Als der Traum noch lebte
von WaterSpirit
Kurzbeschreibung
Sobald die alte Mathilda Briscom die Augen schließt, befindet sie sich wieder an Bord der Titanic und in den Armen ihres Offiziers: Im Jahr 1912 begleitet die reiche Mathilda ihre ebenso vermögende Freundin nach Amerika. Zwei wohlhabende Frauen, denen es rein äußerlich gesehen an nichts fehlt. An Bord der Titanic wollen die Freundinnen nur ihre Freiheit, den Luxus und gute Gesellschaft genießen. Niemals hätte Mathilda sich erträumen lassen, auf dem Schiff auch der Liebe ihres Lebens zu begegnen. Für Mathilda könnte das Leben auf dem größten Schiff der Welt nicht schöner sein. Doch was passiert, wenn plötzlich so etwas wie das Schicksal zum Gegner wird und die Karten neu mischt? Denn niemand erahnt zu dieser Zeit die herannahende Katastrophe.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
OC (Own Character)
Thomas Andrews
William M. Murdoch
03.11.2021
10.08.2022
12
67.338
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05.04.2022
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Wie betäubt bewegte sich Mathilda durch die verschlungenen Gänge, die sie zu dem Hospital führten, wo Dr. O'Loughlin bestimmt schon ungeduldig auf sie wartete. Mathilda war trotz der warmen Temperatur hier im Inneren eiskalt. Ihre Glieder waren taub, ihr Blick trübe. Dieser zuvor schöne Augenblick beim Tanzen war binnen einer Sekunde zerstört worden. Edith ging es nicht gut – was wenn es eine schlimme Krankheit war? Würde sie wieder gesund werden? War diese Reise ein Fehler gewesen? Oder würde es sogar Ediths Tod bedeuten? Mathilda wollte es sich nicht einmal ausmalen. Edith war eine so fröhliche, lebensfrohe Frau. Eine Krankheit durfte ihr Leben jetzt nicht zerstören. Mathildas Gebete mussten doch erhört werden.
Trotz ihres geistig abwesenden Zustandes rief sich Mathilda immer wieder in Erinnerung, dass sie die Wege durch das Schiff nicht alleine gehen musste. William Murdoch hatte Wort gehalten und gab ihr förmlich Geleitschutz. Da es um Mathildas Orientierung noch immer nicht zum Besten stand, war seine Anwesenheit sehr hilfreich. In höflichem Abstand lief er hinter ihr, schnappte sie mit einem sanften, aber beherzten Griff ein, zwei Mal am Arm, wenn Mathilda wieder den falschen Weg einschlagen wollte. Mathilda war jedoch so in Sorgen gefangen, dass ihr dieser Umstand nicht einmal mehr peinlich war. Selbst wenn sie es nicht zeigen konnte – sie war unendlich froh, William hinter sich zu wissen.
Kurz vor der Türe, die ins Hospital führte, bremste Mathilda ohne ersichtlichen Grund ab. Die Angst, was sie nun erfahren könnte, hielt sie davon ab, die Türe zu öffnen. Sie war wie erstarrt. Jedoch war William auch jetzt wieder zur Stelle. Behutsam legte er ihr eine Hand auf den Rücken, ehe er mit der anderen Hand klopfte und nach einem kernigen „Herein“ die Türe öffnete. Galant ließ er Mathilda den Vortritt, folgte ihr aber sogleich und schloss die Türe hinter sich.
Dr. O'Loughlin saß an seinem Schreibtisch über einer Akte, seine Stirn lag in Furchen und ehe er nicht den Bleistift beiseite gelegt hatte, hob er auch nicht den Blick. Er hob nur seinen Zeigefinger, um anzudeuten, dass er in einer Sekunde so weit war. Nun legte er den Stift zügig zur Seite, schlug die Akte zu und widmete sich den beiden Personen, die in gewissen Abstand zueinander vor seinem Tisch standen.
Dr. O'Louglin erhob sich von seinem Stuhl, der laut knarzte. „Miss Briscom, schön Sie zu sehen“, grüßte der Arzt die junge Frau und zog ihr einen Stuhl heran. Nun sah der Arzt zu dem Offizier, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. „Mr. Murdoch, gibt es Probleme?“
William schüttelte den Kopf. „Bisher nicht. Ich hoffe, das bleibt so.“ Der prüfende Blick des Arztes ließ den Offizier noch hinzufügen: „Miss Briscom schien mir etwas aufgelöst und abwesend zu sein, als sie mir über den Weg gelaufen ist. Daher hab ich ihr angeboten, sie hierher zu begleiten.“
Dr. O'Loughlin nickte verstehend. Er umkreiste seinen Schreibtisch und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. „Das empfinde ich als sehr lobenswert, Mr. Murdoch. Gut, dass Sie ein Auge auf unsere Passagiere haben“, lobte der Arzt. „Allerdings muss ich Sie jetzt darum bitten, zu gehen. Ich möchte mit Miss Briscom unter vier Augen sprechen.“
Selbstverständlich verstand Mr. Murdoch diese Bitte nur zu gut und war dabei, dieser Aufforderung nachzukommen, was von Mathilda direkt bemerkt wurde. Fast schon hektisch drehte sie sich zu ihm um. „Nein, das ist schon in Ordnung. Bitte, Mr. Murdoch, bleiben Sie hier.“ Ihre nächsten Worte galten Dr. O'Loughlin. „Bitte, er darf bleiben und es hören.“ Hoffnungsvoll und mit wild pochendem Herzen sah die junge Frau auf ihren Gegenüber.
Vollkommen irritiert zog Dr. O'Loughlin seine Augenbrauen zusammen. Die Hände hatte er ineinander gefaltet auf dem Tisch platziert und bedachte sowohl Mathilda, als auch Mr. Murdoch mit einem prüfenden Blick. Er schien zu merken, dass hier etwas im Busch war, jedoch war er mit solch gutem Anstand gesegnet, es nicht anzusprechen. Stattdessen gab sich der Arzt geschlagen und sagte: „Von mir aus. Es ist Ihre Entscheidung.“
Mathilda war nun gleichzeitig erleichtert und schrecklich angespannt. Nur Williams Anwesenheit beruhigte sie ein wenig, daher wollte sie auch nicht, dass er ging. Dr. O'Loughlin hatte derweil einen besorgten Blick aufgelegt, weswegen Mathilda nervös fragte: „Aus welchem Grund wollten Sie mich sprechen? Es geht um Edith, nicht wahr?“
In der Hoffnung, er würde den Kopf schütteln, knetete Mathilda angestrengt ihre Hände. Allerdings tat ihr der Arzt diesen Gefallen nicht – er nickte langsam. „Tatsächlich geht es um den Zustand Ihrer Freundin“, erwiderte Dr. O'Loughlin und schob einen besorgten Seufzer hinterher. „Ich hatte sie jetzt schon öfter zur Untersuchung hier und mir ist da etwas aufgefallen.“
Ein tiefer Atemzug von Mathilda folgte. „Sie ist krank, oder? Also, ich meine – ernsthaft krank“, schlussfolgerte sie. In ihrem Hals bildete sich ein dicker Knoten und hinderte sie vehement am Atmen.
„Nun ja, ich habe die Vermutung, dass Ihre Freundin unter einer Primärtuberkulose leidet. Diese Art der Tuberkulose befällt fast ausschließlich die Lunge“, eröffnete ihr Dr. O'Loughlin direkt, und Mathilda wäre dabei am liebsten vom Stuhl gekippt. William Murdoch war jedoch auch hier gleich zur Stelle und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Mathilda war an diesem Tag schon einmal mit dieser gefährlichen Lungenkrankheit konfrontiert worden. Niemals hätte sie geglaubt, noch einmal am heutigen Tag davon zu hören. Es erschien ihr so weit weg.
Mathilda presste angespannt die Lippen aufeinander. Einen kurzen Moment zuckte ihre Hand, da sie nach Williams Hand greifen wollte, rief sich jedoch in Erinnerung, hier nicht alleine mit ihm zu sein. Doch es beruhigte sie zutiefst, die Ruhe, die er ausstrahlte, zu spüren. „Und Sie sind sich da sicher?“, fragte sie leise und kam sich noch in derselben Sekunde unendlich dämlich vor, einen Arzt seines Rufes eine solche Frage zu stellen.
Dr. O'Loughlin nahm es ihr in seiner väterlichen Fürsorge nicht übel, sondern versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken. Mit ruhiger, fester Stimme begann er zu erklären. „Bisher ist es nur eine Vermutung. Ich möchte das noch von einem Kollegen in den Vereinigten Staaten abklären lassen. Er ist ein Spezialist auf diesem Gebiet“, sprach er. „Mrs. McClary litt die letzten Tage unter Husten, Erschöpfung und war bei jedem Besuch hier im Hospital immer müde. Wir sollten die nächsten Tage darauf achten, ob Fieber, Appetitlosigkeit und nächtliche Schweißausbrüche dazukommen. Das sind die Symptome, die nach einer Infektion auftreten, und den Betroffenen auf die Krankheit aufmerksam machen.“
In ihrem Kopf durchwühlte Mathilda sämtliche Szenarien nach den angesprochenen Symptomen. Doch sie fand nichts. Edith hatte einen gesunden Appetit, wies kein Fieber auf und von Schweißausbrüchen hatte sie auch nie ein Wort erwähnt. Dies teilte sie dem Arzt umgehend mit. „Keine dieser Symptome ist bisher aufgetreten. Könnte sie sich hier auf dem Schiff angesteckt haben?“, wollte Mathilda besorgt wissen.
„Das bezweifle ich. Wenn es eine Primärtuberkulose ist, wovon ich stark ausgehe, dann treten die Symptome erst rund zwei Jahre nach der Infektion auf. Sie muss sich vor Jahren schon angesteckt haben.“ Dr. O'Loughlin erhob sich, die Hände verschränkte er hinter seinem Rücken, während er nachdenklich aus dem Bullauge nach draußen sah. „Ein gesundes Immunsystem kapselt die Erreger meist ein und schützt den Körper vor einer Ausbreitung. Ein schwaches Immunsystem hingegen hat da kaum eine Chance. Es bilden sich mit der Zeit Entzündungsherde, die meist in der Lunge oder den Lymphknoten auftreten. Besonders oft betroffen sind Menschen mit chronischen Erkrankungen, wie Ihre Freundin Edith, oder Patienten nach einer Transplantation.“
Der Druck von Williams Hand auf ihrer Schulter wurde fester, ehe er sie zurückzog. Mathilda warf einen kurzen Blick zu ihm nach hinten. In gewohnt stattlicher Haltung stand William nur eine Armlänge entfernt. Er schien dem Arzt ebenfalls genau zuzuhören.
„Gibt es bei dieser Art der Tuberkulose denn eine erhöhte Ansteckungsgefahr?“ Diese Frage kam von William Murdoch, der einen besorgten Gesichtsausdruck aufwies.
Dr. O'Loughlin schien nicht überrascht zu sein, dass eine solche Frage von ihm kam. Als Führungsoffizier war er schließlich nicht nur für den reibungslosen Ablauf der Fahrt und der Koordinierung des Schiffes zuständig, sondern auch für die Sicherheit der Passagiere – dies schloss eine Krankheit mit ein.
„Tuberkulose ist zwar nicht so ansteckend wie andere Infektionskrankheiten, allerdings überträgt sich eine offene Tuberkulose ziemlich schnell durch Tröpfchen in der Atemluft. Dies nimmt die Primärtuberkulose aber meist aus. Betroffen sind hauptsächlich Ehepartner oder Familienmitglieder, denen man ein Küsschen gibt oder auf ähnliche Weise nahe kommt, verstehen Sie? Durch den Speichel wird die Krankheit dann meist übertragen. Zumindest ist das mein bisheriger Stand des Wissens. Ich warte noch auf ein Telegramm meines amerikanischen Kollegen, dann kann ich Ihnen mehr darüber sagen“, sprach Dr. O'Loughlin deutlich und sehr ausführlich.
„Unser Umgang beschränkt sich auf Umarmungen und Gespräche, aber – könnte ich mich dennoch angesteckt haben?“ Mathilda klang besorgter als beabsichtigt.
„Das bezweifle ich sehr stark, aber wir dürfen nichts ausschließen. Sie hätten sich vor Jahren schon bei Ihrer Freundin anstecken können. Mrs. McClary ist mit einer chronischen Lungenkrankheit bestraft und selbst bei ihr treten erst jetzt Symptome auf. Sie, Miss Briscom, erscheinen mir kerngesund. Weswegen Sie im Falle einer Ansteckung keine Angst vor einer Ausbreitung haben müssten. Kurz gesagt – hätten Sie sich damals angesteckt, hätte Ihr gesundes Immunsystem die Krankheit vermutlich längst bekämpft“, nahm der Arzt ihr ein wenig die Angst. „Ich würde Ihnen aber dennoch eine Untersuchung empfehlen.“
Mathilda nickte abwesend. In ihrem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Edith litt unter einer Tuberkuloseart von der Mathilda noch nie etwas gehört hatte. Diese Nachricht war einerseits höchst erschreckend, aber auf der anderen Seite hatte sie nun ein wenig Klarheit, sodass die Krankheit behandelt werden konnte. „Doktor, wie können wir ihr helfen? Was kann ich tun?“, war nun Mathildas nächste Frage.
