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Als der Traum noch lebte

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character) Thomas Andrews William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
14
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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08.05.2022 6.623
 
14. April 1912


„Eternal Father, strong to save, whose arm hath bound the restless wave, who bidd'st the mighty ocean deep. It's own appointed limits keep. Oh, hear us when we cry thee, for those in peril on the sea.“

Eine bunte Mischung der unterschiedlichsten Stimmen und Tonlagen hallte durch die edlen Räumlichkeiten des Erste Klasse Speisesaals. Die Herren und Damen hatten sich gleichermaßen fein herausgeputzt, um den bestmöglichen Eindruck zu hinterlassen. Schließlich wurde der Gottesdienst heute von Kapitän Edward J. Smith persönlich abgehalten. Einige Passagiere hatten sich daher überpünktlich in dem Salon eingefunden. Meist allerdings nur, um einen Platz in den ersten Reihen zu ergattern und näher am „König der Titanic“ zu sein. Insgeheim hoffte schließlich der ein oder andere von ihnen, noch ein Wort mit dem geselligen Schiffskapitän wechseln zu können.

„Oh Christ, whose voice the waters heard and hushed their raging at thy word, who walkedst on the foaming deep and calm amidst it's rage didst sleep. Oh, hear us when we cry th thee, for those in peril on the sea.“

Mathilda stand ein paar Reihen entfernt von dem Kapitän, der vor der versammelten hohen Gesellschaft stand, und den Gesang mit vollem Einsatz begleitete. Stattlich stand er etwas erhöht, eine Hand hinter dem Rücken und in der anderen hielt er das Notenblatt. Neben Mathilda hatten sich die Astors, Autorin Helen Candee und die Countess of Rothes positioniert. Normalerweise würde Edith ebenfalls direkt neben ihr stehen und mit ihrer klangvollen Stimme dem Chor eine gewisse Note geben, doch dies war ihr aufgrund ihrer Krankheit nicht möglich. Stattdessen lauschte Mathilda ihrer eigenen Stimme und der ruhigen von Madeleine Astor – was sich allerdings mit jedem Satz schwieriger gestaltete, denn direkt vor ihnen stand Bruce Ismay, dessen Lautstärke beinahe jeden in den Schatten stellte.
Mathilda verkniff sich ein Schmunzeln. Der Direktor der White Star Line stand nicht in erster Reihe, so wie sie es erwartet hätte, sondern hatte sich zu einigen reichen Geschäftsmännern der hohen Gesellschaft von Philadelphia gesellt.

„Most Holy Spirit, who didst brood upon the chaos dark and rude, and bid it's angry tumult cease, and give for wild confusion peace. Oh, hear us when we cry to thee, for those in peril on the sea.“

Der Chor endete schließlich. Und damit schloss sich auch der Gottesdienst, der um elf Uhr begonnen hatte.

Mathilda spielte mit dem Gedanken, noch ein wenig zu bleiben, da sich mehrere kleine Grüppchen gebildet hatten und sich noch unterhielten. Am liebsten hätte sie ein paar Worte mit dem Kapitän gewechselt, doch der wurde schon vom Ehepaar Widener und ihrem Sohn Harry in Beschlag genommen. Am Rande hatte Mathilda mitbekommen, dass das wohlhabende Ehepaar heute Abend eine Dinnerparty zu Ehren von Kapitän Smith geben wollte und wohl noch einige Dinge besprochen werden mussten. Sicherlich eine interessante Gesellschaft.
Mathilda ließ ihren Blick schweifen und konnte mit Mr. Guggenheim – an seinem Arm Lèontine Aubert – , Archibald Gracie und dem Ehepaar Frauenthal einige bekannte Gesichter ausmachen. Wen sie jedoch vermisste, war Mr. Andrews. Der Konstrukteur war dem Gottesdienst ferngeblieben, da er – soweit Mathilda es mitbekommen hatte – einigen Passagieren eine Führung über das Deck angeboten hatte.

„Hey Kleine, komm doch zu uns.“

Molly Browns unverkennbare, markante Stimme würde sie wohl aus tausenden erkennen. Tatsächlich befand die elegante Dame nicht weit entfernt von ihr. An ihrer Seite standen George und Dorothy Harder, die Mathilda schon am ersten Abend an Bord kennengelernt hatte. Das frisch vermählte Paar befand sich auf Hochzeitsreise und gehörte zu den Menschen, die es liebten, in einer geselligen Runde zu sitzen.

Mathilda kam der Bitte nach und spazierte auf die Dreier-Gruppe zu. Dort angekommen rubbelte Molly ihr direkt in liebevoller Manie über die Schulter, während Dorothy Harder und ihr Mann höflich grüßten. „Ein wunderschöner Gottesdienst, nicht wahr?“, entgegnete Mathilda daraufhin.

„In der Tat, ganz wundervoll“, stimmte Dorothy Harder, eine junge Frau von gerade einmal 22 Jahren, fröhlich zu. „Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet. Auf diesem Schiff scheint so ziemlich alles wundervoll zu sein.“

„Oh, dem kann ich nur zustimmen. Niemals im Leben bin ich stilvoller gereist“, lachte Mathilda entspannt. Sie mochte die Harders. Sie gehörten nicht zu den reichsten Paaren hier auf der Titanic, stammten aber aus einer guten Mittelschicht. Dennoch, oder gerade deshalb, war ein Gespräch mit den beiden sehr angenehm.

George Harder war ein hübscher, intelligenter junger Mann, der für eine angesehene Gießerei seine Dienste zur Verfügung stellte. Zusammen mit Dorothy war er zuvor in Italien und Frankreich unterwegs gewesen, ehe es mit der Titanic zurück nach New York gehen sollte. Schon am ersten Abend hatten sie alle noch darüber geplaudert.
„Kapitän Smith hat durchaus Stil und ein Händchen dafür, eine Feierlichkeit wie einen Gottesdienst zu führen“, fügte Mr. Harder an, ehe er sich seiner Gattin widmete. „Aber sag, mein Schatz – möchtest du denn Mittagessen? Du musst ziemlich hungrig sein.“

Dorothy schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre goldenen Locken wippten dabei leicht hin und her. „Georgie, könnte es sein, dass du schon wieder Hunger hast?“ Sie zwinkerte ihm zu, ehe sie sich lachend an Mathilda und Molly wandte.

