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Als der Traum noch lebte

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character) Thomas Andrews William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
14
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Dieses Kapitel
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15.12.2021 5.347
 
Um rechtzeitig bei der „Verabredung“ an Deck zu sein, hatte Mathilda ihr Abendessen vorgezogen. Im großen Speisesaal, der auf dem D-Deck lag, wurde das Abendessen pünktlich um neunzehn Uhr eingenommen. Da Mathilda dies aber zu knapp wurde, hatte sie sich dafür entschieden, ein früheres Abendessen in Luigi Gattis à la carte Restaurant einzunehmen. Edith war anfangs skeptisch gewesen, hatte ihre Freundin aber begleitet, da auch sie neugierig auf dieses Restaurant war. Während des Essens hatte Mathilda kein Wort über Mr. Murdoch verloren. Edith brachte die Verschwiegenheit ihrer Freundin beinahe zur Weißglut, da sie keinen Schimmer hatte, weswegen es Mathilda so eilig mit dem Essen hatte. So fanden mehr Standard-Gespräche statt, die das Schiff, ihre Menschen und die Überfahrt beinhaltete.

Doch Edith war kein Mensch, der einfach locker ließ. Zurück in ihrer Kabine konnte Mathilda den neugierigen Fragen ihrer Freundin kaum mehr ausweichen. Sie musste ihr endlich reinen Wein einschenken. Zum einen, da sie vor Edith keine Geheimnisse haben wollte, und zum anderen, weil Mathilda befürchten musste, dass Edith ihr sonst noch folgen könnte. Während Mathilda also einen Schal umlegte und nach einer festen, warmen Jacke in ihrem Schrank suchte, baute sich Edith im Türrahmen auf und musterte sie misstrauisch.

„Millie, was ist los? Und wo willst du hin?“ Edith stemmte die Arme in die Hüften. Ihre perlfarbenen Ohrringe und die braunen Locken wippten zur Seite, als Edith ihren Kopf misstrauisch schief legte. „Und jetzt weich mir nicht wieder aus. Dass du urplötzlich nach deinem Besuch bei den irischen Händlern das Abendessen vorverlegen wolltest, kam mir schon seltsam vor, aber deine Verschwiegenheit beim Essen war noch seltsamer. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, du verheimlichst mir was.“ Ihre Tonlage klang streng. Fast wie die von ihrem damaligen Kindermädchen, als Mathilda den Kleiderschrank ihrer Mutter wieder ausgeräumt hatte und dabei erwischt wurde.

Es war beinahe wie damals. Ertappt wirbelte Mathilda um die eigene Achse. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet, während ihr Blick auf den von Edith traf. „Ich möchte mich nur noch etwas an Deck umsehen“, haspelte Mathilda verlegen. Die Röte kroch ihr zurück in die Wangen. Nervös nestelte sie an ihren Haarspitzen, was die ausschlaggebende Geste war, um Edith auf die richtige Fährte zu bringen.

Ediths Augen wurden zu Schlitzen. „Hey, Sekunde. Kann es sein, dass du dich da oben mit jemandem verabredet hast?“, grinste Edith, und Mathilda war sich sicher – wäre Edith noch im Grundschulalter, würde sie vor Freude auf und ab hüpfen. „Wer ist es? Los, verrate es mir!“

„Edith, bitte.“ Mathilda war die Situation immer noch unangenehm und Ediths amüsierte, fast schon triumphierende Haltung machte ihren Gemütszustand nicht besser. Mathilda wollte schon protestieren, als Edith begeistert in die Hände klatschte und kurz davor stand, sie zu umarmen. Offenbar schien Mathilda ein wirklich hoffnungsloser Fall zu sein, wenn Edith so euphorisch reagierte.
Mathilda knurrte: „Hör zu, dieser sehr nette Herr hat sich heute Nachmittag mit mir unterhalten und ich habe ihm gesagt, dass ich mich auf dem Schiff noch nicht besonders auskenne. Daraufhin hat er mir eine Führung nach seiner Schicht angeboten.“ Am liebsten hätte Mathilda sich für diesen letzten Satz geohrfeigt, als sie in Ediths erstauntem Gesicht ablesen konnte, dass sich das Puzzle in ihrem Kopf damit zusammengesetzt hatte.

„Wenn seine Schicht endet?“, wiederholte Edith. Oh, wie sehr Mathilda es doch hasste, wenn Edith ihre Sätze mit einem fragenden Tonfall wiederholte! Unbeirrt von Mathildas genervtem Seufzer und dem finsteren Blick, den sie ihr zuwarf, fuhr Edith fort: „Das kann nur bedeuten, dass du einem Herren von der Crew schöne Augen gemacht hast.“

„Ich bin wohl eher auf die Knie vor ihm gegangen“, seufzte Mathilda, der sofort ihr Fauxpas vom Nachmittag wieder einfiel. Ohne auf Ediths Aussage weiter einzugehen, versuchte Mathilda sich an ihrer Freundin vorbei zu drängeln. Immerhin war es schon fast viertel nach sieben und Mathilda musste sich beeilen. Allerdings ließ Edith sie nicht weg.