„Ich werde ihr ein Medikament verschreiben. Das sollte ihr für die nächsten Stunden und Tage helfen. Sie müssen unbedingt darauf achten, dass sie diese fleißig einnimmt. Wir sollten zudem die Personen, die Zugang zu ihr haben, begrenzen.“ Dr. O'Loughlin überlegte.
Unterdessen wechselte Mathilda einen besorgten Blick mit William, der genauso sorgenvoll erschien, wie sie selbst. Sie konnte förmlich spüren, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sicherlich wollte er Mathilda beistehen, aber auf der anderen Seite war die Angst vor dieser Krankheit greifbar.
„Neben meiner Person sollte noch jemand da sein, der ihr helfen könnte“, sprach Mathilda laut aus.
Dr. O'Loughlin nickte zustimmend. „Ich würde sagen, dass wir beide und vielleicht noch eine dritte Person für Mrs. McClary da sein sollten.“ Sein Augenmerk traf Mr. Murdoch, der jedoch leicht den Kopf schüttelte, wie Mathilda bemerkte. Dr. O'Loughlin sprach daraufhin weiter: „Wir werden schon noch jemanden finden, seien Sie unbesorgt, Miss Briscom. Sie sollten allerdings jetzt einige Dinge beachten“, er schritt um seinen Schreibtisch herum, „Mrs. McClary sollte sich nur noch in ihrem Schlafgemach aufhalten. Die Mahlzeiten muss sie dort einnehmen. Ich werde veranlassen, dass ihr jeden Tag drei Speisen gebracht werden – früh, mittags, abends. Wenn Sie, Miss Briscom, sich ihr nähern, sollten Sie unbedingt einen Mundschutz tragen. Ich werde Ihnen einen mitgeben. Passen Sie jedoch trotzdem auf, dass Sie gebührenden Abstand zu ihr halten. Denken Sie daran, auf die Symptome zu achten. Sollte unsere Patientin allerdings einen blutigen Auswurf beim Husten haben, dann...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.
„Dann kommt jede Hilfe zu spät?“ Mathilda hatte es zwar als Frage formuliert, wusste aber genau, was dieser Satz des Arztes bedeutete.
Der eindringliche Blick, den ihr Dr. O'Loughlin zuwarf, wurde nur noch von dem besorgten Gesichtsausdruck von William Murdoch übertroffen. Beide Männer wussten, dass in solch einem Fall wahrscheinlich jede Hilfe zu spät kommen würde. In diesem Augenblick wurde das selbst Mathilda bewusster denn je. Der Arzt mit dem weißen Schnurrbart registrierte ihren bedrückten Gesichtsausdruck und meinte ausweichend: „Davon ist ja bisher nichts zu sehen. Wir sollten nur darauf achten, Mrs. McClary warm zu halten. Die Kabine darf nie auskühlen, ihr sollten ein paar zusätzliche Decken bereit gestellt werden und warme Getränke müssen dauerhaft für sie bereitstehen.“
Hinter Mathilda kam nun wieder Bewegung in Offizier Murdoch. „Ich werde dies sofort veranlassen, Dr. O'Loughlin. Ich werde auch die Küche wegen der Mahlzeiten benachrichtigen“, mischte sich Mr. Murdoch ein. „Dr. O'Loughlin, Miss Briscom – ich empfehle mich.“ Er nickte vornehm und verließ eilig den Behandlungsraum.
Mathildas Herz durchfuhr ein Stich, während sich unter ihrem traurigen Blick die Türe schloss. Sie hoffte inständig, dass er nur besorgt um Ediths Zustand war und sich deshalb so schnell auf den Weg gemacht hatte. Trotzdem hinterließ er eine Lücke und Mathilda fühlte sich plötzlich unwohl. William hatte ihr stets das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Nun war dieser Schutz von einer Sekunde auf die andere weg. Oder es war etwas anderes – mit einem Mal wurde Mathilda übel. Tuberkulose wurde durch Speichel übertragen – durch Küsse! Vielleicht hatte er einfach nur Angst, sich bei Mathilda angesteckt zu haben, falls sie im schlimmsten Fall unter dieser Krankheit leiden sollte. Mathilda standen Tränen in den Augen. Garantiert würde er sie nun nicht einmal mehr ansehen und dieser Gedanke brach ihr das Herz.
„Mr. Murdoch ist ein vorbildlicher Mann. Wir können uns glücklich schätzen, ihn hier an Bord zu haben“, merkte Dr. O'Loughlin an, wobei eine seltsame Tonlage in diesem Satz mitschwang. Er stand nun direkt neben ihr und sah mitfühlend auf sie herab.
Eilig tupfte Mathilda die Tränen unter ihren Augen mit ihren Handschuhen weg. Ihr war schon vorhin aufgefallen, dass Dr. O'Loughlin sie und den Offizier mit einem eigenartigen Blick betrachtete. Es würde sie nicht wundern, wenn der kluge Mann längst zu merken schien, dass sie Gefühle für den Führungsoffizier hegte. Daher kam ihre Antwort sehr ausweichend. „Alle Offiziere an Bord erledigen ihre Aufgaben hervorragend. Genauso wie Sie, Doktor.“ Und so meinte sie es auch, während sie dankend die Hand des Mannes ergriff. „Danke, dass Sie Edith so gut versorgen und sich um ihre Gesundheit bemühen.“
Der Arzt tätschelte liebevoll ihre Hand. „Mein Gott, wenn das doch nur genug wäre. Wenn ich doch nur mehr tun könnte.“ Einen Moment schwieg er, ehe er bedeutsam hinzufügte: „Ich werde Sie nun erst einmal gründlich durchchecken, um eine mögliche Krankheit ausschließen zu können. Danach bringen wir beide Mrs. McClary zurück in die Kabine. Sie ruht sich im Moment noch in einem Nebenraum aus.“
Ediths Begeisterung über Dr. O'Loughlins Maßnahmen hielt sich in Grenzen, doch als kluge Frau, fügte sich Edith und sah ein, dass es notwendig war. Mathilda und Dr. O'Loughlin eskortierten Edith auf schnellstem Wege zurück zur Kabine – und zwar so, dass sie nur von den wenigsten Menschen gesehen wurden. Edith machte dabei einige Scherze, um Mathilda wieder ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, doch es gelang nicht. In Mathildas Kopf herrschte ein schlimmeres Chaos als ein Hurrikan auf dem Festland je hinterlassen konnte. Irgendwann gab es Edith auf, obwohl sie noch immer darum bemüht war, fröhlich zu wirken. Trotzdem konnte Mathilda an den traurigen Augen ihrer Freundin erkennen, dass sie panische Angst vor dieser Krankheit hatte. Mathilda konnte es ihr nicht verübeln.
In ihrer Kabine angekommen bemerkte Mathilda, dass William Murdoch Wort gehalten hatte. Auf Ediths Bett lagen mehrere Decken bereit und direkt daneben stand ein Servierwagen mit heißem Tee. Offensichtlich war dieser gerade eben erst vorbeigebracht worden.
Dr. O'Loughlin schien davon erfreut zu sein, stellte nochmal sicher, dass Edith versorgt war und wandte sich dann zum Gehen um. An der Türe versicherte Mathilda ihm eindringlich, sich gut um Edith zu kümmern. Der Arzt erklärte ihr daraufhin, dass er gegen Abend nochmal nach ihr sehen würde. Mathilda nickte verständnisvoll und schloss leise die Türe.
Ediths abgrundtiefen Seufzer konnte Mathilda sogar bis zu ihrem momentanen Standpunkt hören. Mathilda setzte sich wieder in Bewegung und als sie in Ediths Schlafzimmer kam, saß diese auf der Bettkante und goss sich gerade eine Tasse Tee ein. Sicherheitshalber blieb Mathilda im Türrahmen stehen, den Mundschutz hielt sie fest in ihrer Hand.
„So schön diese Kabine auch ist, aber ich hatte nicht gedacht, dass sie zu meinem Gefängnis wird“, keuchte Edith erschöpft und begann nach einem Schluck Tee erneut zu husten.
„Sag sowas nicht. Es dient nur deinem Schutz“, merkte Mathilda ernst an.
„Du meinst – euer aller Schutz, oder?“ Edith klang zwar nicht wütend, dennoch war eine anklagende Nuance in ihrer Stimmlage herauszuhören. Sie besann sich jedoch eines besseren und fügte freundlicher gestimmt hinzu: „Wenigstens habe ich dich nicht angesteckt.“
Darüber war auch Mathilda sehr froh. Dr. O'Loughlin hatte sie gründlich untersucht, um eine Infektion auszuschließen. Glücklicherweise war dem Arzt nichts dergleichen aufgefallen. Mathilda war kerngesund, genau wie er es erwartet hatte. Dennoch durfte Mathilda nun nicht nachlässig werden. Sie musste sich, Edith und alle anderen schützen. „Benötigst du noch etwas? Ich könnte dir ein paar Bücher aus dem Lesezimmer holen“, gab sich Mathilda versöhnlich. Sie wollte nicht mit Edith streiten, schon gar nicht, wenn es um die Gesundheit ging.
Edith überlegte einen Augenblick. Dabei starrte sie nachdenklich in ihre Teetasse und rührte langsam ihre Kreise darin. „Ein Buch wäre sehr schön“, sagte sie dann. „Könntest du der Küche ausrichten, dass ich heute Abend gerne Wildlachs zum Essen hätte? Das würde mich freuen.“
Mathilda beäugte ihre Freundin mit sorgenvollem Blick. „Sicher, ich gebe es gerne weiter. Aber nun hole ich dir erst einmal ein Buch“, meinte Mathilda, die längst bemerkt hatte, wie abwesend Edith wirkte. „Wieder eine schrecklich, langweilige Liebesgeschichte?“ Sie schob eine humorvolle Note unter den letzten Satz und es zeigte Wirkung – zumindest dezent.
Pikiert hob Edith den Kopf und zog kokett eine Augenbraue nach oben. „Ich lese keine langweiligen Bücher. Gib dir Mühe bei der Auswahl“, erwiderte die Frau mit den braunen Locken. Sie wirkte um die Nase herum ziemlich blass. Offenbar waren die letzten Tagen nicht spurlos an ihr vorbeigegangen.
Ediths Anblick schmerzte Mathilda. In ihrem Brustkorb zog sich alles bitter zusammen. Zwar wusste Mathilda um Ediths Zustand, der schon jahrelang anhielt, doch jetzt, da es sie wussten, was genau ihr fehlte, war es um einiges schmerzhafter.
„Ich bin bald wieder zurück“, merkte Mathilda noch an, ehe sie die Kabine verließ.
Gedankenverloren schritt Mathilda über den weichen Teppichboden, der durchläufig in den Gängen ausgelegt war, hinweg und kam nicht drum herum, Edith für ihren Zustand zu bemitleiden. Allerdings wusste Mathilda auch, dass Edith Mitleid für ihre eigene Person zuwider war und nicht gerne die Opferrolle zugeschoben bekam. Sie mussten nun positiv denken – garantiert würde sich alles wieder zum Guten wenden.
Mathilda nahm eine gerade Haltung an, atmete tief durch und straffte die Schultern. „Es wird alles gut werden“, feuerte sie sich gedanklich selbst an. Jetzt musste sie zuerst das Lese- und Schreibzimmer ohne fremde Hilfe finden. Dank Edith, die schon gefühlt tausende Male in diesem Zimmer gewesen war, wusste Mathilda zumindest, dass sie auf das A-Deck gehen musste.
Nach einer Fahrt im Lift und einem kurzen Fußmarsch stand sie schließlich vor der gesuchten Räumlichkeit. In dem helleingerichteten Raum fand die junge Frau zwei weitere Damen vor, die gemeinsam an einem Tisch saßen. Eine von ihnen brachte eifrig ein paar Worte zu Papier. Der Stift flog dabei nur so über das Blatt. Unterdessen saß die andere Frau selig lächelnd in einem Sessel und war gedanklich versunken in einen Roman. Sicherlich einer, den auch Edith lesen würde.
Der Raum war schlicht gehalten. Helle Möbel, rosafarbene Vorhänge, einige Pflanzen und ein kleines Regal, in dem einige Bücher lagen. Mathilda schritt lautlos auf das Regal zu und überflog die Titel der Bücher. Zwar hatte sie keine Ahnung, welche Bücher davon Edith schon gelesen haben könnte, aber sicherlich war ihre Freundin ihr nicht böse, wenn sie einen bereits bekannten Roman mitnehmen würde. Der Wille zählte schließlich.
Mathilda hatte sich schließlich für zwei Bücher entschieden, verabschiedete sich höflich von den anderen Damen und verließ den Raum wieder. Um vor dem Abendessen noch ein wenig Zeit mit Edith verbringen zu können, beeilte sich Mathilda zurück in die Kabine zu kommen. Sie war gerade dabei, in den nächsten Gang abzubiegen, als eine auffällig laute Stimme sie in ihrem Gang stoppte.