„Ach, Liebling, ist das so offensichtlich?“, stellte George eine Gegenfrage und stieg in das Lachen der Damen mit ein.

„Nur für ein geübtes Auge.“ Dorothy strich ihm liebevoll über die Wange. „Also schön, dann gehen wir eine Kleinigkeit essen.“ Sie wandte sich kurz an Mathilda und Molly. „Entschuldigt uns bitte, wir sehen uns garantiert zum Abendessen wieder.“

Galant bot George Harder seiner Frau den Arm an, was diese sofort in Anspruch nahm. Sie verabschiedeten sich von Molly und Mathilda, wobei letztere dem verliebten Paar noch so lange nachsah, bis sie aus dem Raum verschwunden waren. Am liebsten hätte Mathilda laut geseufzt. So oberflächlich für Außenstehende die Ersten Klasse Passagiere sein mochten – Mathilda wusste, dass auch hier echte Schätze zu finden waren. George und Dorothy Harder waren da einer davon. Dieses Paar zeigte der versnobten Gesellschaft, dass wahre Liebe auch zwischen Geld und Ruhm zu finden war. Darum beneidete Mathilda die beiden, wobei sie selbst sich auch nicht beklagen konnte – und schon waren ihre Gedanken wieder bei William.

Molly schien Mathildas verträumten Blick zu bemerken. Die kurvige Dame legte den Kopf schief und stieß ein kehliges Lachen aus. „Wie wäre es, wenn wir ein wenig frische Luft schnappen? Mal sehen, was da oben an Deck sich so abspielt“, schlug Molly vor, die nun so dicht neben ihr stand, dass Mathilda das blumige Parfüm der adretten Frau direkt in die Nase stieg.

„Sehr gerne. Es soll draußen zwar ziemlich kalt sein, aber ein wenig frische Luft könnte ich wirklich vertragen“, stimmte Mathilda in den Vorschlag mit ein. Und sofort hatte sich Molly Brown bei ihr untergehakt und Mathilda wurde regelrecht von ihr nach draußen gezogen. Mathilda lachte amüsiert, obwohl sie bei Mollys Temperament fast das Gleichgewicht verlor und über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Zudem hätten die beiden Frauen beinahe einen armen Stewart umgerannt, als sie um die Ecke bogen. Auf dem Weg zum Deck der Ersten Klasse wurde Molly hier und da in Gespräch verwickelt, was zwar Zeit in Anspruch nahm, aber für Mathilda vollkommen in Ordnung war. Schließlich genoss sie es, neue Menschen oder alte Bekannte zu treffen.

Draußen an Deck traf eine kalte Böe nach der anderen auf die Passagiere. Dennoch waren die Liegestühle auf den Decks fast alle belegt. Molly organisierte sofort bei einem der Deckstewarts zwei Decken und dirigierte Mathilda zu zwei freien Liegestühlen. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ sich Molly auf einen der hölzernen Liegestühle nieder und Mathilda tat es ihr gleich. Kaum saßen die beiden Frauen, eilte auch schon der Stewart mit den Decken herbei. Zuvorkommend breitete er jede Decke einzeln aus und legte sie den Frauen über die Beine.

Nachdem sich Molly bedankt und dem Mann noch ein kleines Trinkgeld zugesteckt hatte, verschwand der freundliche Stewart wieder und Mathilda zog automatisch die Decke enger um ihre Beine. Auch ihr entwich nun ein Seufzer, während ihr Blick den Horizont einfing.

Molly lehnte sich unterdessen überhaupt nicht entspannt zurück, so wie es Mathilda tat. Sie drehte sich stattdessen zu Mathilda und lehnte sich ein Stück vor, als wolle sie ihr etwas zuflüstern.
„Sag mal, Schatz – dürfte ich dir eine Frage stellen? So ganz unter uns?“, fragte Molly Brown flüsternd.

„Sicher doch. Was möchtest du wissen?“ Irgendwie schrillte Mathildas innere Alarmglocke, dennoch versuchte sie, so ruhig wie möglich zu wirken. Molly schien eine ziemlich private Frage zu haben, sonst würde sie nicht flüstern. Zurückhaltung war nicht gerade eine von Mollys Haupteigenschaften und somit konnte sich Mathilda auf eine ziemlich scharfe Frage gefasst machen.

Molly Browns Mundwinkel zuckten erfreut. „Du hast auf Bernards Fest ziemlich eng mit unserem Ersten Offizier getanzt“, begann sie nun verheißungsvoll. „Und anschließend seid ihr beide nicht mehr zu sehen gewesen. Edith wollte mir nichts verraten, aber da ich kein kleines Dummerchen bin, kann ich eins und eins zusammen zählen.“ Es schien, als wüsste die kecke Frau schon längst, was Sache war.

Mathilda hatte es geahnt. Allerdings fühlte es sich an, als träfe sie diese Frage nun aus heiterem Himmel. Selbstverständlich wusste Mathilda, dass ihre Gefühle für William ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stehen mussten, und gerade der pfiffigen Molly Brown entging so etwas natürlich keinesfalls. Früher oder später hätte sie garantiert jemand darauf angesprochen.
„Und wo ist nun die Frage in diesem Satz?“, parierte Mathilda gekonnt.

„Okay, wow!“ Molly lachte laut auf. „Gut gesagt, Schätzchen. Na gut – meine Frage ist eigentlich nur, ob da Gefühle im Spiel sind? Ich meine, es ist offensichtlich, dass da mehr ist als Sympathie, aber ich hätte es gerne von dir gehört.“ Und plötzlich war er wieder da – dieser mütterlich, liebevolle Ausdruck in Mollys Augen. Genau dieser Ausdruck entspannte Mathilda deutlich.

„Ja, du hast recht“, sagte Mathilda schließlich und platzierte eine verwirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Ich habe mich in diesem Mann verliebt und... es beruht auf Gegenseitigkeit.“ Irgendwie fiel es Mathilda überhaupt nicht schwer, darüber zu sprechen. Sicherlich war es anders, als in dem Augenblick, als sie es Edith erzählt hatte. Molly war eine Fremde, die in den letzten Tagen zu ihrer Freundin geworden war – eine mütterliche Freundin, die nun neugierig nach ihrer Liebe fragte.

