecht fand. Zwar hätten die beiden Damen auch nach dem Weg fragen können, aber es war doch einfacher, wenn eine von ihnen sich orientieren konnte. Und so hatten sich die Frauen im Fahrstuhl von dem jungen Liftboy, der nicht älter als siebzehn Jahre alt sein musste, zum F-Deck bringen lassen. Der freundliche junge Mann hatte ihnen dann noch den Weg zu den Bädern erklärt. Glücklicherweise lagen die Räumlichkeiten ganz in der Nähe des Aufzugs und der Treppe.

Tatsächlich gehörten die Türkischen Bäder und der daran anschließende Abkühlraum zu den imposantesten Räumlichkeiten hier auf dem Schiff. Mathilda hatte niemals markantere Vier-Wände gesehen. In vielerlei Hinsicht. So viele Farben und Goldtöne in einem Raum ließ die beiden Frauen aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, und so kam Mathilda nicht umhin, während des Ganges ins Dampfbad und dem darauffolgenden Abkühlen sich staunend umzusehen.
Die Bullaugen waren mit kunstvollen Schnitzereien in orientalischen Mustern verdeckt und die Fließen schimmerten in den buntesten Farben. An der Decke hingen bronzefarbene Lampen, die ebenfalls wirkten, als stammten sie direkt aus einem orientalischen Märchen. Noch nie in ihrem Leben war Mathilda im Orient gewesen, aber wenn sie sich den fernen Osten vorstellen konnte, dann in diesen herrlichen Farben mit einem magischen Ambiente wie diesem.

Gemütlich streckte sich Mathilda auf einem der Liegesofas und genoss die Zeit in diesem surrealen Raum. Edith befüllte derweil zum gefühlt hundertsten Mal ihr Glas an dem Trinkwasserbrunnen, der sich an der Wand befand. Ihr Husten war heute Morgen schon deutlich hörbar gewesen, aber er schien sich von Stunde zu Stunde zu verschlimmern. Selbst jetzt, hier im warmen Bad, wurde Ediths Husten nicht besser.

Edith setzte sich auf das Liegesofa neben Mathilda und trank ihr Glas fast in einem Zug aus. „Der Husten wird immer schlimmer“, kommentierte Mathilda Ediths darauffolgenden Hustenanfall.

„Das legt sich schon wieder“, brachte Edith zwischen einigen schmerzhaften Hustern hervor. Sie legte ihre Hände so krampfhaft um das Glas, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Mathilda seufzte schwer. Die Lungenprobleme ihrer Freundin waren für sie nicht neu. Damals, als Paul McClary beigesetzt wurde, lag Edith mit einer starken Lungenentzündung im Bett und war nicht fähig an der Beerdigung ihres Mannes teilzunehmen. Viele erachteten es als pietätlos, aber Mathilda wusste es besser. Schließlich kämpfte Edith schon seit ihrer Kindheit mit akutem Heuschnupfen, Reizhusten und Lungenproblemen. Über die Jahre hatten sich die Hustenanfälle auf die Stabilität ihrer Lunge ausgewirkt, sodass Edith noch immer mit den Folgen zu kämpfen hatte. Eine Erkältung war daher kein Spaß für die junge Frau und so wie es aussah, hatte sich Edith wohl abends draußen an Deck verkühlt.

„Edith, bevor sich dein Zustand verschlimmert, solltest du den Schiffsarzt aufsuchen“, merkte Mathilda besorgt an. „Du weißt doch, dass du eine Erkältung nicht nachlässig betrachten sollst.“

Ein paar Mal hustete die dunkelhaarige Frau, ehe sie ihrer Freundin antworten konnte. „Ja, sicher, das weiß ich doch. Du klingst schon wie meine Mutter“, murrte sie, lächelte dann aber verträumt. Ihre Augen hatten einen warmen, aber bedauernden Ausdruck angenommen. „Oder wie Paul. Er hat sich immer so um mich gesorgt.“

Mathilda legte den Kopf schief und erwiderte ihr Lächeln. „Er war dir ein guter Ehemann. Schade, dass er uns auf dieser Reise nicht mehr begleiten kann. Offizier Murdoch kannte ihn übrigens flüchtig.“

Nun schien Edith wieder bei vollstem Bewusstsein und ins Hier und Jetzt zurückgekehrt zu sein. „Aha, Offizier Murdoch also. Ich frage mich, wie tief euer Gespräch ging“, sagte sie, als wäre sie ein Polizist, der einem Verdächtigen ein Geständnis entlocken wollte.

Genauso ertappt wie ein Verbrecher blickte Mathilda drein. „Jetzt hör damit auf! Wir hatten eine nette Unterhaltung, sprachen über das Schiff, unsere Herkunft und ein paar andere Dinge“, wiegelte Mathilda schnell ab. Angespannt warf sie einen Blick über ihre Schulter. Hier im Abkühlraum waren sie immerhin nicht alleine. Mathilda wusste genau, wie gerne die Damen der Ersten Klasse schnatterten und einige davon saßen in hörbarer Reichweite. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand Wind von ihren Gefühlen zu dem Führungsoffizier bekommen würde. Sie wäre sofort das Gesprächsthema Nummer eins hier an Bord.