„Miss Briscom, haben Sie eine Minute?“
Augenblicklich blieb Mathilda stehen und wandte sich um. Mittlerweile konnte sie selbst diese Stimme zuordnen. Automatisch begann sie zu lächeln, als sie erkannte, dass sie Recht hatte. Der Zweite Offizier Charles Lightoller schritt mit gewohnt strenger Miene auf sie zu und seinem Blick nach zu urteilen, schien er ziemlich unentspannt zu sein. Mathilda sollte den Grund ziemlich schnell erfahren.
„Mr. Lightoller? Sie wollen zu mir?“, fragte Mathilda so unschuldig und höflich, wie es ihr nur möglich war. Offensichtlich war Offizier Lightoller nicht freiwillig hier unterwegs.
Der große Mann kam kurz vor ihr zum stehen und stieß im selben Augenblick einen tiefen Seufzer aus. Es klang aber weder genervt noch erleichtert. Mathilda war irritiert.
Charles Lightoller griff in seine Jackentasche und fischte einen Zettel hervor. Mit einer schwungvollen Handbewegung hielt er ihr diesen nun entgegen.
„Ich möchte Ihnen dasselbe sagen, wie ich es auch schon Will sagte“, begann er verheißungsvoll. „Ich bin hier nicht der Briefträger!“
Nun konnte Mathilda ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Trotz seiner strengen und teils mürrischen Art war ihr der Mann nicht unsympathisch. Vor allem gehörte er zu Williams Freunden und demnach konnte dieser Mensch nur fabelhaft sein. Was ihr William jedoch in Briefform mitteilen wollte, ahnte Mathilda nicht. Ein wildes Auf und Ab in ihrem Inneren entstand.
„Hätte ich das gewusst, wäre ich Ihnen auf halbem Wege entgegen gekommen, aber da es um meine Orientierung nicht gut steht....“ Mathilda ließ ihren Scherz auf halber Strecke unausgesprochen.
Endlich regte sich auch etwas im Gesicht des Zweiten Offiziers. Er zog schelmisch einen Mundwinkel nach oben, während Mathilda das Stück Papier ergriff. „Was tut ein Mann nicht alles für eine junge Liebe?“, merkte er an, wobei es mehr nach einer Feststellung als einer Frage klang.
Verräterisch biss sich Mathilda auf die Lippe. Dass Charles Lightoller von ihr und William wusste, war längst keine Überraschung, da er doch zu den engsten Freunden von William Murdoch zählte. Aber dennoch fragte sie sich, was William ihm alles erzählt hatte und in welchem Umfang. Mathilda kostete es allerdings enorme Überwindung, nicht rot zu werden. „So, Sie haben also nichts besseres zu tun?“, wagte Mathilda einen Konter, der allerdings im nächsten Moment gnadenlos schiefging.
„Wenn ich meinem guten Freund zu ein wenig Glück verhelfen kann, dann sicherlich nicht“, erwiderte Charles Lightoller und tatsächlich schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht, als er Mathildas entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte. Allerdings entschärfte er die Situation gleich wieder und schob fast schon liebevoll hinterher: „Das darf ruhig gesagt werden. Immerhin führen wir Seeleute auch kein leichtes Leben und da ist es schön, wenn jemand von uns einen Menschen findet, der das versteht und hinter die strenge Maske sieht.“
Mathilda erlaubte sich einen Moment und dachte über seine Worte, die ihr sehr imponierten, nach. Dass der Mann Lebenserfahrung zu haben schien, war unbestreitbar, aber eine solch nachdenkliche und ernste Aussage tätigen? Das hätte sie ihm ehrlicher Weise nicht zugetraut.
„Das haben Sie wirklich sehr schön gesagt“, merkte Mathilda an. „In der heutigen Zeit ist es ohnehin schwierig, jemanden zu finden, der nicht auf Wohlstand und Rang aus ist.“
„Ausnahmen bestätigen die Regel, oder nicht?“ Charles Lightoller schien sie eindringlich zu mustern.
„Dem stimme ich zu. Sagen Sie – darf ich Sie etwas persönliches fragen?“ Mathilda musste die Gunst der Stunde nutzen. Im Moment schien der Zweite Offizier, der William so nahe stand, sehr gesprächig und überhaupt nicht in Eile zu sein.
Für einen Moment schwieg er und schien abzuwägen, ob er ihr antworten wollte. „Sicher doch, aber bitte, gehen wir ein Stück. Ich verdiene mir mein Geld schließlich nicht mit Herumstehen“, antwortete er ihr schließlich und deutete vornehm mit einer Hand in Richtung Treppenhaus.
Ein zustimmendes Nicken Mathildas folgte. Mit den Büchern unter dem Arm leistete sie der höflichen Aufforderung Folge und schritt an der Seite des Zweiten Offiziers durch die nächste Türe. Als Gentleman öffnete er ihr die Türe und ließ der Dame den Vortritt. Vorbei an Ölgemälden und vergoldeten Deckenlampen schritten sie die Treppen hinab und Mathilda war gewillt, nachzufragen, wohin sie nun gingen. Allerdings kam der Offizier ihr zuvor und erklärte: „Ich muss beim Zahlmeister auf dem C-Deck nach dem Rechten sehen.“
Mathilda wusste sogar, wo sich das Büro des Zahlmeisters befand. Immerhin hatten Edith und sie dort die Tickets für das Türkische Bad käuflich erworben. „Ich wollte Sie wirklich keineswegs von Ihrer Arbeit abhalten. Ich kann auch zurückgehen und wir unterhalten uns zu einem anderen Zeitpunkt“, bot Mathilda an, die schon auf der Treppe stehen blieb.
Mr. Lightoller tat es ihr gleich. Er stand wenige Stufen unter ihr und blickte nun verwundert über seine Schulter. Er schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich hätte Ihnen wohl kaum angeboten, mitzukommen, wenn ich derart in Eile wäre“, versicherte er ihr und winkte sie mit der Hand heran. „Jetzt kommen Sie schon – Sie wollten mir doch eine persönliche Frage stellen.“
„Das wollte ich, ja!“ Sofort setzte sich Mathilda wieder in Bewegung, um mit dem flotten Gang des Offiziers mitzuhalten.
„Wenn es um Will geht, dann werde ich mich auf meinen Status als guter Freund berufen und bin der Verschwiegenheit verpflichtet“, meinte Charles Lightoller eindringlich. „Ich werde hinter seinem Rücken nicht über ihn sprechen.“
Anerkennend nickte Mathilda, was eigentlich eine dumme Geste war, da sie ein paar Schritte hinter Charles Lightoller lief und dieser sie nicht sehen konnte. „Sie scheinen ein guter Freund zu sein“, sagte Mathilda schließlich, die nun wieder auf Augenhöhe mit ihm lief. „Aber nein, ich wollte Sie keineswegs über Will ausfragen. Ich wollte lediglich wissen, ob Sie denn verheiratet sind?“
Charles Lightoller schien nun komplett aus der Fassung zu fallen, denn er stoppte abrupt in seinem Gang. Die Augen überrascht aufgerissen und die Kinnlade klappte ihm wortwörtlich hinab. Die Verwirrung stand ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben, und Mathilda verspürte einen hämischen Stolz, ihn so überrascht zu haben.
„Wie bitte? Ob ich verheiratet bin?“, brachte er hervor. Offensichtlich war er eine solch offene Frage einer Dame ihrer Gesellschaft nicht gewohnt.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen damit zu nahe trete, aber ich bin einfach von Natur aus neugierig.“ Mathilda setzte erneut ihr schönstes Lächeln auf. Sie wusste ja selbst, wie aufdringlich diese Frage sein musste.
Doch der großgewachsene Mann schien keineswegs empört zu sein. Stattdessen schlich sich nun Neugierde auf seine Gesichtszüge. „Um Ihre Frage zu beantworten – ja, ich bin seit fast neun Jahren mit meiner Frau Sylvia verheiratet“, beantwortete er ihr die Frage schließlich.
Inzwischen hatten die beiden ihren Gang wieder aufgenommen und schritten hinab zum C-Deck. Mathilda lächelte selig. „Das freut mich zu hören. Wie haben Sie beide sich kennengelernt?“, bohrte sie weiter nach.
Nun lachte Charles Lightoller charmant. „Genau so, wie Sie und Will sich kennengelernt haben – während einer Überfahrt“, eröffnete er ihr mit einem Schmunzeln. „Damals waren wir auf dem Weg in Richtung Australien. Auf der Suevic habe ich dann diese junge Dame getroffen und mich sofort verliebt. Wir haben auch nicht lange gefackelt und gleich in Sydney geheiratet.“
Mathilda kicherte verzückt. „Wirklich? Dann waren Sie sich innerhalb weniger Tage sicher, die Richtige gefunden zu haben?“ So sehr sie Ediths kitschige Romane auch immer verspottete, so sehr liebte Mathilda aber auch echte Liebesgeschichten – eben solche, wie die von Charles und Sylvia Lightoller. Es berührte sie, obwohl sie den einen nur flüchtig und die andere gar nicht kannte.
Charles sah sie nicht an, sondern blickte beinahe verträumt gerade aus. „Wissen Sie, manchmal sind es die wichtigsten Dinge, deren Klärung nur wenige Zeit bedarf. Wir waren uns damals einfach sicher und ich habe es bis heute nicht bereut“, erklärte Mr. Lightoller stolz und obwohl Mathilda ihm nicht direkt ins Gesicht sehen konnte, so war das verliebte Glitzern in seinen Augen nur überdeutlich. Hinter der rauen Schale des ordnungsliebenden Offiziers versteckte sich also ein liebender Ehemann. Mathilda gefiel es.
„Ihre Frau kann sich sehr glücklich schätzen“, bemerkte Mathilda ehrlich. Mittlerweile waren sie am Büro des Zahlmeisters angekommen und stoppten dort.
„Ich kann mich glücklich schätzen. Immerhin stärkt mir Sylvia stets den Rücken, gibt mir einen Grund wieder nach Hause zu kommen und ist nach all den Jahren mein sicherer Hafen in dieser unruhigen Welt geworden“, sprach Charles Lightoller mit voller Überzeugung. Sein Gesicht nahm wieder härtere Züge an. „Aber jetzt raus mit der Sprache – weswegen wollten Sie das wissen? Doch nicht etwa, weil Sie an meiner Person interessiert sind.“ Im letzten Satz schwang eine humorvolle Note mit.
„Bin ich nicht, nein. Ich habe deshalb gefragt, weil ich wissen wollte, ob eine Beziehung auf dieser Basis funktionieren kann. Allerdings haben Sie mir die Frage durch Ihre Erzählung schon beantwortet.“ Mathilda drückte die Bücher enger an ihre Brust. Der Zettel, den ihr Mr. Lightoller ausgehändigt hatte, war bei dem Gespräch ziemlich in Vergessenheit geraten. Dennoch hielt Mathilda diesen fest in ihrer Hand.
Nun schien auch Charles Lightoller zu verstehen, was Mathilda mit ihrer Fragerei bezwecken wollte. Er sah sich kurz um und als er registrierte, dass nicht allzu viele Menschen hier waren, lachte er laut auf. „Aha, dann war das also eine Nachfrage, ob es mit Wills Beruf und einer Familie zusammenpassen kann. Liege ich da richtig?“, wagte er nun offen zu fragen.
Mit einer unwirschen Bewegung schob Mathilda verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Wenn Sie es so nennen möchten“, wisperte Mathilda scheu. Ihr Mut hatte sich zwischenzeitlich wieder verabschiedet und für einen Augenblick lang, schämte sie sich dafür, diesen Mann, den sie überhaupt nicht kannte, so auszufragen.
Doch Mr. Lightoller schien es ihr keinesfalls übel zu nehmen. „Es hängt natürlich immer von verschiedenen Faktoren ab, aber glauben Sie mir – es gibt keinen familiäreren Menschen als William Murdoch. Geben Sie ihm einfach den Halt und den sicheren Hafen, wie Sylvia mir.“ Charles Lightoller bedachte sie nun mit einem undefinierbaren Blick. „Will ist ein guter Kerl. Seien Sie sich dessen bitte bewusst.“
Mathildas Herz schlug wild gegen ihre Brust. „Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Und deswegen wollte ich sicher gehen. Danke für das Gespräch, Mr. Lightoller.“
Charles Lightoller schenkte ihr zum Schluss ein leichtes Lächeln. Er griff nach der Türklinke vom Büro des Zahlmeisters. Ehe er jedoch die Türe öffnete, erklärte er an Mathilda gewandt: „An Ihrer Stelle würde ich nun endlich den Brief lesen.“
Meine liebste Mathilda,
bitte verzeihe mir mein plötzliches Verschwinden bei Dr. O'Loughlin.
Selbstverständlich galt meine oberste Priorität, für deine Freundin Edith alles erdenklich mögliche in die Wege zu leiten. Aber um ehrlich zu sein, steckte auch mir der Schock im Bezug auf diese Krankheit in den Knochen.