„Mein Schätzchen, ich wusste es.“ Mollys Lächeln wurde ein ganzes Stück breiter. „Du hast einfach diesen Glow, den nur eine verliebte Frau mit sich trägt. Außerdem hab ich genau gesehen, dass ihr nur Augen füreinander habt. Ihr habt nicht einmal meinen wilden Walzer mit Bernard mitbekommen.“ Molly warf theatralisch die Arme aus, als wäre sie über diese Tatsache extrem pikiert. Im nächsten Augenblick lachte sie aber wieder.

Mathilda legte eine Hand auf ihren Mund, um ihr Lachen zu verstecken. „Das haben wir tatsächlich nicht bemerkt“, gab Mathilda zu.

„Vollkommen verständlich. Dieser Mann scheint dich echt verzaubert zu haben“, merkte Molly diebisch an. „Und du ihn. Immerhin kommt er aus dem Strahlen überhaupt nicht mehr raus, wenn du bei ihm bist. Der Bursche ist verliebt. Glaub mir, ich sehe das.“

An die zärtliche Röte, die sich bei diesem Thema immer wieder auf ihre Wangen zauberte, hatte sich Mathilda längst gewöhnt. Selbst jetzt. „Ich hoffe sehr, dass es eine Zukunft hat. Ich bin noch nie einem so tollen Mann begegnet“, seufzte Mathilda, wobei ihr Augenmerk nun auf Mr. Andrews lag, der gemeinsam mit Bernard Middleton auf sie zugeschritten kam.

Molly hatte die beiden Männer auch schon bemerkt. „Apropos tolle Männer“, kommentierte sie in ihrer kecken Art das Erscheinen der beiden, während sie anschließend leise zu Mathilda sagte: „Wir sprechen später weiter.“

Mathilda nickte ergiebig, schmunzelte dabei liebenswert. Sie wusste ganz genau, dass Molly dieses Thema noch nicht auf sich ruhen ließ – nicht, bevor sie nicht jede Einzelheit in Erfahrung gebracht hatte.
Nun schenkten die Frauen ihre Aufmerksamkeit Thomas Andrews und Bernard Middleton, die zwar weiterhin in ein anregendes Gespräch vertieft zu sein schienen, aber ihre Blicke längst auf Mathilda und Molly gerichtet hatten. In Mathilda griff nun eine alt bekannte Aufregung um sich. Trotz der Tatsache, dass sie Bernard Middleton auf seiner Feier schon kennengelernt hatte, war sie noch immer nervös, ihm gegenüber zu treten. Schon seit Jahren hegte Mathilda eine aufrichtige Bewunderung für diesen Mann und seine Arbeit. Bernard Middleton gehörte seit über zwanzig Jahren zu den erfolgreichsten Theaterregisseuren in Europa, und Mathilda verband seine Arbeit stets mit ihren geliebten Eltern. Damals, vor so vielen Jahren, hatte ihre Mutter sie eines Nachmittags in ein Theaterstück mitgenommen. Eines von Bernard Middleton. An der Hand ihrer Mutter hatte Mathilda das Theater betreten, ohne zu wissen, was für ein Spektakel sie nun erwarten würde. Und sie war begeistert gewesen von der ersten Sekunde an. Es hatte nur sie und ihre geliebte Mutter in einer Fantasiewelt gegeben. Begleitet von herausragender Musik und den unterschiedlichsten Kostümen. Danach war ihre Leidenschaft für die Stücke Bernard Middletons entfacht. Niemals war sie dem Mann jedoch persönlich begegnet – zumindest nicht, bis sie an Bord der Titanic gekommen war.

Sofort nahm Mathilda eine elegante, gerade Haltung an und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Sie wollte weiterhin einen guten Eindruck hinterlassen. Mr. Andrews und Mr. Middleton blieben in höflichem Abstand vor den beiden Liegestühlen stehen, tippten sich aber ziemlich synchron zur Begrüßung an die Hüte.
„Meine Damen, welch herrlicher Anblick sich mir hier doch bietet!“, grüßte Bernard Middleton in gewohnt charmantem Tonfall.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte man denken, du sprichst vom Horizont, liebster Bernard“, konterte Molly Brown lachend, anstatt sich über das Kompliment zu freuen, wie Mathilda es tat.

Allerdings war Bernard mit einem ausgezeichneten Humor gesegnet, weswegen er Molly ihre Aussage nicht übel nahm, sondern hinzufügte: „Sicherlich, der Horizont ist nicht zu verachten, aber diese beiden hübschen Ladys an Deck erscheinen mir deutlich ansehnlicher.“

„Oh, du Schmeichler.“ Molly winkte amüsiert ab. „Versuch dein Glück bei einer anderen Dame. Wir beide sind vergebene Frauen.“ Beim letzten Satz zwinkerte Molly Mathilda zu. Trotz der Tatsache, dass sich Molly und ihr Ehemann vor Auslaufen der Titanic einvernehmlich getrennt hatten, schien die kurvenreiche Dame sich noch immer als vergebene Frau zu sehen.

Mathilda wurde jedoch unruhig, als sie den überraschten Blick von Mr. Andrews bemerkte. Der Konstrukteur hatte sicherlich noch das Gespräch vom Mittagessen mit dem Ehepaar Straus und Bruce Ismay im Kopf, in dem Mathilda erwähnt hatte, eine ledige Frau zu sein. Nur wusste sie nicht, ob der „Vater der Titanic“, wie Mathilda ihn insgeheim getauft hatte, irgendetwas von ihren Gefühlen zu William Murdoch mitbekommen hatte. Doch inzwischen kannte Mathilda den Mann auch so gut, um zu wissen, dass er bestimmt etwas mitbekommen haben musste. Immerhin besaß der Mann eine grandiose Auffassungsgabe. Prompt kam auch die Antwort des Konstrukteurs, ehe Mathilda noch etwas sagen konnte.

„Wirklich? Das freut mich sehr zu hören“, sprach er und bedachte dabei nur Mathilda mit einem wissenden Blick. Ja, der Mann wusste eindeutig, was Sache war.

Verlegen strich Mathilda eine Haarsträhne hinter ihr Ohr – was mittlerweile eine dumme Angewohnheit war, wenn sie nervös wurde. Daher enthielt sie sich auch jeglicher Worte, wobei sie inständig hoffte, dass das Thema nicht weiter von Bedeutung sein würde – allerdings hatte sie die Rechnung ohne Bernard Middleton gemacht.
Lautstark verkündete der nun: „Eine junge Liebe, wie herrlich! Das inspiriert mich direkt zu einem neuen Theaterstück!“

Molly, die inzwischen bemerkt hatte, wie unangenehm dieses Thema für Mathilda war, lenkte das Gespräch glücklicherweise gleich in eine andere Richtung. „Lass mich raten – es handelt nicht zufällig auch von einem gigantischen Schiff, das den Ozean durchpflügt?“, sagte sie und tätschelte Mathilda unauffällig die Hand.