„Irgendwann bekomm ich es noch heraus. Auch wenn ich Mr. Murdoch danach fragen muss“, tönte Edith, aber Mathilda wusste genau, dass das nur eine leere Drohung war. Selbst wenn sie die Neugierde in Person war, aber so weit würde Edith niemals gehen.

Mathilda rollte mit den Augen. „Paul hätte dich dafür getadelt. Er hat schon immer gesagt, dass du deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken sollst“,  brummte Mathilda, wobei sich noch während Ediths erneutem Hustenanfall hinzufügte: „Außerdem hätte er dich längst zum Arzt geschleppt.“

Ediths zart geschwungene Lippen formten ein Schmunzeln. „Ich stell mir gerne vor, wie er da oben sitzt und sich über mich amüsiert.“ Edith nahm nochmal einen Schluck ihres Wassers. „Selbst wenn es nicht die große Liebe war, so habe ich ihn doch sehr gemocht. Ich hätte mir durchaus auch Kinder mit ihm vorstellen können. Aber dafür ist es jetzt leider zu spät.“

Mathilda konnte das Bedauern in der Stimme ihrer verwitweten Freundin heraushören und fand tröstende Worte. „Du wirst bestimmt einmal Kinder haben und Paul hält dann schützend seine Hand über euch. Da bin ich mir sicher. Und jetzt werde ich in seinem Sinne handeln und dich zum Arzt bringen.“


*****



Dr. William Francis Norman O'Loughlin war ein kräftiger Mann, dessen weißer Kittel am Körper anlag, als wäre er eine zweite Haut. Durchdringende dunkle, aber sehr warme und fürsorgliche Augen blickten auf seine Patienten, wenn sie vor ihm saßen. Der weiße Schnurrbart in seinem Gesicht war so kunstvoll frisiert, als sei es sein Markenzeichen.

Mathilda hatte kurzen Prozess gemacht und ihre Drohung in die Tat umgesetzt. Da Edith sich partout geweigert hatte, einen Arzt aufzusuchen, hatte Mathilda ihr die Entscheidung abgenommen und sie unter Aussicht, sie über das Gespräch mit Mr. Murdoch in Kenntnis zu setzen, auf die Krankenstation gelockt.
Glücklicherweise hatte der freundliche Mann, der den Lift bediente, ihnen erklärt, wo sie das Hospital auf dem D-Deck finden konnten. Dieses Mal war es sogar Mathilda gelungen, die ärztliche Station ausfindig zu machen.

Somit saß Edith nun widerwillig in dem Behandlungszimmer, das so professionell wirkte, wie ein Krankenhaus an Land. Mathilda war beeindruckt – wie eigentlich von so ziemlich allem hier an Bord. Neugierig beobachtete sie Dr. O'Loughlin, der sich gerade noch mit seinem Assistenzarzt Dr. Simpson beratschlagte, ehe er den beiden Frauen seine Aufmerksamkeit widmete.

„So, die Damen, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte der Arzt, dessen Stimme eine kernige Note besaß.

„Meine gute Freundin, Mrs. McClary, kämpft mit einem starken Husten“, fasste Mathilda knapp zusammen, fügte aber noch hinzu: „Schon seit Kindheit an, leidet sie an akuten Lungenproblemen und Reizhusten. Ich vermute, sie hat sich gestern an Deck verkühlt.“

Dr. O'Loughlin brummte etwas unverständliches, während er mit verschränkten Armen hinter seinem Rücken auf und ab lief, aber den Erklärungen genaustens zu lauschen schien. Er wirkte genau so, wie sich wohl jeder einen Arzt vorstellte, und Mathilda war sich sicher, dass er sein Handwerk in vollem Umfang beherrschte. Zumindest wirkte er so.

„Sicherlich ist es nichts schlimmes“, wiegelte Edith ab, die offensichtlich keine Umstände machen wollte und deshalb so leichtfertig mit ihrem Husten umging.

Mathilda warf Edith einen mahnenden Blick zu, was diese unbeeindruckt erwiderte. „Dennoch sollte es untersucht werden. Was, wenn es schlimmer wird? Du weißt, wie es dir dann geht und auch, was für Auswirkungen es auf deine Lunge haben kann“, giftete Mathilda besorgt.