Ich hoffe inständig, dass du trotz Ediths Abwesenheit ein Abendessen in einer heiteren Runde verbringen kannst. Ich würde dich sehr gerne wieder sehen und möchte dich darum bitten, mich nach meiner Schicht oben an Deck zu treffen. Genau dort, wo wir uns zum Schiffsrundgang getroffen haben.
Meine Schicht endet erst um neun Uhr. Ich hoffe, diese Zeit ist für dich noch annehmbar. Falls nicht, bin ich dir auch nicht böse. Mein Herz jedoch sehnt sich nach deiner Nähe und ich würde mir wünschen, dich wieder im Arm halten zu dürfen.
Ich werde auf dich warten, meine Liebste.
In Liebe,
Will
In einer ordentlichen, schwungvollen Handschrift waren diese bedeutsamen Zeilen auf das Papier gebracht worden. Zeilen, die Mathilda nun seit ihrem Gespräch mit Mr. Lightoller schon hunderte Male durchgelesen hatte. Zurück in ihrer Kabine hatte sie Edith die Bücher ausgehändigt – die sie tatsächlich noch nicht gelesen hatte – und kurz darauf den Zettel in Augenschein genommen. Verträumt hatte Mathilda das Blatt Papier schließlich an ihre Brust gedrückt und erleichtert aufgeseufzt, was von Edith direkt bemerkt wurde. Mathilda hatte sie daraufhin auch gleich eingeweiht und Edith den Brief vorgelesen.
Die Stunden vor dem Abendessen hatten die beiden Frauen mit ernsten Gesprächen verbracht. Obwohl es seltsam war, dass Edith im Bett saß und Mathilda weit entfernt in einer anderen Ecke des Zimmers, waren diese Gespräche notwendig gewesen.
Edith hatte es tunlichst vermieden, über die Krankheit zu sprechen, obgleich sie wieder ziemlich blass um die Nase herum schien und auch der Husten wieder an Stärke zu gewinnen schien. Stattdessen fragte die dunkelhaarige Frau nach Mathildas Begegnungen mit Mr. Murdoch und was es sonst noch für Neuigkeiten gab. Mathilda hatte ihr daraufhin alles erzählt – selbst von dem Gespräch mit Charles Lightoller. Für Mathilda hatte es gut getan, offen über alles zu sprechen, vor allem über ihr großes Glück, das sie mit William zu haben schien. So schön die letzten Stunden vor dem Abendessen auch gewesen waren, so sehr schmerzte es Mathilda, ihre Freundin alleine in dem Zimmer zurücklassen zu müssen. Jedoch war Edith zuversichtlich, dass es das beste für alle wäre und sie versicherte Mathilda, nicht zu vereinsamen, da ihr das Essen gebracht wurde, Dr. O'Loughlin nochmal vorbei sehen würde und sie ihre geliebten Bücher hätte.
Somit hatte sich Mathilda schweren Herzens alleine auf den Weg zum Dinner gemacht. Paradoxerweise konnte sie von Glück sprechen, dass die Nachricht von Ediths Zustand auch schon bei Mr. Andrews angekommen war – denn das bedeutete, dass er Mathilda direkt abfing und sie zum Dinner geleitete. Woher Mr. Andrews davon erfahren hatte, war ein offenes Geheimnis: Zu seinen engsten Bekannten gehörte immerhin Dr. O'Loughlin. Wahrscheinlich hatte sich der Arzt dem Konstrukteur anvertraut und Mathilda war sich sicher, dass Mr. Andrews ein Mann war, der diese brisanten Geheimnisse für sich behalten konnte. Sie vertraute darauf.
Das Dinner verlief ziemlich unspektakulär, was allerdings mehr daran lag, dass Mathilda mit den Gedanken ganz wo anders war. Einerseits dachte sie an Edith, die da alleine in der Kabine saß, aber andererseits war sie extrem ungeduldig. Konnte es nicht längst neun Uhr schlagen?
Natürlich hielt sich Williams vorgeschlagene Uhrzeit für sie noch im normalen Rahmen, weswegen sie gar nicht lange nachdenken hat müssen, ob sie zu diesem Treffen erschien oder nicht. Selbst wenn seine Schicht erst um Mitternacht zu Ende gegangen wäre, hätte sich Mathilda noch mit ihm getroffen. Ihre Aufregung stieg wieder ins Unermessliche. Zwar hatte sie den Offizier nun schon ziemlich oft getroffen, aber ihre verliebte Seele schien es zu genießen, die Hormone in Aufruhr zu versetzen.
Mathilda genoss dieses Gefühl der Vorfreude und so bekam sie von der langwierigen Börsengeschichte, die Mr. Guggenheim zum besten gab, glücklicherweise nichts mit. Sie hätte sich ohnehin an diesem Thema nicht beteiligen können. Von der Börse hatte sie schlicht und ergreifend keine Ahnung. Ein Blick zu seiner Begleitung Léontine Aubart verriet ihr allerdings, dass auch sie kein Interesse an dieser Geschichte zu haben schien. Die französische Sängerin, die den millionenschweren Mann auf der Überfahrt begleitete, wirkte desinteressiert und so wie sie aussah, hätte sie jetzt am liebsten über andere Dinge gesprochen. Mr. Guggenheim oder allgemein einen der Männer mitten im Gespräch zu unterbrechen oder gar das Thema zu wechseln, schickte sich nicht und war keinesfalls gern gesehen. Somit hielt sich Léontine Aubart vornehm zurück und nahm genüsslich einen Schluck ihres Champagners.
Nachdem die Männer schließlich erklärten, sich in den Rauchsalon zurückzuziehen, stand auch Mathilda auf. Für sie war es das geheime Signal, endlich vom Tisch wegzukommen.
„Darf ich Sie zu Ihrer Kabine geleiten?“, fragte ihr Sitznachbar Archibald Gracie höflich.
Mathilda schenkte ihm ein liebenswertes Lächeln. Dieser ältere Mann war einfach zum Küssen. „Nein, vielen Dank, Colonel. Ich vertrete mir noch ein wenig die Füße. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“, verabschiedete sich Mathilda und wandte sich zum Gehen um. Hinter ihr vernahm sie jedoch ein weiteres Stuhlrücken.
„Ich schließe mich Ihnen an, Mathilda. Vielleicht können wir noch in den Leseraum und uns zusammen setzen“, hörte sie Lèontine Aubart sagen.
Erschrocken sah sich Mathilda gezwungen, sich wieder zur Tischrunde umzudrehen. Einige Männer standen schon, um den Rauchsalon aufzusuchen und auch Lèontine Aubart stand auf. Mr. Guggenheim tätschelte ihren Arm und ließ verlauten, dass er ihr einen schönen Abend wünsche. Mathilda empfand es jedoch als ziemlich unpraktisch, dass Lèontine sich nun an ihre Fersen heften wollte. Sie kannte die Sängerin überhaupt nicht und außer beim Abendessen hatte sie nie ein Wort mit ihr gewechselt. Zudem wollte sie pünktlich bei ihrer Verabredung sein.
Doch Mathilda war auch zu höflich, um sie abzuwimmeln. Und so sah sie zu, wie sich auch Lèontine Aubart von den Anwesenden verabschiedete und mit trippelnden Schritten auf sie zu kam. Die Sängerin nickte höflich, als sie mit Mathilda auf Augenhöhe war.
Mathilda erwiderte ihr Lächeln zwar, aber schon im nächsten Augenblick erstarb es, als Madame Aubart verlauten ließ: „Draußen soll ein herrlicher Sternenhimmel sein. Wunderschön, aber zu kalt.“
„Ja, deswegen werde ich mich wahrscheinlich gleich in meine Kabine zurückziehen“, unternahm Mathilda einen kargen Rettungsversuch.
Sie passierten gerade den Eingang des Salons, als Lèontine über ihre Schulter sah und flüsterte: „Ist Mr. Guggenheim noch zu sehen?“
Mathilda war irritiert. Sie blickte sich um und prüfte kritisch die Umgebung. „Nein, ich kann ihn nicht mehr sehen. Vermutlich ist er mit den anderen in den Rauchsalon. Aber, verzeihen Sie die Frage – was um alles in der Welt bezwecken Sie damit? Wir kennen uns doch kaum.“ Mathildas Sehnsucht nach William war weitaus größer, als die Höflichkeit Lèontine gegenüber.
Die Französin kicherte und hielt sich ihre behandschuhte Hand vor den Mund. „Verzeihung für dieses Spielchen“, erwiderte sie gut gelaunt. „Aber Benjamin möchte auch dann, wenn er nicht anwesend ist, mein Wohlergehen. Was allerdings bedeutet, dass ich sein Personal ständig am Hals habe.“
„Entschuldigung, ich fürchte, ich verstehe nicht...“ Mathilda ignorierte es, dass sich die französische Sängerin längst bei ihr eingehakt hatte.
„Nun, ich möchte einen Abend auch mal alleine sein. Ohne, dass mir ständig einer seiner Angestellten hinterher rennt und versucht, mir meine Wünsche zu erfüllen.“ Ein theatralischer Seufzer. „Und das funktioniert nur, wenn ich mich mit einer anderen Dame aus der höheren Gesellschaft aus dem Dinnersalon stehle.“ Sie lächelte verschwörerisch.
„Dann war ich also ein passender Vorwand?“ So langsam begriff Mathilda, was die Sängerin vor hatte.
„So können Sie es ausdrücken.“ Lèontine Aubart blieb vor den Liften stehen. „Verzeihen Sie mir, aber ich bin keineswegs an einem Abend mit Ihnen interessiert. Ich genieße jetzt das Alleinsein auf diesem zauberhaften Schiff. Bitte entschuldigen Sie, falls ich zu aufdringlich war.“
Mathilda musste trotz all dieser Dreistigkeit lachen. Selbst in der höheren Gesellschaft schien das emsige Personal ab und an zu viel zu werden. „Keineswegs. Ich freue mich, wenn ich behilflich sein konnte. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Lèontine.“
Die Französin nickte zum Abschied, ehe der Lift sich schloss und die Begleitung von Benjamin Guggenheim verschwand. Erleichtert atmete Mathilda aus. Einen Augenblick lang hatte sie befürchtet, Lèontine dauerhaft an sich kleben zu haben. Glücklicherweise hatte es sich schnell aufgeklärt und Mathilda warf ihren Mantel um die Schultern, um endlich nach draußen zu gelangen. Sie ahnte, dass sie zu früh am vereinbarten Treffpunkt war, doch länger hielt Mathilda es nicht aus.
Augenblicklich schlug ihr die eisige Luft entgegen. Die Temperatur muss wieder um einige Grad gefallen sein. Als sich die Türe hinter Mathilda schloss, wurde es dunkler. Die See war heute besonders ruhig und glich einer glatten, schwarzen Ölpfütze. Für Mathilda war es ein wenig beunruhigend. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit irgendetwas sehen zu können. William hatte am Nachmittag noch von Eisbergen gesprochen. Würde sie vermutlich welche davon sehen können?
Mathilda rügte sich für diesen absurden Gedanken. Sie sah wieder Schatten, wo vermutlich keine waren. Ringsherum war es dunkel, pechschwarz. Die Titanic war vermutlich der einzige Lichtkegel auf diesem finsteren Ozean. Nur die Sterne am Firmament strahlten unermüdlich in dieser klaren Nacht.
In diesem Punkt hatte Lèontine Aubart Recht behalten – es war ein wunderschöner Anblick. Mathilda hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte verträumt nach oben. Eine ganze Weile lang beobachtete sie diese funkelnden Diamanten, die so bunt verstreut über ihr am Himmel hingen.
Mathilda genoss diesen Moment der Ruhe. Von innen drang die Geräuschkulisse zahlreicher lachender Passagiere ab und an nach draußen, aber hier unter diesem Meer aus Sternen herrschte dagegen fast völlige Stille.
Unter diese Stille mischten sich nun schwere Schritte, die genau hinter ihr zum Stehen kamen. Offensichtlich hatte er sich genau diesen ruhigen Moment ausgesucht, um aus dem Hintergrund hervorzuschreiten.
Mathilda lächelte selig, als sie das Rasierwasser vernahm und sich binnen eines Wimpernschlages starke Hände von hinten mit leichtem Druck auf ihre Oberarme legten. Automatisch lehnte sich Mathilda zurück und sog die Wärme, die von ihm ausging, sofort in sich auf.
„Woran hast du erkannt, dass ich es bin?“, fragte William neugierig, da Mathilda sich nicht zu ihm umgedreht, sondern sofort angelehnt hatte.
Ein leises Lachen erklang. Mathilda schmiegte sich nun noch enger an ihn. „Es ist dein Rasierwasser. Das hab ich mir inzwischen eingeprägt“, lächelte sie.
Daraufhin hauchte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe und lachte entspannt. „Ich freue mich, dass du meiner Bitte nachgekommen bist“, flüsterte er leise und sein warmer Atem bescherte ihr eine Gänsehaut.