„Selbstredend. Ein Schiff, von solch stattlichem Ausmaß, und von Passagieren, deren Leben einer Story würdig ist. Hier an Bord gibt es genügend rührende, schöne Geschichten. Ich spiele schon länger mit dem Gedanken ein neues Stück zu produzieren“, plapperte der Theaterregisseur.

Nun entschied sich Mathilda dazu, selbst wieder am Gespräch teilzunehmen. „Mr. Middleton, das klingt bezaubernd. Und seien Sie versichert – ich werde die erste sein, die es sich ansehen wird.“ Und genau so meinte sie es auch.

Plötzlich wurden Bernard Middletons spitzbubenhafte Gesichtszüge weich, als er lächelte. „Liebste Mathilda, ich bitte Sie darum, mich Bernard zu nennen.“ Und einen Wimpernschlag später saß er auch schon auf Mollys Liegestuhl, die ihm Platz gemacht hatte. Bernard behielt weiter Mathilda im Blickfeld, als er freundlich anmerkte: „In New York spielt in einer Woche mein aktuelles Theaterstück. Ich möchte Sie einladen – Sie und Ihren Liebsten. Sie sind beide herzlich dazu eingeladen.“

Mollys anklagenden Monolog, was denn mit ihr wäre, hörte Mathilda kaum mehr. Ein Gefühl, als wäre sie eingehüllt in eine Wolke, erfüllt sie. Sie konnte kaum fassen, dass sie eine exklusive Einladung von Regisseur Bernard Middleton für dessen Theaterstück bekommen hatte – und sie durfte hingehen, zusammen mit ihrem Will. Allein der Gedanke an diesen bevorstehenden fulminanten Abend kribbelte es aufgeregt in Mathildas Adern, als würde sich eine Herde Ameisen sich ihren Weg durch ihren Körper bahnen. Gedanklich malte sie sich schon aus, sich schick zu machen und von Will zu dem Theater begleitet zu werden. Vielleicht gab es dabei auch einen kleinen Empfang mit Sekt oder ähnlichem Schnickschnack. Es konnte nur märchenhaft werden, wenn sie ihren Liebsten an der Seite hatte.

„Sie meinen das ernst?“, fragte Mathilda unsicher nach.

„Durchaus. Sie sagten doch, Sie sind eine Bewunderin meiner Stücke. Und da ich Sie als sehr nette Damen kennengelernt habe, möchte ich, dass Sie meinem nächsten Stück beiwohnen“, verkündete Bernard Middleton und fügte noch schelmisch hinzu: „In charmanter Begleitung versteht sich.“

Dieses Mal war ihr die Anspielung auf William egal. Sie war viel zu sehr vom Glück beseelt, um es als unangenehm zu erachten. „Vielen Dank, ich freue mich sehr und würde dieser Einladung sehr gerne nachkommen“, entgegnete Mathilda glücklich.

Bernards Gesicht wurde von einem ausgedehnten Grinsen überzogen. Er breitete euphorisch die Arme aus und erklärte: „Molly, Thomas – verzeiht mir. Selbstredend seid ihr auch alle eingeladen.“ Sein Blick fiel sogleich über Mathildas Schulter auf Albert Dick, der wenige Meter entfernt von ihnen, seiner Frau Vera eine scharfe Ansage machte. „Nun ja, einige verdienen eine Einladung nicht.“

Unangenehm berührt blickten Mathilda, Molly, Mr. Andrews und Mr. Middleton nur den Bruchteil einer Sekunde zu dem Ehepaar, ehe sich alle wieder abwandten. Albert Dick war der höheren Gesellschaft schon öfter ärgerlich aufgefallen. Seine Spielsucht war ein offenes Geheimnis und seine Art, die er an den Tag legte, missfiel den meisten seiner Gesellschaft.
Dann war da auf einmal Mollys Stimme, die nun ein anderes Anliegen hatte. „Sagen Sie, ich habe beim Zahlmeister gehört, dass morgen irgendeine Vorführung stattfinden soll?“, fragte die adrette Dame nach.

Thomas Andrews, der sich zwischenzeitlich etwas zurückgehalten hatte, gab Molly Brown die gewünschte Antwort. „Ja, ganz richtig. Für morgen ist eine Hundeschau geplant“, sagte der Konstrukteur und erntete ein abwertendes Lachen von Bernard.

„Du beliebst zu scherzen, mein Guter, nicht wahr?“, zischte Bernard Middleton, der angesichts dieser Vorstellung lachen musste.

„Nein, das liegt mir fern. Wir haben dreizehn Hunde an Bord und irgendjemand ist wohl vor Abfahrt auf die Idee einer Hundeschau gekommen“, erklärte Thomas Andrews nochmal deutlich.

Bernard sah gleichermaßen schockiert und erheitert aus. „Und das gefällt der Gesellschaft?“

„Einigen sicherlich“, stimmte Molly mit ein, wobei nun Mathilda anfügte: „Es ist doch bestimmt interessant zu sehen. Die hübschen Tiere und die Manieren, die ihnen beigebracht wurden. Sehen Sie es als eine andere Art der Kunst an, Bernard.“

Mr. Middleton legte den Kopf schief, was Mathilda dazu veranlasste, ihm ihr charmantestes Lächeln zu schenken. Bei diesem Argument konnte der Regisseur doch Gefallen an der Hundeschau finden, befand zumindest Mathilda.
„Naja, wenn ich mir vorstelle, wie Robert Daniel seine preisgekrönte Bulldogge vorführt, während er selbst wie ein eitler Gockel auf und ab stolziert, dann erheitert mich das in der Tat“, witzelte Bernard. „Aber ob das Kunst ist? Ich weiß ja nicht.“

„Es dient der Unterhaltung, Bernard.“ Thomas Andrews lachte herzlich auf.