Dr. O'Loughlin kam vor Edith, die auf einem Stuhl saß, zum Stehen und schien sie zu mustern. „Wissen Sie, ich muss Ihrer Begleitung beipflichten“, stimmte er Arzt zu. „Wenn Sie schon vorbelastet sind, dann sollten wir Sie dringend untersuchen. Es kann natürlich auch nichts sein, aber so sind Sie auf der sicheren Seite.“

Edith seufzte resigniert. Sie hob die Hände in stiller Kapitulation. Anscheinend ahnte Edith, dass sie den Raum nie wieder verlassen würde, wenn sie nicht augenblicklich eine Untersuchung über sich ergehen lassen würde, daher sagte sie: „Fein, dann beuge ich mich.“

Dr. O'Loughlin lächelte zufrieden. „Es ist nur das Beste für Sie“, versicherte er, wobei er sich nun zu Mathilda umwandte. „Aber ich pflege, die Patienten zu untersuchen, ohne die neugierigen Augen von Familienmitgliedern im Nacken zu haben.“ Ein schelmisches Lächeln blitzte unter seinem markanten Bart hervor.

„Verstehe.“ Mathilda erwiderte das freundliche Lächeln, sah dabei nochmal kurz zu Edith. „Soll ich die Patientin dann wieder abholen?“

„Nein, ich werde nach jemandem schicken, der Mrs. McClary zu Ihrer Kabine zurückbringen wird“, entgegnete Dr. O'Loughlin. Er reichte Mathilda die Hand und ergänzte noch mit Nachdruck: „Ich versichere Ihnen, dass sie in guten Händen ist.“

„Daran hab ich keine Zweifel“, merkte Mathilda an, schüttelte dem freundlichen Mann die Hand und zwinkerte Edith zu. „Wir sehen uns nachher.“

Nachdem Mathilda auf den Flur getreten war, schloss Dr. O'Loughlin die Türe hinter ihr. Unschlüssig stand Mathilda noch wenige Augenblicke auf dem Flur, starrte die Türe nieder, ehe sie den Rückweg zu ihrer Kabine antrat. Im Moment konnte sie Edith nicht helfen und bei Dr. O'Loughlin war sie immerhin in besten Händen.
Mathilda seufzte ergiebig, während sie den Aufzug betrat. Neben ihr stand ein ihr unbekanntes Pärchen, das leise miteinander tuschelte und kicherte. Sie wirkten auf Mathilda sehr verliebt und wären sie oder der Liftboy nicht anwesend gewesen, dann hätten die beiden Liebenden garantiert ein paar zuckersüße Küsse ausgetauscht. Aber in dieser hohen Gesellschaft waren öffentliche Liebesbekundungen nicht immer gern gesehen. Somit mussten sich die beiden zügeln.

Wieder entwich Mathilda ein Seufzer, als sie den Aufzug wieder verließ. Gedankenverloren schritt sie die eleganten Flure zu ihrer Kabine entlang, strich dabei gelegentlich über die Verzierungen an den Wänden. Mittlerweile hatte sich sogar Mathilda den Weg dorthin gemerkt und dieses Mal war sie dort sogar angekommen, ohne sich zu verirren. Nicht auszudenken, wenn sie sich verlaufen hätte und vor den Offiziersunterkünften gelandet wäre – allerdings...

Mathilda schmunzelte verlegen, als sie daran dachte. Sie schloss die Türe hinter sich und schritt auf das private Promenadendeck ihrer Kabine. Nachdenklich blickte sie hinaus auf die See, ihre Gedanken wanderten jedoch wieder weit weg zu Offizier Murdoch. Hatte ihm der Abend auch gefallen? Oder bereute er die Zeit mit ihr? Bestimmt nicht, sonst hätte er sich nicht so lange mit ihr unterhalten. Ob er wohl an sie dachte? Schlich sich vielleicht Mathilda auch hin und wieder in die Gedanken des attraktiven Offiziers? Es wäre wohl zu schön, um wahr zu sein.

„Träumerin“, rügte Mathilda ihre eigene Person und wandte sich vom Fenster ab. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, schlenderte die junge Frau durch die Kabine. Ihre Hand glitt dabei verträumt über ihr geliebtes Grammophon, das sie vor wenigen Jahren von ihrem Vater zu ihrem Geburtstag bekommen hatte. Seitdem hatte sie es fast jeden Tag angeworfen und die unterschiedlichsten Platten aufgelegt. Da war es natürlich selbstverständlich, dass das geliebte goldene Musikgerät sie auch nach Amerika begleiten musste.

Mathilda hatte sich gerade dazu entschieden, eine Platte aufzulegen, als ihr ein anderer Gegenstand ins Auge fiel. Besser gesagt, ein Kleidungsstück. Mr. Andrews' Mantel hing über einer Stuhllehne und wartete noch immer darauf, zurück zu seinem Besitzer gebracht zu werden.
Erschrocken erinnerte sich Mathilda nun daran, dass sie dem Chefkonstrukteur den Mantel zurückbringen wollten, nachdem er der jungen Frau von neulich diesen umgelegt hatte. Damit änderten sich Mathildas Pläne und sie schnappte sich schnell den Mantel. Mr. Andrews hatte während dem Mittagessen gestern zwar nichts erwähnt und Mathilda war sich sicher, dass er noch genügend andere Mäntel besaß, aber dennoch wollte sie das teure Stück Stoff wieder bei seinem Besitzer wissen.