„Nichts hätte mich davon abhalten können“, erwiderte Mathilda und fügte gedanklich hinzu: „Nicht einmal eine Lèontine Aubart.“ Bei dem Gedanken an die Sängerin und deren skurriles Verhalten schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Williams Hände glitten ihre Oberarme hinab und blieben auf ihrer Taille liegen. Er zog sie dabei noch ein Stück enger an sich, was Mathilda ein angenehmes Prickeln bescherte. „Darüber bin ich sehr froh“, raunte er ihr ins Ohr. „Lights hat sich hoffentlich auch höflich benommen?“
„Als ob du das nicht schon wüsstest.“ Mathilda drehte ihren Kopf ein Stück um ihn ansehen zu können. Sie ahnte schon, dass mit „Lights“ der Zweite Offizier Charles Lightoller gemeint war. „Aber ja, er war wirklich sehr höflich. Er hat mir von seiner Frau erzählt.“
William lachte kurz auf. „Freiwillig?“
Da Mathilda sein Gesicht bestens im Blick hatte, erkannte sie auch, dass er einen amüsierten Blick aufgesetzt hatte. „So halbwegs“, gestand sie und kicherte, als Will sie daraufhin fester an sich drückte. „Ich hab ihn danach gefragt. Er war einen Augenblick lang ziemlich perplex, aber hat dann brav geantwortet.“
„Ach, du gute Güte. Das wird er mir wieder bei der nächsten Gelegenheit vorhalten.“ William schenkte ihr erneut einen Kuss auf die Schläfe. „Vielleicht hätte ich Harry doch besser die fünf Pfund Sterling geben sollen, anstatt Lights loszuschicken.“
Mathilda befreite sich ein wenig aus seinem Griff, sodass sie ihm nun vollendend ins Gesicht sehen konnte. Allerdings hielt sie es nicht lange ohne seine Berührung aus und legte ihre Hände auf seine Brust. Auch Will reagierte direkt, und seine Hände fanden ihren Weg wieder an ihre Taille.
„Wer ist Harry?“, wollte Mathilda neugierig wissen, während sie verträumt an seinem Kragen entlang strich.
„Harold Lowe, unser Fünfter Offizier. Er erledigt sehr gerne Botengänge“, amüsierte sich William. „Doch da ich Harry nicht schnell genug gefunden habe, musste Charles als Bote herhalten.“
Mathilda schüttelte lachend den Kopf, während sie dieses sympathische und attraktive Gesicht des Ersten Offiziers verliebt ansah, als wolle sie es sich einprägen. Sie streckte ihren Hals durch und lehnte sich mutig gegen ihn, um sich den ersehnten Kuss von ihm zu stehlen. William wich keineswegs zurück. Stattdessen drückte er die junge Frau eng an sich und verschloss ihre Lippen mit den seinen. Versunken in diesen so zärtlichen und gleichermaßen intensiven Kuss, vergaßen die beiden, dass ihnen hier draußen jederzeit jemand begegnen konnte. Allerdings störte sich Mathilda daran nicht mehr. Wenn eine Lèontine Aubart, eine französische Sängerin, sich mit einem verheirateten Millionär einlassen konnte, dann durfte eine ledige, verliebte Frau wie Mathilda die Nähe eines unverheirateten Offiziers genießen.
„Das hat mir gefehlt“, seufzte Mathilda, als sie sich von William löste, wobei ihr allerdings schon die nächste Frage durch den Kopf schoss. „Sag mal, hast du keine Angst vor einer Ansteckung?“ Sie musste nicht groß aussprechen, wovon sie sprach.
William bedachte sie mit einem innigen Blick, während er ihr gefühlvoll über ihr gelocktes, rötliches Haar strich. „Nein, immerhin weiß ich, dass du dich nicht angesteckt hast. Außerdem kann mich nichts davon abhalten, dir nah zu sein“, gab er eine Antwort, die so voller Zuneigung war, dass sich in Mathildas Augen leichte Tränen sammelten.
„Woher weißt du das?“ Eigentlich fragte sie nur aus Höflichkeit. Sie ahnte schon, dass William seine Augen und Ohren überall hatte.
„Ich war nochmal bei Dr. O'Loughlin“, eröffnete er ihr ehrlich. „Ich habe ihn informiert, dass für Edith alles in die Wege geleitet wird und dabei habe ich ihn nach deinem Gesundheitszustand befragt.“
Mathilda zog kokett eine Augenbraue nach oben. „Normalerweise hätte er dir nichts sagen dürfen“, merkte sie scharf an.
„Nein, eigentlich nicht. Aber offenbar hat er gemerkt, wie wichtig du mir bist. Außerdem hat unser Doktor ein geübtes Auge.“ Dass er damit nicht unbedingt auf die ärztlichen Fähigkeiten des Mannes ansprach, wusste Mathilda. Also hatte Dr. O'Loughlin tatsächlich bemerkt, dass zwischen ihr und Will mehr als nur Sympathie stand.
Wie selbstverständlich glitten ihre Finger über seine Wangen. „Ich bin dir wichtig?“, fragte sie dabei zuckersüß.
„Ich dachte, das sei offensichtlich“, bemerkte William, der den Beleidigten mimte. Er fing aber sogleich an zu lachen, als Mathilda es auch tat. „Ehrlich, Liebste, ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Nicht nur gesundheitlich. Ich bin wirklich glücklich, dass ich dir begegnet bin.“ Mathilda wirkte mit einem Mal traurig. „Zu schade, dass diese Überfahrt am Mittwoch schon zu Ende ist. Ich habe mich schon daran gewöhnt, mich mit dir hier an Deck zu treffen.“
William nahm ihr Kinn in seine Hand und zwang sie dazu, ihn anzusehen. „Heißt das, du willst mich nach der Überfahrt nicht mehr sehen?“ Dabei blickte er nun in ein geschocktes Augenpaar, was ihn dazu veranlasste, sofort hinzuzufügen: „Also, was meine Person angeht, dann würde ich dich nie wieder loslassen. Ich würde uns gerne eine Zukunft schenken. Das heißt, wenn du...“
„Wenn ich mit deinem Beruf leben kann?“, beendete Mathilda seinen Satz und am liebsten wäre sie vor Glückseligkeit zersprungen, doch sie hielt sich vornehm zurück.
William nickte nach einer kurzen Zeit des Schweigens. „Ja, genau.“
„Ich würde es gerne versuchen. Bei Charles und Sylvia klappt es doch auch, oder nicht?“ Mathilda suchte in seinen Augen nach einer Antwort, doch die kam schneller als erwartet.
„Das tut es. Und die beiden sind wunderbar zusammen. Hat er dir auch erzählt, dass sie zwei Söhne haben?“ Während er sprach, hatte William seine Herzdame wieder an sich gezogen. Fast so, als wolle er sein Versprechen wahr machen und sie nie wieder loslassen.
„Nein, so weit ging unser Gespräch dann doch nicht!“, lachte Mathilda entspannt. Sie seufzte erleichtert und legte ihren Kopf an seine Brust. „Wenn das hier ein Traum ist, dann möchte ich nie wieder daraus aufwachen.“
Nie wieder.
13. April 1960 – Southampton
„Dann lass uns diesen Traum gemeinsam träumen und am Leben halten. Ich werde dich immer festhalten, das verspreche ich dir, mein Liebling. Lass mich in dein Herz.“
„Du hast es doch längst... mein Herz.“
Mathilda war sich nicht sicher, überhaupt gesprochen zu haben. Williams Stimme hallte nach fast fünfzig Jahren noch immer durch ihren Kopf, bescherte ihr die bekannte Gänsehaut und erinnerte sie stets daran, was sie verloren hatte.
Als sich Mathilda zu Bett gelegt hatte, war sie körperlich komplett am Ende gewesen. Die Nacht zuvor am Hafen hatte ihren Tribut gefordert und die alte Frau komplett in die Knie gezwungen. Erst nach Stunden in der eisigen Kälte, war sie halbwegs aufgewacht und bei Sonnenaufgang nach Hause zurückgekehrt. Selbstverständlich hatte in den frühen Morgenstunden Mrs. Cummings Mathildas Weg gekreuzt. Ausgerechnet sie! Mathilda hatte der steifen Dame keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern war stur geradeaus wieder in ihr Haus zurückgekehrt. Sollte diese Person doch über sie richten und den Mund vor lauter Lästereien zerreißen – Mathilda war es schlichtweg egal. Nichts hatte mehr Sinn.
Nun saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Der Abend war längst wieder hereingebrochen und trotz der Tatsache, dass sie den ganzen Tag nur im Bett gelegen hatte, war die Kälte allgegenwärtig. Sie verschwand einfach nicht, sondern nahm zu. Selbst die Schlaftabletten, die sie von ihrem Arzt verschrieben bekommen hatte, halfen nur bedingt. Zwar war sie binnen weniger Minuten eingeschlafen, doch die Alpträume hatten an Stärke gewonnen und sie zurück in die Realität geholt. Eine Realität, die so erschreckend einsam war, dass Mathilda sich wieder einmal wünschte, mit in den Schlund des Ozeans gerissen worden zu sein.
Selbst dieser so schöne Traum an den Abend des 13. Aprils 1912 half ihr nicht über die Trauer und Einsamkeit hinweg. Dieser wundervolle Moment, den sie einst mit William geteilt hatte, verschwand in der Dunkelheit ihrer Seele. Derselben Dunkelheit, die sie jeden Tag immer mehr einholte und drohte, sie endgültig von den Füßen zu reißen.
Mathilda saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mit leerem Blick auf die kalte Wand gegenüber. Heute fühlte sie einmal mehr, dass sie kaum mehr existierte, sondern nur noch eine leere Hülle war. Langsam zog sie ihre Beine unter der Decke hervor und setzte sich auf die Kante ihres Bettes, das leise knarzte. Ein trauriger Seufzer entrann ihrer Kehle.
Diese Erinnerung an den 13. April 1912 spielte sich noch immer in ihrem Kopf ab wie ein alter Film. Ein Projektor, der die Bilder auf einer Leinwand in ihrem Hinterstübchen abspielte. Sie waren noch immer da. Sie alle. Jeder einzelne von ihnen sah noch genauso aus, wie zu dem Zeitpunkt, als Mathilda sie zuletzt gesehen hatte. William, Edith, Thomas Andrews und all die anderen, die dort draußen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Mathildas Unterlippe zitterte unkontrolliert und die Tränen fanden ihren Weg nach unten, tropften in unregelmäßigen Abständen auf das Nachthemd, das über ihren Knien hing. Erneut erinnerte sie dieser stille, karge Augenblick daran, dass sie damals alles verloren hatte und der Untergang der Titanic der Grundstein ihres einsamen Daseins war.
Vor so vielen Jahren hatte sich Mathilda niemals vorstellen können, einmal in solch einer Einsamkeit zu versinken und sich mehr nach dem Tod als dem Leben zu sehnen. Doch damals hatte sie nicht wissen können, was die Zukunft mit ihr vor hatte. Schon oft hatte sich Mathilda gefragt, was sie im Leben verbrochen hatte, um so bestraft zu werden.
Ohne ersichtlichen Grund erhob sich die alte Dame ächzend von ihrem Bett. Langsamen Schrittes bewegte sie sich durch ihre dunkle Wohnung. Für einen Außenstehenden musste es wirr aussehen, wie sie durch den Flur wackelte, kurz anhielt und überlegte, dann aber ihren Gang wieder aufnahm. Vor einem kleinen, unscheinbaren Schrank blieb Mathilda stehen und öffnete diesen. Vorsichtig tastete sie den Inhalt des Schrankes ab und zog schließlich den Gegenstand heraus, der für sie ein klein wenig Halt bedeutete. Dieser unscheinbare Gegenstand war der einzige materielle Teil, der ihr von der Reise der Titanic geblieben war. Mit diesem Gegenstand bewegte sich die alte Frau ins Wohnzimmer und fand ihren Platz in ihrem Sessel.
„Du hast es versprochen, du Lügner.“
Ihre Handoberflächen wurden nass, als die Tränen erneut fielen. Mathilda presste den geliebten Gegenstand mit fadem Beigeschmack an ihre Brust, während sie sehnsüchtig zum Fenster hinausblickte, als würde Will jeden Moment auftauchen und sein Versprechen einlösen. Doch wie jedes Mal kam niemand. Die Trauer schnürte erneut ihre Brust ein. Wovor hatte sie mehr Angst? Vor dem Wachsein, das sie stets daran erinnerte, niemanden mehr zu haben. Oder vor dem Schlafen, das ihr wieder und wieder einen Traum bescherte, sie auf die Titanic zurückholte und den Schmerz aufrecht erhielt.
Panisch schreckte Mathilda nun auf, als die Wohnzimmeruhr schlug. Ihr Herz raste und Mathilda stand erneut vor einer Panikattacke. Die Uhr verkündete ihr, dass es Mitternacht war. Mathilda wusste, welcher Tag nun angebrochen war.
Der 14. April. Der Tag der Kollision. Der Tag, der alles Glück einst beendet hatte.
