Als der Traum noch lebte
von WaterSpirit
Kurzbeschreibung
Sobald die alte Mathilda Briscom die Augen schließt, befindet sie sich wieder an Bord der Titanic und in den Armen ihres Offiziers: Im Jahr 1912 begleitet die reiche Mathilda ihre ebenso vermögende Freundin nach Amerika. Zwei wohlhabende Frauen, denen es rein äußerlich gesehen an nichts fehlt. An Bord der Titanic wollen die Freundinnen nur ihre Freiheit, den Luxus und gute Gesellschaft genießen. Niemals hätte Mathilda sich erträumen lassen, auf dem Schiff auch der Liebe ihres Lebens zu begegnen. Für Mathilda könnte das Leben auf dem größten Schiff der Welt nicht schöner sein. Doch was passiert, wenn plötzlich so etwas wie das Schicksal zum Gegner wird und die Karten neu mischt? Denn niemand erahnt zu dieser Zeit die herannahende Katastrophe.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character)
Thomas Andrews
William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
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10.08.2022
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14. April 1912
„Du erdrückst mich mit deiner Fürsorge, Millie. Bitte lass mich in Ruhe. Ich möchte nur schlafen. Geh jetzt!“ Ediths Tonfall hatte eine schrille Nuance angenommen und sie ließ weder mit sich reden noch verhandeln.
„Edith, benimm dich bitte wie eine erwachsene Frau.“ Verzweifelt schlug Mathilda mit der flachen Hand gegen Ediths Schlafzimmertüre. Die junge Witwe hatte ihre Freundin aus dem Raum geworfen, die Türe jedoch nicht verschlossen. Dennoch behielt Mathilda ihre Höflichkeit bei und blieb vor der Türe stehen.
„Verschwinde! Und lass mich jetzt endlich schlafen!“, keifte Edith von innen.
Mit einem abgrundtiefen Seufzer gab Mathilda schließlich auf. Sich mit Edith zu streiten war schon in der Vergangenheit keine gute Idee gewesen, da ihre Freundin mit einem herrlichen Sturkopf gesegnet war. Mathilda konnte also nur verlieren. Zwar sorgte sie sich noch immer sehr um Edith, doch Mathilda musste eingestehen, dass ihrer Freundin eine Mütze voll Schlaf vielleicht sogar gut tun würde. Und Mathilda wollte sie keineswegs bedrängen.
Die Müdigkeit hatte zugenommen seit Edith die Medikamente, die ihr Dr. O'Loughlin gegeben hatte, einnahm. Mathildas Besorgnis nahm dadurch allerdings nicht ab. Jedoch beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass ihr damit erst einmal geholfen war. Edith war bei Dr. O'Loughlin schließlich in den allerbesten Händen. Mathilda vertraute dem Arzt bedingungslos und hoffte darauf, dass sich alles zum Guten wenden würde. Im Moment konnte sie jedoch nichts für Edith tun. Ihre gute Freundin sträubte sich gegen jegliche Art von Hilfe, die ihr von Mathilda angeboten wurde. Mathilda wusste nicht, ob ihre forschen Aussagen von der Krankheit herrührten oder Edith die Freiheit ihrer Freundin ein Dorn im Auge war, da sie an ihr Bett gefesselt war.
Mathilda war verzweifelt. Sie musste sich ehrlich eingestehen, dass sie Ediths Zustand kaum mehr ertragen konnte. Niemals zuvor hatte Mathilda Edith in einer solch schlechten Verfassung erlebt und es schnürte ihr das Herz zu. Ein Gefühl von Hilflosigkeit jagte durch ihre Glieder.
Wie vergessen stand Mathilda vor der Schlafzimmertüre ihrer Freundin und hatte die Hände ineinander gefaltet, als wolle sie für sie beten. Das tat Mathilda natürlich mehrmals am Tag, doch im Augenblick fühlte sie sich leer und verlassen – und das auf dem größten Schiff der Welt mit über zweitausend Seelen an Bord.
Da Edith sie ohnehin nicht um sich haben wollte, entschied Mathilda nun, die Kabine zu verlassen. Sich die Beine in den Bauch zu stehen war keine Option und noch war die Nacht nicht über sie hereingebrochen. Sicherlich hatte Mathilda später noch die Gelegenheit in Ruhe mit Edith zu sprechen.
Erneut stieß Mathilda einen Seufzer aus und entschloss sich, noch ein wenig an die frische Luft zu gehen. Da es draußen nur noch knappe zwei Grad waren, suchte Mathilda ihre wärmsten Klamotten im Schrank aus. Sie warf sich ihre dunkelgrüne, warme Jacke über ihr weinrotes, langärmeliges Kleid und schloss die Knöpfe. Ihre Hände bedeckte sie mit ihren hellbraunen Handschuhen und ihr schmuckes Seidentuch tauschte sie gegen einen warmen Schal aus.
Damit begab sich Mathilda nun auf ihren Weg nach draußen. Mittlerweile hatte sich die junge Frau an die kalte Seeluft gewöhnt und sie genoss es, draußen an Deck spazieren zu gehen, wenn sich nur noch wenige Menschen bei dieser Kälte nach draußen trauten.
Gedankenverloren schritt Mathilda die Treppen empor, grüßte hier und da ein paar bekannte Gesichter, aber ansonsten war die junge Engländerin im Geiste noch immer bei Edith. Ihr Verhalten hatte Mathilda zutiefst verletzt, obwohl sie Edith nicht einmal dafür verurteilen konnte. Schließlich befand sich Mathilda nicht in der prekären Lage einer gefährlichen, kräftezehrenden Krankheit. Edith wusste bestimmt nicht einmal mehr wirklich, dass sie ihre gute Freundin mit ihren Worten verletzt hatte.
Mathilda schüttelte mitleidig den Kopf. Sie musste unbedingt auf andere Gedanken kommen. Am liebsten hätte sie sich in Williams schützende Arme geworfen; ihn angefleht, ihr zu sagen, dass alles wieder gut werden würde und seine Nähe gespürt. Doch Mathilda wusste nicht einmal, wo auf diesem großen Schiff er sich aktuell befand. Er konnte überall sein. Und einen Matrosen nach ihm zu fragen war ihr unangenehm – und davon abgesehen auch nicht schicklich. Auch konnte sie nicht einfach zur Brücke marschieren und dort nach einer Auskunft verlangen.
Mathilda seufzte. Einen Augenblick lang dachte sie sogar daran, Mr. Andrews nach ihm zu fragen. Diesen Gedanken verwarf sie aber so schnell wieder, wie er gekommen war. Mathilda musste sich mit wärmenden Gedanken an ihren geliebten Offizier trösten.
Ein unbekannter, aber höflicher Mann öffnete ihr einen Wimpernschlag später die Türe zum Promenadendeck, woraufhin sich Mathilda freundlich bei ihm bedankte und sie sah ihm noch kurz nach, bis er verschwunden war. Dabei entfiel ihr, dass die Türe hinter ihr durch die Windböe, die über das Deck jagte, langsam wieder ins Schloss zu fallen drohte und sie noch zur Hälfte im Türrahmen stand. Mathilda hüpfte erschrocken einen Schritt nach vorne, als sie merkte, dass die Türe sie praktisch von ihrem Platz verdrängte. Mit einem Poltern schloss sich der Durchgang. Mathilda verzog kaum eine Miene. Sie wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als sie bemerkte, dass sie mit einem Ruck zurückgezogen wurde. Plötzliche Panik krabbelte ihre Glieder empor. Hatte jemand die Türe wieder geöffnet und sie gepackt?
Mathilda wandte sich erschrocken um, nur um festzustellen, dass ihr fabelhaftes Talent für Peinlichkeiten sie erneut herausforderte. Mathilda brummte genervt. Ihr weinrotes Kleid klemmte doch tatsächlich in der Türe fest.
„Oh, nein!“, stieß Mathilda frustriert aus. Der Saum war garantiert hinüber!
Murrend öffnete Mathilda die Türe einen Spalt und hoffte darauf, dass nun niemand hier nach draußen stürmen und über sie stolpern würde. Doch mit dem Öffnen war das Problem noch nicht behoben. Das widerspenstige Stück Stoff hatte sich genau unter der Ecke der Türe vergraben und war verkeilter denn je.
Ein nicht ganz damenhafter Fluch lag ihr auf den Lippen, aber es half nichts. Sie musste ihr Kleid frei bekommen. Daraufhin ging Mathilda in die Knie und zupfte vorsichtig an dem Kleid. Am liebsten hätte sie es einfach mit einem Ruck herausgerissen, doch damit lief sie Gefahr, das edle Samt komplett zu zerstören. Und bei ihrem Geschick wäre ihr das garantiert passiert!
Aber wie sollte sie sonst aus dieser Misere herauskommen? Sie konnte sich jetzt nur noch der Verzweiflung hingeben. Glücklicherweise war niemand zu Gegend, der sie hätte...
„Können wir der Dame denn irgendwie behilflich sein?“
...sehen können.
Ein charmantes Lachen folgte diesem Satz, was Mathilda die Schamröte in die Wangen trieb. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, jedoch stand eine Flucht nicht zur Debatte – vor allem, da sie noch immer in der Türe festhing.
Mathilda wagte nicht, irgendetwas zu sagen. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sehnsüchtig darauf gehofft, ihn zu treffen und sich in seine Arme legen zu können, allerdings sah dieser Gedanke nicht vor, dass sie vor ihm auf dem Boden kroch. Sie wagte kaum aufzusehen.
„Mathilda, alles in Ordnung?“ Plötzlich klang er deutlich besorgter, da sie nicht reagierte, in welcher Form auch immer.
Mathilda kniff einen Moment lang die Augen zu. Sein Tonfall schmerzte und es tat ihr unendlich leid, nichts zu erwidern. Nun öffnete sie aber wieder die Augen und setzte sogleich ein entschuldigendes Lächeln auf.
„Ich nehme Mr. Andrews die Arbeit ab und überprüfe das Schiff nach etwaigen Mängeln“, antwortete Mathilda schließlich und sie war unendlich stolz darauf, den Satz ohne Stottern hervorgebracht zu haben. Als sie jedoch endlich mutig aufsah, verschwand ihr plötzliches Selbstbewusstsein schlagartig.
Vor ihr stand William Murdoch – natürlich, ihn hatte sie an seiner Stimme längst erkannt –, doch er war nicht alleine. Neben ihm fand sich ein weiterer Offizier mit gerader Haltung vor. Er wirkte ziemlich jung und das kecke Grinsen im Gesicht unterstrich diesen Umstand zusätzlich. Beide Männer hatten die Arme hinter dem Rücken verschränkt und wirkten in ihren Uniformen einmal mehr beeindruckend.
„Ma'am, lassen Sie mich Ihnen helfen“, sagte der jüngere Mann, als er bemerkte, weshalb Mathilda nicht vom Boden aufstand. Mit wenigen Schritten hatte er die Entfernung zu der Herzdame seines Offizierskollegen schnell überbrückt und ging neben ihr in die Knie.
Mathilda errötete augenblicklich. Ihr war die Situation gänzlich unangenehm. Wäre es nur William gewesen, der sie hierbei erwischte, wäre ihr eher geholfen gewesen. Aber nein, bei Mathildas Glück mussten es direkt zwei Offiziere sein – zudem noch ein Unbekannter. Während sich Mathilda in Gedanken in Grund und Boden rügte, griff der junge Offizier nach dem Saum ihres Kleides und fechtete den ultimativen „Kampf“ gegen die Türe aus. Mittlerweile schien auch William bemerkt zu haben, was denn eigentlich Mathildas Problem war.
„Da war ich wohl nicht schnell genug“, kommentierte William Murdoch die Hilfsbereitschaft seines Kollegen. Inzwischen stand er direkt neben Mathilda und hatte ihr seine Hand gereicht, um ihr Halt zu geben. Dankbar ergriff sie die starke Hand ihres geliebten Offiziers.
Erneut war Mathildas Fähigkeit zu sprechen abhanden gekommen. Die Scham ließ es außerdem nicht zu, ihren Liebsten anzusehen. Stattdessen beobachtete sie wie der junge, ihr unbekannte Offizier mit einem Ruck das Kleid von der Türe getrennt hatte.
„So ein Mistding“, ließ er dabei lachend verlauten. „Aber wenigstens wissen Sie nun, dass das Kleid von guter Qualität ist.“ Das Lächeln eines jungen Burschen traf sie und Mathilda erwiderte das Lächeln.
Nachdem sie befreit war, zog sie sich an Williams Hand nach oben und war ihm dabei so gefährlich nahe, dass ihre Knie wieder weich wurden. Sein Blick lag liebevoll auf ihrer Person und das Gefühl, das er erneut in ihr auslöste, gab ihr den Mut wieder zu sprechen.
„Liebste, du hast ein außerordentliches Talent, dich in solche Situationen zu manövrieren“, flüsterte er dabei mit zärtlicher Fürsorge. Dabei drückte er leicht ihre Hand.
Mathilda seufzte sehnsüchtig und fixierte seine wunderschönen Augen. „Danke, aber es war mir fast klar, dass es ausgerechnet du bist, der mich wieder bei einer Peinlichkeit erwischt“, merkte Mathilda beschämt an. Anschließend schenkte sie dem jüngeren Offizier ihre Aufmerksamkeit und bedankte sich höflich. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Wieder nahm der Offizier eine gerade Haltung an, wobei es kurzzeitig so aussah, als wolle er salutieren. „Oh, nicht dafür. Ich würde ja gerne sagen, jederzeit wieder, aber ich hoffe nicht, dass Sie noch einmal in eine solche Lage geraten“, erklärte der junge Mann fröhlich, wobei diese Aussage von einem interessanten Dialekt getragen wurde. Stammte er aus Wales?
William Murdoch kommentierte die Aussage seines Kollegen mit einem erheiternden Lachen. „Harry, der Held der holden Damenwelt“, merkte er dabei an.
„Harry?“ Mathilda durchwühlte ihre Erinnerungen an diesen Namen. Will hatte ihr gegenüber diesen Namen schon einmal erwähnt und da war sie wieder, die Erinnerung. „Ah, Harold Lowe, nicht wahr?“, erinnerte sie sich.
„Korrekt, gnädige Frau!“ Der Offizier – Harold Lowe – tippte sich anständig an die Kappe.
„Freut mich sehr.“ Und Mathilda meinte es auch so, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, ihn auf einem anderen Weg kennenzulernen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. „Will... ich meinte, Offizier Murdoch hatte Sie mir gegenüber schon einmal erwähnt.“
Während Harold Lowe neugierig den Kopf schief legte, strich ihr William zärtlich über den Rücken und erwiderte: „Vor ihm brauchst du keine formelle Anrede benutzen. Genauso wenig wie vor Lights.“
„Oh, gütiger Gott, die wissen Bescheid!“, dachte Mathilda beschämt. Gut, sie hatte natürlich damit gerechnet, dass seine engsten Kollegen Bescheid wissen könnten, aber dennoch war sie überrascht. Offenbar hatte der gute William dem ein oder anderen Kollegen auf der Brücke ihren Namen erwähnt. So unangenehm ihr dieser Umstand auch war – es rührte sie irgendwie aber auch.