Hastig schnappte sie sich somit den dunkelgrauen Mantel und kehrte auf den langen Flur zurück. Allerdings musste Mathilda nun in Erfahrung bringen, wo sich die Suite A-36 denn überhaupt befand. Seufzend machte sich die junge Frau also auf die Suche – allerdings nicht nach der Suite, sondern erst einmal nach einem Crewmitglied, das ihr sagen konnte, wohin sie nun gehen musste. Mathilda vermutete die Kabine zwar auf dem A-Deck, aber sicher war sie nicht. Dennoch schritt sie die Treppe nach oben, um auf das vermutete Deck zu kommen.

In Gedanken versunken bog Mathilda eiligen Schrittes um die nächste Ecke. Dabei war sie so darauf bedacht, sich suchend umzusehen, dass sie direkt mit einer anderen Person kollidierte, die es ebenfalls eilig zu haben schien. Ächzend taumelte Mathilda ein paar Schritte nach hinten, wurde aber sofort festgehalten, damit sie nicht umkippte. Ein starker Griff hielt sie an Ort und Stelle, worüber Mathilda unendlich dankbar war.

„Verzeihung, Ma'am. Ich war wohl ziemlich in Gedanken versunken“, entschuldigte sich eine markante, männliche Stimme.

Mathilda hob ihren Blick und stellte mit Erstaunen fest, dass sie praktisch direkt in einen Offizier hineingestolpert war. „Schon in Ordnung. Ich war gedanklich genauso abwesend“, wiegelte sie schnell ab.

Der Offizier nickte, wobei er seine Hände wieder zurückzog und sich höflichkeitshalber einen Schritt von ihr entfernte. Mathilda drückte den Mantel an ihre Brust und erlaubte sich einen genaueren Blick auf den Mann zu werfen, der sie so reflexartig festgehalten hatte. Zweifelsohne musste er ebenfalls einer der Führungsoffiziere sein, so wie Mr. Murdoch. Die goldenen Streifen an seinem Jackett waren da nur ein Indiz von vielen.
Mathilda lächelte automatisch. Er hatte äußerst wachsame Augen und ein schmales Gesicht, was aber dennoch mit harten Zügen versehen war. Dieser Umstand ließ ihn streng und autoritär wirken, und für den ein oder anderen auf den ersten Blick vermutlich auch sehr einschüchternd.

„Sie sind Offizier“, merkte Mathilda nun das Offensichtlich an. Es klang auch mehr nach einer Feststellung als einer Frage.

Die harten Gesichtszüge des Mannes wurden weicher, als er lächelte. „Korrekt“, stimmte er fast schon amüsiert zu. Seine kerzengerade Haltung behielt er bei. „Charles Lightoller. Zweiter Offizier dieses Ozeanriesen.“

„Aha! Also direkt William Murdoch unterstellt“, dachte sie amüsiert. Jedoch sprach Mathilda nichts davon aus, sondern stellte sich höflich vor. „Ich bin Mathilda Briscom und ich entschuldige mich für den Zusammenstoß. Manchmal lauf ich etwas gedankenverloren umher.“

Über das Gesicht von Charles Lightoller huschte ein überraschter Ausdruck, der so schnell verschwand, wie er aufgetaucht war. In seinen Augen konnte Mathilda etwas erkennen, das Verwunderung gleichkam. Es schien fast so, als wäre Mr. Lightoller ihr Name bekannt.
Könnte es sein... Unter ihrer Haut begann es zu kribbeln, als sich eine klitzekleine Hoffnung in Mathilda breit machte, die ihr einreden wollte, dass William Murdoch sie seinem Kollegen gegenüber vielleicht erwähnt hatte. Ging auch sie ihm nicht aus dem Kopf? Konnte er von ihr geschwärmt haben? Es wäre zu schön, um für Mathilda wahr zu sein.

„Verstehe“, sagte Mr. Lightoller nach einer gefühlt ewig langen Pause. Aus seiner Stimme konnte sie eine belustigte Note vernehmen. „Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Im Gegensatz zu Mr. Lightoller verstand Mathilda umso weniger. Allerdings konnte sie genügend Verstand zusammenkratzen, um zu wissen, dass sie Mr. Lightoller tatsächlich nicht gänzlich unbekannt zu sein schien.
„Ganz meinerseits“, antwortete Mathilda sichtlich verwirrt, konzentrierte sich aber nun wieder darauf, weswegen sie eigentlich unterwegs war. „Mr. Lightoller, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Suite A-36 finde?“

„Selbstverständlich“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ich bringe Sie hin. Folgen Sie mir bitte.“