Trotz ihres geistig abwesenden Zustandes rief sich Mathilda immer wieder in Erinnerung, dass sie die Wege durch das Schiff nicht alleine gehen musste. William Murdoch hatte Wort gehalten und gab ihr förmlich Geleitschutz. Da es um Mathildas Orientierung noch immer nicht zum Besten stand, war seine Anwesenheit sehr hilfreich. In höflichem Abstand lief er hinter ihr, schnappte sie mit einem sanften, aber beherzten Griff ein, zwei Mal am Arm, wenn Mathilda wieder den falschen Weg einschlagen wollte. Mathilda war jedoch so in Sorgen gefangen, dass ihr dieser Umstand nicht einmal mehr peinlich war. Selbst wenn sie es nicht zeigen konnte – sie war unendlich froh, William hinter sich zu wissen.
Kurz vor der Türe, die ins Hospital führte, bremste Mathilda ohne ersichtlichen Grund ab. Die Angst, was sie nun erfahren könnte, hielt sie davon ab, die Türe zu öffnen. Sie war wie erstarrt. Jedoch war William auch jetzt wieder zur Stelle. Behutsam legte er ihr eine Hand auf den Rücken, ehe er mit der anderen Hand klopfte und nach einem kernigen „Herein“ die Türe öffnete. Galant ließ er Mathilda den Vortritt, folgte ihr aber sogleich und schloss die Türe hinter sich.
Dr. O'Loughlin saß an seinem Schreibtisch über einer Akte, seine Stirn lag in Furchen und ehe er nicht den Bleistift beiseite gelegt hatte, hob er auch nicht den Blick. Er hob nur seinen Zeigefinger, um anzudeuten, dass er in einer Sekunde so weit war. Nun legte er den Stift zügig zur Seite, schlug die Akte zu und widmete sich den beiden Personen, die in gewissen Abstand zueinander vor seinem Tisch standen.
Dr. O'Louglin erhob sich von seinem Stuhl, der laut knarzte. „Miss Briscom, schön Sie zu sehen“, grüßte der Arzt die junge Frau und zog ihr einen Stuhl heran. Nun sah der Arzt zu dem Offizier, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. „Mr. Murdoch, gibt es Probleme?“
William schüttelte den Kopf. „Bisher nicht. Ich hoffe, das bleibt so.“ Der prüfende Blick des Arztes ließ den Offizier noch hinzufügen: „Miss Briscom schien mir etwas aufgelöst und abwesend zu sein, als sie mir über den Weg gelaufen ist. Daher hab ich ihr angeboten, sie hierher zu begleiten.“
Dr. O'Loughlin nickte verstehend. Er umkreiste seinen Schreibtisch und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. „Das empfinde ich als sehr lobenswert, Mr. Murdoch. Gut, dass Sie ein Auge auf unsere Passagiere haben“, lobte der Arzt. „Allerdings muss ich Sie jetzt darum bitten, zu gehen. Ich möchte mit Miss Briscom unter vier Augen sprechen.“
Selbstverständlich verstand Mr. Murdoch diese Bitte nur zu gut und war dabei, dieser Aufforderung nachzukommen, was von Mathilda direkt bemerkt wurde. Fast schon hektisch drehte sie sich zu ihm um. „Nein, das ist schon in Ordnung. Bitte, Mr. Murdoch, bleiben Sie hier.“ Ihre nächsten Worte galten Dr. O'Loughlin. „Bitte, er darf bleiben und es hören.“ Hoffnungsvoll und mit wild pochendem Herzen sah die junge Frau auf ihren Gegenüber.
Vollkommen irritiert zog Dr. O'Loughlin seine Augenbrauen zusammen. Die Hände hatte er ineinander gefaltet auf dem Tisch platziert und bedachte sowohl Mathilda, als auch Mr. Murdoch mit einem prüfenden Blick. Er schien zu merken, dass hier etwas im Busch war, jedoch war er mit solch gutem Anstand gesegnet, es nicht anzusprechen. Stattdessen gab sich der Arzt geschlagen und sagte: „Von mir aus. Es ist Ihre Entscheidung.“
Mathilda war nun gleichzeitig erleichtert und schrecklich angespannt. Nur Williams Anwesenheit beruhigte sie ein wenig, daher wollte sie auch nicht, dass er ging. Dr. O'Loughlin hatte derweil einen besorgten Blick aufgelegt, weswegen Mathilda nervös fragte: „Aus welchem Grund wollten Sie mich sprechen? Es geht um Edith, nicht wahr?“
In der Hoffnung, er würde den Kopf schütteln, knetete Mathilda angestrengt ihre Hände. Allerdings tat ihr der Arzt diesen Gefallen nicht – er nickte langsam. „Tatsächlich geht es um den Zustand Ihrer Freundin“, erwiderte Dr. O'Loughlin und schob einen besorgten Seufzer hinterher. „Ich hatte sie jetzt schon öfter zur Untersuchung hier und mir ist da etwas aufgefallen.“
Ein tiefer Atemzug von Mathilda folgte. „Sie ist krank, oder? Also, ich meine – ernsthaft krank“, schlussfolgerte sie. In ihrem Hals bildete sich ein dicker Knoten und hinderte sie vehement am Atmen.
„Nun ja, ich habe die Vermutung, dass Ihre Freundin unter einer Primärtuberkulose leidet. Diese Art der Tuberkulose befällt fast ausschließlich die Lunge“, eröffnete ihr Dr. O'Loughlin direkt, und Mathilda wäre dabei am liebsten vom Stuhl gekippt. William Murdoch war jedoch auch hier gleich zur Stelle und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Mathilda war an diesem Tag schon einmal mit dieser gefährlichen Lungenkrankheit konfrontiert worden. Niemals hätte sie geglaubt, noch einmal am heutigen Tag davon zu hören. Es erschien ihr so weit weg.
Mathilda presste angespannt die Lippen aufeinander. Einen kurzen Moment zuckte ihre Hand, da sie nach Williams Hand greifen wollte, rief sich jedoch in Erinnerung, hier nicht alleine mit ihm zu sein. Doch es beruhigte sie zutiefst, die Ruhe, die er ausstrahlte, zu spüren. „Und Sie sind sich da sicher?“, fragte sie leise und kam sich noch in derselben Sekunde unendlich dämlich vor, einen Arzt seines Rufes eine solche Frage zu stellen.
Dr. O'Loughlin nahm es ihr in seiner väterlichen Fürsorge nicht übel, sondern versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken. Mit ruhiger, fester Stimme begann er zu erklären. „Bisher ist es nur eine Vermutung. Ich möchte das noch von einem Kollegen in den Vereinigten Staaten abklären lassen. Er ist ein Spezialist auf diesem Gebiet“, sprach er. „Mrs. McClary litt die letzten Tage unter Husten, Erschöpfung und war bei jedem Besuch hier im Hospital immer müde. Wir sollten die nächsten Tage darauf achten, ob Fieber, Appetitlosigkeit und nächtliche Schweißausbrüche dazukommen. Das sind die Symptome, die nach einer Infektion auftreten, und den Betroffenen auf die Krankheit aufmerksam machen.“
In ihrem Kopf durchwühlte Mathilda sämtliche Szenarien nach den angesprochenen Symptomen. Doch sie fand nichts. Edith hatte einen gesunden Appetit, wies kein Fieber auf und von Schweißausbrüchen hatte sie auch nie ein Wort erwähnt. Dies teilte sie dem Arzt umgehend mit. „Keine dieser Symptome ist bisher aufgetreten. Könnte sie sich hier auf dem Schiff angesteckt haben?“, wollte Mathilda besorgt wissen.
„Das bezweifle ich. Wenn es eine Primärtuberkulose ist, wovon ich stark ausgehe, dann treten die Symptome erst rund zwei Jahre nach der Infektion auf. Sie muss sich vor Jahren schon angesteckt haben.“ Dr. O'Loughlin erhob sich, die Hände verschränkte er hinter seinem Rücken, während er nachdenklich aus dem Bullauge nach draußen sah. „Ein gesundes Immunsystem kapselt die Erreger meist ein und schützt den Körper vor einer Ausbreitung. Ein schwaches Immunsystem hingegen hat da kaum eine Chance. Es bilden sich mit der Zeit Entzündungsherde, die meist in der Lunge oder den Lymphknoten auftreten. Besonders oft betroffen sind Menschen mit chronischen Erkrankungen, wie Ihre Freundin Edith, oder Patienten nach einer Transplantation.“
Der Druck von Williams Hand auf ihrer Schulter wurde fester, ehe er sie zurückzog. Mathilda warf einen kurzen Blick zu ihm nach hinten. In gewohnt stattlicher Haltung stand William nur eine Armlänge entfernt. Er schien dem Arzt ebenfalls genau zuzuhören.
„Gibt es bei dieser Art der Tuberkulose denn eine erhöhte Ansteckungsgefahr?“ Diese Frage kam von William Murdoch, der einen besorgten Gesichtsausdruck aufwies.
Dr. O'Loughlin schien nicht überrascht zu sein, dass eine solche Frage von ihm kam. Als Führungsoffizier war er schließlich nicht nur für den reibungslosen Ablauf der Fahrt und der Koordinierung des Schiffes zuständig, sondern auch für die Sicherheit der Passagiere – dies schloss eine Krankheit mit ein.
„Tuberkulose ist zwar nicht so ansteckend wie andere Infektionskrankheiten, allerdings überträgt sich eine offene Tuberkulose ziemlich schnell durch Tröpfchen in der Atemluft. Dies nimmt die Primärtuberkulose aber meist aus. Betroffen sind hauptsächlich Ehepartner oder Familienmitglieder, denen man ein Küsschen gibt oder auf ähnliche Weise nahe kommt, verstehen Sie? Durch den Speichel wird die Krankheit dann meist übertragen. Zumindest ist das mein bisheriger Stand des Wissens. Ich warte noch auf ein Telegramm meines amerikanischen Kollegen, dann kann ich Ihnen mehr darüber sagen“, sprach Dr. O'Loughlin deutlich und sehr ausführlich.
„Unser Umgang beschränkt sich auf Umarmungen und Gespräche, aber – könnte ich mich dennoch angesteckt haben?“ Mathilda klang besorgter als beabsichtigt.
„Das bezweifle ich sehr stark, aber wir dürfen nichts ausschließen. Sie hätten sich vor Jahren schon bei Ihrer Freundin anstecken können. Mrs. McClary ist mit einer chronischen Lungenkrankheit bestraft und selbst bei ihr treten erst jetzt Symptome auf. Sie, Miss Briscom, erscheinen mir kerngesund. Weswegen Sie im Falle einer Ansteckung keine Angst vor einer Ausbreitung haben müssten. Kurz gesagt – hätten Sie sich damals angesteckt, hätte Ihr gesundes Immunsystem die Krankheit vermutlich längst bekämpft“, nahm der Arzt ihr ein wenig die Angst. „Ich würde Ihnen aber dennoch eine Untersuchung empfehlen.“
Mathilda nickte abwesend. In ihrem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Edith litt unter einer Tuberkuloseart von der Mathilda noch nie etwas gehört hatte. Diese Nachricht war einerseits höchst erschreckend, aber auf der anderen Seite hatte sie nun ein wenig Klarheit, sodass die Krankheit behandelt werden konnte. „Doktor, wie können wir ihr helfen? Was kann ich tun?“, war nun Mathildas nächste Frage.
„Ich werde ihr ein Medikament verschreiben. Das sollte ihr für die nächsten Stunden und Tage helfen. Sie müssen unbedingt darauf achten, dass sie diese fleißig einnimmt. Wir sollten zudem die Personen, die Zugang zu ihr haben, begrenzen.“ Dr. O'Loughlin überlegte.
Unterdessen wechselte Mathilda einen besorgten Blick mit William, der genauso sorgenvoll erschien, wie sie selbst. Sie konnte förmlich spüren, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sicherlich wollte er Mathilda beistehen, aber auf der anderen Seite war die Angst vor dieser Krankheit greifbar.
„Neben meiner Person sollte noch jemand da sein, der ihr helfen könnte“, sprach Mathilda laut aus.
Dr. O'Loughlin nickte zustimmend. „Ich würde sagen, dass wir beide und vielleicht noch eine dritte Person für Mrs. McClary da sein sollten.“ Sein Augenmerk traf Mr. Murdoch, der jedoch leicht den Kopf schüttelte, wie Mathilda bemerkte. Dr. O'Loughlin sprach daraufhin weiter: „Wir werden schon noch jemanden finden, seien Sie unbesorgt, Miss Briscom. Sie sollten allerdings jetzt einige Dinge beachten“, er schritt um seinen Schreibtisch herum, „Mrs. McClary sollte sich nur noch in ihrem Schlafgemach aufhalten. Die Mahlzeiten muss sie dort einnehmen. Ich werde veranlassen, dass ihr jeden Tag drei Speisen gebracht werden – früh, mittags, abends. Wenn Sie, Miss Briscom, sich ihr nähern, sollten Sie unbedingt einen Mundschutz tragen. Ich werde Ihnen einen mitgeben. Passen Sie jedoch trotzdem auf, dass Sie gebührenden Abstand zu ihr halten. Denken Sie daran, auf die Symptome zu achten. Sollte unsere Patientin allerdings einen blutigen Auswurf beim Husten haben, dann...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.
„Dann kommt jede Hilfe zu spät?“ Mathilda hatte es zwar als Frage formuliert, wusste aber genau, was dieser Satz des Arztes bedeutete.