Harold Lowe schien ihr Unwohlsein zu spüren, denn er sagte: „Verzeihung, wir wollten Sie damit nicht in Bedrängnis bringen. Aber Will hat so liebevoll von Ihnen gesprochen, dass wir alle einfach ein bisschen zu neugierig geworden sind.“ Er hob beschwichtigend die Hände.
Erneut glühten Mathildas Wangen. Welch schönes Kompliment! Am liebsten hätte sie wie ein junges Mädchen gequietscht vor Glückseligkeit, doch sie besann sich eines besseren und rief ihre guten Manieren wieder in Erinnerung. „Das ist durchaus eine Überraschung. Ich wusste ja nicht, dass über mich gesprochen wird.“ Sie bedachte daraufhin Will mit einem eindringlichen Blick. Der zuckte nur unschuldig dreinblickend mit den Schultern.
Nun musste der pflichtbewusste William Murdoch das Ruder aber wieder aus dem privaten Geplänkel ziehen. „Harry, du bist aber nicht für Klatsch und Tratsch hier draußen, schon vergessen?“, mahnte William nun und rief seinem jüngeren Kollegen die Pflichten zurück ins Gedächtnis.
„Selbstverständlich nicht, aber es war mir eine Ehre, einer schönen Dame in Not behilflich zu sein“, sprach Harold Lowe mit einem gewissen Charme und einer kleinen Note Humor. Mathilda mochte den Mann auf Anhieb. Dieser fügte nun an William gewandt an: „Die Temperatur sinkt weiter. Bald sind wir unter dem Gefrierpunkt. Ich werde nochmal die Luft- und Wassertemperaturen messen.“
Bei dem formellen Austausch schlich ein beklemmendes Gefühl über Mathildas Rücken. Ihr war natürlich bewusst, dass die Offiziere für den reibungslosen Ablauf der Fahrt zuständig waren, dennoch beunruhigten sie manche Gesprächsthemen wie dieses. Unbewusst lehnte sie schutzsuchend gegen William, der ihr einen Halt gab, als gingen sie schon jahrelang gemeinsam durch das Leben. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, wie bei niemand anderem.
„Schnapp dir einen der Matrosen und überprüft die Süßwassertanks. Ich möchte nicht, dass da etwas einfriert“, merkte William eindringlich an. „Offizier Moody soll ebenso die Leitungen kontrollieren. Wir sehen uns später nochmal auf der Brücke.“
„Jawohl.“ Harold Lowe nickte den Befehl seines Vorgesetzten damit ab, ehe er an Mathilda gewandt sagte: „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bestimmt werden wir uns wieder begegnen.“ Erneut fand seine Hand zur Verabschiedung den Weg an seine Offiziersmütze. Dann verschwand Harold Lowe achteraus, um seine aufgetragenen Pflichten zu erfüllen.
Mathilda entspannte sich nun sichtlich. Harold Lowe schien ein netter Mensch zu sein, aber dennoch genoss Mathilda es nun, ihren Will wieder ganz für sich allein zu haben. Dennoch merkte sie mit einem Augenzwinkern an: „Wirklich ein sehr charmanter, junger Mann.“
„Ich hoffe doch, ich muss nicht eifersüchtig werden?“, amüsierte sich der Erste Offizier, der keck eine Augenbraue nach oben zog.
„Niemals.“ Mathilda genoss das Gefühl, das dieser Mann durch seine Art in ihr auslöste. Sie streckte seine Hand nach ihm aus. „Niemals, Liebster....“ Wie aus dem Nichts überkam sie auf einmal eine kleine, aber gewaltige Woge der Trauer. Mathilda erschien es unfair, dass sie sich so gut fühlen und frei bewegen durfte, während Edith in ihrer Kabine wie eine Gefangene hauste. Zugegeben – eine Gefangene mit fabelhaftem Zimmerservice und gutem Essen, aber dennoch der Freiheit fern.
Mathilda fuhr mit der flachen Hand über den Kragen von Williams Jacke, blickte aber sogleich untröstlich zu Boden. Ediths Zustand warf einen kleinen Schatten über diese Reise.
„Mathilda.“ Seine Stimme hatte an Beunruhigung gewonnen. Er ergriff ihre Hand, die noch immer an seinem Kragen lag, und drückte sie fest. „Was ist los? Geht es Edith schlechter?“
Williams Scharfsinn war beeindruckend – und er zwang Mathilda dazu, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Bisher hatte sie es hervorragend geschafft, ihre verletzten und beängstigenden Gefühle für sich zu behalten. Jedem hatte sie eine Show vorspielen können – Mr. Andrews, Molly Brown, Mr. Middleton – selbst Dr. O'Loughlin, obwohl dieser ihre Bedrückung nicht nur spüren, sondern ihr auch ansehen konnte. In Williams Nähe gelang es Mathilda jedoch nicht. Er schien eine feine Antenne für ihr wahres Befinden zu haben und auch jetzt schien er nur allzu deutlich zu spüren, was in ihr vorging. Doch jetzt war Mathilda an einem Punkt angekommen, an dem sie ihre Fassade nicht mehr aufrecht erhalten konnte – nicht vor William.
Die lastende Stille zwischen ihnen tat ihr übriges, um Mathilda endgültig in Williams Arme zu befördern. Sie drückte sich schluchzend an seine Brust; ihre Hände krallten hilfesuchend nach seinem Mantel.
Im ersten Augenblick schien William erschrocken über ihre Reaktion zu sein, doch er bemerkte schnell, wie nahe ihr dieses Thema ging. Schützend legten sich seine Arme um ihren Körper, der unaufhörlich zitterte.
„Schon gut, Liebling, wein nur so viel du möchtest.“ William rieb ihr sanft über den Rücken und drückte sie dabei eng an sich. „Ich bin für dich da.“
Seine beruhigende Stimmlage gepaart mit der starken Körperhaltung ließ Mathilda langsam zur Ruhe kommen. Sie atmete tief ein und aus, doch die Tränen konnte sie nicht stoppen.
„Es ist so unfair. Wieso trifft es ausgerechnet Edith?“, schluchzte Mathilda, die insgeheim ziemlich froh darüber war, von William gehalten zu werden, da sie sonst Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hätte. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub und ihre Knie fühlten sich an, als seien sie aus Wackelpudding.
Noch immer strich William ihr besänftigend über den Rücken, ehe er leise sagte: „Wir sollten uns vielleicht etwas zurückziehen. Hier oben an Deck laufen genug neugierige Menschen umher.“
Mathilda wusste weder, was er damit sagen wollte, noch wen er damit meinte – aber es war ihr auch schlicht und ergreifend egal. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe, da konnten die Reichen und Schönen denken, was sie wollten.
„Könnten wir uns irgendwo hinsetzen? Meine Beine fühlen sich an wie...“ Mathilda konnte kaum mehr sprechen. Sie löste sich ein wenig von William, bevor sie ihre Jackentaschen nach einem Taschentuch absuchte und fündig wurde. Dabei hielt er sie fest an den Armen – für den Fall, dass ihre Beine doch noch nachgeben würden.
„Selbstverständlich, mein Schatz.“ William strich ihr zärtlich über die Wange. „Ich weiß, es ist nicht erlaubt, aber...“ Der Satz stand offen im Raum, während William sich kurz umsah. „Komm einfach mit, ja?“
Mathilda war verwirrt, nickte aber. Was war nicht erlaubt? Und wohin gingen sie nun?
Mathilda widersprach ihm nicht, stattdessen ließ sie sich von ihrem Liebsten behutsam über das Deck führen. Schützend hatte Mathilda ihre Arme um ihre eigene Person geworfen, als wolle sie sich selbst beruhigen. William schob sie sanft, aber bestimmend über das Deck, dabei ruhte seine Hand unaufhörlich auf ihrem Rücken, als wolle er sie vor allem Unheil auf dieser Welt schützen.
Schweigend tupfte sich Mathilda die Tränen auf ihren Wangen fort, während William sie zielstrebig über die Offizierspromenade führte und dann schließlich durch eine Türe lotste. Mathilda fand sich nun in einem kleinen Gang wieder, den sie zuvor nie gesehen hatte. Sie war verwirrt und gleichermaßen neugierig. Bisher hatte sie diesen Teil des Schiffes nie zuvor gesehen und obwohl es um ihre Orientierung nicht gut stand, konnte Mathilda erahnen, dass sie nicht weit entfernt von der Brücke sein mussten.
„Wo sind wir hier?“ Warum genau sie flüsterte, wusste Mathilda nicht. Vermutlich weil sie hier auf diesem Gang außer dem leisen Brummen der Maschinen nichts anderes hören konnte. Es wirkte beinahe verboten, dass sie sich hier auf hielt.
William legte einen Finger über seine Lippen, um ihr zu signalisieren, leise zu sein. Dabei zog er sie ein Stück enger an sich, während sie ein paar verschlossene, unscheinbare Türen passierten. Bevor er Mathilda jedoch eine Antwort gab, öffnete er mit flinkem Griff eine davon und offenbarte schließlich: „Bei den Offiziersunterkünften.“
Deutlich überrascht wurden ihre Augen ein Stück größer. Mathilda wusste nicht, was sie davon halten sollte, doch bevor sie protestieren oder nachfragen konnte, bot ihr William an, voran in das kleine, unscheinbare Zimmer zu gehen. Schüchtern folgte Mathilda seiner höflichen Aufforderung und betrat den Raum. Es waren überschaubare, aber durchaus gemütliche vier Wände. Geradeaus an der Wand stand ein Bett mit sorgfältig zusammengelegter Bettwäsche, darüber ein kleines Fenster. Auf Mathildas rechter Seite befand sich ein Schreibtisch und ein Wandschrank. Zu ihrer linken konnte sie einen großen Waschtisch und einige Regale ausmachen. Natürlich war auch dieser Raum mit den feinsten Materialien ausgestattet.
Mathilda konnte erahnen, wem dieser Raum gehörte, aber William kam ihr zuvor, indem er sagte: „Meine Räumlichkeiten, wie du sicherlich schon erahnt hast. Nun ja, es ist nichts besonders, aber ich bin auch nicht auf Urlaub hier, sondern der Arbeit wegen.“ Mathilda blickte über ihre Schulter und konnte erkennen, wie er mit den Schultern zuckte, als wolle er sich für seine bescheidene Unterkunft entschuldigen.
„Es hat seinen Charme“, merkte Mathilda an. Ihr war keineswegs unwohl in Wills Nähe, aber dass er sie nun in seine intimen Räumlichkeiten mitnahm, überraschte Mathilda einerseits und bereitete ihr ein nervöses Kribbeln in der Magengegend.
An dem leisen Lachen konnte Mathilda erkennen, dass William ihr diese Aussage nicht übel nahm. „Kein Vergleich natürlich zu den besten Kabinen hier auf dem Schiff, aber es ist annehmbar“, erklärte er noch einmal. „Aber ich wollte dich nicht hierher bringen, damit du dir diese hervorragende Inneneinrichtung ansehen und mein Dekorationstalent bewundern kannst.“
Mathildas Tränen waren zum größten Teil getrocknet und somit erlaubte sie sich – dank Williams wunderbarem Humor – wieder zu lachen. „An deinen Dekorationskünsten müssen wir noch arbeiten“, erwiderte sie neckisch und fuhr mit der flachen Hand über den Schreibtisch. Auf diesem fanden sich einige Blätter Papier, sowie zwei Bleistifte, die sorgfältig aneinander gereiht dort lagen. „Aber weswegen sind wir dann hier?“, wollte Mathilda schließlich wissen.
William Murdoch schien, trotz seines charmanten Humors, noch deutlich besorgt zu sein – sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Wohl auch, um Mathilda in dieser kleinen Räumlichkeit nicht zu bedrängen und ihr erst einmal die Möglichkeit zu geben, sich an diesen Ort zu gewöhnen.
„Du bist gedanklich ganz weit weg und du sorgst dich zu sehr. Ich möchte nur, dass du etwas zur Ruhe kommst, ohne die Blicke der neugierigen Passagiere, die deinen Weg kreuzen“, eröffnete ihr William sorgvoll. „Und in deiner Kabine würdest du ständig mit Edith und auch dem guten alten Doktor O'Loughlin konfrontiert werden.“
„Danke“, sagte sie nur. Mathilda wusste nicht, was sie sonst noch auf seine liebenswerte Idee erwidern sollte. Und zum ersten Mal, seit sie Wills Unterkunft betreten hatte, bemerkte sie, welch Ruhe hier herrschte. Es war, als strahle dieser Raum dieselbe beruhigende Wirkung aus, wie William selbst.
„Ich meine – nur wenn es dir recht ist. Du kannst natürlich jederzeit gehen.“ Nun wagte William doch ein paar Schritte auf seine Herzdame zuzugehen und gab die Türe damit wieder frei. „Ich wollte nur, dass du ein paar Minuten Ruhe hast.“
Mathilda stand noch mit dem Rücken zu ihm und so konnte er ihr verliebtes Lächeln nicht sehen. Jedoch schenkte sie ihm schnell die Aufmerksamkeit, die er auch verdiente. „Danke, Will. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Und ich würde gerne ein paar Minuten hier bleiben“, erklärte sie. „Aber ist das denn erlaubt? Also, darf ich überhaupt hier sein?“ Ein wenig mulmig war ihr durchaus.
„Nein, eigentlich nicht.“ Wenigstens war William ihr gegenüber ehrlich. „Passagiere dürfen sich hier normalerweise nicht aufhalten und schon gar nicht in den Offiziersquartieren. Aber ich werde niemandem etwas verraten.“ Ein verschwörerisches Grinsen überzog sein Gesicht.
„Wieso solltest du auch? Immerhin würde mich kein Ärger erwarten, nur dich. Du, als hochrangiger Offizier, hast mich schließlich hierher gebracht.“ Mathilda war ihm gefährlich nahe gekommen und fixierte ihn mutig mit ihren durchdringenden Augen.
William schien von ihrer direkten Art überrumpelt zu sein, denn er zog überrascht die Augenbrauen nach oben, schenkte ihr aber sogleich ein Lächeln. „Kluges Mädchen“, amüsierte er sich. „Ja, ich bin wohl der einzige, der dann Ärger bekommt. Aber ich habe nicht vor, etwas von unserer Verabredung hier zu verraten.“
Mathilda biss sich verräterisch auf die Lippen. „Verabredung?“
„Naja, ich dachte...“ William schien plötzlich verlegen zu werden und nach Worten zu ringen.
Mathilda legte den Kopf schief. Sie konnte nicht glauben, dass der selbstbewusste William Murdoch gerade sein gedankliches Wörterbuch nach den richtigen Worten durchwühlte. „Oh, du wirst verlegen“, stellte Mathilda belustigt fest.
„Ich möchte nur nicht schroff wirken“, konterte er. „Ich dachte nur, wir könnten hier etwas Zeit verbringen – reden, unter uns sein. Und du könntest Ruhe finden, wie ich schon sagte. Dort oben an Deck sind wir selten allein.“
„Das ist wohl wahr.“ Mathilda biss sich nachdenklich auf die Lippe. Da William mit dem Rücken zur Türe stand und keine Anstalten machte, sich zu rühren, begann Mathilda erneut damit, den Raum unter die Lupe zu nehmen. Unschlüssig sah sie sich um, lief dann langsam wieder auf den Schreibtisch zu. Natürlich wusste sie, dass es sich nicht gehörte, herumzuschnüffeln, doch ihre Neugierde hatte längst ein angefangenes Schriftstück entdeckt. „Du schreibst Briefe?“, fragte sie.