Mathilda schaffte es gerade noch, sich zu bedanken, ehe Mr. Lightoller mit gerader Haltung einmal herumwirbelte und voraus schritt. Er legte eine erstaunliche Geschwindigkeit an den Tag, sodass Mathilda sich wirklich beeilen musste, hinterher zu kommen. Noch immer geisterte der merkwürdige Ausgang des Gesprächs durch ihren Kopf. Einerseits war sie überaus aufgeregt, wenn sie daran dachte, dass Mr. Murdoch vielleicht von ihr gesprochen hatte. Aber andererseits war da die unbegründete Angst, dass die Offiziere sich vielleicht über sie lustig gemacht hatten, dabei über ihren Fauxpas beim Einsteigen gesprochen hatten. Vor ihrem inneren Auge tauchte das freundliche Gesicht von William Murdoch auf, der sich köstlich über ihre Art amüsierte und seine Kollegen lachend mit einstimmten.
Allein bei dem bloßen Gedanken daran stieg Mathilda die Röte in die Wangen.

„Da wären wir.“ Mr. Lightollers markante Stimme holte sie wieder zurück. „Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“

Überrascht bemerkte Mathilda, dass sie vor einer Türe stehen geblieben waren. A-36. Mathilda war so in ihrem Gedankenkarussell gefangen gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, welchen Weg sie letztendlich genommen hatten.  
„Oh, nein, vielen Dank. Ich hab Sie bestimmt schon lang genug von der Arbeit abgehalten“, erklärte Mathilda verlegen. Irgendwie schien es zu ihrem Hobby zu werden, Offiziere von ihrer Arbeit abzuhalten.

„Nein, eigentlich nicht. Ich beende noch meinen Rundgang, und dann werde ich auf die Brücke zurückkehren“, meinte Mr. Lightoller im lockeren Tonfall. „Außerdem bin ich mir sicher, dass Will alles im Griff hat und mich garantiert nicht vermisst.“

Durch das fast schon schelmische Lächeln, welches der Offizier nun an den Tag legte, ahnte Mathilda schon, dass er genau wusste, bei der Erwähnung von Will genau ins Schwarze getroffen zu haben.
Sie wollte selbstbewusst erscheinen und erwiderte: „Ich bin mir sicher, dass Mr. Murdoch alles im Griff haben wird.“

Für einen Augenblick herrschte Verwirrung in Mr. Lightollers Gesicht, dann jedoch zog er einen Mundwinkel nach oben. „Davon gehe ich aus.“ Ein deplatziertes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er hinzufügte: „Sollte er dennoch nach meiner Verspätung fragen, werde ich William wissen lassen, dass sein besonderes Mädchen mich beinahe zu Fall gebracht hätte.“

Mathilda schlug die Hand vor ihren Mund, um nicht lauthals zu lachen. Auf diese Aussage hin konnte sie nichts mehr erwidern. Dies schien auch Lightoller zu bemerken, denn er tippte sich kurz an die Mütze und verabschiedete sich schnell.
William Murdoch hatte sie tatsächlich als „sein besonderes Mädchen“ betitelt? Es war beinahe süß und skurril zugleich. Mathilda ordnete es aber als liebevolles Kompliment ein und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie vor lauter Freude einen Salto rückwärts hingelegt. Trotz der Wahrscheinlichkeit, wieder vor ihm zu erröten, nahm sich Mathilda fest vor, Mr. Murdoch nach dieser Aussage zu fragen. Sollte er dadurch vielleicht in Verlegenheit geraten, würde sich Mr. Lightoller garantiert darüber amüsieren. Dabei fiel ihr ein, dass sie Mr. Murdoch unbedingt nach dem Verhältnis zu seinem Offizierskollegen fragen sollte.

Seufzend wandte sich Mathilda zur Türe um und hoffte darauf, dass Mr. Andrews in seiner Kabine wäre. Zaghaft klopfte sie und lauschte gespannt. Im Inneren waren Schritte zu vernehmen, was Mathilda erleichtert aufatmen ließ.

Im nächsten Augenblick öffnete sich schon die Türe und Mr. Andrews stand im Türrahmen. „Oh, Mathilda. Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er in seiner gewohnt höflichen Tonlage.

„Nein, das nicht, aber ich habe hier noch etwas.“ Symbolisch hob Mathilda den Mantel in die Höhe. „Den haben Sie damals der jungen Frau umgelegt. Ich wollte Ihnen das vermisste Stück Stoff zurückbringen.“

„Oh, wenn das keine Überraschung ist. Mir ist völlig entfallen, dass er noch im Besitz eines anderen ist“, lachte der Mann und nahm den Mantel dankend entgegen. „Kommen Sie inzwischen auf dem Schiff zurecht? Ich hoffe, Mr. Murdochs Führung war nicht allzu langweilig?“

Mathilda lachte zwar, wurde aber nervös und sah kurz über ihre Schulter, ob jemand sie hören konnte. „Es war durchaus interessant. Ich hab ein paar Worte der Seemannssprache gelernt.“