„Oh, wie aufregend!“ Normalerweise hätte Edith sie wieder damit aufgezogen, wie tollpatschig Mathilda doch war, aber anscheinend freute sie sich wirklich für sie. Sie schnappte nach Mathildas Arm. „Bist du Mr. Murdoch nochmal begegnet? Immerhin hat er dich gestern hin und wieder sprachlos werden lassen.“

Mathilda sog scharf die Luft ein. Sie wirkte mit einem Mal als hätte sie ihre Zunge verschluckt. „Und wenn es so wäre?“, grummelte sie, wobei Ediths Blick eindringlicher wurde. „Fein, wenn du es wirklich wissen willst. Es ist Mr. Murdoch. Wir sind uns, wie schon gesagt, heute Nachmittag auf dem Deck begegnet, wo er mir mein Halstuch wieder eingefangen hat.“

Obwohl Ediths Stirnrunzeln im Moment mehr darauf hindeutete, dass sie sich überlegte, wie es Mathilda wohl angestellt hatte, ihr Halstuch zu verlieren, überwog doch das Grinsen, das ihr Gesicht jetzt zierte. „Sieh einer an. Mr. Murdoch also. Er ist aber auch ein wirklich netter Mann. So zuvorkommend, charmant und höflich. Ein guter Fang, Millie.“

„Edith, ich hab ihn mir nicht geangelt oder wie auch immer du es nennen möchtest. Wir haben uns nett unterhalten und jetzt führt er mich eben noch ein wenig über das Deck. Daran ist nichts verwerfliches“, wiegelte Mathilda ab und schloss ihren Mantel, um endlich nach draußen zu kommen.

Edith seufzte sehnsüchtig, wobei sie ihre Hände auf die Wangen legte und verträumt vor sich hinblickte. Dennoch klang ihr nächster Satz erst einmal sarkastisch. „Ja, natürlich, Schatz. Draußen an Deck, ringsherum nur das dunkle Meer, über euch die Sterne und ein fast menschenleeres Deck, da die meisten noch beim Essen sitzen. Hach, meine Liebe, da kommt die Romantikerin in mir durch“, freute sich Edith, die nun Mathilda folgte und ihr liebevoll über den Rücken strich. „Ich will dich nicht länger aufhalten. Ich wünsch dir viel Spaß, aber sobald du wieder zurück bist, verlange ich alle Einzelheiten.“ Sie zwinkerte vielsagend.

Mathilda rollte amüsiert mit den Augen. Am liebsten hätte sie Edith einen sarkastischen Kommentar zur Antwort gegeben, aber sie konnte ihrer Freundin nicht böse sein. Außerdem überwog jetzt auch noch die Nervosität und Vorfreude. In wenigen Minuten würde sie Mr. Murdoch wiedersehen und Mathilda freute sich sehr. „Danke.“ Damit verließ sie die Suite und eilte den Flur entlang.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, während ihre Nervosität mit jedem Schritt stärker wurde. Natürlich war sie gespannt, das Schiff ein wenig besser kennenzulernen, doch warum war sie nur so schrecklich nervös, weil es Mr. Murdoch war, der sie herumführen würde? Wäre es Mr. Andrews, der mit ihr den Rundgang unternehmen würde, wäre sie doch auch nicht so aufgeregt. Mathilda musste aber zugeben, dass ihr Interesse an Mr. Murdoch doch stärker war, als an irgendeinem anderen Mann auf diesem Schiff. Sie konnte nichts dagegen machen – ihre innere Ruhe hatte sich verabschiedet und war bisher nicht zurückgekehrt.
Mathilda holte tief Luft und presste die Hände ineinander. Als sie die Türe zum Bootsdeck öffnete, schlug ihr schon die kalte Seeluft entgegen und automatisch zog sie ihren Mantel enger um ihren Körper. Draußen angekommen stellte sie fest, dass Edith Recht hatte – das Bootsdeck wirkte wie ausgestorben, was nicht verwunderlich war, immerhin waren die meisten jetzt im großen Speisesaal beim Abendessen. Langsam schlenderte Mathilda das Deck entlang und überlegte, wo ihr Treffpunkt lag. Glücklicherweise hatte sie Mr. Andrews heute Mittag noch danach gefragt. Dank seiner guten Beschreibung fand sie nach kurzer Zeit auch den Gymnastikraum, den sie als Treffpunkt auserkoren hatten. Bisher hatte Mathilda noch nicht die Zeit gefunden, den Gymnastikraum von innen zu begutachten, aber das stand auch nicht ganz oben auf ihrer Liste. Vielmehr interessierte sie sich für das Türkische Bad, das es an Bord geben sollte.

Mathilda lehnte sich an der Wand an und warf neugierig einen Blick von links nach rechts. Von William Murdoch war weit und breit noch nichts zu sehen. Vielleicht war Mathilda auch einfach noch zu früh dran oder er war aufgehalten worden. Oder... Vielleicht hatte er sie auch einfach vergessen. Bitte nicht!