Unterdessen war William längst an ihre Seite geeilt und entzündete die kleine Kerze auf dem Schreibtisch. „Ja, das tue ich“, sagte er und bemerkte dabei Mathildas Blick auf die Kerze. Daher fügte er noch an: „Ich mag Kerzenlicht.“
„Ich auch. Außerdem ist es das Licht, das einer Dame am meisten schmeichelt“, lächelte Mathilda, die ihre Hände auf der Rückenlehne des Stuhls, der vor dem Schreibtisch stand, gelegt hatte.
„Jedes Licht schmeichelt dir“, bemerkte William liebevoll, woraufhin er seinen schweren Mantel auszog und an den nächsten Kleiderbügel hing. Danach löschte er alle übrigen Lichter in dem kleinen Raum, sodass nur noch die kleine Kerze eine gemütliche Atmosphäre schaffte.
Irgendwie schaffte es jedes kleine Kompliment von ihm, Mathilda ein gutes Gefühl zu geben. Die Schmetterlinge, die sich in den letzten Tagen zu einer ganzen Horde entwickelt hatten, flatterten unaufhörlich durch ihre Glieder.
„Du schmeichelst mir“, merkte Mathilda verlegen an.
„Ich bin nur ehrlich, mein Liebling.“ Seine Worte waren süßer als Honig.
Mathilda legte den Kopf schief und erkannte, dass der angefangene Brief an seine Familie in Schottland gehen sollte. Danach hob sie ihren Blick und beobachtete, wie William sein Jackett und seine Mütze verräumte. Im Anschluss öffnete er die Weste und lockerte die Krawatte. Die Ärmel des weißen Hemdes schob er ein Stück nach oben.
„Möchtest du vor der nächsten Schicht noch eine Runde schlafen?“, fragte Mathilda daraufhin. Sicherlich wollte er ebenfalls seine Ruhe vor Dienstbeginn haben.
„Nein, nicht doch. Ich kann nach meiner Schicht eine ganze Weile lang schlafen.“ Er lachte entspannt und kam wieder in ihre Richtung. „Möchtest du den Mantel ausziehen?“
„Oh, gerne.“ Mit flinken Fingern öffnete sie die Knöpfe des warmen Mantels, während William ihr diesen daraufhin vorsichtig von den Schultern zog. Auf einmal war Mathilda wieder schrecklich nervös und wusste nichts mit sich anzufangen.
„Setz dich doch“, bat William dann und Mathilda sah sich unsicher um. Schließlich ließ sie sich an der Kante seines Bettes nieder, da in diesem Raum nur ein Stuhl stand und vor diesem hatte sich William platziert, da er gerade dabei war, ihren ausgezogenen Mantel sorgfältig für die Stuhllehne zu hängen.
Ihre Hände waren eiskalt. Wenn sie ausblendete, dass es Williams Raum war, dann war es durchaus kurios und nicht schicklich, sich hier aufzuhalten. Eine reiche, unverheiratete Frau allein mit einem Mann in dessen privaten Schlafgemach, und sie saß auf dem Bett eben dieses Mannes mit dem sie zuvor nie intim gewesen war.
Urplötzlich war da Williams Stimme, die wie aus dem Nichts zu kommen schien. „Du wirkst nervös“, stellte William seufzend fest. Er ließ sich neben ihr nieder und griff nach ihren Händen, die zusammengefaltet in ihrem Schoß lagen. Einen Augenblick zuckte sie erschrocken zusammen.
Mathilda fokussierte sich nun wieder darauf, dass der Mann neben ihr derselbe war, der ihr die letzten Tage so viel Halt und Liebe geschenkt hatte, wie sie nie zuvor in ihrem Leben bekommen hatte. William liebte sie, und sie liebte ihn. „Ein wenig“, gab sie mit unsicherem Lächeln zu. „Wir sind eben allein... also, ganz allein, verstehst du?“
„Ja, ich verstehe“, meinte er einfühlsam. Will schien ihre Angst zu spüren. Sein nachsichtiges Lächeln war im Kerzenschein sehr gut zu erkennen. „Wir können einfach nur nebeneinander sitzen und reden, oder schweigen. Einfach, wonach dir im Moment ist. Ich werde nichts tun, was du nicht willst.“
Mathilda glaubte ihm. Ja, sie glaubte ihm jedes einzelne Wort. Tief in ihrem Inneren wollte Mathilda nicht, dass sie nur nebeneinander saßen und schwiegen. Sie wollte von diesem Mann berührt werden – egal, ob er sie im Arm hielt, ihr über das Gesicht strich oder sie küsste. Mathilda sehnte sich nach seiner Nähe und Wärme. Und seit ihrem innigen Tanz in der Kabine, als seine Lippen ihren Hals berührt hatten, wusste Mathilda, dass ihr Körper auch auf intimste Weise auf seine Berührungen reagierte. Mathilda hatte oft genug über diese Reaktion nachgedacht – natürlich war es nicht das erste Mal, dass ihr Körper auf diese Art und Weise reagierte, aber nie zuvor war sie so gefährlich nahe dran gewesen, ihrer Lust nachzugeben. Niemand hatte je eine solche Begierde in ihr ausgelöst – und dann war sie William begegnet. Mit ihm wollte sie alles erleben und jede Intimität teilen, doch so wollte sie auch alles richtig mit ihm machen und dazu gehörte es nun einmal, enthaltsam zu bleiben, bis sie verheiratet waren. Aber wer würde jemals davon erfahren, wenn sie beide schwiegen?
„Mathilda, worüber denkst du gerade nach?“ William musterte sie mit leichter Besorgnis in seinen schönen Augen.
Seufzend wandte Mathilda sich ihm zu. In dem warmen Licht dieser kleinen, einzelnen Kerze wirkte er noch attraktiver, als er es für sie ohnehin schon war. Seine braunen Haare waren dieses Mal nicht so akkurat frisiert, sondern durch die Mütze ein wenig unordentlich und strubbelig, aber das störte Mathilda nicht. Im Gegenteil – es wirkte liebenswert und irgendwie anziehend.
„Über dich“, meinte sie lächelnd. Ihre Hand fand ihren Weg an seine Wange, woraufhin sie ihre Finger sanft über seine Haut gleiten ließ.
Diese Geste – obwohl sie noch so zittrig war – entlockte ihm wieder ein Lächeln, das Mathilda so sehr liebte. „Über mich? Das müssen schrecklich langweilige Gedanken sein.“ Zärtlich ergriff er ihre Hand, die noch immer auf seiner Wange ruhte.
Mathilda schmunzelte. „Keineswegs. Es sei denn, du empfindest unsere gemeinsame Zukunft als langweilig“, bemerkte sie ein wenig verlegen. Sie wollte ihr Hand zurückziehen, doch William lockerte seinen Griff nicht.
Er hauchte ihr einen Kuss in die Handinnenfläche. „Glaub mir, ich freue mich auf alles, was uns beiden noch bevorsteht“, flüsterte William. Augenblicklich schlängelte sich sein Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich.
Mathilda wich nicht zurück. Sie genoss es, so dicht an sicher Brust zu lehnen und seinen Herzschlag zu spüren. Die junge Frau ließ sich in seinen Arm sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Während ein Arm sie fest an sich gedrückt hielt, legte er seine andere Hand auf ihren Oberschenkel.
„Darauf freue ich mich ebenso.“ Schmunzelnd drückte sie ihre Nase gegen seine Halsbeuge. „Sag mal, die Rückreise nach Southampton ist am Samstag?“
Bevor William ihr eine Antwort gab, rutschte er auf seinem Bett so weit zurück, dass er mit seinem Rücken bequem gegen die Wand lehnen konnte. Damit war Mathilda gezwungen, ebenfalls ein Stück zurückzufallen – aber das nahm sie lachend hin.
„Entschuldige, aber so ist es doch ein Stück weit gemütlicher“, kommentierte der Offizier seine Haltungsänderung. Er streckte die Beine aus und zog seine Liebste wieder fest an sich. „Aber zurück zu deiner Frage – ja, wir reisen am 20. April zurück. Also am Samstag, richtig.“
Mathilda rutschte auf dem Bett ein Stück nach hinten, sodass sie ihre Beine ebenfalls durchstrecken konnte. Mittlerweile war sie nicht mehr so befangen, wie noch vor wenigen Augenblicken. Entspannt legte sie ihren Kopf zurück auf seine Schulter, während ihre Hand leicht über seinen Brustkorb strich.
„Nun ja, ich bin mir nicht ganz sicher, was für eine Behandlung Edith bevorsteht, aber ich frage mich natürlich, wozu ich dann dort in New York bin“, begann Mathilda zu erklären. Verträumt zog sie mit ihrem Zeigefinger ihre Kreise auf seiner Brust. Sie fuhr über die gelockerte Krawatte, hinauf zum Hemdkragen und dann entlang seines Schlüsselbeins. Da Will geduldig zuzuhören schien, sprach Mathilda unbeirrt weiter. „Versteh mich nicht falsch, ich möchte Edith so gut es geht zur Seite stehen, aber ich weiß weder wie lange die Behandlung dauern wird, noch wie ich ihr helfen soll.“
„Das ist durchaus eine berechtigte Überlegung“, stimmte Will ihr zu. „Wir kommen am Mittwoch in New York an und so wie ich Dr. O'Loughlin kenne, wird er Edith direkt nach dem Anlegen im Hafen persönlich zu einem seiner Kollegen bringen und für die erste Behandlung draußen auf dem Flur Wache halten.“
„Genau dasselbe hat er mir auch schon gesagt.“ Mathilda konnte ein Kichern nicht unterdrücken. William schien seinen Kollegen nur allzu gut zu kennen. Trotz allem war Mathilda noch besorgt und fragte unsicher: „Sie ist bei ihm doch in guten Händen, oder?“
Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich, was Mathilda eine Gänsehaut bescherte. „Aber sicher doch, Liebes. Im Grunde kenne ich keinen besseren und einfühlsameren Arzt als ihn. Er wird sich gut um Edith kümmern. Außerdem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass er Edith die erste Zeit während ihrer Behandlung auch nicht aus den Augen lassen wird“, versicherte William ernst.
Ein Stück weit war Mathilda erleichtert. William klang in seinen Aussagen so sicher, dass Mathilda nicht umhin kam, ihm zu glauben und ihre Sorgen ein wenig zu minimieren. „Das ist gut“, murmelte sie. Einen Augenblick lang schwiegen die beiden, genossen die Nähe zueinander. Mathilda spürte seinen kräftigen Herzschlag, der sie zur Ruhe kommen ließ; hörte und spürte das leise Brummen der Maschinen, an das sie sich schon so gewöhnt hatte. Ihr Blick glitt an die Decke, ehe ihr eine erneute Frage einfiel. „Will? Hast du das ernst gemeint, mich in deine Heimat mitzunehmen?“
Plötzlich begann er zu lachen und sein Gesicht war mit einem Mal ganz nah an ihrem. „Hinterfragst du eigentlich alles, was ich dir gesagt habe?“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze.
„Nein, eigentlich nicht. Es ist nur...“ Mathilda biss sich verlegen auf die Lippe. „Bisher ist mir noch nie ein so wunderbarer Mann wie du begegnet. Und du machst mir so viele zärtliche Komplimente und schenkst mir so viel Aufmerksamkeit. Das bin ich nicht gewohnt. Und dann kommt da dein Angebot, mich in deine Heimat mitzunehmen.“ Während sie sprach, ruhte sein Blick nachdenklich auf ihrer Person, und in diesem Mix aus Kerzenlicht und Dunkelheit wirkten seine blauen Augen, wie der tiefe Ozean, der sie umgab. „Glaub mir, ich weiß, dass du es ehrlich meinst – nur muss ich mir immer wieder einreden, dass das kein Traum ist.“ Ihre Stimme glich nur noch einem leichten Atemzug, so leise sprach sie.
Ohne ein Wort zu verlieren senkte William seinen Kopf zu ihr hinab und verschloss ihre Lippen mit seinen. Dieser Kuss kam überraschend, doch es war genau das, was Mathilda nun brauchte. Jedoch spürte Mathilda in diesem Kuss auch etwas, das sie zuvor noch in seinen Augen gesehen hatte – Verlangen. Ein intensives Verlangen nach ihr. Zu gerne hätte Mathildas Körper nachgegeben, doch ihr Verstand besann sie zur Vorsicht. Sie befand sich noch immer in der Kabine eines Offiziers. In einer Kabine, in der sie sich eigentlich nicht aufhalten durfte.
Trotz aller warnenden Rufe ihres Verstandes, ließ sich ihr Körper fallen, sodass sie nun mit dem Rücken auf der Matratze seines Bettes lag. William folgte ihrer Bewegung, unterbrach den Kuss dabei aber nicht. Es lag unendlich viel Sehnsucht darin, die Mathilda nur allzu deutlich spürte. Auch sie sehnte sich nach seiner Nähe. Im Grunde konnte es die junge Frau gar nicht erwarten, irgendwann mit ihm alleine zu sein, wo es ihnen erlaubt war, zusammen zu sein. Keine neugierigen Kollegen, keine pikiert dreinblickenden Passagiere. Nur Mathilda und ihr geliebter Will.
„Es ist kein Traum und ich werde dir das liebend gerne jeden Tag sagen“, murmelte Will, der zwischenzeitlich den Kuss unterbrochen hatte. Sein Gesicht war jedoch nur Millimeter von ihrem entfernt und sein warmer Atem auf ihrer Haut fühlte sich überwältigend an. William schlang nun beide Arme um Mathildas Körper, wobei er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub. „Und ich werde dir jeden Tag sagen, wie sehr ich dich brauche“, hörte sie seine Stimme in der Nähe ihres linken Ohres flüstern.
Ein Schüttelfrost jagte durch ihren Körper, als sie bemerkte, dass seine Hand an ihrer Seite hinauf wanderte und ihre Brust streifte. Mathilda sog scharf die Luft ein, während Will auf ihrem Hals zärtliche Küsse verteilte. Ihr Verstand raste; ein klarer Gedanke war nicht mehr zu fassen. Das Gefühl seiner warmen Lippen auf ihrer empfindlichen Haut war einfach berauschend. Mathilda war hoffnungslos verliebt und genoss seine Berührungen mit jeder Faser ihres Körpers.
Mathilda hob zitternd ihre Hände, griff mit einer Hand nach seiner Krawatte und fuhr mit dem anderen durch seine Haare. Sie wusste nicht, ob sie damit eine Grenze überschritt, doch das Geräusch, das seiner Kehle entkam und mehr nach einem Knurren klang, erstickte diese Überlegung in Keime. Quälend langsam glitt seine Hand an ihrer Seiter auf und ab, was einen elektrischen Schlag nach dem anderen durch Mathildas Adern jagte. Er hielt ihn seiner Bewegung auch nicht inne, als seine Hand schließlich über ihre Brust streichelte. Stattdessen verstärkte er den Druck, was Mathilda ein leises Stöhnen entlockte. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, wie unfassbar aufregend das alles für sie war, doch sie war fern jeglicher Worte. Als Antwort reckte sie ihren Kopf nach oben und stahl sich einen Kuss von ihrem Offizier.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er sie aus heiterem Himmel. Seine Stimme klang heiser.