Zwischen den Männern entstand ein flapsiger, aber sehr humorvoller Schlagabtausch, der noch von Mollys herrlichem Lachen untermalt wurde. Mathilda beobachtete das ganze Geschehen stillschweigend. Gedanklich malte sie sich die Hundeschau, die durchaus ihr Interesse geweckt hatte, aus. Madeleine Astor hatte ihr erst gestern von ihrer Airedale Hündin „Kitty“ erzählt und wie stolz sie auf dieses Tier war. Auch Helen Bishop war neben ihrem Mann mit Hund unterwegs – so weit Mathilda sich erinnerte, hieß der Zwergpudel „Frou-Frou“. Und laut Archibald Gracie war auch eine deutsche Dogge an Bord. Bisher hatte Mathilda den ein oder anderen Hund nur beim Einsteigen in Southampton gesehen, daher freute sie sich insgeheim auf die Schau am morgigen Tag – obgleich Bernard Middleton sich das Geschehen nur ansah, um einen unliebsamen Kontrahenten zu belächeln.

Durch eine eiskalte Windböe wurde Mathilda schließlich aus ihren Tagträumen gerissen. Bernard war zwischenzeitlich wieder aufgestanden und hielt seinen Hut fest. „Ach herrje – der Wind nimmt offenbar zu“, ließ er dabei verlauten.

Er hatte Recht – der Wind nahm zu und die Temperatur sank. Trotz einiger Windböen schien das Meer keine großen Wellen zu schlagen. Mathilda hatte dennoch genug frische Luft geschnappt. „Wenn es nach mir geht, dann wäre eine warme Mahlzeit jetzt durchaus angebracht“, erklärte sie in die Runde. „Möchte sich jemand anschließen?“

„Eine hervorragende Idee!“, stimmte Bernard zu, ehe er im nächsten Augenblick Molly Brown manierlich von dem Liegestuhl hoch half. Als ausgereifter Gentleman reichte er Molly anschließend seinen Arm, die dieses Angebot gerne annahm.

Währenddessen hielt Thomas Andrews Mathilda seine Hand hin. Dankend zog sie sich daran auf die Beine und schritt zusammen mit dem Konstrukteur hinter Bernard und Molly – die wieder in eine wilde Diskussion verstrickt waren – her. Thomas Andrews wirkte seltsam wortkarg, dennoch schlich sich beinahe unbemerkt ein Lächeln auf seine Lippen.
„Entschuldigen Sie bitte Bernards neugierige Art. Aber so ist er nun einmal“, unterbrach der Konstrukteur die Stille zwischen ihnen. „Er meint es nicht böse oder abwertend. Molly ebenso wenig.“

Mathilda ahnte schon, worauf Thomas Andrews anspielte. „Das ist mir durchaus bewusst. Ich bin niemandem böse. Wir sind doch alle ein wenig neugierig“, umschrieb sie es elegant.

„Verstanden.“ Sein Lächeln wurde eine ganze Spur breiter, während in seinen Augen ein amüsiertes Funkeln auftrat, als er sie ansah. „Bitte verzeihen Sie, falls wir Sie in Verlegenheit gebracht haben. Es steht keinem von uns zu, Ihre privaten Angelegenheiten zu hinterfragen.“

„Schon in Ordnung. Niemand von Ihnen ist aufdringlich geworden, das versichere ich Ihnen.“ Mathilda war keineswegs überrascht, dass dem feinfühligen Mann diese Nachfrage von Bernard und Aussage von Molly unangenehm war, obwohl es nicht seine Person betraf.

Er nickte verstehend. „Fein, damit bin ich beruhigt. Aber ich habe es vorhin ernst gemeint, als ich sagte, dass ich mich für Sie freue. Für Sie beide.“ Ein wissendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Damit schien das Gespräch beendet zu sein, denn er wechselte elegant das Thema. „Wie geht es Mrs. McClary?“

Ein wenig erleichternd war es für Mathilda, dass nun nicht mehr ihre Beziehung zu William im Fokus stand. Selbst wenn das neue Thema keineswegs einfacher war. „Ziemlich durchwachsen. Mal besser, mal schlechter. Heute morgen hatte ihr Husten wieder stark zugenommen. Ich habe direkt Dr. O'Loughlin informiert“, erzählte sie, während Mr. Andrews ihr die Türe ins Innere aufhielt.

„Deswegen wird er wohl auch nicht beim Gottesdienst gewesen sein. Vermutlich hat er direkt nach ihr gesehen.“ Thomas Andrews stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Beim allmächtigen Gott – ich hoffe, sie übersteht es gut.“

Mathilda konnte ihm da nur beipflichten. Ediths Gesundheitszustand hatte sich innerhalb zwei Tagen enorm verschlimmert und trieb Mathildas Sorgen ins Unermessliche. Normalerweise war es Ediths Plan gewesen, ihre Freiheit und den Luxus auf diesem Schiff in vollem Umfang zu genießen. Nun aber war die junge Witwe eingesperrt wie ein Tier im Käfig. Insgeheim hoffte Mathilda darauf, dass Dr. O'Loughlin und Dr. Simpson sie soweit stabilisieren konnten, bis sie in New York angekommen waren.

In Mathilda keimte seit kurzem auch die Angst vor der Ungewissheit auf. Im Grunde befand sie sich nur an Bord der Titanic, weil sie Edith versprochen hatte, ihr in Amerika bei dem liegengebliebenem Papierkram zu helfen – und natürlich um die Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu genießen. Ediths Erkrankung brachte nun alles ins Wanken. Mathilda konnte der Arbeit nicht ohne Edith nachgehen und sich alleine in Amerika zurecht zu finden, stand nicht ganz oben auf Mathildas Wunschliste.

Selbstverständlich war es nun vorrangig, dass Edith nun die bestmögliche Behandlung bekam. Alles andere war erst einmal nebensächlich. Dennoch überlegte Mathilda fieberhaft, was sie dann tun sollte. Sicherlich würde sie nicht alleine in New York bleiben – auch wenn sie Edith natürlich zur Seite stehen würde. Je nachdem, wie ausgedehnt die Behandlung sein würde, käme es für Mathilda auch in Frage, mit der Titanic wieder zurück nach Southampton zu reisen. Allerdings wusste Mathilda nicht, wann die Titanic wieder in New York ablegen und ihre Rückfahrt antreten würde. Glücklicherweise kannte sie genau zwei Männer, die darüber bestens Bescheid wussten – einer rückte ihr gerade den Stuhl am Esstisch zurecht und bekam flüsternd eine Frage von Mathilda gestellt.