Mathilda seufzte sehnsüchtig. Sie stieß sich von der Wand ab und wanderte zur Reling. Interessiert vernahm sie das Rauschen des Wasser, das von der Titanic regelrecht durchpflügt wurde. So spannend dieses kühle Nass auch war, so hob sie ihren Kopf immer wieder, um nach dem Ersten Offizier Ausschau halten zu können. Doch noch war er nirgends zu sehen. Inständig hoffte Mathilda darauf, dass Mr. Murdoch sie nicht vergessen hatte. Sie – einen durchschnittlichen, gehobenen Erste Klasse Passagier. Sie seufzte erneut auf. Doch ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb, dass er nur durch eine seiner unzähligen Aufgaben aufgehalten wurde.
Mathilda spielte gerade sämtliche Aufgaben, die er noch haben könnte, in ihrem Kopf durch, als sie plötzlich eilige Schritte vernahm. Aufgeregt blickte sie in die Richtung, aus der die Schritte zu kommen schienen, welche die Stille der friedlichen Abendstimmung durchbrachen. Kaum hatte sie die Person erspäht, die auf sie zugesteuert kam, beschleunigte sich ihr Herzschlag wieder. Ihre Hände klammerten sich automatisch fest um die Reling, als Mr. Murdoch nur wenige Schritte noch von ihr entfernt war. Er hatte sie tatsächlich nicht vergessen. Erleichterung machte sich in ihr breit.

„Guten Abend“, lächelte der Offizier, der wieder seine übliche Gelassenheit ausstrahlte, obwohl er sich mit Sicherheit ziemlich beeilt hatte. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen?“ Seine aufmerksamen blauen Augen blickten fragend drein; die Hände hatte er noch in den Jackentaschen vergraben.

Mathilda war schrecklich aufgeregt, ihn jetzt so nahe vor sich zu haben. „Keineswegs. Ich bin auch gerade erst hier angekommen. Allerdings gebe ich zu, dass ich ein klein wenig Angst davor hatte, Sie würden mich vergessen. Schließlich haben Sie genügend andere Aufgaben zu tun.“ Gedanklich fragte sich Mathilda, wann sie zuletzt in der Gegenwart eines Mannes so nervös gewesen war.

Mr. Murdoch blinzelte überrascht. Ihm stand die Verwunderung buchstäblich ins Gesicht geschrieben. „Sie denken ernsthaft, ich könnte Sie vergessen?“, fragte er nach und lachte sogleich. „Nichts läge mir ferner. Und wenn ich jetzt auch ganz ehrlich sein darf – heute war so ein Tag, wo die Schicht gar nicht schnell genug für mich enden konnte. Immerhin ist es nicht selbstverständlich, dass eine schöne Dame auf mich wartet.“ Seiner Stimme schwang ein warmer Unterton mit.

Die Schmetterlinge in Mathildas Bauch schlugen Purzelbäume. Ihr war die Art, wie er dies zu ihr sagte, nicht entgangen und auch die Wärme darin kroch ihr tief unter die Haut. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, gab sie ehrlich zu. Mathilda strich sich verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

„Ich bringe Sie doch nicht etwa wieder in Verlegenheit?“, grinste Mr. Murdoch, wobei er noch ein Stück näher an sie herantrat. Am liebsten wäre Mathilda erschrocken einen Schritt zurückgewichen, doch sie war wie festgefroren. Sie musste jetzt selbstbewusst wirken, also erwiderte sie schnell und kraftvoll: „Wenn Ihnen das so deutlich auffällt, dann muss da was wahres dran sein.“

Beide lachten einstimmig, wobei Mr. Murdoch antwortete: „Ein gutes Argument.“ Er zog seine rechte Hand aus der Jackentasche und hielt Mathilda jetzt galant den Arm hin. „Wollen wir eine Runde drehen?“, fragte er charmant.

Sie nickte. Trotz der gemütlich, gedämpften Beleuchtung an Deck und der unendlichen Dunkelheit um das Schiff herum, war sie sich sicher, dass er die Röte, die ihr in die Wangen stieg, bemerkte. Jedoch sagte er nichts, obwohl seine Augen nur auf ihr zu ruhen schienen. Mutig ergriff Mathilda schließlich seinen Arm und obwohl auch sie Handschuhe trug, meinte sie, den warmen Stoff seiner Uniformjacke spüren zu können. Die Hitze in ihren Wangen ließ die Röte immer dunkler werden.
Als sie sich in Bewegung setzten, galt Mathildas Aufmerksamkeit weniger dem Bootsdeck, auf dem sie liefen, sondern nur dem Mann, an dessen Arm sie sich über selbiges führen ließ. Mit einem verstohlenen, fast schüchternen Seitenblick musterte sie ihn. Es war das erste Mal, dass sie sich so nahe waren, und durch den leichten Windhauch, der über das Deck wehte, nahm sie jetzt den Geruch eines Rasierwassers wahr. Seinem Rasierwasser.
Dieser wohlriechende Duft benebelte kurz ihre Sinne, sodass sie gar nicht mitbekam, wie er seinen Blick wieder auf sie richtete.

Er räusperte sich. „Gibt es etwas, was Sie unbedingt sehen möchten? Oder interessieren Sie sich für etwas besonders?“, durchbrach Mr. Murdochs ruhige, angenehme Stimme die Stille zwischen ihnen.