Mathilda öffnete die Augen, die sie bis jetzt noch geschlossen gehalten hatte, und starrte in dieses reizende Augenpaar, das erwartungsvoll auf sie herabsah. Wollte der Mann sie in Verlegenheit bringen? Er ahnte doch bestimmt, dass Mathilda in dieser Situation keinen vernünftigen Satz zustande bringen würde.
„Ich fühle mich so gut wie noch nie“, brachte Mathilda nun doch einen Satz hervor. „Du tust mir gut.“
William lag noch immer an ihrer Seite – einen Arm fest um sie geschlungen, die andere Hand noch auf ihrer Brust ruhend. „Dein Herzschlag rast und du wirkst ein wenig außer Atem“, stellte er belustigt fest. Dass er selbst in diesem Augenblick noch zu Scherzen aufgelegt war, zeigte Mathilda mal wieder, wie unfassbar gut sich dieser Mann im Griff hatte – zumindest augenscheinlich. Sein nächster Satz war jedoch fern jeglicher Witze. „Ich tue nichts, was du nicht willst“, sagte er flüsternd, das Gesicht wieder so nahe an ihrem, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.
„Mein Herzschlag beschleunigt sich immer, wenn ich in deiner Nähe bin“, konterte Mathilda mutig. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Somit war es nicht verwunderlich, dass Mathilda kaum wusste, was sie ihm da sagte – doch es war ehrlich gemeint. Und so lange sie noch den Mut dazu hatte, musste sie diese Dinge loswerden. „Du raubst mir den Atem. Und ich möchte – nein, ich bitte dich darum, mich zu berühren“, flüsterte sie.
Daraufhin nahm Will seine Hand von ihrer Brust, strich ihr liebevoll ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, ehe er sie erneut in einen Kuss verwickelte. Vergessen war dabei die vorherige Zurückhaltung. Stattdessen legte er genau dieses Verlangen, welches sie zuvor in seinen Augen gesehen hatte, wieder in diesen Kuss. Noch immer hatte Mathilda eine Hand an seiner Krawatte, ließ sie jedoch los, um über seinen Hals zu streichen. Will schien diese Geste zu genießen, denn er lächelte in den Kuss hinein.
Unbedacht hatte Mathilda ihre Beine angewinkelt. Ihr kam überhaupt nicht in den Sinn, dass diese Position keineswegs damenhaft war.
In Mathildas Kopf drehte sich alles – dieser Kuss und seine Berührungen benebelten ihre Sinne. Mathilda fühlte sich schwindelig und ihr Gefühlstaumel wurde nicht ruhiger, als sie bemerkte, dass William seine Hand auf ihrem Knie platziert hatte. Behutsam ließ der Erste Offizier seine Hand an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang wandern. Mathilda keuchte erschrocken auf. Allein der bloße Gedanke, seine Hand unter ihrem Rock zu haben, ließ ihre Wangen rot verfärben. In ihrem Inneren kochte und brodelte es vor Erregung. Allerdings musste Mathilda nun wieder zur Vernunft kommen.
„Stopp, warte. Ich...“ Mathildas Atem ging stoßweise. Ihre Erregung hatte sie noch komplett im Griff, sodass sie sich kaum artikulieren konnte.
Augenblicklich wich Will zurück und nahm auch seine Hand von ihrem Bein. Er wirkte jedoch weder verärgert noch enttäuscht – nein, er lächelte sogar. „Ich verstehe schon“, sagte er liebevoll. „Eigentlich gehört sich so etwas auch nicht. Wir haben nach dieser Überfahrt noch sehr viel Zeit füreinander.“
Allein sein letzter Satz holte Mathilda wieder zurück ins Hier und Jetzt. „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue“, atmete sie erleichtert aus. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Wange und strich mit dem Daumen über seine Haut.
Will hauchte ihr erneut einen Kuss in ihre Handinnenfläche. Im nächsten Augenblick fand sich Mathilda schon in seiner festen Umarmung wieder. Mathilda legte ihre Arme daraufhin ebenfalls um seinen Körper und schloss selig die Augen. Williams Gesicht war wieder in ihrer Halsbeuge vergraben. „Eigentlich müsste ich Edith auf ewig dankbar sein, dass sie dich zu dieser Reise überredet hat“, nuschelte er und richtete sich wieder ein Stück auf, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. „Ich... Mathilda... ich...“ Er lachte, da er anscheinend nicht wusste, wie er es sagen sollte.
„Was?“ Mathilda schmunzelte. „Was hast du auf dem Herzen?“
Seine Augen wurden wieder eine Nuance dunkler, was Mathildas Herzschlag wieder auf Höchstleistungen brachte. „Ich liebe dich, mein Schatz.“ Mehr musste er nicht sagen, um Mathilda zur glücklichsten Frau der Welt zu machen.
Ein unsicheres Lachen erklang, doch sie erinnerte sich daran, dass es kein Traum war. „Das ist das schönste, das du mir hättest sagen können“, erwiderte Mathilda glücklich und nahm sein Gesicht mit beiden Händen. „Und ich liebe dich, Will.“ Die Zuneigung zu ihrem geliebten Offizier war unendlich und so zog sie ihn wieder näher an sich, um sich sehnsüchtig einen Kuss zu stehlen.
Mathildas kleine Schwärmerei für einen unbekannten Mann war schnell zu einer heimlichen Verliebtheit zu einen Offizier geworden. Dass diese Verliebtheit innerhalb weniger Tage sich in eine innige, aufrichtige Liebe verwandeln würde, hätte Mathilda niemals zu träumen gewagt.
Niemals wieder wollte sie ohne ihren Will sein. Niemals wieder wollte sie einen anderen Mann lieben. Und genau dies schwor sich die glückliche, junge Frau in dieser kalten, klaren Aprilnacht. Mathilda und auch William wünschten sich eine gemeinsame Zukunft, und vertrauten darauf, dass es das Schicksal gut mit ihnen meinen würde.
Nur schweren Herzens hatte sich Mathilda von William trennen können. Ihr war, als würde sie diesen Mann schon seit Jahren kennen. Alles an ihm schien ihr vertraut zu sein und somit hinterließ diese kurze Zweisamkeit auch keinen faden Beigeschmack, als sie in ihre Kabine zurückkehrte.
William hatte sie selbstverständlich durch die verschlungenen Korridore zurück an Deck und schließlich bis zu ihrer Kabine begleitet. Dabei waren sie Molly Brown über den Weg gelaufen, die sich mit drei unbekannten Personen noch an der frischen Luft aufgehalten hatte. Die adrette Dame hatte Mathilda einen wissenden Blick zugeworfen und Mathilda ahnte, dass Molly sich schon denken konnte, woher sie und Will gekommen waren. Dennoch verlor die gute Frau kein Wort, worüber Mathilda ihr unendlich dankbar war.
Vor ihrer gemeinsamen Kabine mit Edith hatte sich William kurz umgesehen und als er sich sicher war, dass keine neugierigen Gaffer zu Gegend waren, hauchte er seiner zukünftigen Weggefährtin einen kurzen, aber intensiven Kuss auf. Mathilda hatte diesen nur zu gerne erwidert. Sie konnte es kaum mehr erwarten, ihr Leben mit William zu beginnen.
Als würde sie auf Wolken schweben, hatte Mathilda die Kabine betreten, doch ihr Glücksgefühl hielt nicht lange an, da Edith sich im wachen Zustand befand und ihr Husten noch schlimmer zu werden schien.
Nun saß Mathilda schon seit fast zwei Stunden in ihrer Kabine, wechselte immer zwischen den beiden Schlafräumen hin und her, wobei sie in Ediths Nähe stets ihren Mundschutz trug. Bei jedem Husten, den Edith von sich gab, zuckte Mathilda panisch zusammen. Mathilda war keine Medizinerin, aber auch sie erkannte, dass sich dieser Husten nicht mehr normal anhörte und ihre Freundin dringend behandelt werden musste. Zwar hatte Dr. O'Loughlin die junge Frau vor etwa einer Stunde noch untersucht, doch er hatte Mathilda nur die ihr bereits bekannten Aufgaben erteilt.
Mathilda seufzte schwer. Mittlerweile war es nur noch eine knappe halbe Stunde bis Mitternacht und so wie es schien, ließ es Ediths Zustand nicht zu, dass Mathilda sich zeitig schlafen legen konnte.
Sie zog ihren Mundschutz wieder zurecht und füllte die Waschschüssel. Mit dem Porzellanbehälter kehrte sie zu Edith zurück. Ihre Freundin saß aufrecht im Bett und hatte ein Taschentuch gegen ihren Mund gedrückt.
„Hier, ich hab etwas Wasser. Du scheinst ziemlich zu schwitzen“, bemerkte Mathilda, während sie den Krug abstellte.
„Mir ist nicht warm. Ich friere entsetzlich“, krächzte Edith, die es durchaus ernst meinte, obwohl ihr die Schweißperlen nur so über das Gesicht liefen. Es war offensichtlich, dass sie unter einem Fieberschub litt.
Wieder erfüllte ein Seufzer die Räumlichkeit. Ohne ihre Freundin zu fragen, schritt Mathilda an ihr Bett und tupfte vorsichtig mit einem nassen Tuch über Ediths Stirn. „Wir müssen das Fieber ein wenig senken. Dr. O'Loughlin möchte, dass du viel trinkst und ordentlich schläfst“, merkte Mathilda an.
Edith hatte sich die letzten Stunden weder gerührt noch Mathilda in irgendeiner Form Aufmerksamkeit geschenkt. Nun hob sie jedoch ihren Blick und sah ihre fürsorgliche Freundin an. „Langsam wird es langweilig hier im Bett.“ Edith brachte ein seichtes Lächeln zustande. „Erzähl mir doch was.“
„Was möchtest du denn hören?“, fragte Mathilda mit einer gewissen Vorsicht. Sie wollte ihrer schwerkranken Freundin nicht brühwarm erzählen, was sie in Zukunft geplant hatte. Ihre Zukunft mit Will – vielleicht sogar als zukünftige Mrs. Murdoch.
Ediths darauffolgendes Grinsen wirkte so surreal in diesem bleichen, von Schweiß überzogenem Gesicht. Allein ihre Augen sprachen nur allzu deutlich dafür, dass es ihr schlecht ging. Der lebendige Ausdruck darin, der ihre Augen einst ausgezeichnet hatte, war beinahe erloschen. Edith wirkte erschöpft, kraftlos und kurz davor, einfach aufzugeben. „Du warst doch bei unserem Mr. Murdoch“, sagte sie schwach, wobei direkt wieder ein tiefer Huster folgte.
Obwohl Ediths Zustand keineswegs zum Lachen war, konnte Mathilda sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Unser Mr. Murdoch?“, wiederholte sie zuckersüß und genoss diesen kurzen, unbeschwerten Moment, in dem Ediths Humor zu erkennen war.
„Also gut, dein Mr. Murdoch“, betonte Edith und lehnte sich zurück in ihr Kissen. Sie schien an Kraft zu verlieren, doch die kranke Frau war dennoch in Plauderlaune. „Erzähl mir, was ihr heute so gesprochen habt. Ihr zwei seid ja schwer verliebt. Sogar unser eifriger Doktor hat das schon angemerkt.“
Mathilda riss geschockt die Augen auf. „Wie bitte?!“
Auf einmal lachte Edith. „Ach, er sagt vieles durch die Blume hindurch. Er hat heute nur mal erwähnt, dass sich William oft nach dir erkundigt. Also...“ Wieder folgte ein kehliger Huster. „Also, ob du gesundheitlich in Gefahr geraten kannst, wenn du mich um dich hast.“ In dem letzten Satz schwang ein tieftrauriger Unterton mit.
Über Mathilda brach eine Welle der Trauer herein. „Bitte hör auf so etwas zu sagen“, bat Mathilda verzweifelt. „Ich bin immer für dich da, versprochen. Hör einfach auf das, was Dr. O'Loughlin dir sagt und du wirst sehen, dass es dir bald besser geht.“
„Wir werden sehen“, fand Edith eine müde Antwort.
Diese Stille, die nun zwischen den beiden Freundinnen herrschte, war unnatürlich. Noch nie hatten sie einander so wenig zu sagen gehabt. Sicherlich lag es hauptsächlich an Ediths gesundheitlichem Zustand, aber dennoch kam Mathilda nicht umhin, sich schuldig zu fühlen. Auf dieser Reise hatte sie so viele wundervolle Menschen kennengelernt und war sogar ihrer großen Liebe begegnet – allein dafür war sie Edith unendlich dankbar, schließlich war sie diejenige gewesen, die Mathilda zu dieser Reise überredet hatte.
Ein tiefer Seufzer jagte Mathildas Kehle hinauf. Müde ließ sie sich auf einen Stuhl nieder. Inzwischen war Edith wieder in ihr Kissen zurückgesunken und hatte die Augen geschlossen. Mathilda konnte von ihrer derzeitigen Position aus erkennen, dass ihre Atmung sehr flach ging. Vermutlich würde Edith jeden Moment einschlafen. Am liebsten würde Mathilda ihrem Beispiel folgen und eine Mütze Schlaf finden, doch irgendetwas schien sie am wohlverdienten Schlaf hindern zu wollen.
Mathilda erlaubte sich, einen Moment lang die Augen zu schließen, aber sie war schnell wieder hellwach, als ein undeutliches, scharrendes Knirschen an ihre Ohren drang. Erschrocken ergriff sie die Stuhllehnen, krallte sich daran fest und spürte, wie das Schiff zu erzittern schien.
Was war das für ein beängstigendes Geräusch?
Mathilda war schnell wieder auf den Beinen, wenn auch ziemlich wackelig. Das grauenhafte, kratzige Geräusch ging ihr durch Mark und Bein, selbst wenn es nicht sonderlich laut war. Für Mathilda dennoch beängstigend. Hatte das Schiff etwas gerammt? Oder hatte die Titanic Probleme mit ihren Maschinen? Egal, was es war – Mathilda bekam es mit der Angst zu tun. Noch konnte sie sich keinen Reim auf dieses Geräusch machen und hoffte noch, dass sie es sich in ihrem schläfrigen Zustand vielleicht eingebildet hatte. Doch als sie Ediths Stimme vernahm, was dieser seltsame Schlag denn sein könnte, wusste Mathilda, dass dies keine Einbildung war. Hier stimmte etwas nicht...
Hektisch eilte Mathilda zu einem der Fenster. Sie öffnete es und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die finstere Nacht hinein. Erst nach links, wo sie nichts sehen konnte, und dann nach rechts, was sie erstarren ließ. Mathilda erkannte achteraus – wie William es nennen würde – einen massiven Berg aus Eis. Der Koloss hob sich pechschwarz von dem klaren Nachthimmel ab, und so schnell wie der Eisberg in ihrem Blickwinkel aufgetaucht war, verschwand er auch wieder in der unmenschlichen Dunkelheit.
Mathilda hatte ihre zitternden Hände über ihren offenstehenden Mund gelegt. Hatte dieser Gigant die Titanic gerammt? Es schien wahrscheinlich zu sein.
Einige Minuten verharrte Mathilda am offenen Fenster und hoffte darauf, dass die Titanic nicht beschädigt worden war. „Oh, mein Gott“, hauchte sie. Der Schrecken steckte ihr noch in den Knochen, als sie einen Umstand bemerkte, der sie zusätzlich ängstigte – die Titanic hatte gestoppt. Mitten auf dem unendlichen Ozean.