„Mr. Andrews, wann genau ist denn die Rückreise nach Southampton geplant?“


*****



Southampton – 14. April 1960


Als würde ihr Leben daran hängen, krallten sich Mathildas Hände in die Lehnen ihres Stuhls, in dem sie seit Stunden saß, schlief und nachdachte. Ihre Knöchel traten weiß hervor; die Fingernägel tief in das alte Leder vergraben.
Seit Mitternacht lehnte die alte Dame in ihrem Stuhl und brachte es nicht fertig, sich zu erheben. Kurzzeitig musste sie wohl eingenickt sein, denn sie hatte das Gefühl, noch immer mit Thomas Andrews über das Deck zu spazieren. Inzwischen war jedoch die Sonne aufgegangen und durch das helle Licht, das den Raum nun erfüllte, wurde Mathilda dieser Umstand nur allzu deutlich bewusst.
Mathilda fühlte sich ausgelaugt. Es war ein verdammter Teufelskreis! Konnte sie denn nicht ein einziges Mal ihre Augen schließen, ohne von einem Traum heimgesucht zu werden?

Müde blickten Mathildas grüne Augen beim Fenster hinaus. Der Regen, der die Nacht über angedauert hatte, hatte ein Ende gefunden. Es wirkte friedlich und ruhig außerhalb ihres tristen Hauses. Draußen am Fenster eilte Postbote Shawn über die Gehwege und verteilte munter seine Briefe. Irgendwie erfüllte es Mathilda immer mit Wehmut, wenn sie den jungen Burschen sah. Auf der einen Seite beneidete sie ihn um seine Unbeschwertheit und seine frische Liebe zu diesem jungen, unbekannten Mädchen, von der er erst kürzlich erzählt hatte. Und auf der anderen Seite sah sie in ihm auch genau das, was ihr verwehrt geblieben war – einen Sohn, ein Kind. Eines dieser Kinder, von denen sie nur träumen konnte. Traurigerweise erinnerte Shawns brauner Wuschelkopf paradoxerweise an William. Vielleicht hatten die beide wirklich ein wenig Ähnlichkeit oder – und das war um eines wahrscheinlicher – Mathilda bildete sich diesen Umstand einfach nur ein.

Ein trauriger Seufzer flog durch den Raum. Sie konnte es nicht mehr ändern.

Mathilda war gerade wieder dabei, langsam ihre Augen zu schließen, als es an der Türe klopfte. Etwas zaghaft, aber das Geräusch war da. Überrascht schlug Mathilda die Augen wieder auf. Sie hatte niemanden eingeladen – wen denn auch? – und Shawn hatte ihr Haus bereits passiert.
Mathilda grübelte nur einen Wimpernschlag lang, danach beschloss sie, den Menschen außerhalb ihres Hauses zu ignorieren. Vermutlich waren es nur ein paar Kinder, die an Häuser alleinstehender Eigenbrötler klopften, um sich vor ihren Freunden beweisen zu können. Wahrscheinlich eine Mutprobe.

An der Türe klopfte es erneut – dieses Mal ein wenig stärker.

Mathilda war irritiert. Wer um alles in der Welt würde seinen Weg vor ihre Türe finden? Langsam erwog sie, doch noch aufzustehen und nachzusehen. Mathilda nahm einen tiefen Atemzug, blieb aber weiterhin sitzen. Sollte derjenige doch auf sie warten.
Einen winzigen Augenblick lang fragte sie sich, ob vielleicht ein anderer Überlebender an ihre Türe klopfte? Ihr erster Gedanke galt Charles Lightoller. Aber diese Überlegung verwarf sie schnell wieder, denn der Zweite Offizier der Titanic war mittlerweile auch schon seit acht Jahren tot.
Möglicherweise Madeleine Astor? Nein, auch diesen Gedanken verscheuchte sie schnell wieder. Madeleine war im Jahre 1940 einem schweren Herzanfall erlegen und somit nun ebenfalls seit zwei Jahrzehnten tot.
Oder doch Molly Brown? Mathilda schüttelte bei dieser absurden Überlegung den Kopf. Auch die gute, liebenswerte Molly Brown weilte schon lange nicht mehr unter ihnen.
Irgendwie schien es, dass alle Menschen, die ihr einst an Bord der Titanic das Leben schöner gemacht hatten, bereits ihren Frieden gefunden hatten. Wieso war Mathilda also noch hier? Wer verwehrte es ihr, ebenfalls zu den anderen empor zu steigen?

Wieder schlug jemand gegen die Türe, noch energischer und nun sogar mit Stimme. „Millie, altes Haus, bist du da?“

Die Bilder der Titanic Passagiere und ihrer Crewmitglieder, die vor der Türe hätten stehen können, verblassten augenblicklich. Mathilda wusste, wem diese Stimme gehörte – und sie ahnte auch, dass dieser Jemand nicht gehen würde, bevor er sie nicht zu Gesicht bekommen hatte. Mathilda tat ihm den Gefallen. Immerhin war er ihr über die Jahre zum einzige Freund geworden.
Mathilda erhob sich schließlich und nahm ihren geliebten Gegenstand, der partout noch auf ihrem Schoß ruhte, zur Seite. Bevor sie Alvin die Türe öffnete, legte sie dieses letzte Stückchen Erinnerung vorsichtig in den Schrank zurück.

„Ich komme ja schon.“ Heute merkte Mathilda, wie müde und schwer ihre Glieder geworden waren. Sie wusste nicht, ob es daher rührte, dass sie die Nacht über in ihrem Sessel verbracht hatte oder ob die Kälte des Atlantiks ihr das Gefühl aus der Nacht des Unheils zurückschicken wollte.

Obwohl sie bereits wusste, wer sich außerhalb befand, öffnete Mathilda zögernd die Türe und nur einen Spalt breit. Daraufhin blickte sie in das verwunderte, aber gleichzeitig besorgte Gesicht von Alvin. Er hatte den Schal eng um seinen Hals geschlungen und seine ergrauten Haare wurden von einer dunkelblauen Baskenmütze verdeckt.
„Millie, da bist du ja. Ich habe mir Sorgen gemacht“, ließ er verlauten. Seine Tonlage klang besorgt.

Mathilda schnaubte frustriert, öffnete die Türe aber nicht weiter. „Wieso denn?“, grummelte sie. „Ich bin einfach nur müde. Weswegen bist du hier?“

„Das sagte ich doch gerade – ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst seit Tagen nicht mehr unten am Hafen. Da dachte ich, ich seh mal nach dir“, erklärte Alvin in ruhigem Tonfall, aber mit Nachdruck.