„Das freut mich zu hören. Ich wollte aber ohnehin nochmal auf Sie und Mrs. McClary zukommen“, eröffnete Mr. Andrews. „Heute Abend feiert mein guter Freund Bernard Middleton seinen Geburtstag und den Erfolg seines neusten Theaterstücks. Er hat mich darum gebeten, weitere Gäste mitzubringen. Daher wollte ich Sie und Edith fragen, ob Sie mich vielleicht begleiten möchten?“

So freundlich Mr. Andrews' Frage auch war, so überhörte Mathilda dies erst einmal. „Bernard Middleton ist hier an Bord? Oh, mein Gott, ich liebe seine Theaterstücke!“, freute sich Mathilda. „Und wir nehmen Ihre Einladung sehr gerne an. Was kann ich mir denn unter dem Abend vorstellen? Und wer ist noch eingeladen?“

„Wissen Sie was“, Mr. Andrews trat auf den Flur und schloss die Türe hinter sich, „am besten wir unterhalten uns bei einer schönen Tasse Tee. Da müssen wir nicht alles zwischen Tür und Angel besprechen.“ Er lachte leicht und schenkte ihr ein solch warmes Lächeln, dass sich Mathilda mehr und mehr wie zu Hause fühlte.

„Sehr gerne.“ Mathilda ergriff seinen Arm, den er ihr galant anbot.


*****



Nach ihrer gemeinsamen Tasse Tee hatten sich die Wege von Mathilda und dem Schiffskonstrukteur wieder getrennt. Außerhalb der eleganten Räumlichkeiten hatte es angefangen leicht zu regnen, was Mr. Andrews dazu veranlasst hatte, einen Abstecher auf die Brücke zu unternehmen. Vermutlich wollte er wieder nach dem Rechten sehen und sich bei den Offizieren nach der allgemeinen Wetterlage erkundigen. Etwas, das die Passagiere sicherlich auch gerne in der Zeitung lesen würden. Wie Mathilda mittlerweile herausgefunden hatte, gab es an Bord sogar eine eigene Tageszeitung – die Atlantic Daily Bulletin –, die täglich neu erschien. Darin konnten sich die Passagiere neben allgemeinen Artikeln und Werbeanzeigen auch über den aktuellen Menüplan, Börsenkurse und Gesellschaftsklatsch informieren. Nur das Wetter durften die feinen Herrschaften selbst vom Himmel ablesen.

Mathilda benötigte aber kein Blatt Papier, um zu wissen, dass es regnete. Sie stand im Türrahmen und sah andächtig nach oben. Liebevoll erinnerte sie sich dabei an ihre Mutter, wie diese im Garten stand, die Rosenhecke stutzte und jeden Regen mit einem Lachen hinnahm. „Der liebe Gott scheint seine Blumen gießen zu wollen“, hatte Eleanor Briscom dann immer verlauten lassen. Die kleine Mathilda hatte ihren Blick dann immer sehr skeptisch nach oben gerichtet und sich gefragt, warum er denn so viel gießen musste.

Lächelnd schüttelte Mathilda ihren Kopf bei dieser alten Erinnerung. Ihre Mutter fehlte ihr ungemein, und irgendwie erschien es ihr immer so, als sei sie ihr bei Regen näher. Ohne abzuwarten bewegte sich Mathilda aus dem Türrahmen heraus und spürte sofort die kalten Tropfen auf ihrer Haut. Es war zu erwarten, dass sich bei diesem Wetter hier an Deck keine Leute aufhielten, außer ihrer eigenen Person, zwei Pärchen, die unter Schirmen spazieren gingen, und ein paar wenigen Matrosen, die emsig umher wuselten.

Nun stand die junge Frau mitten auf dem Deck, unter freiem Himmel, während die Tropfen unbarmherzig auf sie herabfielen. Doch das war Mathilda egal. Da war etwas in ihr, das sie kaum in Worte fassen konnte. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr empfunden hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte Mathilda so etwas wie unendliche Freiheit. Die Verlobung mit Frederik, der frühe Tod ihrer Mutter, der schreckliche Unfall ihres Vaters, die darauffolgende Trennung von Frederik, und der Tod von Ediths Mann Paul – all diese schrecklichen Ereignisse, die sie in dieses Korsett der Gesellschaft gezwängt hatten, wogen mit einem Mal nicht mehr so schwer, wie vor ihrer Abfahrt.
Hier an Bord des größten Schiffes der Welt, mitten auf dem Nordatlantik, umringt von der unendlichen Weite des Meeres, war sie frei! Frei von allen Verpflichtungen; frei von allen Rechtfertigungen; frei von den Menschen, die Großes von ihr erwarteten. Hier auf der Titanic hatte sie keinerlei Verpflichtungen, musste sich vor niemandem rechtfertigen und niemand erwartete etwas Besonderes von ihr.
Mathilda befand sich in mitten interessanter Menschen, deren Gesellschaft sie genoss, wie nie zuvor. Und nun wurde ihr endgültig klar, dass diese Reise die beste Entscheidung gewesen war.