„Oh.“ Mathilda presste die Lippen aufeinander. Augenblicklich war ihr seine Frage unangenehm. So hatte er sich doch die Zeit für sie genommen und anstatt den Offizier neugierig auszufragen, schwieg Mathilda eisern und überließ Mr. Murdoch uncharmant die Fragen. „Nun ja, ich hab irgendwo gelesen, dass es ein Türkisches Bad gibt? Ist das richtig?“ Endlich hatte Mathilda ihre Sprache wieder gefunden.

Sie vernahm ein leises Lachen. „Das ist wirklich eine Besonderheit auf diesem Schiff. Sowas habe ich vorher auch noch nie gesehen und glauben Sie mir – ich war schon auf so einigen Schiffen.“ William Murdoch sah sie amüsiert an, beantwortete dabei aber gleich ihre Frage: „Auf dem Mitteldeck, oder auch F-Deck genannt, befindet sich ein voll ausgestattetes türkisches Bad. Dort finden die Reichen und Schönen alles was sie sich wünschen: Ein Dampf- und Heißbad, sowie einen Schamponier- und Abkühlraum. Selbst ein beheiztes Schwimmbecken mit Bademeistern steht zur Verfügung.“

Mathilda sog diese Informationen neugierig auf und speicherte diese in ihrem Hinterstübchen sofort ab, jedoch erregte ein anderer Ausdruck in seiner Erklärung ihre Aufmerksamkeit. „Für die Reichen und Schönen? Verzeihen Sie, das klingt in meinen Ohren etwas abwertend.“ Unbewusst hatte sich ihr Griff um seinen Arm verstärkt. Offizier Murdoch bemerkte diesen Umstand sofort und tätschelte leicht ihre Hand.

„Verzeihung, so sollte das keinesfalls klingen“, entschuldigte er sich. Verschmitzt warf er ihr einen liebevollen Blick zu. „Ich fahre schon so lange zur See, dass ich festgestellt habe, wie sehr Geld doch den Charakter verderben kann.“ Mr. Murdoch ergriff ihre Hand nun direkt und drückte sie fester. „Ich wollte keinesfalls taktlos klingen. Es gibt in jeder Gesellschaftsschicht Menschen, deren Charakter schwärzer ist, als die See, die uns umgibt. Denken Sie nur an den schrecklichen Kerl von gestern Abend. Der ist aus der ärmeren Dritten Klasse. Und genauso wie es die eine Seite gibt, gibt es auch die andere. Zum Beispiel Sie, Miss Briscom. Eine Frau aus der Welt der Reichen und Schönen. Mit einem erstklassigen Charakter und freundlichem Wesen.“

Mathilda wusste nicht, was sie mehr aus der Fassung bringen sollte: Seine Hand auf ihrer oder dieses wunderschöne Kompliment. „Tja, da haben Sie wohl Recht. Schreckliche Menschen gibt es überall.“ Sogleich verzog sie ihre Lippen zu einem verzückten Lächeln. „Und danke... für das Kompliment.“ Sie errötete leicht.

Und es machte es nicht einfacher, dass Mr. Murdoch es dieses Mal zu bemerken schien, denn er lachte entspannt und sagte: „Deswegen müssen Sie nicht verlegen werden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie öfter Komplimente bekommen.“

Sie hob ihren Blick und bemerkte, dass er wieder geradeaus sah, jedoch noch immer ein Lächeln seine Lippen zierte. Mathilda ahnte, dass sich hinter der formellen, höflichen Fassade des Ersten Offiziers auch ein sarkastischer, humorvoller Mann verbarg. Ihm gefiel es eindeutig sie aus der Fassung zu bringen.
„Durchaus, allerdings ist es schwierig, herauszubekommen, welche Komplimente ernst gemeint sind und wer nur meint, mir etwas schönes sagen zu müssen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen“, konterte Mathilda frech und sie war unendlich stolz, es mit dem Selbstbewusstsein herausgebracht zu haben, wie sie es sich gedanklich ausgemalt hatte.

Jetzt galt William Murdochs Aufmerksamkeit wieder voll und ganz ihr. Er hielt sogar in seinem Gang inne. Mathilda war gar nicht aufgefallen, wie weit sie schon gelaufen waren, so sehr nahm dieser Mann ihr ganzes Interesse ein. Er wandte sich direkt ihr zu, sodass sie einander nun direkt ins Gesicht sehen konnten. Mathilda hielt unwillkürlich den Atem an. Und wieder faszinierten sie seine Augen mitunter am meisten. Mathilda war sich sicher – egal, in wie viele Augen sie im Leben noch blicken würde, an seine würde sie sich garantiert immer erinnern. Seine Augen, die wahrscheinlich mehr Geschichten zu erzählen hatten, als in so manchem Buch geschrieben worden war, würde sie niemals wieder vergessen.

„Denken Sie etwa, dass ich flunkere?“, fragte er beinahe unschuldig und zog dabei eine Augenbraue nach oben.