Sofort bereute es Mathilda, so forsch zu ihm gewesen zu sein. Sie war es einfach nicht gewohnt, dass sich jemand um sie sorgte. Alvin hingegen tat es – und das rührte sie in gewisser Weise. „Das ist sehr lieb von dir, aber es geht mir gut. Mir war nur nicht danach, raus zu gehen“, sagte sie abwinkend.

Alvin schien ihr jedoch nicht so recht zu glauben. Kritisch zog er eine Augenbraue nach oben und schon seine nächste Aussage untermauerte diese Tatsache nochmal. „Das kaufe ich dir nicht ganz ab“, meinte er spitz. „Du wirkst krank. Geht es dir gut? Soll ich dir einen Arzt rufen?“

„Ich brauche keinen Arzt! Noch habe ich nicht vor, auf das Licht zuzugehen. Also lass mich mit deiner sogenannten Fürsorge einfach in Ruhe. Und sag Dr. O'Loughlin, dass ich ihn nicht vor dem nächsten Morgengrauen sehen möchte.“

Ediths keifende Stimme war wie aus dem Nichts gekommen, was Mathilda scharf in die Glieder fuhr. Unkontrolliert begannen Arme und Beine zu zittern. Ein erstickender Knoten bildete sich in ihrem Hals und hinderte sie am Atmen. „Ich brauche keinen Arzt. Lass mich mit deiner Fürsorge einfach in Ruhe“, waren Mathildas Worte, die zuvor Edith in ihrem Kopf gesprochen hatte.
Panisch wandte sich Mathilda von Alvin ab und hetzte den Gang zu ihrem Schlafzimmer hinab. Die Eingangstüre hatte sie offen stehen lassen.

„Millie!“, rief Alvin ihr nach und betrat, ohne weiter abzuwarten, das Haus. Hinter sich schloss er schnell die Türe und eilte Mathilda dann hinterher. Im Schlafzimmer hatte er sie schließlich eingeholt. Dort fand er sie kniend auf dem Boden vor. Ihre Haare waren komplett zerzaust, ihr Blick wirr, während sie panisch in ihrem Nachtkästchen wühlte.

„Lasst mich in Ruhe. Ihr seid nicht mehr hier“, murmelte Mathilda abwesend. Zitternd öffnete sie eine Packung Tabletten und schluckte eine davon so schnell wie möglich runter.

Alvin riss schockiert die Augen auf und hastete auf sie zu. Er griff hektisch nach der Tablettenschachtel und rief: „Um Gottes Willen – Millie, was tust du denn?!“ Mit einem kräftigen Ruck entriss er ihr die weiße Schachtel. Er drehte die Packung in seiner Hand und erkannte, dass es sich um harmlose Beruhigungspillen mit Lavendel handelte.

„Dachtest du, ich nehme das harte Zeug?“, kommentierte Millie seine Aktion, ohne ihn dabei anzusehen. Sie blieb dabei am Boden sitzen und lehnte mit dem Rücken gegen ihr Bett. Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr sie sich durch ihr abgekämpftes Gesicht, welches unter ihrem zerzausten Haar verborgen war.

„Ich... nun ja...“ Alvin wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er kannte Mathildas Zustand in gewissem Maße, aber wusste natürlich nicht, wie schlimm es wirklich um sie stand. „Bitte verzeih mir. Es steht mir nicht zu, solche Dinge zu hinterfragen. Du wirst deine Gründe haben.“ Langsam legte er das Päckchen auf dem Nachttisch ab.

Mathilda schob nun ihre Haare beiseite, sodass Alvin ihr Gesicht wieder sehen konnte. „Ich bin dir nicht böse“, sagte sie dann und klang müde. „Ich höre sie wieder.“

Alvin hatte den letzten Satz nicht verstanden und kniete sich jetzt vor Mathilda auf den Boden. Besorgt sah er ihr in die Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten. „Rede mit mir. Was ist los?“

„Ich höre sie wieder“, wiederholte Mathilda immer noch leise, aber dieses Mal sehr bestimmend. „Alle, sie sind alle wieder da. Es ist, als wären sie wieder real und würden mich heimsuchen. Mir mitteilen, wie schön es doch gewesen ist.“

Alvin war ratlos. „Du hast doch aber gesagt, dass es damals eine schöne Zeit gewesen ist. Die schönste deines Lebens, wenn ich mich recht erinnere.“

Mathilda schnaubte, schenkte ihm dabei jedoch ein kurzes Lächeln. „Du erinnerst dich ganz richtig. Ja, es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich hatte damals das Gefühl, alles im Leben zu besitzen. Ich verkehrte in tollen Kreisen und hatte einen traumhaften Mann an meiner Seite. Und dann wurde mir alles in nur einer Nacht genommen. Wenige Stunden, in denen alles ein Ende gefunden hatte.“ Sie griff hilfesuchend nach Alvins Jackenärmel, ehe sie hinzufügte: „Ihre Stimmen sind so deutlich wie nie zuvor. Es ist wie Hohn.“

Beruhigend tätschelte Alvin ihre Hand. „Weißt du, ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, wie diese Nacht damals gewesen sein muss. Aber das, was ich bisher darüber gelesen habe, war schrecklich.“ Ein Seufzer folgte. „Millie, ich bin ehrlich – ich kann nur ansatzweise nachempfinden, wie du dich fühlen musst, aber ich bin für dich da.“

Wieder zog ein Lächeln über ihr aschfahles Gesicht. „Ich danke dir, mein Freund. Aber wieso lässt mich dieses Schiff nicht los? Wieso holen diese Geister mich jedes Jahr ein?“

Alvin spürte Mathildas Verzweiflung, fand jedoch keine passenden Worte. Er hielt ihr weiterhin die Hand, in der Hoffnung, sie würde sich ein Stück weit beruhigen. „Es wirkt auf mich, als sei die alte, unbeschwerte Mathilda damals mit dem Schiff gesunken. Du warst nach diesem schrecklichen Untergang alleine in der Welt und genau das ist ein Fehler gewesen. Ich kann verstehen, dass du allein sein wolltest, aber nicht Jahrzehnte lang.“

Mathilda wandte sich ab von ihm. Ihr Blick ging ins Leere, aber dennoch wirkte sie plötzlich ziemlich klar. Als hätte es diese Panikattacke vor wenigen Minuten niemals gegeben. „Ja, du hast auf seltsame Art und Weise durchaus Recht. Damals bin ich mit untergegangen, und doch bin ich noch hier“, sagte sie heiser, und Alvin gefiel der Unterton in dieser Stimmlage keinesfalls.