Mathilda lauschte angespannt. Nein, es war nicht dieses knarrende, schabende Geräusch, das dieser Eisberg verursacht hatte, wodurch Mathilda unruhig wurde. Vielmehr beunruhigte sie das Stoppen der Maschinen. Kein Brummen. Kein Fahrtwind. Nichts.
Um sie herum herrschte nur noch Totenstille.
„Du erdrückst mich mit deiner Fürsorge, Millie. Bitte lass mich in Ruhe. Ich möchte nur schlafen. Geh jetzt!“ Ediths Tonfall hatte eine schrille Nuance angenommen und sie ließ weder mit sich reden noch verhandeln.
„Edith, benimm dich bitte wie eine erwachsene Frau.“ Verzweifelt schlug Mathilda mit der flachen Hand gegen Ediths Schlafzimmertüre. Die junge Witwe hatte ihre Freundin aus dem Raum geworfen, die Türe jedoch nicht verschlossen. Dennoch behielt Mathilda ihre Höflichkeit bei und blieb vor der Türe stehen.
„Verschwinde! Und lass mich jetzt endlich schlafen!“, keifte Edith von innen.
Mit einem abgrundtiefen Seufzer gab Mathilda schließlich auf. Sich mit Edith zu streiten war schon in der Vergangenheit keine gute Idee gewesen, da ihre Freundin mit einem herrlichen Sturkopf gesegnet war. Mathilda konnte also nur verlieren. Zwar sorgte sie sich noch immer sehr um Edith, doch Mathilda musste eingestehen, dass ihrer Freundin eine Mütze voll Schlaf vielleicht sogar gut tun würde. Und Mathilda wollte sie keineswegs bedrängen.
Die Müdigkeit hatte zugenommen seit Edith die Medikamente, die ihr Dr. O'Loughlin gegeben hatte, einnahm. Mathildas Besorgnis nahm dadurch allerdings nicht ab. Jedoch beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass ihr damit erst einmal geholfen war. Edith war bei Dr. O'Loughlin schließlich in den allerbesten Händen. Mathilda vertraute dem Arzt bedingungslos und hoffte darauf, dass sich alles zum Guten wenden würde. Im Moment konnte sie jedoch nichts für Edith tun. Ihre gute Freundin sträubte sich gegen jegliche Art von Hilfe, die ihr von Mathilda angeboten wurde. Mathilda wusste nicht, ob ihre forschen Aussagen von der Krankheit herrührten oder Edith die Freiheit ihrer Freundin ein Dorn im Auge war, da sie an ihr Bett gefesselt war.
Mathilda war verzweifelt. Sie musste sich ehrlich eingestehen, dass sie Ediths Zustand kaum mehr ertragen konnte. Niemals zuvor hatte Mathilda Edith in einer solch schlechten Verfassung erlebt und es schnürte ihr das Herz zu. Ein Gefühl von Hilflosigkeit jagte durch ihre Glieder.
Wie vergessen stand Mathilda vor der Schlafzimmertüre ihrer Freundin und hatte die Hände ineinander gefaltet, als wolle sie für sie beten. Das tat Mathilda natürlich mehrmals am Tag, doch im Augenblick fühlte sie sich leer und verlassen – und das auf dem größten Schiff der Welt mit über zweitausend Seelen an Bord.
Da Edith sie ohnehin nicht um sich haben wollte, entschied Mathilda nun, die Kabine zu verlassen. Sich die Beine in den Bauch zu stehen war keine Option und noch war die Nacht nicht über sie hereingebrochen. Sicherlich hatte Mathilda später noch die Gelegenheit in Ruhe mit Edith zu sprechen.
Erneut stieß Mathilda einen Seufzer aus und entschloss sich, noch ein wenig an die frische Luft zu gehen. Da es draußen nur noch knappe zwei Grad waren, suchte Mathilda ihre wärmsten Klamotten im Schrank aus. Sie warf sich ihre dunkelgrüne, warme Jacke über ihr weinrotes, langärmeliges Kleid und schloss die Knöpfe. Ihre Hände bedeckte sie mit ihren hellbraunen Handschuhen und ihr schmuckes Seidentuch tauschte sie gegen einen warmen Schal aus.
Damit begab sich Mathilda nun auf ihren Weg nach draußen. Mittlerweile hatte sich die junge Frau an die kalte Seeluft gewöhnt und sie genoss es, draußen an Deck spazieren zu gehen, wenn sich nur noch wenige Menschen bei dieser Kälte nach draußen trauten.
Gedankenverloren schritt Mathilda die Treppen empor, grüßte hier und da ein paar bekannte Gesichter, aber ansonsten war die junge Engländerin im Geiste noch immer bei Edith. Ihr Verhalten hatte Mathilda zutiefst verletzt, obwohl sie Edith nicht einmal dafür verurteilen konnte. Schließlich befand sich Mathilda nicht in der prekären Lage einer gefährlichen, kräftezehrenden Krankheit. Edith wusste bestimmt nicht einmal mehr wirklich, dass sie ihre gute Freundin mit ihren Worten verletzt hatte.
Mathilda schüttelte mitleidig den Kopf. Sie musste unbedingt auf andere Gedanken kommen. Am liebsten hätte sie sich in Williams schützende Arme geworfen; ihn angefleht, ihr zu sagen, dass alles wieder gut werden würde und seine Nähe gespürt. Doch Mathilda wusste nicht einmal, wo auf diesem großen Schiff er sich aktuell befand. Er konnte überall sein. Und einen Matrosen nach ihm zu fragen war ihr unangenehm – und davon abgesehen auch nicht schicklich. Auch konnte sie nicht einfach zur Brücke marschieren und dort nach einer Auskunft verlangen.
Mathilda seufzte. Einen Augenblick lang dachte sie sogar daran, Mr. Andrews nach ihm zu fragen. Diesen Gedanken verwarf sie aber so schnell wieder, wie er gekommen war. Mathilda musste sich mit wärmenden Gedanken an ihren geliebten Offizier trösten.
Ein unbekannter, aber höflicher Mann öffnete ihr einen Wimpernschlag später die Türe zum Promenadendeck, woraufhin sich Mathilda freundlich bei ihm bedankte und sie sah ihm noch kurz nach, bis er verschwunden war. Dabei entfiel ihr, dass die Türe hinter ihr durch die Windböe, die über das Deck jagte, langsam wieder ins Schloss zu fallen drohte und sie noch zur Hälfte im Türrahmen stand. Mathilda hüpfte erschrocken einen Schritt nach vorne, als sie merkte, dass die Türe sie praktisch von ihrem Platz verdrängte. Mit einem Poltern schloss sich der Durchgang. Mathilda verzog kaum eine Miene. Sie wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als sie bemerkte, dass sie mit einem Ruck zurückgezogen wurde. Plötzliche Panik krabbelte ihre Glieder empor. Hatte jemand die Türe wieder geöffnet und sie gepackt?
Mathilda wandte sich erschrocken um, nur um festzustellen, dass ihr fabelhaftes Talent für Peinlichkeiten sie erneut herausforderte. Mathilda brummte genervt. Ihr weinrotes Kleid klemmte doch tatsächlich in der Türe fest.
„Oh, nein!“, stieß Mathilda frustriert aus. Der Saum war garantiert hinüber!
Murrend öffnete Mathilda die Türe einen Spalt und hoffte darauf, dass nun niemand hier nach draußen stürmen und über sie stolpern würde. Doch mit dem Öffnen war das Problem noch nicht behoben. Das widerspenstige Stück Stoff hatte sich genau unter der Ecke der Türe vergraben und war verkeilter denn je.
Ein nicht ganz damenhafter Fluch lag ihr auf den Lippen, aber es half nichts. Sie musste ihr Kleid frei bekommen. Daraufhin ging Mathilda in die Knie und zupfte vorsichtig an dem Kleid. Am liebsten hätte sie es einfach mit einem Ruck herausgerissen, doch damit lief sie Gefahr, das edle Samt komplett zu zerstören. Und bei ihrem Geschick wäre ihr das garantiert passiert!
Aber wie sollte sie sonst aus dieser Misere herauskommen? Sie konnte sich jetzt nur noch der Verzweiflung hingeben. Glücklicherweise war niemand zu Gegend, der sie hätte...
„Können wir der Dame denn irgendwie behilflich sein?“
...sehen können.
Ein charmantes Lachen folgte diesem Satz, was Mathilda die Schamröte in die Wangen trieb. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, jedoch stand eine Flucht nicht zur Debatte – vor allem, da sie noch immer in der Türe festhing.
Mathilda wagte nicht, irgendetwas zu sagen. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sehnsüchtig darauf gehofft, ihn zu treffen und sich in seine Arme legen zu können, allerdings sah dieser Gedanke nicht vor, dass sie vor ihm auf dem Boden kroch. Sie wagte kaum aufzusehen.
„Mathilda, alles in Ordnung?“ Plötzlich klang er deutlich besorgter, da sie nicht reagierte, in welcher Form auch immer.
Mathilda kniff einen Moment lang die Augen zu. Sein Tonfall schmerzte und es tat ihr unendlich leid, nichts zu erwidern. Nun öffnete sie aber wieder die Augen und setzte sogleich ein entschuldigendes Lächeln auf.
„Ich nehme Mr. Andrews die Arbeit ab und überprüfe das Schiff nach etwaigen Mängeln“, antwortete Mathilda schließlich und sie war unendlich stolz darauf, den Satz ohne Stottern hervorgebracht zu haben. Als sie jedoch endlich mutig aufsah, verschwand ihr plötzliches Selbstbewusstsein schlagartig.
Vor ihr stand William Murdoch – natürlich, ihn hatte sie an seiner Stimme längst erkannt –, doch er war nicht alleine. Neben ihm fand sich ein weiterer Offizier mit gerader Haltung vor. Er wirkte ziemlich jung und das kecke Grinsen im Gesicht unterstrich diesen Umstand zusätzlich. Beide Männer hatten die Arme hinter dem Rücken verschränkt und wirkten in ihren Uniformen einmal mehr beeindruckend.
„Ma'am, lassen Sie mich Ihnen helfen“, sagte der jüngere Mann, als er bemerkte, weshalb Mathilda nicht vom Boden aufstand. Mit wenigen Schritten hatte er die Entfernung zu der Herzdame seines Offizierskollegen schnell überbrückt und ging neben ihr in die Knie.
Mathilda errötete augenblicklich. Ihr war die Situation gänzlich unangenehm. Wäre es nur William gewesen, der sie hierbei erwischte, wäre ihr eher geholfen gewesen. Aber nein, bei Mathildas Glück mussten es direkt zwei Offiziere sein – zudem noch ein Unbekannter. Während sich Mathilda in Gedanken in Grund und Boden rügte, griff der junge Offizier nach dem Saum ihres Kleides und fechtete den ultimativen „Kampf“ gegen die Türe aus. Mittlerweile schien auch William bemerkt zu haben, was denn eigentlich Mathildas Problem war.
„Da war ich wohl nicht schnell genug“, kommentierte William Murdoch die Hilfsbereitschaft seines Kollegen. Inzwischen stand er direkt neben Mathilda und hatte ihr seine Hand gereicht, um ihr Halt zu geben. Dankbar ergriff sie die starke Hand ihres geliebten Offiziers.
Erneut war Mathildas Fähigkeit zu sprechen abhanden gekommen. Die Scham ließ es außerdem nicht zu, ihren Liebsten anzusehen. Stattdessen beobachtete sie wie der junge, ihr unbekannte Offizier mit einem Ruck das Kleid von der Türe getrennt hatte.
„So ein Mistding“, ließ er dabei lachend verlauten. „Aber wenigstens wissen Sie nun, dass das Kleid von guter Qualität ist.“ Das Lächeln eines jungen Burschen traf sie und Mathilda erwiderte das Lächeln.
Nachdem sie befreit war, zog sie sich an Williams Hand nach oben und war ihm dabei so gefährlich nahe, dass ihre Knie wieder weich wurden. Sein Blick lag liebevoll auf ihrer Person und das Gefühl, das er erneut in ihr auslöste, gab ihr den Mut wieder zu sprechen.
„Liebste, du hast ein außerordentliches Talent, dich in solche Situationen zu manövrieren“, flüsterte er dabei mit zärtlicher Fürsorge. Dabei drückte er leicht ihre Hand.
Mathilda seufzte sehnsüchtig und fixierte seine wunderschönen Augen. „Danke, aber es war mir fast klar, dass es ausgerechnet du bist, der mich wieder bei einer Peinlichkeit erwischt“, merkte Mathilda beschämt an. Anschließend schenkte sie dem jüngeren Offizier ihre Aufmerksamkeit und bedankte sich höflich. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Wieder nahm der Offizier eine gerade Haltung an, wobei es kurzzeitig so aussah, als wolle er salutieren. „Oh, nicht dafür. Ich würde ja gerne sagen, jederzeit wieder, aber ich hoffe nicht, dass Sie noch einmal in eine solche Lage geraten“, erklärte der junge Mann fröhlich, wobei diese Aussage von einem interessanten Dialekt getragen wurde. Stammte er aus Wales?
William Murdoch kommentierte die Aussage seines Kollegen mit einem erheiternden Lachen. „Harry, der Held der holden Damenwelt“, merkte er dabei an.
„Harry?“ Mathilda durchwühlte ihre Erinnerungen an diesen Namen. Will hatte ihr gegenüber diesen Namen schon einmal erwähnt und da war sie wieder, die Erinnerung. „Ah, Harold Lowe, nicht wahr?“, erinnerte sie sich.
„Korrekt, gnädige Frau!“ Der Offizier – Harold Lowe – tippte sich anständig an die Kappe.
„Freut mich sehr.“ Und Mathilda meinte es auch so, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, ihn auf einem anderen Weg kennenzulernen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. „Will... ich meinte, Offizier Murdoch hatte Sie mir gegenüber schon einmal erwähnt.“
Während Harold Lowe neugierig den Kopf schief legte, strich ihr William zärtlich über den Rücken und erwiderte: „Vor ihm brauchst du keine formelle Anrede benutzen. Genauso wenig wie vor Lights.“
„Oh, gütiger Gott, die wissen Bescheid!“, dachte Mathilda beschämt. Gut, sie hatte natürlich damit gerechnet, dass seine engsten Kollegen Bescheid wissen könnten, aber dennoch war sie überrascht. Offenbar hatte der gute William dem ein oder anderen Kollegen auf der Brücke ihren Namen erwähnt. So unangenehm ihr dieser Umstand auch war – es rührte sie irgendwie aber auch.
Harold Lowe schien ihr Unwohlsein zu spüren, denn er sagte: „Verzeihung, wir wollten Sie damit nicht in Bedrängnis bringen. Aber Will hat so liebevoll von Ihnen gesprochen, dass wir alle einfach ein bisschen zu neugierig geworden sind.“ Er hob beschwichtigend die Hände.
Erneut glühten Mathildas Wangen. Welch schönes Kompliment! Am liebsten hätte sie wie ein junges Mädchen gequietscht vor Glückseligkeit, doch sie besann sich eines besseren und rief ihre guten Manieren wieder in Erinnerung. „Das ist durchaus eine Überraschung. Ich wusste ja nicht, dass über mich gesprochen wird.“ Sie bedachte daraufhin Will mit einem eindringlichen Blick. Der zuckte nur unschuldig dreinblickend mit den Schultern.