Mathilda konnte heraushören, dass er sie damit nur ärgern wollte. Eigentlich wollte sie die ernste Fassade aufrecht erhalten, doch sie konnte einfach nicht. Mathilda lachte aus tiefstem Herzen. „Da ich ja kein kleines Dummchen bin, kann ich Sie schon bei den ehrlichen Männern einordnen“, versicherte Mathilda, legte den Kopf schief und fügte noch schmunzelnd an: „Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass Sie von der Damenwelt ziemlich beachtet werden.“

William Murdoch ließ die Maske des ordnungsliebenden Offiziers fallen und gab den humorvollen Menschen dahinter preis. Er lachte herzhaft. „Das liegt aber garantiert nicht an meinem umwerfenden Charme, sondern vielmehr an der Uniform.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Meistens wollen die Damen nur wissen, wie lange die Fahrt noch dauert, fragen nach dem Weg oder wollen sich über irgendwem oder irgendetwas beschweren.“

„Sie verkaufen sich unter Wert, Mr. Murdoch“, meinte Mathilda seufzend. Und plötzlich wurde es still zwischen den beiden. Um sie herum rauschte nur die trügerische, gefährliche, aber gleichzeitig anmutende See. Es war, als stünde die Zeit zwischen ihnen still; als tauschten sie nur Gedanken aus.

William Murdoch hob seine Hand, fast wie in Zeitlupe, kam dabei Mathildas Gesicht immer näher, als wolle er ihr über die Wange streichen. Doch bevor seine Hand ihre Haut berühren konnte, erklang eine bekannte, allseits ruhige Stimme und erfüllte die abendliche Stille mit neuem Klang.

„Miss Briscom, Mr. Murdoch.“ Es war Thomas Andrews, der in seiner gewohnt gemütlichen Gangart und dem Notizbuch unterm Arm auf die beiden zugeschritten kam.

Mathilda versuchte die Röte, die wieder in ihre Wangen gekrochen war, zu verscheuchen. Mr. Andrews hatte bestimmt schon beim Mittagessen Verdacht geschöpft und sie jetzt errötend vor dem Ersten Offizier zu sehen – nah bei ihm –, würde den Verdacht einer Verliebtheit nur noch einmal nähren.
Allerdings war Mr. Andrews ein kluger Mann und so bemerkte er Mathildas Verlegenheit direkt. Selbst Murdoch konnte seine distanzierte Maske nicht schnell genug wieder aufziehen, denn Thomas Andrews sagte bereits: „Ich wollte keinesfalls stören oder gar Ihren Rundgang unterbrechen.“

„Keinesfalls, Mr. Andrews. Wir sind auf einem Schiff, da muss man immer damit rechnen, jemandem zu begegnen“, witzelte Mr. Murdoch, der seine Hände schnell hinter dem Rücken verschränkte und wieder eine gerade Haltung annahm. „Sind Sie wieder dabei, nach dem Rechten zu sehen?“ Er deutete auf das Notizbuch in den Händen des Konstrukteurs.

Mr. Andrews lachte leise und sah auf das Buch herab. „Ja, das tue ich. Eigentlich sollte ich ja beim Abendessen sitzen, aber ich musste einfach nochmal ein paar Dinge überprüfen. Die Beleuchtung hinten auf dem Poop Deck erscheint mir etwas düster. Es gibt einige dunkle Ecken, die besser beleuchtet sein könnten. Ich möchte nicht, dass Kinder oder Damen sich fürchten müssen.“ Er schlug fast schon automatisch sein Buch auf und da Mr. Andrews nahe genug neben Mathilda stand, konnte diese sehen, dass die Seiten ziemlich voll geschrieben waren.

Aus Mathildas Sicht war das Schiff natürlich makellos und wies keine Fehler auf, doch sicherlich hatte Mr. Andrews als Chefkonstrukteur ein ganz anderes Auge dafür. Mathilda lächelte. „Das sind bestimmt nur Kleinigkeiten. Für mich als Passagier wirkt die Titanic vollkommen. Wunderschön und unglaublich stark“, merkte sie ehrlich an.

„Vielen Dank für das Kompliment. Aber ganz so vollkommen ist sie noch nicht. Einige Dinge müssen noch nachgebessert werden, aber das sind, wie Sie schon angemerkt haben, nur Kleinigkeiten“, versicherte Mr. Andrews, da er keineswegs einen offensichtlichen Makel an dem Schiff kundtun wollte.

Mr. Murdoch fügte noch schmunzelnd an: „Offene Kritik an unserer Lady?“

Die beiden Männer lachten herzlich, aber Mathilda verstand nur Bahnhof. Sie zog irritiert eine Augenbraue nach oben. „Lady?“, fragte sie verwirrt, woraufhin Mr. Murdoch ihr ein nachsichtiges Lächeln schenkte.

„So nennen wir Crewmitglieder die Titanic. Unsere Lady. Oder auch die Königin der Meere“, antwortete er ihr und seiner Stimme schwang ein stolzer Unterton mit. Es stand außer Frage, dass William Murdoch es als unendliche Ehre empfand, auf dem aktuell größten Schiff der Welt zu dienen.

Grinsend nickte Mathilda. Das klang in ihren Ohren wirklich sehr liebenswert und das machte das Schiff für sie noch lebendiger als es ohnehin schon war. Mr. Andrews sah kurz zwischen den beiden hin und her, lächelte leicht und sagte dann entschuldigend: „Ich werde mich wieder auf den Weg machen. Ich möchte Sie nicht bei Ihrem Rundgang stören.“ Hörte Mathilda eine belustigte Note aus diesem Satz heraus? Ahnte er, wie sehr Mr. Murdoch ihre innere Gelassenheit ins Wanken brachte? Zuzutrauen wäre es dem feinfühligen Mann.