Von Glücksgefühlen durchströmt breitete Mathilda ihre Arme aus, als wolle sie wie ein Vogel davonfliegen, reckte ihr Gesicht dabei direkt dem Himmel entgegen. Und es interessierte Mathilda nicht im Geringsten, wie sie danach aussehen würde. Im Moment wollte sie einfach nur diesen wahrgewordenen Traum genießen.
Selig vor sich hin lächelnd drehte sie sich mehrmals im Kreis, summte leise eine Melodie aus Kindheitstagen. Dabei schlugen ihre nassen Haarsträhnen wie kleine Peitschenhiebe gegen ihre Wangen. Aber selbst das störte sie keineswegs. Das Kind in ihr, das draußen im Regen tanzte, kam in Mathilda hervor. Vor ihrem Auge sah sie ihre Mutter, die nur lächelnd auf der heimischen Veranda stand und sie beobachtete.

Dass Mathilda tatsächlich längst neugierig, amüsiert und gleichzeitig besorgt beobachtete wurde, bemerkte die junge Frau während ihres Regentanzes erst einmal nicht.

Mathilda drehte sich noch zwei-, dreimal im Kreis, ehe sie zum Stillstand kam. Mit geschlossenen Augen sog sie die frische Luft ein und stellte erstaunt fest, wie viel klarer diese hier auf hoher See doch war. Durch ihre Adern peitschte eine Welle der Erleichterung und es fühlte sich an, als würde ihr Körper alle Altlasten von sich werfen wollen. Mathilda war glücklich und ganz im Reinen mit sich selbst, zumindest so lange, bis eine Stimme sie aus ihrem Freudentaumel holte.

„Miss Briscom, Sie werden sich noch eine Erkältung holen.“

Nein, erst einmal holte sie sich eine ausgewachsene Gänsehaut. Denn natürlich erkannte Mathilda die Stimme sofort. Mathilda blickte über ihre Schulter und während die Regentropfen nur so über ihr Gesicht tänzelten, wurde ihr Blick für den Mann im Türrahmen wieder klarer.
In den Türrahmen, wo zuvor noch Mathilda gestanden hatte, war William Murdoch getreten und obwohl seine Gesichtszüge ernste Besorgnis ausstrahlten, umspielte seine Mundpartie ein schelmisches Lächeln. Er wirkte zwar nicht, als wolle er sie jetzt wie ein ungezogenes Mädchen ausschimpfen, aber dennoch fühlte sich Mathilda ein wenig, als wäre sie bei einer Straftat ertappt worden.

„Ich meine es ernst. Was machen Sie bei so einem Wetter hier draußen?“, setzte der Offizier noch nach, da Mathilda ihm keine Antwort gegeben hatte.

Jetzt, da Mathilda aufgehört hatte zu tanzen, bemerkte sie erst, wie kalt es hier draußen wirklich war. Sicher, auf dem Nordatlantik herrschten ja auch keine sommerlich warmen Temperaturen, aber trotzdem hatte sie während ihrer Pirouetten die eisige Kälte nicht registriert. Dementsprechend begann sie nun am ganzen Körper zu zittern.
Mr. Murdoch musterte sie mit einem undefinierbaren Blick. Wäre Mathilda nicht so kalt gewesen, würden ihren Wangen sicherlich wieder in wunderschönem Rot erstrahlen. Immerhin musste sie einen erbärmlichen Anblick abgeben. Zitternd und klitschnass draußen auf dem Deck zu stehen und den Ersten Offizier schockiert zu hypnotisieren, war an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten.

Mr. Murdoch seufzte ergiebig und wandte sich zum Gehen um. So schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder und ließ Mathilda allein zurück. Mathilda stieß einen frustrierten Seufzer aus. Damit hatte sie es mit ihrer eigenartigen Art wieder einmal geschafft, einen Mann zu vergraulen. Mr. Murdoch musste sie für komplett bescheuert halten. Ein Fall für die Klapsmühle. Denn welche Dame der feinen Gesellschaft würde im Regen über das Deck tanzen und sich unter den Augen der Crew lächerlich machen? Garantiert keine. Mathilda schämte sich in Grund und Boden. Wenn Edith davon erfahren würde – und früher oder später würde sie es erfahren! – würde es garantiert eine Standpauke hageln.

Mathilda stand wie angewurzelt an Ort und Stelle, während der Regen immer weiter zunahm. Sie war gerade dabei, sich erfolgreich in Selbstmitleid zu ertränken, als Mr. Murdoch überraschend wieder im Türrahmen erschien. Dieses Mal blieb er aber nicht dort stehen, sondern steuerte geradewegs auf sie zu.
Mathildas Herzschlag setzte aus, als sie diesen Umstand registrierte. In der Hand hielt er eine Art Decke, die mit einem bunten Karomuster versehen war. Mathilda beobachtete jeden einzelnen seiner Handgriffe und erkannte, dass sein Gesicht von einem belustigten Ausdruck überzogen war.