Nun musste der pflichtbewusste William Murdoch das Ruder aber wieder aus dem privaten Geplänkel ziehen. „Harry, du bist aber nicht für Klatsch und Tratsch hier draußen, schon vergessen?“, mahnte William nun und rief seinem jüngeren Kollegen die Pflichten zurück ins Gedächtnis.
„Selbstverständlich nicht, aber es war mir eine Ehre, einer schönen Dame in Not behilflich zu sein“, sprach Harold Lowe mit einem gewissen Charme und einer kleinen Note Humor. Mathilda mochte den Mann auf Anhieb. Dieser fügte nun an William gewandt an: „Die Temperatur sinkt weiter. Bald sind wir unter dem Gefrierpunkt. Ich werde nochmal die Luft- und Wassertemperaturen messen.“
Bei dem formellen Austausch schlich ein beklemmendes Gefühl über Mathildas Rücken. Ihr war natürlich bewusst, dass die Offiziere für den reibungslosen Ablauf der Fahrt zuständig waren, dennoch beunruhigten sie manche Gesprächsthemen wie dieses. Unbewusst lehnte sie schutzsuchend gegen William, der ihr einen Halt gab, als gingen sie schon jahrelang gemeinsam durch das Leben. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, wie bei niemand anderem.
„Schnapp dir einen der Matrosen und überprüft die Süßwassertanks. Ich möchte nicht, dass da etwas einfriert“, merkte William eindringlich an. „Offizier Moody soll ebenso die Leitungen kontrollieren. Wir sehen uns später nochmal auf der Brücke.“
„Jawohl.“ Harold Lowe nickte den Befehl seines Vorgesetzten damit ab, ehe er an Mathilda gewandt sagte: „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bestimmt werden wir uns wieder begegnen.“ Erneut fand seine Hand zur Verabschiedung den Weg an seine Offiziersmütze. Dann verschwand Harold Lowe achteraus, um seine aufgetragenen Pflichten zu erfüllen.
Mathilda entspannte sich nun sichtlich. Harold Lowe schien ein netter Mensch zu sein, aber dennoch genoss Mathilda es nun, ihren Will wieder ganz für sich allein zu haben. Dennoch merkte sie mit einem Augenzwinkern an: „Wirklich ein sehr charmanter, junger Mann.“
„Ich hoffe doch, ich muss nicht eifersüchtig werden?“, amüsierte sich der Erste Offizier, der keck eine Augenbraue nach oben zog.
„Niemals.“ Mathilda genoss das Gefühl, das dieser Mann durch seine Art in ihr auslöste. Sie streckte seine Hand nach ihm aus. „Niemals, Liebster....“ Wie aus dem Nichts überkam sie auf einmal eine kleine, aber gewaltige Woge der Trauer. Mathilda erschien es unfair, dass sie sich so gut fühlen und frei bewegen durfte, während Edith in ihrer Kabine wie eine Gefangene hauste. Zugegeben – eine Gefangene mit fabelhaftem Zimmerservice und gutem Essen, aber dennoch der Freiheit fern.
Mathilda fuhr mit der flachen Hand über den Kragen von Williams Jacke, blickte aber sogleich untröstlich zu Boden. Ediths Zustand warf einen kleinen Schatten über diese Reise.
„Mathilda.“ Seine Stimme hatte an Beunruhigung gewonnen. Er ergriff ihre Hand, die noch immer an seinem Kragen lag, und drückte sie fest. „Was ist los? Geht es Edith schlechter?“
Williams Scharfsinn war beeindruckend – und er zwang Mathilda dazu, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Bisher hatte sie es hervorragend geschafft, ihre verletzten und beängstigenden Gefühle für sich zu behalten. Jedem hatte sie eine Show vorspielen können – Mr. Andrews, Molly Brown, Mr. Middleton – selbst Dr. O'Loughlin, obwohl dieser ihre Bedrückung nicht nur spüren, sondern ihr auch ansehen konnte. In Williams Nähe gelang es Mathilda jedoch nicht. Er schien eine feine Antenne für ihr wahres Befinden zu haben und auch jetzt schien er nur allzu deutlich zu spüren, was in ihr vorging. Doch jetzt war Mathilda an einem Punkt angekommen, an dem sie ihre Fassade nicht mehr aufrecht erhalten konnte – nicht vor William.
Die lastende Stille zwischen ihnen tat ihr übriges, um Mathilda endgültig in Williams Arme zu befördern. Sie drückte sich schluchzend an seine Brust; ihre Hände krallten hilfesuchend nach seinem Mantel.
Im ersten Augenblick schien William erschrocken über ihre Reaktion zu sein, doch er bemerkte schnell, wie nahe ihr dieses Thema ging. Schützend legten sich seine Arme um ihren Körper, der unaufhörlich zitterte.
„Schon gut, Liebling, wein nur so viel du möchtest.“ William rieb ihr sanft über den Rücken und drückte sie dabei eng an sich. „Ich bin für dich da.“
Seine beruhigende Stimmlage gepaart mit der starken Körperhaltung ließ Mathilda langsam zur Ruhe kommen. Sie atmete tief ein und aus, doch die Tränen konnte sie nicht stoppen.
„Es ist so unfair. Wieso trifft es ausgerechnet Edith?“, schluchzte Mathilda, die insgeheim ziemlich froh darüber war, von William gehalten zu werden, da sie sonst Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hätte. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub und ihre Knie fühlten sich an, als seien sie aus Wackelpudding.
Noch immer strich William ihr besänftigend über den Rücken, ehe er leise sagte: „Wir sollten uns vielleicht etwas zurückziehen. Hier oben an Deck laufen genug neugierige Menschen umher.“
Mathilda wusste weder, was er damit sagen wollte, noch wen er damit meinte – aber es war ihr auch schlicht und ergreifend egal. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe, da konnten die Reichen und Schönen denken, was sie wollten.
„Könnten wir uns irgendwo hinsetzen? Meine Beine fühlen sich an wie...“ Mathilda konnte kaum mehr sprechen. Sie löste sich ein wenig von William, bevor sie ihre Jackentaschen nach einem Taschentuch absuchte und fündig wurde. Dabei hielt er sie fest an den Armen – für den Fall, dass ihre Beine doch noch nachgeben würden.
„Selbstverständlich, mein Schatz.“ William strich ihr zärtlich über die Wange. „Ich weiß, es ist nicht erlaubt, aber...“ Der Satz stand offen im Raum, während William sich kurz umsah. „Komm einfach mit, ja?“
Mathilda war verwirrt, nickte aber. Was war nicht erlaubt? Und wohin gingen sie nun?
Mathilda widersprach ihm nicht, stattdessen ließ sie sich von ihrem Liebsten behutsam über das Deck führen. Schützend hatte Mathilda ihre Arme um ihre eigene Person geworfen, als wolle sie sich selbst beruhigen. William schob sie sanft, aber bestimmend über das Deck, dabei ruhte seine Hand unaufhörlich auf ihrem Rücken, als wolle er sie vor allem Unheil auf dieser Welt schützen.
Schweigend tupfte sich Mathilda die Tränen auf ihren Wangen fort, während William sie zielstrebig über die Offizierspromenade führte und dann schließlich durch eine Türe lotste. Mathilda fand sich nun in einem kleinen Gang wieder, den sie zuvor nie gesehen hatte. Sie war verwirrt und gleichermaßen neugierig. Bisher hatte sie diesen Teil des Schiffes nie zuvor gesehen und obwohl es um ihre Orientierung nicht gut stand, konnte Mathilda erahnen, dass sie nicht weit entfernt von der Brücke sein mussten.
„Wo sind wir hier?“ Warum genau sie flüsterte, wusste Mathilda nicht. Vermutlich weil sie hier auf diesem Gang außer dem leisen Brummen der Maschinen nichts anderes hören konnte. Es wirkte beinahe verboten, dass sie sich hier auf hielt.
William legte einen Finger über seine Lippen, um ihr zu signalisieren, leise zu sein. Dabei zog er sie ein Stück enger an sich, während sie ein paar verschlossene, unscheinbare Türen passierten. Bevor er Mathilda jedoch eine Antwort gab, öffnete er mit flinkem Griff eine davon und offenbarte schließlich: „Bei den Offiziersunterkünften.“
Deutlich überrascht wurden ihre Augen ein Stück größer. Mathilda wusste nicht, was sie davon halten sollte, doch bevor sie protestieren oder nachfragen konnte, bot ihr William an, voran in das kleine, unscheinbare Zimmer zu gehen. Schüchtern folgte Mathilda seiner höflichen Aufforderung und betrat den Raum. Es waren überschaubare, aber durchaus gemütliche vier Wände. Geradeaus an der Wand stand ein Bett mit sorgfältig zusammengelegter Bettwäsche, darüber ein kleines Fenster. Auf Mathildas rechter Seite befand sich ein Schreibtisch und ein Wandschrank. Zu ihrer linken konnte sie einen großen Waschtisch und einige Regale ausmachen. Natürlich war auch dieser Raum mit den feinsten Materialien ausgestattet.
Mathilda konnte erahnen, wem dieser Raum gehörte, aber William kam ihr zuvor, indem er sagte: „Meine Räumlichkeiten, wie du sicherlich schon erahnt hast. Nun ja, es ist nichts besonders, aber ich bin auch nicht auf Urlaub hier, sondern der Arbeit wegen.“ Mathilda blickte über ihre Schulter und konnte erkennen, wie er mit den Schultern zuckte, als wolle er sich für seine bescheidene Unterkunft entschuldigen.
„Es hat seinen Charme“, merkte Mathilda an. Ihr war keineswegs unwohl in Wills Nähe, aber dass er sie nun in seine intimen Räumlichkeiten mitnahm, überraschte Mathilda einerseits und bereitete ihr ein nervöses Kribbeln in der Magengegend.
An dem leisen Lachen konnte Mathilda erkennen, dass William ihr diese Aussage nicht übel nahm. „Kein Vergleich natürlich zu den besten Kabinen hier auf dem Schiff, aber es ist annehmbar“, erklärte er noch einmal. „Aber ich wollte dich nicht hierher bringen, damit du dir diese hervorragende Inneneinrichtung ansehen und mein Dekorationstalent bewundern kannst.“
Mathildas Tränen waren zum größten Teil getrocknet und somit erlaubte sie sich – dank Williams wunderbarem Humor – wieder zu lachen. „An deinen Dekorationskünsten müssen wir noch arbeiten“, erwiderte sie neckisch und fuhr mit der flachen Hand über den Schreibtisch. Auf diesem fanden sich einige Blätter Papier, sowie zwei Bleistifte, die sorgfältig aneinander gereiht dort lagen. „Aber weswegen sind wir dann hier?“, wollte Mathilda schließlich wissen.
William Murdoch schien, trotz seines charmanten Humors, noch deutlich besorgt zu sein – sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Wohl auch, um Mathilda in dieser kleinen Räumlichkeit nicht zu bedrängen und ihr erst einmal die Möglichkeit zu geben, sich an diesen Ort zu gewöhnen.
„Du bist gedanklich ganz weit weg und du sorgst dich zu sehr. Ich möchte nur, dass du etwas zur Ruhe kommst, ohne die Blicke der neugierigen Passagiere, die deinen Weg kreuzen“, eröffnete ihr William sorgvoll. „Und in deiner Kabine würdest du ständig mit Edith und auch dem guten alten Doktor O'Loughlin konfrontiert werden.“
„Danke“, sagte sie nur. Mathilda wusste nicht, was sie sonst noch auf seine liebenswerte Idee erwidern sollte. Und zum ersten Mal, seit sie Wills Unterkunft betreten hatte, bemerkte sie, welch Ruhe hier herrschte. Es war, als strahle dieser Raum dieselbe beruhigende Wirkung aus, wie William selbst.
„Ich meine – nur wenn es dir recht ist. Du kannst natürlich jederzeit gehen.“ Nun wagte William doch ein paar Schritte auf seine Herzdame zuzugehen und gab die Türe damit wieder frei. „Ich wollte nur, dass du ein paar Minuten Ruhe hast.“
Mathilda stand noch mit dem Rücken zu ihm und so konnte er ihr verliebtes Lächeln nicht sehen. Jedoch schenkte sie ihm schnell die Aufmerksamkeit, die er auch verdiente. „Danke, Will. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Und ich würde gerne ein paar Minuten hier bleiben“, erklärte sie. „Aber ist das denn erlaubt? Also, darf ich überhaupt hier sein?“ Ein wenig mulmig war ihr durchaus.
„Nein, eigentlich nicht.“ Wenigstens war William ihr gegenüber ehrlich. „Passagiere dürfen sich hier normalerweise nicht aufhalten und schon gar nicht in den Offiziersquartieren. Aber ich werde niemandem etwas verraten.“ Ein verschwörerisches Grinsen überzog sein Gesicht.
„Wieso solltest du auch? Immerhin würde mich kein Ärger erwarten, nur dich. Du, als hochrangiger Offizier, hast mich schließlich hierher gebracht.“ Mathilda war ihm gefährlich nahe gekommen und fixierte ihn mutig mit ihren durchdringenden Augen.
William schien von ihrer direkten Art überrumpelt zu sein, denn er zog überrascht die Augenbrauen nach oben, schenkte ihr aber sogleich ein Lächeln. „Kluges Mädchen“, amüsierte er sich. „Ja, ich bin wohl der einzige, der dann Ärger bekommt. Aber ich habe nicht vor, etwas von unserer Verabredung hier zu verraten.“
Mathilda biss sich verräterisch auf die Lippen. „Verabredung?“
„Naja, ich dachte...“ William schien plötzlich verlegen zu werden und nach Worten zu ringen.
Mathilda legte den Kopf schief. Sie konnte nicht glauben, dass der selbstbewusste William Murdoch gerade sein gedankliches Wörterbuch nach den richtigen Worten durchwühlte. „Oh, du wirst verlegen“, stellte Mathilda belustigt fest.
„Ich möchte nur nicht schroff wirken“, konterte er. „Ich dachte nur, wir könnten hier etwas Zeit verbringen – reden, unter uns sein. Und du könntest Ruhe finden, wie ich schon sagte. Dort oben an Deck sind wir selten allein.“
„Das ist wohl wahr.“ Mathilda biss sich nachdenklich auf die Lippe. Da William mit dem Rücken zur Türe stand und keine Anstalten machte, sich zu rühren, begann Mathilda erneut damit, den Raum unter die Lupe zu nehmen. Unschlüssig sah sie sich um, lief dann langsam wieder auf den Schreibtisch zu. Natürlich wusste sie, dass es sich nicht gehörte, herumzuschnüffeln, doch ihre Neugierde hatte längst ein angefangenes Schriftstück entdeckt. „Du schreibst Briefe?“, fragte sie.
Unterdessen war William längst an ihre Seite geeilt und entzündete die kleine Kerze auf dem Schreibtisch. „Ja, das tue ich“, sagte er und bemerkte dabei Mathildas Blick auf die Kerze. Daher fügte er noch an: „Ich mag Kerzenlicht.“
„Ich auch. Außerdem ist es das Licht, das einer Dame am meisten schmeichelt“, lächelte Mathilda, die ihre Hände auf der Rückenlehne des Stuhls, der vor dem Schreibtisch stand, gelegt hatte.