Für einen kurzen Augenblick hatte Mathilda Angst, Mr. Murdoch würde den Konstrukteur dazu einladen, sich ihnen anzuschließen. So gerne Mathilda Mr. Andrews auch hatte, aber im Moment wäre sie lieber mit diesem attraktiven Offizier alleine. Glücklicherweise merkte Mr. Murdoch höflich an: „Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Abend, Mr. Andrews.“ Schließlich wandte sich der Offizier wieder zu Mathilda um. „Gibt es etwas besonderes, das Sie noch sehen möchten, Miss Briscom?“

Etwas überrumpelt sah Mathilda zu ihm auf, überlegte dabei aber eindringlich. Sie wollte keineswegs, dass der Abend jetzt schon endete. Mr. Andrews verabschiedete sich unterdessen und ging seiner Wege, ehe eilig Mathilda antwortete: „Ja, es ist etwas ungewöhnlich, aber ich würde gerne nochmal zum Heck gehen. Ich würde gerne auf das dunkle Meer blicken. Praktisch den Weg, den die Titanic schon bestritten hat, sehen.“ Als sie Mr. Murdochs überraschten Gesichtsausdruck bemerkte, setzte sie noch nach: „Gestern war einfach zu viel Trubel durch diesen aggressiven Mann mit seiner armen Frau. Da hatten Edith und ich kaum die Zeit, uns in Ruhe dort umzusehen.“

„Das ist die dritte Klasse, das wissen Sie, oder?“, merkte Mr. Murdoch an, wurde aber direkt mit einem energischen Nicken von Mathilda in seinen Bedenken unterbrochen. Stattdessen lächelte er leicht. „Also schön, dann gehen wir achtern.“

„Achtern?“ Mathilda hatte erneut ein Fragezeichen im Gesicht. Sie hakte sich bei dem Offizier unter, der er ihr wieder seinen Arm reichte, und gemeinsam schritten sie wieder voran.

Mr. Murdoch erklärte dann sogleich: „'Achtern' ist ein anderer Ausdruck für 'hinten'. Seemannssprache. Genauso wie wir nicht links oder rechts sagen, sondern Backbord und Steuerbord.“

Mathilda nickte verstehend. Sie war noch keine halbe Stunde mit Mr. Murdoch unterwegs gewesen und schon hatte sie ein paar weitere Dinge gelernt. Mathilda nahm sich fest vor, diesen anziehenden Mann die nächsten Tage weiter nach ein paar geheimen Ausdrücken der Seemannssprache auszufragen – wenn er denn Zeit für sie erübrigen konnte. Sicherlich könnte Mathilda so ihren Vater ein wenig ärgern oder beeindrucken. Gleichwohl hatte Oscar Briscom sich sehr für die Seefahrt interessiert, so war sein Großvater immerhin selbst lange Zeit zur See gefahren.

„Erzählen Sie mir etwas von sich“, unterbrach Mathilda mit einer mutigen Bitte die Stille.

Überrascht zog Mr. Murdoch die Augenbrauen nach oben. „Von mir? Glauben Sie mir, so spannend ist mein Lebenslauf nun wirklich nicht“, wich er aus, während er höflich einen Matrosen grüßte, der mit einem kernigen „Sir“ den Gruß erwiderte und seiner Wege ging.

„Sie machen sich schon wieder klein“, stellte Mathilda amüsiert fest. War der Schiffsoffizier etwa schüchtern? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. „Sagen Sie, kommen Sie eigentlich aus Schottland? Irgendwie vernehme ich einen leicht schottischen Akzent, aber vielleicht irre ich mich ja auch.“

„Tun Sie nicht.“ William Murdoch drückte ihre Hand, die in seiner Armbeuge lag. „Ich stamme tatsächlich aus Schottland. Genauer gesagt, aus Dalbeattie. Dort bin ich aufgewachsen und lebe auch heute noch dort. Interessant, dass manche Menschen den Akzent immer noch heraushören. Ich dachte, ich hätte ihn mir abtrainiert.“
Vor ihnen erstreckte sich inzwischen die kleine Treppe, die zum Poopdeck hinaufführte. Da die Treppe sehr schmal war und sie nebeneinander kaum Platz hatten, ließ William Murdoch seiner Gesprächspartnerin galant den Vortritt.

Mathilda schritt die Treppe nach oben, sehr darauf bedacht, nicht zu stolpern, so wie ihr es am Anreisetag passiert war. Beim bloßen Gedanken daran wurden ihre Knie wieder leicht wackelig. „Sie müssen Ihre Herkunft aber nicht verbergen. Ein kleiner Akzent ist durchaus interessant. Aber sagen Sie, wie lange fahren Sie denn schon zur See?“, stellte Mathilda eine weitere Frage. Vor ihr ragte schon der Fahnenmast, an dem die englische Flagge wehte, in den dunklen Nachthimmel und das Meeresrauschen wurde nun lauter. Als würde sie magisch davon angezogen werden, schritt sie auf die Reling zu.