Der eindringliche Blick, den ihr Dr. O'Loughlin zuwarf, wurde nur noch von dem besorgten Gesichtsausdruck von William Murdoch übertroffen. Beide Männer wussten, dass in solch einem Fall wahrscheinlich jede Hilfe zu spät kommen würde. In diesem Augenblick wurde das selbst Mathilda bewusster denn je. Der Arzt mit dem weißen Schnurrbart registrierte ihren bedrückten Gesichtsausdruck und meinte ausweichend: „Davon ist ja bisher nichts zu sehen. Wir sollten nur darauf achten, Mrs. McClary warm zu halten. Die Kabine darf nie auskühlen, ihr sollten ein paar zusätzliche Decken bereit gestellt werden und warme Getränke müssen dauerhaft für sie bereitstehen.“
Hinter Mathilda kam nun wieder Bewegung in Offizier Murdoch. „Ich werde dies sofort veranlassen, Dr. O'Loughlin. Ich werde auch die Küche wegen der Mahlzeiten benachrichtigen“, mischte sich Mr. Murdoch ein. „Dr. O'Loughlin, Miss Briscom – ich empfehle mich.“ Er nickte vornehm und verließ eilig den Behandlungsraum.
Mathildas Herz durchfuhr ein Stich, während sich unter ihrem traurigen Blick die Türe schloss. Sie hoffte inständig, dass er nur besorgt um Ediths Zustand war und sich deshalb so schnell auf den Weg gemacht hatte. Trotzdem hinterließ er eine Lücke und Mathilda fühlte sich plötzlich unwohl. William hatte ihr stets das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Nun war dieser Schutz von einer Sekunde auf die andere weg. Oder es war etwas anderes – mit einem Mal wurde Mathilda übel. Tuberkulose wurde durch Speichel übertragen – durch Küsse! Vielleicht hatte er einfach nur Angst, sich bei Mathilda angesteckt zu haben, falls sie im schlimmsten Fall unter dieser Krankheit leiden sollte. Mathilda standen Tränen in den Augen. Garantiert würde er sie nun nicht einmal mehr ansehen und dieser Gedanke brach ihr das Herz.
„Mr. Murdoch ist ein vorbildlicher Mann. Wir können uns glücklich schätzen, ihn hier an Bord zu haben“, merkte Dr. O'Loughlin an, wobei eine seltsame Tonlage in diesem Satz mitschwang. Er stand nun direkt neben ihr und sah mitfühlend auf sie herab.
Eilig tupfte Mathilda die Tränen unter ihren Augen mit ihren Handschuhen weg. Ihr war schon vorhin aufgefallen, dass Dr. O'Loughlin sie und den Offizier mit einem eigenartigen Blick betrachtete. Es würde sie nicht wundern, wenn der kluge Mann längst zu merken schien, dass sie Gefühle für den Führungsoffizier hegte. Daher kam ihre Antwort sehr ausweichend. „Alle Offiziere an Bord erledigen ihre Aufgaben hervorragend. Genauso wie Sie, Doktor.“ Und so meinte sie es auch, während sie dankend die Hand des Mannes ergriff. „Danke, dass Sie Edith so gut versorgen und sich um ihre Gesundheit bemühen.“
Der Arzt tätschelte liebevoll ihre Hand. „Mein Gott, wenn das doch nur genug wäre. Wenn ich doch nur mehr tun könnte.“ Einen Moment schwieg er, ehe er bedeutsam hinzufügte: „Ich werde Sie nun erst einmal gründlich durchchecken, um eine mögliche Krankheit ausschließen zu können. Danach bringen wir beide Mrs. McClary zurück in die Kabine. Sie ruht sich im Moment noch in einem Nebenraum aus.“
*****
Ediths Begeisterung über Dr. O'Loughlins Maßnahmen hielt sich in Grenzen, doch als kluge Frau, fügte sich Edith und sah ein, dass es notwendig war. Mathilda und Dr. O'Loughlin eskortierten Edith auf schnellstem Wege zurück zur Kabine – und zwar so, dass sie nur von den wenigsten Menschen gesehen wurden. Edith machte dabei einige Scherze, um Mathilda wieder ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, doch es gelang nicht. In Mathildas Kopf herrschte ein schlimmeres Chaos als ein Hurrikan auf dem Festland je hinterlassen konnte. Irgendwann gab es Edith auf, obwohl sie noch immer darum bemüht war, fröhlich zu wirken. Trotzdem konnte Mathilda an den traurigen Augen ihrer Freundin erkennen, dass sie panische Angst vor dieser Krankheit hatte. Mathilda konnte es ihr nicht verübeln.
In ihrer Kabine angekommen bemerkte Mathilda, dass William Murdoch Wort gehalten hatte. Auf Ediths Bett lagen mehrere Decken bereit und direkt daneben stand ein Servierwagen mit heißem Tee. Offensichtlich war dieser gerade eben erst vorbeigebracht worden.
Dr. O'Loughlin schien davon erfreut zu sein, stellte nochmal sicher, dass Edith versorgt war und wandte sich dann zum Gehen um. An der Türe versicherte Mathilda ihm eindringlich, sich gut um Edith zu kümmern. Der Arzt erklärte ihr daraufhin, dass er gegen Abend nochmal nach ihr sehen würde. Mathilda nickte verständnisvoll und schloss leise die Türe.
Ediths abgrundtiefen Seufzer konnte Mathilda sogar bis zu ihrem momentanen Standpunkt hören. Mathilda setzte sich wieder in Bewegung und als sie in Ediths Schlafzimmer kam, saß diese auf der Bettkante und goss sich gerade eine Tasse Tee ein. Sicherheitshalber blieb Mathilda im Türrahmen stehen, den Mundschutz hielt sie fest in ihrer Hand.
„So schön diese Kabine auch ist, aber ich hatte nicht gedacht, dass sie zu meinem Gefängnis wird“, keuchte Edith erschöpft und begann nach einem Schluck Tee erneut zu husten.
„Sag sowas nicht. Es dient nur deinem Schutz“, merkte Mathilda ernst an.
„Du meinst – euer aller Schutz, oder?“ Edith klang zwar nicht wütend, dennoch war eine anklagende Nuance in ihrer Stimmlage herauszuhören. Sie besann sich jedoch eines besseren und fügte freundlicher gestimmt hinzu: „Wenigstens habe ich dich nicht angesteckt.“
Darüber war auch Mathilda sehr froh. Dr. O'Loughlin hatte sie gründlich untersucht, um eine Infektion auszuschließen. Glücklicherweise war dem Arzt nichts dergleichen aufgefallen. Mathilda war kerngesund, genau wie er es erwartet hatte. Dennoch durfte Mathilda nun nicht nachlässig werden. Sie musste sich, Edith und alle anderen schützen. „Benötigst du noch etwas? Ich könnte dir ein paar Bücher aus dem Lesezimmer holen“, gab sich Mathilda versöhnlich. Sie wollte nicht mit Edith streiten, schon gar nicht, wenn es um die Gesundheit ging.
Edith überlegte einen Augenblick. Dabei starrte sie nachdenklich in ihre Teetasse und rührte langsam ihre Kreise darin. „Ein Buch wäre sehr schön“, sagte sie dann. „Könntest du der Küche ausrichten, dass ich heute Abend gerne Wildlachs zum Essen hätte? Das würde mich freuen.“
Mathilda beäugte ihre Freundin mit sorgenvollem Blick. „Sicher, ich gebe es gerne weiter. Aber nun hole ich dir erst einmal ein Buch“, meinte Mathilda, die längst bemerkt hatte, wie abwesend Edith wirkte. „Wieder eine schrecklich, langweilige Liebesgeschichte?“ Sie schob eine humorvolle Note unter den letzten Satz und es zeigte Wirkung – zumindest dezent.
Pikiert hob Edith den Kopf und zog kokett eine Augenbraue nach oben. „Ich lese keine langweiligen Bücher. Gib dir Mühe bei der Auswahl“, erwiderte die Frau mit den braunen Locken. Sie wirkte um die Nase herum ziemlich blass. Offenbar waren die letzten Tagen nicht spurlos an ihr vorbeigegangen.
Ediths Anblick schmerzte Mathilda. In ihrem Brustkorb zog sich alles bitter zusammen. Zwar wusste Mathilda um Ediths Zustand, der schon jahrelang anhielt, doch jetzt, da es sie wussten, was genau ihr fehlte, war es um einiges schmerzhafter.
„Ich bin bald wieder zurück“, merkte Mathilda noch an, ehe sie die Kabine verließ.
Gedankenverloren schritt Mathilda über den weichen Teppichboden, der durchläufig in den Gängen ausgelegt war, hinweg und kam nicht drum herum, Edith für ihren Zustand zu bemitleiden. Allerdings wusste Mathilda auch, dass Edith Mitleid für ihre eigene Person zuwider war und nicht gerne die Opferrolle zugeschoben bekam. Sie mussten nun positiv denken – garantiert würde sich alles wieder zum Guten wenden.
Mathilda nahm eine gerade Haltung an, atmete tief durch und straffte die Schultern. „Es wird alles gut werden“, feuerte sie sich gedanklich selbst an. Jetzt musste sie zuerst das Lese- und Schreibzimmer ohne fremde Hilfe finden. Dank Edith, die schon gefühlt tausende Male in diesem Zimmer gewesen war, wusste Mathilda zumindest, dass sie auf das A-Deck gehen musste.
Nach einer Fahrt im Lift und einem kurzen Fußmarsch stand sie schließlich vor der gesuchten Räumlichkeit. In dem helleingerichteten Raum fand die junge Frau zwei weitere Damen vor, die gemeinsam an einem Tisch saßen. Eine von ihnen brachte eifrig ein paar Worte zu Papier. Der Stift flog dabei nur so über das Blatt. Unterdessen saß die andere Frau selig lächelnd in einem Sessel und war gedanklich versunken in einen Roman. Sicherlich einer, den auch Edith lesen würde.
Der Raum war schlicht gehalten. Helle Möbel, rosafarbene Vorhänge, einige Pflanzen und ein kleines Regal, in dem einige Bücher lagen. Mathilda schritt lautlos auf das Regal zu und überflog die Titel der Bücher. Zwar hatte sie keine Ahnung, welche Bücher davon Edith schon gelesen haben könnte, aber sicherlich war ihre Freundin ihr nicht böse, wenn sie einen bereits bekannten Roman mitnehmen würde. Der Wille zählte schließlich.
Mathilda hatte sich schließlich für zwei Bücher entschieden, verabschiedete sich höflich von den anderen Damen und verließ den Raum wieder. Um vor dem Abendessen noch ein wenig Zeit mit Edith verbringen zu können, beeilte sich Mathilda zurück in die Kabine zu kommen. Sie war gerade dabei, in den nächsten Gang abzubiegen, als eine auffällig laute Stimme sie in ihrem Gang stoppte.
„Miss Briscom, haben Sie eine Minute?“
Augenblicklich blieb Mathilda stehen und wandte sich um. Mittlerweile konnte sie selbst diese Stimme zuordnen. Automatisch begann sie zu lächeln, als sie erkannte, dass sie Recht hatte. Der Zweite Offizier Charles Lightoller schritt mit gewohnt strenger Miene auf sie zu und seinem Blick nach zu urteilen, schien er ziemlich unentspannt zu sein. Mathilda sollte den Grund ziemlich schnell erfahren.
„Mr. Lightoller? Sie wollen zu mir?“, fragte Mathilda so unschuldig und höflich, wie es ihr nur möglich war. Offensichtlich war Offizier Lightoller nicht freiwillig hier unterwegs.
Der große Mann kam kurz vor ihr zum stehen und stieß im selben Augenblick einen tiefen Seufzer aus. Es klang aber weder genervt noch erleichtert. Mathilda war irritiert.
Charles Lightoller griff in seine Jackentasche und fischte einen Zettel hervor. Mit einer schwungvollen Handbewegung hielt er ihr diesen nun entgegen.
„Ich möchte Ihnen dasselbe sagen, wie ich es auch schon Will sagte“, begann er verheißungsvoll. „Ich bin hier nicht der Briefträger!“
Nun konnte Mathilda ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Trotz seiner strengen und teils mürrischen Art war ihr der Mann nicht unsympathisch. Vor allem gehörte er zu Williams Freunden und demnach konnte dieser Mensch nur fabelhaft sein. Was ihr William jedoch in Briefform mitteilen wollte, ahnte Mathilda nicht. Ein wildes Auf und Ab in ihrem Inneren entstand.
„Hätte ich das gewusst, wäre ich Ihnen auf halbem Wege entgegen gekommen, aber da es um meine Orientierung nicht gut steht....“ Mathilda ließ ihren Scherz auf halber Strecke unausgesprochen.
Endlich regte sich auch etwas im Gesicht des Zweiten Offiziers. Er zog schelmisch einen Mundwinkel nach oben, während Mathilda das Stück Papier ergriff. „Was tut ein Mann nicht alles für eine junge Liebe?“, merkte er an, wobei es mehr nach einer Feststellung als einer Frage klang.