„Jedes Licht schmeichelt dir“, bemerkte William liebevoll, woraufhin er seinen schweren Mantel auszog und an den nächsten Kleiderbügel hing. Danach löschte er alle übrigen Lichter in dem kleinen Raum, sodass nur noch die kleine Kerze eine gemütliche Atmosphäre schaffte.
Irgendwie schaffte es jedes kleine Kompliment von ihm, Mathilda ein gutes Gefühl zu geben. Die Schmetterlinge, die sich in den letzten Tagen zu einer ganzen Horde entwickelt hatten, flatterten unaufhörlich durch ihre Glieder.
„Du schmeichelst mir“, merkte Mathilda verlegen an.
„Ich bin nur ehrlich, mein Liebling.“ Seine Worte waren süßer als Honig.
Mathilda legte den Kopf schief und erkannte, dass der angefangene Brief an seine Familie in Schottland gehen sollte. Danach hob sie ihren Blick und beobachtete, wie William sein Jackett und seine Mütze verräumte. Im Anschluss öffnete er die Weste und lockerte die Krawatte. Die Ärmel des weißen Hemdes schob er ein Stück nach oben.
„Möchtest du vor der nächsten Schicht noch eine Runde schlafen?“, fragte Mathilda daraufhin. Sicherlich wollte er ebenfalls seine Ruhe vor Dienstbeginn haben.
„Nein, nicht doch. Ich kann nach meiner Schicht eine ganze Weile lang schlafen.“ Er lachte entspannt und kam wieder in ihre Richtung. „Möchtest du den Mantel ausziehen?“
„Oh, gerne.“ Mit flinken Fingern öffnete sie die Knöpfe des warmen Mantels, während William ihr diesen daraufhin vorsichtig von den Schultern zog. Auf einmal war Mathilda wieder schrecklich nervös und wusste nichts mit sich anzufangen.
„Setz dich doch“, bat William dann und Mathilda sah sich unsicher um. Schließlich ließ sie sich an der Kante seines Bettes nieder, da in diesem Raum nur ein Stuhl stand und vor diesem hatte sich William platziert, da er gerade dabei war, ihren ausgezogenen Mantel sorgfältig für die Stuhllehne zu hängen.
Ihre Hände waren eiskalt. Wenn sie ausblendete, dass es Williams Raum war, dann war es durchaus kurios und nicht schicklich, sich hier aufzuhalten. Eine reiche, unverheiratete Frau allein mit einem Mann in dessen privaten Schlafgemach, und sie saß auf dem Bett eben dieses Mannes mit dem sie zuvor nie intim gewesen war.
Urplötzlich war da Williams Stimme, die wie aus dem Nichts zu kommen schien. „Du wirkst nervös“, stellte William seufzend fest. Er ließ sich neben ihr nieder und griff nach ihren Händen, die zusammengefaltet in ihrem Schoß lagen. Einen Augenblick zuckte sie erschrocken zusammen.
Mathilda fokussierte sich nun wieder darauf, dass der Mann neben ihr derselbe war, der ihr die letzten Tage so viel Halt und Liebe geschenkt hatte, wie sie nie zuvor in ihrem Leben bekommen hatte. William liebte sie, und sie liebte ihn. „Ein wenig“, gab sie mit unsicherem Lächeln zu. „Wir sind eben allein... also, ganz allein, verstehst du?“
„Ja, ich verstehe“, meinte er einfühlsam. Will schien ihre Angst zu spüren. Sein nachsichtiges Lächeln war im Kerzenschein sehr gut zu erkennen. „Wir können einfach nur nebeneinander sitzen und reden, oder schweigen. Einfach, wonach dir im Moment ist. Ich werde nichts tun, was du nicht willst.“
Mathilda glaubte ihm. Ja, sie glaubte ihm jedes einzelne Wort. Tief in ihrem Inneren wollte Mathilda nicht, dass sie nur nebeneinander saßen und schwiegen. Sie wollte von diesem Mann berührt werden – egal, ob er sie im Arm hielt, ihr über das Gesicht strich oder sie küsste. Mathilda sehnte sich nach seiner Nähe und Wärme. Und seit ihrem innigen Tanz in der Kabine, als seine Lippen ihren Hals berührt hatten, wusste Mathilda, dass ihr Körper auch auf intimste Weise auf seine Berührungen reagierte. Mathilda hatte oft genug über diese Reaktion nachgedacht – natürlich war es nicht das erste Mal, dass ihr Körper auf diese Art und Weise reagierte, aber nie zuvor war sie so gefährlich nahe dran gewesen, ihrer Lust nachzugeben. Niemand hatte je eine solche Begierde in ihr ausgelöst – und dann war sie William begegnet. Mit ihm wollte sie alles erleben und jede Intimität teilen, doch so wollte sie auch alles richtig mit ihm machen und dazu gehörte es nun einmal, enthaltsam zu bleiben, bis sie verheiratet waren. Aber wer würde jemals davon erfahren, wenn sie beide schwiegen?
„Mathilda, worüber denkst du gerade nach?“ William musterte sie mit leichter Besorgnis in seinen schönen Augen.
Seufzend wandte Mathilda sich ihm zu. In dem warmen Licht dieser kleinen, einzelnen Kerze wirkte er noch attraktiver, als er es für sie ohnehin schon war. Seine braunen Haare waren dieses Mal nicht so akkurat frisiert, sondern durch die Mütze ein wenig unordentlich und strubbelig, aber das störte Mathilda nicht. Im Gegenteil – es wirkte liebenswert und irgendwie anziehend.
„Über dich“, meinte sie lächelnd. Ihre Hand fand ihren Weg an seine Wange, woraufhin sie ihre Finger sanft über seine Haut gleiten ließ.
Diese Geste – obwohl sie noch so zittrig war – entlockte ihm wieder ein Lächeln, das Mathilda so sehr liebte. „Über mich? Das müssen schrecklich langweilige Gedanken sein.“ Zärtlich ergriff er ihre Hand, die noch immer auf seiner Wange ruhte.
Mathilda schmunzelte. „Keineswegs. Es sei denn, du empfindest unsere gemeinsame Zukunft als langweilig“, bemerkte sie ein wenig verlegen. Sie wollte ihr Hand zurückziehen, doch William lockerte seinen Griff nicht.
Er hauchte ihr einen Kuss in die Handinnenfläche. „Glaub mir, ich freue mich auf alles, was uns beiden noch bevorsteht“, flüsterte William. Augenblicklich schlängelte sich sein Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich.
Mathilda wich nicht zurück. Sie genoss es, so dicht an sicher Brust zu lehnen und seinen Herzschlag zu spüren. Die junge Frau ließ sich in seinen Arm sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Während ein Arm sie fest an sich gedrückt hielt, legte er seine andere Hand auf ihren Oberschenkel.
„Darauf freue ich mich ebenso.“ Schmunzelnd drückte sie ihre Nase gegen seine Halsbeuge. „Sag mal, die Rückreise nach Southampton ist am Samstag?“
Bevor William ihr eine Antwort gab, rutschte er auf seinem Bett so weit zurück, dass er mit seinem Rücken bequem gegen die Wand lehnen konnte. Damit war Mathilda gezwungen, ebenfalls ein Stück zurückzufallen – aber das nahm sie lachend hin.
„Entschuldige, aber so ist es doch ein Stück weit gemütlicher“, kommentierte der Offizier seine Haltungsänderung. Er streckte die Beine aus und zog seine Liebste wieder fest an sich. „Aber zurück zu deiner Frage – ja, wir reisen am 20. April zurück. Also am Samstag, richtig.“
Mathilda rutschte auf dem Bett ein Stück nach hinten, sodass sie ihre Beine ebenfalls durchstrecken konnte. Mittlerweile war sie nicht mehr so befangen, wie noch vor wenigen Augenblicken. Entspannt legte sie ihren Kopf zurück auf seine Schulter, während ihre Hand leicht über seinen Brustkorb strich.
„Nun ja, ich bin mir nicht ganz sicher, was für eine Behandlung Edith bevorsteht, aber ich frage mich natürlich, wozu ich dann dort in New York bin“, begann Mathilda zu erklären. Verträumt zog sie mit ihrem Zeigefinger ihre Kreise auf seiner Brust. Sie fuhr über die gelockerte Krawatte, hinauf zum Hemdkragen und dann entlang seines Schlüsselbeins. Da Will geduldig zuzuhören schien, sprach Mathilda unbeirrt weiter. „Versteh mich nicht falsch, ich möchte Edith so gut es geht zur Seite stehen, aber ich weiß weder wie lange die Behandlung dauern wird, noch wie ich ihr helfen soll.“
„Das ist durchaus eine berechtigte Überlegung“, stimmte Will ihr zu. „Wir kommen am Mittwoch in New York an und so wie ich Dr. O'Loughlin kenne, wird er Edith direkt nach dem Anlegen im Hafen persönlich zu einem seiner Kollegen bringen und für die erste Behandlung draußen auf dem Flur Wache halten.“
„Genau dasselbe hat er mir auch schon gesagt.“ Mathilda konnte ein Kichern nicht unterdrücken. William schien seinen Kollegen nur allzu gut zu kennen. Trotz allem war Mathilda noch besorgt und fragte unsicher: „Sie ist bei ihm doch in guten Händen, oder?“
Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich, was Mathilda eine Gänsehaut bescherte. „Aber sicher doch, Liebes. Im Grunde kenne ich keinen besseren und einfühlsameren Arzt als ihn. Er wird sich gut um Edith kümmern. Außerdem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass er Edith die erste Zeit während ihrer Behandlung auch nicht aus den Augen lassen wird“, versicherte William ernst.
Ein Stück weit war Mathilda erleichtert. William klang in seinen Aussagen so sicher, dass Mathilda nicht umhin kam, ihm zu glauben und ihre Sorgen ein wenig zu minimieren. „Das ist gut“, murmelte sie. Einen Augenblick lang schwiegen die beiden, genossen die Nähe zueinander. Mathilda spürte seinen kräftigen Herzschlag, der sie zur Ruhe kommen ließ; hörte und spürte das leise Brummen der Maschinen, an das sie sich schon so gewöhnt hatte. Ihr Blick glitt an die Decke, ehe ihr eine erneute Frage einfiel. „Will? Hast du das ernst gemeint, mich in deine Heimat mitzunehmen?“
Plötzlich begann er zu lachen und sein Gesicht war mit einem Mal ganz nah an ihrem. „Hinterfragst du eigentlich alles, was ich dir gesagt habe?“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze.
„Nein, eigentlich nicht. Es ist nur...“ Mathilda biss sich verlegen auf die Lippe. „Bisher ist mir noch nie ein so wunderbarer Mann wie du begegnet. Und du machst mir so viele zärtliche Komplimente und schenkst mir so viel Aufmerksamkeit. Das bin ich nicht gewohnt. Und dann kommt da dein Angebot, mich in deine Heimat mitzunehmen.“ Während sie sprach, ruhte sein Blick nachdenklich auf ihrer Person, und in diesem Mix aus Kerzenlicht und Dunkelheit wirkten seine blauen Augen, wie der tiefe Ozean, der sie umgab. „Glaub mir, ich weiß, dass du es ehrlich meinst – nur muss ich mir immer wieder einreden, dass das kein Traum ist.“ Ihre Stimme glich nur noch einem leichten Atemzug, so leise sprach sie.
Ohne ein Wort zu verlieren senkte William seinen Kopf zu ihr hinab und verschloss ihre Lippen mit seinen. Dieser Kuss kam überraschend, doch es war genau das, was Mathilda nun brauchte. Jedoch spürte Mathilda in diesem Kuss auch etwas, das sie zuvor noch in seinen Augen gesehen hatte – Verlangen. Ein intensives Verlangen nach ihr. Zu gerne hätte Mathildas Körper nachgegeben, doch ihr Verstand besann sie zur Vorsicht. Sie befand sich noch immer in der Kabine eines Offiziers. In einer Kabine, in der sie sich eigentlich nicht aufhalten durfte.
Trotz aller warnenden Rufe ihres Verstandes, ließ sich ihr Körper fallen, sodass sie nun mit dem Rücken auf der Matratze seines Bettes lag. William folgte ihrer Bewegung, unterbrach den Kuss dabei aber nicht. Es lag unendlich viel Sehnsucht darin, die Mathilda nur allzu deutlich spürte. Auch sie sehnte sich nach seiner Nähe. Im Grunde konnte es die junge Frau gar nicht erwarten, irgendwann mit ihm alleine zu sein, wo es ihnen erlaubt war, zusammen zu sein. Keine neugierigen Kollegen, keine pikiert dreinblickenden Passagiere. Nur Mathilda und ihr geliebter Will.
„Es ist kein Traum und ich werde dir das liebend gerne jeden Tag sagen“, murmelte Will, der zwischenzeitlich den Kuss unterbrochen hatte. Sein Gesicht war jedoch nur Millimeter von ihrem entfernt und sein warmer Atem auf ihrer Haut fühlte sich überwältigend an. William schlang nun beide Arme um Mathildas Körper, wobei er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub. „Und ich werde dir jeden Tag sagen, wie sehr ich dich brauche“, hörte sie seine Stimme in der Nähe ihres linken Ohres flüstern.
Ein Schüttelfrost jagte durch ihren Körper, als sie bemerkte, dass seine Hand an ihrer Seite hinauf wanderte und ihre Brust streifte. Mathilda sog scharf die Luft ein, während Will auf ihrem Hals zärtliche Küsse verteilte. Ihr Verstand raste; ein klarer Gedanke war nicht mehr zu fassen. Das Gefühl seiner warmen Lippen auf ihrer empfindlichen Haut war einfach berauschend. Mathilda war hoffnungslos verliebt und genoss seine Berührungen mit jeder Faser ihres Körpers.
Mathilda hob zitternd ihre Hände, griff mit einer Hand nach seiner Krawatte und fuhr mit dem anderen durch seine Haare. Sie wusste nicht, ob sie damit eine Grenze überschritt, doch das Geräusch, das seiner Kehle entkam und mehr nach einem Knurren klang, erstickte diese Überlegung in Keime. Quälend langsam glitt seine Hand an ihrer Seiter auf und ab, was einen elektrischen Schlag nach dem anderen durch Mathildas Adern jagte. Er hielt ihn seiner Bewegung auch nicht inne, als seine Hand schließlich über ihre Brust streichelte. Stattdessen verstärkte er den Druck, was Mathilda ein leises Stöhnen entlockte. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, wie unfassbar aufregend das alles für sie war, doch sie war fern jeglicher Worte. Als Antwort reckte sie ihren Kopf nach oben und stahl sich einen Kuss von ihrem Offizier.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er sie aus heiterem Himmel. Seine Stimme klang heiser.
Mathilda öffnete die Augen, die sie bis jetzt noch geschlossen gehalten hatte, und starrte in dieses reizende Augenpaar, das erwartungsvoll auf sie herabsah. Wollte der Mann sie in Verlegenheit bringen? Er ahnte doch bestimmt, dass Mathilda in dieser Situation keinen vernünftigen Satz zustande bringen würde.