Er hielt ihre Hand so fest, wie er nur konnte. Beinahe so, als wolle Alvin seine gute Freundin Mathilda vor dem Ertrinken bewahren. Nur war die Frage – wollte sie überhaupt noch gerettet werden?
„Millie, hör auf so zu sprechen. Es gibt bestimmt einen Ausweg aus der Einsamkeit. Vielleicht verreisen wir beide mal? Irgendwohin. Weg von diesem Ort“, versuchte Alvin einen Vorschlag zu machen.

Allerdings erntete er von Mathilda nur ein müdes Lächeln, das so schnell von ihrem Gesicht verschwunden, wie es aufgetaucht war. „Alvin, ich danke dir. Aber wenn ich hier fortgehe, dann nur noch an einen Ort.“ Mathilda schien merkwürdig gefasst zu sein.

Alvin erschauderte. Er ahnte, was sie damit meinte. Und er wusste auch, dass sie sich keineswegs von ihm umstimmen ließ. „Ich verstehe dich, glaub mir. Aber es schmerzt.“

Für einen ziemlich langen Augenblick saßen die beiden einfach nur am Boden und starrten vor sich hin. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – wobei es sich um ein und dasselbe Thema drehte. Mathilda löste ihren Blick von ihrer Tapete und schenkte ihre Aufmerksamkeit Alvin. Der saß noch immer wie ein Fels neben ihr – stark und unbeweglich. Nur sein Gesichtsausdruck passte nicht zu seiner Körperhaltung. Zu sagen, er wäre geschockt, wäre untertrieben. Hinter Alvins Stirn arbeitete und seine Gedanken schrien sie förmlich an, aber das war Mathilda egal. Sie war Alvin dankbar, dass er so zu ihr hielt und ihr auch jetzt keine Vorwürfe ins Gesicht schleuderte.

„Edith, es ist nur zu deinem Besten. Ich verstehe nicht, warum du so stur bist. Wir möchten dir alle nur helfen. Dir geht es von Tag zu Tag schlechter und ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich aufgibst.“

„Darf ich dich um etwas bitten?“, zog Mathilda nun seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Augenblicklich erwachte Alvin aus seiner Starre. Er schüttelte den Kopf, als wolle er die wirren Gedanken loswerden. Dann sah er sie an. Mathilda glaubte, in seinen braunen Augen ihr eigenes Spiegelbild sehen zu können. „Natürlich doch, Millie. Was brauchst du?“, fragte er.

„Wenn die Zeit gekommen ist, dann lass mich gehen. Bitte, halte mich nicht hier fest.“ Diese Bitte rutschte voller Stärke über ihre Lippe. Kein Wackeln, kein Zittern, keine Angst. Nur Stärke und Entschlossenheit.

Alvins Augen wurden noch eine Spur größer und der Ausdruck darin ungläubig. Vermutlich hatte er nicht mit einer solchen Bitte gerechnet. Doch anstatt ihr Vorwürfe zu machen, nickte er nur. „Du hast mein Wort“, versicherte Alvin.

Mathilda lächelte ausgeglichen. Sie war froh mit Alvin gesprochen zu haben. Im Moment spürte sie eine Welle der Erleichterung und gleichzeitig war da die altbekannte Kälte, die erneut ihre gierigen Hände nach ihr ausstreckte.
Mathilda war müde. Die letzte Nacht steckte ihr noch in den Gliedern und die Tablette, die sie zuvor eingeworfen hatte, half nicht, um wach zu bleiben.

„Alvin, ich weiß, dass du dir Sorgen machst.“ Liebevoll klopfte sie auf sein Knie. „Aber würdest du mich jetzt alleine lassen? Ich bin schrecklich müde und möchte nur schlafen.“

„Sicher doch. Ich lass dich schlafen.“ Er betonte den letzten Satz so sehr, dass es Mathilda direkt ins Herz schnitt. Sie wusste, dass Alvin sie hier behalten wollte.

Während Alvin sich mühsam auf die Beine rappelte, überlegte Mathilda. „Alvin, warte noch einen Moment.“ Sie griff erneut in die offene Schublade und zog einen Schlüssel heraus, den sie ihrem guten Freund reichte. „Hier! Das ist der Ersatzschlüssel für die Eingangstüre. Vielleicht brauchst du ihn irgendwann.“

Irritiert nahm Alvin den Schlüssel an sich. „Ich werde ihn sicher verwahren“, versprach er ihr und schob ihn in seine Jackentasche.

Mathilda konnte in seinem Gesicht genau erkennen, dass er noch immer verwirrt, ängstlich und erschrocken war. Sie nahm es ihm keinesfalls übel – nein, sie verstand ihn sogar. Würden sie in vertauschten Rollen leben, ginge es Mathilda wahrscheinlich nicht anders. Aber sie wusste auch, dass Alvin es irgendwann verstehen würde.
Es gab keinen Ausweg aus dieser düsteren Spirale. Sie hatte es selbst in der Hand, wenn der liebe Gott sie nicht erlösen wollte.

Erneut war Mathilda in ihren trüben Gedanken so sehr gefangen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie Alvin sich verabschiedet hatte. Erst als die Türe ins Schloss fiel, bemerkte Mathilda seine Abwesenheit. Auf einmal wirkte dieses Haus wieder leerer denn je. Ihr alter Freund – die Einsamkeit – kam zurück.
Ächzend zog sich Mathilda wieder auf ihre Beine. Ihr Bett schrie nach ihr, obwohl es erst auf die Mittagszeit zu ging. Aber Mathilda konnte nicht mehr – ihr Körper verlangte nach Ruhe und Mathilda gab dem nach. Müde kroch sie unter ihre Bettdecke und zog diese komplett über ihren Kopf. Doch die Ruhe hielt nicht lange, denn die Stimmen kamen wieder zurück.

Edith schien noch etwas sagen zu wollen.

„Du erdrückst mich mit deiner Fürsorge, Millie. Bitte lass mich in Ruhe. Ich möchte nur schlafen. Geh jetzt!“
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