Hinter ihr erklang wieder dieses warme Lachen, das sie seit der ersten Begegnung mit ihm immer wieder in den Bann zog. Offenbar amüsierte ihn ihre Neugier. „Ich komme aus einer Familie mit langer Seefahrertradition. Im Grunde wurde es mir in die Wiege gelegt. Seit fast zwanzig Jahren bin ich nun schon auf den Meeren unterwegs. Aber seit zwölf Jahren bin ich bei der White Star Line, der Reederei unter deren Flagge auch die Titanic fährt“, stand er ihr brav Rede und Antwort. „Aber mal ehrlich, so interessant finden Sie diese Informationen bestimmt nicht, oder?“

Mathilda hatte gar nicht bemerkt, dass sie einfach ohne ihn weiter voran gelaufen war. Mittlerweile hatten sie die Reling vom Heck erreicht. „Natürlich interessiert es mich. Sonst würde ich nicht danach fragen“, erklärte sie und hob gespielt arrogant ihr Kinn in die Höhe. „Immerhin möchte ich mich über den Mann informieren, der mir hier kostbare Zeit stielt.“

Mr. Murdoch, der ein Stück weit hinter ihr stand, konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Er setzte sich wieder in Bewegung und kam direkt auf sie zu. „Selbstverständlich, Miss. Ich wollte Ihr Interesse niemals in Frage stellen und verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Zeit stehle“, witzelte er und gesellte sich zu ihr an die Reling.

Mathilda grinste, als wäre sie ein kleines Schulmädchen, deren Schwarm zum ersten Mal mit ihr sprach. Im Moment wurde es ihr jedoch ein wenig peinlich, sich so albern zu benehmen, da er jetzt so nah bei ihr stand, und ihr Grinsen vermutlich einfach nur dämlich aussah, dessen war sie sich fast bewusst. Die junge Frau blickte sehnsüchtig auf das düstere Meer hinaus, das von dem majestätischen Schiff erobert wurde. Neugierig sah sie über die Reling, wo unter ihnen das Wasser aufschäumte. „Wenn ich mich weit genug drüber lehne, seh ich dann eigentlich die Schiffsschrauben?“, wollte sie wissen.

Plötzlich griffen zwei Hände nach ihren Schultern und hielten sie an Ort und Stelle. „Passen Sie bitte auf und lehnen Sie sich nicht zu weit rüber. Und nein, Sie können die Schiffsschrauben nicht sehen“, antwortete Mr. Murdoch, der Mathilda festhielt und äußerst besorgt klang.

Verlegen bemerkte Mathilda seine starken Hände, die sie hielten; roch das angenehme, markante Rasierwasser. „Haben Sie Angst, dass ich abstürze?“, versuchte sie sich locker zu geben, doch es misslang. Mathilda krallte sich an dem Holz der Reling fest. Unter seinem festen Griff erstarrte Mathilda zur Salzsäule. Seine Berührung kam so plötzlich, dass sie gar nicht darauf gefasst war, ihm jetzt noch näher zu sein.

Mr. Murdoch bemerkte ihre veränderte, beinahe steinerne Haltung. Schließlich ließ er sie los und erwiderte: „Um ehrlich zu sein – ja, ich habe Angst, dass Sie hier über Bord gehen. Verzeihung, falls ich Sie ein wenig zu fest gegriffen hab.“

Augenblicklich fühlte sie sich schlecht. Sie wollte keineswegs, dass Mr. Murdoch sich entschuldigen musste, weil er sich sorgte. „Nein, keineswegs. Ich bin nur erschrocken.“ Mathilda wandte sich zu ihm um. „Bitte entschuldigen Sie. Sie haben keineswegs etwas falsch gemacht. Ich bin durchaus ein wenig tollpatschig und da wär es gar nicht so abwegig gewesen, dass ich über Bord gehe.“ Sie rang sich ein Lachen ab, obwohl ihr Innerstes noch immer durchgewirbelt war von der unerwarteten, starken Berührung durch diesen wundervollen Mann.

Jetzt konnte auch Mr. Murdoch wieder lächeln. Und sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als er seine nächste Aussage traf. „Dass Sie ein wenig tollpatschig sind, ist mir schon gestern bei der Abfahrt aufgefallen“, bemerkte er aus heiterem Himmel.

Mathildas aufgeheizte Stimmung sank in den Minusbereich. Sprach er sie etwa auf genau das an, was sie dachte? „Wie meinen Sie denn das?“, haspelte Mathilda, deren Souveränität komplett dahin war. Innerlich betete sie, dass er nicht sie damit meinte. Bitte lass ihn eine andere meinen!

Der Mann lehnte bequem an der Reling, legte den Kopf schief und grinste spitzbübisch. „Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern, wie Sie gestern gestolpert sind, als wir Blickkontakt ausgetauscht haben?“, stellte er direkt eine freche Gegenfrage.