„Meine Mutter sagte immer: Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Er schmunzelte, während er die Decke sorgsam auseinander faltete. „Früher hab ich oft draußen im Regen gespielt und habe einfach nicht hören wollen. Meine Mutter hat mich aber nie gezwungen reinzukommen. Sie hat gewartet, bis es mir zu kalt wurde und ich von selbst reingegangen bin. Danach hatte ich eine saftige Erkältung. Tja, meine Mutter meinte dann stets, dass sie mich gewarnt hätte.“

Mathilda war überrascht. Bisher hatte er nicht sehr viel von seiner Familie erzählt. Am liebsten hätte Mathilda direkt etwas darauf erwidert, doch sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich daran zu erinnern, nicht das Atmen zu vergessen.
William Murdoch stand nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Regentropfen perlten von seiner Mütze und dem dunklen Mantel ab, fanden dabei ihren Weg nach unten. Er zupfte die Decke vollendend auseinander und ehe Mathilda sich versah, warf er ihr diese um die Schultern.

„Entschuldigen Sie die Umstände, die ich Ihnen wieder bereite“, nuschelte Mathilda beschämt. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, sich bei ihm entschuldigen zu müssen. Mittlerweile war ihr so kalt, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte.

Mr. Murdoch hielt die Decke, die um ihre Schultern gewickelt war, in fester Hand und war ihr somit näher, als gut für ihr polterndes Herz war. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Sie das mit Absicht tun“, erwiderte er gut gelaunt.

„Was?“ Mathilda schüttelte sich vor Kälte, doch ihre Adern kochten wie das Wasser in einem brodelnden Teekessel. „Nein, ich...“ Sie schluckte beklommen, als ihr Blick auf seinen traf. Darin brannte etwas, das Mathilda nicht zuordnen konnte. Doch, egal was es war, es ließ ihren Puls in die Höhe schnellen und sie musste Angst haben, dass ihr Herz jede Sekunde aus dem Korsett purzeln könnte. Aufgeregtes Kribbeln durchzog ihre Glieder und jede Faser ihres Körpers schrie danach, ihm noch näher zu kommen; ihn zu berühren; ihn zu küssen.

„Aber vielleicht halte ich auch einfach nur ganz konkret nach Ihnen Ausschau“, konterte er aus heiterem Himmel. Augenblicklich  kam sie ihm ein ganzes Stück näher – jedoch nicht von selbst. Mr. Murdoch hatte noch immer die Enden der Decke, in der sie eingewickelt war, in den Händen, was ihm erlaubte, die junge Frau näher an sich heranzuziehen.

Mathilda ließ es gewähren. Diese Aktion hatte sie sprachlos werden lassen – zumindest fast. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das glauben kann“, flüsterte sie und brachte dabei sogar ein Lächeln zustande.

Mr. Murdoch ließ diese Aussage unkommentiert. Er hob seine Hand, die wieder in schwarzes Leder gehüllt war, und Mathilda erstarrte, als sie spürte, wie er ein paar ihrer nassen Haarsträhnen sanft aus dem Gesicht schob. Mathilda genoss dieses Berührung und schloss selig die Augen, um diesen Moment zu genießen.

„Doch, das können Sie mir durchaus glauben“, erklang seine Stimme eindringlich.

Nun öffnete Mathilda ihre Augen und hielt dem Blick des Offiziers, der ihr nun so nah war stand. Das blaue Augenpaar fixierte sie mit einer Intensivität, dass Mathilda unter seinem Blick zu schmelzen drohte. Ihre Knie wurden weich und sie war sich sicher, dass sie umkippen würde, würde er sie nicht mit der Decke festhalten.

Erneut zog der Offizier Mathilda an dem Stück Stoff ein wenig dichter an sich. Mathilda zuckte erschrocken zurück, als der Schnabel seiner Kappe gegen ihre Stirn stieß. Sie waren einander nun so nahe und aus Angst, er könnte ihren wilden Herzschlag hören, wäre sie gerne eine Stück zurückgetreten. Doch dies war keine Option und eigentlich wollte sich Mathilda nicht von ihm entfernen.
Sein warmer Atem traf auf ihre unterkühlte Haut, was Mathilda einen leisen Seufzer entlockte. Dieser Mann brachte sie eindeutig um den Verstand. Mathilda war unfähig ihre Gedanken zu ordnen, die in einem einzigen Wirrwarr durch ihren Kopf geisterten. Nur einer Sache war sie sich nur allzu bewusst: Hier stand der Mann auf den sie ihr ganzes Leben gewartet zu haben schien.

Sie lächelte verlegen, aber wisperte gleichzeitig unendlich glücklich: „Davon werde ich sicherlich immer wieder träumen.“
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