„Ich fühle mich so gut wie noch nie“, brachte Mathilda nun doch einen Satz hervor. „Du tust mir gut.“
William lag noch immer an ihrer Seite – einen Arm fest um sie geschlungen, die andere Hand noch auf ihrer Brust ruhend. „Dein Herzschlag rast und du wirkst ein wenig außer Atem“, stellte er belustigt fest. Dass er selbst in diesem Augenblick noch zu Scherzen aufgelegt war, zeigte Mathilda mal wieder, wie unfassbar gut sich dieser Mann im Griff hatte – zumindest augenscheinlich. Sein nächster Satz war jedoch fern jeglicher Witze. „Ich tue nichts, was du nicht willst“, sagte er flüsternd, das Gesicht wieder so nahe an ihrem, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.
„Mein Herzschlag beschleunigt sich immer, wenn ich in deiner Nähe bin“, konterte Mathilda mutig. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Somit war es nicht verwunderlich, dass Mathilda kaum wusste, was sie ihm da sagte – doch es war ehrlich gemeint. Und so lange sie noch den Mut dazu hatte, musste sie diese Dinge loswerden. „Du raubst mir den Atem. Und ich möchte – nein, ich bitte dich darum, mich zu berühren“, flüsterte sie.
Daraufhin nahm Will seine Hand von ihrer Brust, strich ihr liebevoll ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, ehe er sie erneut in einen Kuss verwickelte. Vergessen war dabei die vorherige Zurückhaltung. Stattdessen legte er genau dieses Verlangen, welches sie zuvor in seinen Augen gesehen hatte, wieder in diesen Kuss. Noch immer hatte Mathilda eine Hand an seiner Krawatte, ließ sie jedoch los, um über seinen Hals zu streichen. Will schien diese Geste zu genießen, denn er lächelte in den Kuss hinein.
Unbedacht hatte Mathilda ihre Beine angewinkelt. Ihr kam überhaupt nicht in den Sinn, dass diese Position keineswegs damenhaft war.
In Mathildas Kopf drehte sich alles – dieser Kuss und seine Berührungen benebelten ihre Sinne. Mathilda fühlte sich schwindelig und ihr Gefühlstaumel wurde nicht ruhiger, als sie bemerkte, dass William seine Hand auf ihrem Knie platziert hatte. Behutsam ließ der Erste Offizier seine Hand an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang wandern. Mathilda keuchte erschrocken auf. Allein der bloße Gedanke, seine Hand unter ihrem Rock zu haben, ließ ihre Wangen rot verfärben. In ihrem Inneren kochte und brodelte es vor Erregung. Allerdings musste Mathilda nun wieder zur Vernunft kommen.
„Stopp, warte. Ich...“ Mathildas Atem ging stoßweise. Ihre Erregung hatte sie noch komplett im Griff, sodass sie sich kaum artikulieren konnte.
Augenblicklich wich Will zurück und nahm auch seine Hand von ihrem Bein. Er wirkte jedoch weder verärgert noch enttäuscht – nein, er lächelte sogar. „Ich verstehe schon“, sagte er liebevoll. „Eigentlich gehört sich so etwas auch nicht. Wir haben nach dieser Überfahrt noch sehr viel Zeit füreinander.“
Allein sein letzter Satz holte Mathilda wieder zurück ins Hier und Jetzt. „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue“, atmete sie erleichtert aus. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Wange und strich mit dem Daumen über seine Haut.
Will hauchte ihr erneut einen Kuss in ihre Handinnenfläche. Im nächsten Augenblick fand sich Mathilda schon in seiner festen Umarmung wieder. Mathilda legte ihre Arme daraufhin ebenfalls um seinen Körper und schloss selig die Augen. Williams Gesicht war wieder in ihrer Halsbeuge vergraben. „Eigentlich müsste ich Edith auf ewig dankbar sein, dass sie dich zu dieser Reise überredet hat“, nuschelte er und richtete sich wieder ein Stück auf, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. „Ich... Mathilda... ich...“ Er lachte, da er anscheinend nicht wusste, wie er es sagen sollte.
„Was?“ Mathilda schmunzelte. „Was hast du auf dem Herzen?“
Seine Augen wurden wieder eine Nuance dunkler, was Mathildas Herzschlag wieder auf Höchstleistungen brachte. „Ich liebe dich, mein Schatz.“ Mehr musste er nicht sagen, um Mathilda zur glücklichsten Frau der Welt zu machen.
Ein unsicheres Lachen erklang, doch sie erinnerte sich daran, dass es kein Traum war. „Das ist das schönste, das du mir hättest sagen können“, erwiderte Mathilda glücklich und nahm sein Gesicht mit beiden Händen. „Und ich liebe dich, Will.“ Die Zuneigung zu ihrem geliebten Offizier war unendlich und so zog sie ihn wieder näher an sich, um sich sehnsüchtig einen Kuss zu stehlen.
Mathildas kleine Schwärmerei für einen unbekannten Mann war schnell zu einer heimlichen Verliebtheit zu einen Offizier geworden. Dass diese Verliebtheit innerhalb weniger Tage sich in eine innige, aufrichtige Liebe verwandeln würde, hätte Mathilda niemals zu träumen gewagt.
Niemals wieder wollte sie ohne ihren Will sein. Niemals wieder wollte sie einen anderen Mann lieben. Und genau dies schwor sich die glückliche, junge Frau in dieser kalten, klaren Aprilnacht. Mathilda und auch William wünschten sich eine gemeinsame Zukunft, und vertrauten darauf, dass es das Schicksal gut mit ihnen meinen würde.
*****
Nur schweren Herzens hatte sich Mathilda von William trennen können. Ihr war, als würde sie diesen Mann schon seit Jahren kennen. Alles an ihm schien ihr vertraut zu sein und somit hinterließ diese kurze Zweisamkeit auch keinen faden Beigeschmack, als sie in ihre Kabine zurückkehrte.
William hatte sie selbstverständlich durch die verschlungenen Korridore zurück an Deck und schließlich bis zu ihrer Kabine begleitet. Dabei waren sie Molly Brown über den Weg gelaufen, die sich mit drei unbekannten Personen noch an der frischen Luft aufgehalten hatte. Die adrette Dame hatte Mathilda einen wissenden Blick zugeworfen und Mathilda ahnte, dass Molly sich schon denken konnte, woher sie und Will gekommen waren. Dennoch verlor die gute Frau kein Wort, worüber Mathilda ihr unendlich dankbar war.
Vor ihrer gemeinsamen Kabine mit Edith hatte sich William kurz umgesehen und als er sich sicher war, dass keine neugierigen Gaffer zu Gegend waren, hauchte er seiner zukünftigen Weggefährtin einen kurzen, aber intensiven Kuss auf. Mathilda hatte diesen nur zu gerne erwidert. Sie konnte es kaum mehr erwarten, ihr Leben mit William zu beginnen.
Als würde sie auf Wolken schweben, hatte Mathilda die Kabine betreten, doch ihr Glücksgefühl hielt nicht lange an, da Edith sich im wachen Zustand befand und ihr Husten noch schlimmer zu werden schien.
Nun saß Mathilda schon seit fast zwei Stunden in ihrer Kabine, wechselte immer zwischen den beiden Schlafräumen hin und her, wobei sie in Ediths Nähe stets ihren Mundschutz trug. Bei jedem Husten, den Edith von sich gab, zuckte Mathilda panisch zusammen. Mathilda war keine Medizinerin, aber auch sie erkannte, dass sich dieser Husten nicht mehr normal anhörte und ihre Freundin dringend behandelt werden musste. Zwar hatte Dr. O'Loughlin die junge Frau vor etwa einer Stunde noch untersucht, doch er hatte Mathilda nur die ihr bereits bekannten Aufgaben erteilt.
Mathilda seufzte schwer. Mittlerweile war es nur noch eine knappe halbe Stunde bis Mitternacht und so wie es schien, ließ es Ediths Zustand nicht zu, dass Mathilda sich zeitig schlafen legen konnte.
Sie zog ihren Mundschutz wieder zurecht und füllte die Waschschüssel. Mit dem Porzellanbehälter kehrte sie zu Edith zurück. Ihre Freundin saß aufrecht im Bett und hatte ein Taschentuch gegen ihren Mund gedrückt.
„Hier, ich hab etwas Wasser. Du scheinst ziemlich zu schwitzen“, bemerkte Mathilda, während sie den Krug abstellte.
„Mir ist nicht warm. Ich friere entsetzlich“, krächzte Edith, die es durchaus ernst meinte, obwohl ihr die Schweißperlen nur so über das Gesicht liefen. Es war offensichtlich, dass sie unter einem Fieberschub litt.
Wieder erfüllte ein Seufzer die Räumlichkeit. Ohne ihre Freundin zu fragen, schritt Mathilda an ihr Bett und tupfte vorsichtig mit einem nassen Tuch über Ediths Stirn. „Wir müssen das Fieber ein wenig senken. Dr. O'Loughlin möchte, dass du viel trinkst und ordentlich schläfst“, merkte Mathilda an.
Edith hatte sich die letzten Stunden weder gerührt noch Mathilda in irgendeiner Form Aufmerksamkeit geschenkt. Nun hob sie jedoch ihren Blick und sah ihre fürsorgliche Freundin an. „Langsam wird es langweilig hier im Bett.“ Edith brachte ein seichtes Lächeln zustande. „Erzähl mir doch was.“
„Was möchtest du denn hören?“, fragte Mathilda mit einer gewissen Vorsicht. Sie wollte ihrer schwerkranken Freundin nicht brühwarm erzählen, was sie in Zukunft geplant hatte. Ihre Zukunft mit Will – vielleicht sogar als zukünftige Mrs. Murdoch.
Ediths darauffolgendes Grinsen wirkte so surreal in diesem bleichen, von Schweiß überzogenem Gesicht. Allein ihre Augen sprachen nur allzu deutlich dafür, dass es ihr schlecht ging. Der lebendige Ausdruck darin, der ihre Augen einst ausgezeichnet hatte, war beinahe erloschen. Edith wirkte erschöpft, kraftlos und kurz davor, einfach aufzugeben. „Du warst doch bei unserem Mr. Murdoch“, sagte sie schwach, wobei direkt wieder ein tiefer Huster folgte.
Obwohl Ediths Zustand keineswegs zum Lachen war, konnte Mathilda sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Unser Mr. Murdoch?“, wiederholte sie zuckersüß und genoss diesen kurzen, unbeschwerten Moment, in dem Ediths Humor zu erkennen war.
„Also gut, dein Mr. Murdoch“, betonte Edith und lehnte sich zurück in ihr Kissen. Sie schien an Kraft zu verlieren, doch die kranke Frau war dennoch in Plauderlaune. „Erzähl mir, was ihr heute so gesprochen habt. Ihr zwei seid ja schwer verliebt. Sogar unser eifriger Doktor hat das schon angemerkt.“
Mathilda riss geschockt die Augen auf. „Wie bitte?!“
Auf einmal lachte Edith. „Ach, er sagt vieles durch die Blume hindurch. Er hat heute nur mal erwähnt, dass sich William oft nach dir erkundigt. Also...“ Wieder folgte ein kehliger Huster. „Also, ob du gesundheitlich in Gefahr geraten kannst, wenn du mich um dich hast.“ In dem letzten Satz schwang ein tieftrauriger Unterton mit.
Über Mathilda brach eine Welle der Trauer herein. „Bitte hör auf so etwas zu sagen“, bat Mathilda verzweifelt. „Ich bin immer für dich da, versprochen. Hör einfach auf das, was Dr. O'Loughlin dir sagt und du wirst sehen, dass es dir bald besser geht.“
„Wir werden sehen“, fand Edith eine müde Antwort.
Diese Stille, die nun zwischen den beiden Freundinnen herrschte, war unnatürlich. Noch nie hatten sie einander so wenig zu sagen gehabt. Sicherlich lag es hauptsächlich an Ediths gesundheitlichem Zustand, aber dennoch kam Mathilda nicht umhin, sich schuldig zu fühlen. Auf dieser Reise hatte sie so viele wundervolle Menschen kennengelernt und war sogar ihrer großen Liebe begegnet – allein dafür war sie Edith unendlich dankbar, schließlich war sie diejenige gewesen, die Mathilda zu dieser Reise überredet hatte.
Ein tiefer Seufzer jagte Mathildas Kehle hinauf. Müde ließ sie sich auf einen Stuhl nieder. Inzwischen war Edith wieder in ihr Kissen zurückgesunken und hatte die Augen geschlossen. Mathilda konnte von ihrer derzeitigen Position aus erkennen, dass ihre Atmung sehr flach ging. Vermutlich würde Edith jeden Moment einschlafen. Am liebsten würde Mathilda ihrem Beispiel folgen und eine Mütze Schlaf finden, doch irgendetwas schien sie am wohlverdienten Schlaf hindern zu wollen.
Mathilda erlaubte sich, einen Moment lang die Augen zu schließen, aber sie war schnell wieder hellwach, als ein undeutliches, scharrendes Knirschen an ihre Ohren drang. Erschrocken ergriff sie die Stuhllehnen, krallte sich daran fest und spürte, wie das Schiff zu erzittern schien.
Was war das für ein beängstigendes Geräusch?
Mathilda war schnell wieder auf den Beinen, wenn auch ziemlich wackelig. Das grauenhafte, kratzige Geräusch ging ihr durch Mark und Bein, selbst wenn es nicht sonderlich laut war. Für Mathilda dennoch beängstigend. Hatte das Schiff etwas gerammt? Oder hatte die Titanic Probleme mit ihren Maschinen? Egal, was es war – Mathilda bekam es mit der Angst zu tun. Noch konnte sie sich keinen Reim auf dieses Geräusch machen und hoffte noch, dass sie es sich in ihrem schläfrigen Zustand vielleicht eingebildet hatte. Doch als sie Ediths Stimme vernahm, was dieser seltsame Schlag denn sein könnte, wusste Mathilda, dass dies keine Einbildung war. Hier stimmte etwas nicht...
Hektisch eilte Mathilda zu einem der Fenster. Sie öffnete es und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die finstere Nacht hinein. Erst nach links, wo sie nichts sehen konnte, und dann nach rechts, was sie erstarren ließ. Mathilda erkannte achteraus – wie William es nennen würde – einen massiven Berg aus Eis. Der Koloss hob sich pechschwarz von dem klaren Nachthimmel ab, und so schnell wie der Eisberg in ihrem Blickwinkel aufgetaucht war, verschwand er auch wieder in der unmenschlichen Dunkelheit.
Mathilda hatte ihre zitternden Hände über ihren offenstehenden Mund gelegt. Hatte dieser Gigant die Titanic gerammt? Es schien wahrscheinlich zu sein.
Einige Minuten verharrte Mathilda am offenen Fenster und hoffte darauf, dass die Titanic nicht beschädigt worden war. „Oh, mein Gott“, hauchte sie. Der Schrecken steckte ihr noch in den Knochen, als sie einen Umstand bemerkte, der sie zusätzlich ängstigte – die Titanic hatte gestoppt. Mitten auf dem unendlichen Ozean.
Mathilda lauschte angespannt. Nein, es war nicht dieses knarrende, schabende Geräusch, das dieser Eisberg verursacht hatte, wodurch Mathilda unruhig wurde. Vielmehr beunruhigte sie das Stoppen der Maschinen. Kein Brummen. Kein Fahrtwind. Nichts.
Um sie herum herrschte nur noch Totenstille.