Mathilda revidierte ihre Meinung, dass er schüchtern sein könnte. Nein, der Mann war schlagfertiger als jeder Boxer. Und noch dazu ein extrem guter Beobachter. Eigentlich sollte sich Mathilda freuen, dass er diesen Blickkontakt erwähnt hatte, aber andererseits – und das überwog leider – war es ihr auch unendlich peinlich.
„Ich war einfach so fasziniert von diesem Schiff und durch die ganze Aufregung war ich einfach ziemlich durch den Wind. Und dann lächelt mir auch noch in dem ganzen Chaos ein netter Mann zu – da hab ich kurzzeitig die Orientierung verloren“, erklärte Mathilda nun mit brachialer Ehrlichkeit. Jetzt konnte es ohnehin nicht mehr peinlicher werden. Ihre Wangen glühten förmlich.

Nun legte sich ein gefühlvoller Ausdruck auf das Gesicht des Offiziers. „Hätte ich gewusst, dass ich Sie so ablenke, hätte ich mich im Führungshaus versteckt“, machte er einen weiteren Witz. „Ihnen stand die Faszination einfach ins Gesicht geschrieben und Sie wirkten im Gegensatz zu vielen anderen Passagieren weitaus offener. Sehr sympathisch eben.“

„Wirklich?“ Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Ich hoffe, dieser erste Eindruck hält sich noch.“

„Durchaus. Ich bin nicht enttäuscht.“ William Murdoch schien dabei kurz zu überlegen. „Aber jetzt darf ich eine Frage stellen. Sie sind nicht verheiratet, reisen mit einer guten Freundin und ohne Eltern. Was treibt Sie denn nach Amerika? Wartet dort jemand auf Sie?“

Mathilda war überrascht. Nervös zupfte sie an ihrem Jackenärmel. „Genau genommen sind es zwei Fragen. Aber nein, außer eine Menge Arbeit wartet da nichts und niemand auf mich“, sagte sie leise. „Ich bin auf Bitten meiner guten Freundin Edith mitgereist. Nach dem Tod ihres Mannes benötigt sie Hilfe bei dem vielen Papierkram.“

Mr. Murdoch nickte verstehend. „Ja, von Paul McClarys Tod hab ich schon gehört. Er war öfter mit den Schiffen der White Star Line unterwegs. Daher kannte ich ihn auch flüchtig“, erklärte er ernst. „Warten denn Ihre Eltern in England auf Sie?“

So direkt und unerwartet wurde Mathilda selten auf ihre Eltern angesprochen. Nur Mr. Andrews hatte sie bei der ersten Begegnung danach gefragt. Aber zu diesem Zeitpunkt war Mathilda in Begleitung von Edith und deutlich gefasster als jetzt. Im Moment stand sie alleine am dunklen Heck der Titanic, Aug in Aug mit einem Mann, der auf sie eine Faszination der seltenen Art ausübte, und mit dem sie wenige Minuten zuvor peinliche Situationen diskutiert hatte. Somit war ihre Gefühlswelt ohnehin schon ziemlich aufgewühlt und jetzt bildete sich in ihrem Kopf das Bild ihrer Eltern. Automatisch blickte sie auf das dunkle Meer. Die Heimat lag nun schon Meilen entfernt und auf einmal keimte die Sehnsucht nach ihrem Vater in ihr auf.

„Ja, mein Vater wartet dort noch auf mich. Zusammen mit seiner Pflegekraft. Meine Mutter ist leider schon...“ Ohne es zu wollen brach Mathilda mitten im Satz ab. In ihren Augen brannten salzige Tränen. Ihr war es unendlich peinlich jetzt vor Mr. Murdoch in Tränen auszubrechen, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie legte ihre Hand auf den Mund, während einige Tränchen über ihre Wangen tänzelten.

„Es tut mir so leid. Ich wollte keineswegs, dass Sie wegen mir in Tränen ausbrechen. Verzeihen Sie, dass ich danach gefragt habe.“ Er tastete, während er dies sagte, seine Jackentaschen ab. Offenbar suchte er nach einem Tuch. Jedoch wurde der Offizier nicht fündig. Er hob seinen Blick und musterte Mathilda, die noch immer mit ihren Gefühlen kämpfte. Offizier Murdoch kam einen Schritt auf sie zu, zog dabei langsam einen seiner Handschuhe aus. „Bitte hören Sie auf zu weinen. Das war nicht meine Absicht“, hörte sie ihn noch mit sanfter Stimme sagen, und schon im nächsten Augenblick spürte sie eine warme Hand auf ihrer nassen Wange.

Mathilda zuckte kurz zusammen, bemerkte jedoch, wie zärtlich er ihr mit dem Daumen die Tränen wegwischte. Sämtliche Gefühle wurden durcheinander gewirbelt und ihr ganzer Körper fing an zu kribbeln. In ihrem Innersten tobte ein einziger Sturm aus unterschiedlichen Empfindungen. Es fühlte sich an, als würde ein elektrischer Schlag durch ihre Adern jagen. Wie konnte eine einzelne, sanfte Berührung sie nur so aus dem Gleichgewicht bringen?

In diesem Moment begann Mathilda damit, sich komplett fallen zu lassen, seine Gegenwart und diese Berührung zu genießen. Jetzt war auch der Zeitpunkt gekommen, in dem sie sich eingestehen musste, dass die kleine Knospe der Verliebtheit, die unbewusst in ihrer Seele keimte, langsam aufzugehen schien.
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