Verräterisch biss sich Mathilda auf die Lippe. Dass Charles Lightoller von ihr und William wusste, war längst keine Überraschung, da er doch zu den engsten Freunden von William Murdoch zählte. Aber dennoch fragte sie sich, was William ihm alles erzählt hatte und in welchem Umfang. Mathilda kostete es allerdings enorme Überwindung, nicht rot zu werden. „So, Sie haben also nichts besseres zu tun?“, wagte Mathilda einen Konter, der allerdings im nächsten Moment gnadenlos schiefging.
„Wenn ich meinem guten Freund zu ein wenig Glück verhelfen kann, dann sicherlich nicht“, erwiderte Charles Lightoller und tatsächlich schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht, als er Mathildas entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte. Allerdings entschärfte er die Situation gleich wieder und schob fast schon liebevoll hinterher: „Das darf ruhig gesagt werden. Immerhin führen wir Seeleute auch kein leichtes Leben und da ist es schön, wenn jemand von uns einen Menschen findet, der das versteht und hinter die strenge Maske sieht.“
Mathilda erlaubte sich einen Moment und dachte über seine Worte, die ihr sehr imponierten, nach. Dass der Mann Lebenserfahrung zu haben schien, war unbestreitbar, aber eine solch nachdenkliche und ernste Aussage tätigen? Das hätte sie ihm ehrlicher Weise nicht zugetraut.
„Das haben Sie wirklich sehr schön gesagt“, merkte Mathilda an. „In der heutigen Zeit ist es ohnehin schwierig, jemanden zu finden, der nicht auf Wohlstand und Rang aus ist.“
„Ausnahmen bestätigen die Regel, oder nicht?“ Charles Lightoller schien sie eindringlich zu mustern.
„Dem stimme ich zu. Sagen Sie – darf ich Sie etwas persönliches fragen?“ Mathilda musste die Gunst der Stunde nutzen. Im Moment schien der Zweite Offizier, der William so nahe stand, sehr gesprächig und überhaupt nicht in Eile zu sein.
Für einen Moment schwieg er und schien abzuwägen, ob er ihr antworten wollte. „Sicher doch, aber bitte, gehen wir ein Stück. Ich verdiene mir mein Geld schließlich nicht mit Herumstehen“, antwortete er ihr schließlich und deutete vornehm mit einer Hand in Richtung Treppenhaus.
Ein zustimmendes Nicken Mathildas folgte. Mit den Büchern unter dem Arm leistete sie der höflichen Aufforderung Folge und schritt an der Seite des Zweiten Offiziers durch die nächste Türe. Als Gentleman öffnete er ihr die Türe und ließ der Dame den Vortritt. Vorbei an Ölgemälden und vergoldeten Deckenlampen schritten sie die Treppen hinab und Mathilda war gewillt, nachzufragen, wohin sie nun gingen. Allerdings kam der Offizier ihr zuvor und erklärte: „Ich muss beim Zahlmeister auf dem C-Deck nach dem Rechten sehen.“
Mathilda wusste sogar, wo sich das Büro des Zahlmeisters befand. Immerhin hatten Edith und sie dort die Tickets für das Türkische Bad käuflich erworben. „Ich wollte Sie wirklich keineswegs von Ihrer Arbeit abhalten. Ich kann auch zurückgehen und wir unterhalten uns zu einem anderen Zeitpunkt“, bot Mathilda an, die schon auf der Treppe stehen blieb.
Mr. Lightoller tat es ihr gleich. Er stand wenige Stufen unter ihr und blickte nun verwundert über seine Schulter. Er schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich hätte Ihnen wohl kaum angeboten, mitzukommen, wenn ich derart in Eile wäre“, versicherte er ihr und winkte sie mit der Hand heran. „Jetzt kommen Sie schon – Sie wollten mir doch eine persönliche Frage stellen.“
„Das wollte ich, ja!“ Sofort setzte sich Mathilda wieder in Bewegung, um mit dem flotten Gang des Offiziers mitzuhalten.
„Wenn es um Will geht, dann werde ich mich auf meinen Status als guter Freund berufen und bin der Verschwiegenheit verpflichtet“, meinte Charles Lightoller eindringlich. „Ich werde hinter seinem Rücken nicht über ihn sprechen.“
Anerkennend nickte Mathilda, was eigentlich eine dumme Geste war, da sie ein paar Schritte hinter Charles Lightoller lief und dieser sie nicht sehen konnte. „Sie scheinen ein guter Freund zu sein“, sagte Mathilda schließlich, die nun wieder auf Augenhöhe mit ihm lief. „Aber nein, ich wollte Sie keineswegs über Will ausfragen. Ich wollte lediglich wissen, ob Sie denn verheiratet sind?“
Charles Lightoller schien nun komplett aus der Fassung zu fallen, denn er stoppte abrupt in seinem Gang. Die Augen überrascht aufgerissen und die Kinnlade klappte ihm wortwörtlich hinab. Die Verwirrung stand ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben, und Mathilda verspürte einen hämischen Stolz, ihn so überrascht zu haben.
„Wie bitte? Ob ich verheiratet bin?“, brachte er hervor. Offensichtlich war er eine solch offene Frage einer Dame ihrer Gesellschaft nicht gewohnt.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen damit zu nahe trete, aber ich bin einfach von Natur aus neugierig.“ Mathilda setzte erneut ihr schönstes Lächeln auf. Sie wusste ja selbst, wie aufdringlich diese Frage sein musste.
Doch der großgewachsene Mann schien keineswegs empört zu sein. Stattdessen schlich sich nun Neugierde auf seine Gesichtszüge. „Um Ihre Frage zu beantworten – ja, ich bin seit fast neun Jahren mit meiner Frau Sylvia verheiratet“, beantwortete er ihr die Frage schließlich.
Inzwischen hatten die beiden ihren Gang wieder aufgenommen und schritten hinab zum C-Deck. Mathilda lächelte selig. „Das freut mich zu hören. Wie haben Sie beide sich kennengelernt?“, bohrte sie weiter nach.
Nun lachte Charles Lightoller charmant. „Genau so, wie Sie und Will sich kennengelernt haben – während einer Überfahrt“, eröffnete er ihr mit einem Schmunzeln. „Damals waren wir auf dem Weg in Richtung Australien. Auf der Suevic habe ich dann diese junge Dame getroffen und mich sofort verliebt. Wir haben auch nicht lange gefackelt und gleich in Sydney geheiratet.“
Mathilda kicherte verzückt. „Wirklich? Dann waren Sie sich innerhalb weniger Tage sicher, die Richtige gefunden zu haben?“ So sehr sie Ediths kitschige Romane auch immer verspottete, so sehr liebte Mathilda aber auch echte Liebesgeschichten – eben solche, wie die von Charles und Sylvia Lightoller. Es berührte sie, obwohl sie den einen nur flüchtig und die andere gar nicht kannte.
Charles sah sie nicht an, sondern blickte beinahe verträumt gerade aus. „Wissen Sie, manchmal sind es die wichtigsten Dinge, deren Klärung nur wenige Zeit bedarf. Wir waren uns damals einfach sicher und ich habe es bis heute nicht bereut“, erklärte Mr. Lightoller stolz und obwohl Mathilda ihm nicht direkt ins Gesicht sehen konnte, so war das verliebte Glitzern in seinen Augen nur überdeutlich. Hinter der rauen Schale des ordnungsliebenden Offiziers versteckte sich also ein liebender Ehemann. Mathilda gefiel es.
„Ihre Frau kann sich sehr glücklich schätzen“, bemerkte Mathilda ehrlich. Mittlerweile waren sie am Büro des Zahlmeisters angekommen und stoppten dort.
„Ich kann mich glücklich schätzen. Immerhin stärkt mir Sylvia stets den Rücken, gibt mir einen Grund wieder nach Hause zu kommen und ist nach all den Jahren mein sicherer Hafen in dieser unruhigen Welt geworden“, sprach Charles Lightoller mit voller Überzeugung. Sein Gesicht nahm wieder härtere Züge an. „Aber jetzt raus mit der Sprache – weswegen wollten Sie das wissen? Doch nicht etwa, weil Sie an meiner Person interessiert sind.“ Im letzten Satz schwang eine humorvolle Note mit.
„Bin ich nicht, nein. Ich habe deshalb gefragt, weil ich wissen wollte, ob eine Beziehung auf dieser Basis funktionieren kann. Allerdings haben Sie mir die Frage durch Ihre Erzählung schon beantwortet.“ Mathilda drückte die Bücher enger an ihre Brust. Der Zettel, den ihr Mr. Lightoller ausgehändigt hatte, war bei dem Gespräch ziemlich in Vergessenheit geraten. Dennoch hielt Mathilda diesen fest in ihrer Hand.
Nun schien auch Charles Lightoller zu verstehen, was Mathilda mit ihrer Fragerei bezwecken wollte. Er sah sich kurz um und als er registrierte, dass nicht allzu viele Menschen hier waren, lachte er laut auf. „Aha, dann war das also eine Nachfrage, ob es mit Wills Beruf und einer Familie zusammenpassen kann. Liege ich da richtig?“, wagte er nun offen zu fragen.
Mit einer unwirschen Bewegung schob Mathilda verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Wenn Sie es so nennen möchten“, wisperte Mathilda scheu. Ihr Mut hatte sich zwischenzeitlich wieder verabschiedet und für einen Augenblick lang, schämte sie sich dafür, diesen Mann, den sie überhaupt nicht kannte, so auszufragen.
Doch Mr. Lightoller schien es ihr keinesfalls übel zu nehmen. „Es hängt natürlich immer von verschiedenen Faktoren ab, aber glauben Sie mir – es gibt keinen familiäreren Menschen als William Murdoch. Geben Sie ihm einfach den Halt und den sicheren Hafen, wie Sylvia mir.“ Charles Lightoller bedachte sie nun mit einem undefinierbaren Blick. „Will ist ein guter Kerl. Seien Sie sich dessen bitte bewusst.“
Mathildas Herz schlug wild gegen ihre Brust. „Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Und deswegen wollte ich sicher gehen. Danke für das Gespräch, Mr. Lightoller.“
Charles Lightoller schenkte ihr zum Schluss ein leichtes Lächeln. Er griff nach der Türklinke vom Büro des Zahlmeisters. Ehe er jedoch die Türe öffnete, erklärte er an Mathilda gewandt: „An Ihrer Stelle würde ich nun endlich den Brief lesen.“
*****
Meine liebste Mathilda,
bitte verzeihe mir mein plötzliches Verschwinden bei Dr. O'Loughlin.
Selbstverständlich galt meine oberste Priorität, für deine Freundin Edith alles erdenklich mögliche in die Wege zu leiten. Aber um ehrlich zu sein, steckte auch mir der Schock im Bezug auf diese Krankheit in den Knochen.
Ich hoffe inständig, dass du trotz Ediths Abwesenheit ein Abendessen in einer heiteren Runde verbringen kannst. Ich würde dich sehr gerne wieder sehen und möchte dich darum bitten, mich nach meiner Schicht oben an Deck zu treffen. Genau dort, wo wir uns zum Schiffsrundgang getroffen haben.
Meine Schicht endet erst um neun Uhr. Ich hoffe, diese Zeit ist für dich noch annehmbar. Falls nicht, bin ich dir auch nicht böse. Mein Herz jedoch sehnt sich nach deiner Nähe und ich würde mir wünschen, dich wieder im Arm halten zu dürfen.
Ich werde auf dich warten, meine Liebste.
In Liebe,
Will
In einer ordentlichen, schwungvollen Handschrift waren diese bedeutsamen Zeilen auf das Papier gebracht worden. Zeilen, die Mathilda nun seit ihrem Gespräch mit Mr. Lightoller schon hunderte Male durchgelesen hatte. Zurück in ihrer Kabine hatte sie Edith die Bücher ausgehändigt – die sie tatsächlich noch nicht gelesen hatte – und kurz darauf den Zettel in Augenschein genommen. Verträumt hatte Mathilda das Blatt Papier schließlich an ihre Brust gedrückt und erleichtert aufgeseufzt, was von Edith direkt bemerkt wurde. Mathilda hatte sie daraufhin auch gleich eingeweiht und Edith den Brief vorgelesen.
Die Stunden vor dem Abendessen hatten die beiden Frauen mit ernsten Gesprächen verbracht. Obwohl es seltsam war, dass Edith im Bett saß und Mathilda weit entfernt in einer anderen Ecke des Zimmers, waren diese Gespräche notwendig gewesen.
Edith hatte es tunlichst vermieden, über die Krankheit zu sprechen, obgleich sie wieder ziemlich blass um die Nase herum schien und auch der Husten wieder an Stärke zu gewinnen schien. Stattdessen fragte die dunkelhaarige Frau nach Mathildas Begegnungen mit Mr. Murdoch und was es sonst noch für Neuigkeiten gab. Mathilda hatte ihr daraufhin alles erzählt – selbst von dem Gespräch mit Charles Lightoller. Für Mathilda hatte es gut getan, offen über alles zu sprechen, vor allem über ihr großes Glück, das sie mit William zu haben schien. So schön die letzten Stunden vor dem Abendessen auch gewesen waren, so sehr schmerzte es Mathilda, ihre Freundin alleine in dem Zimmer zurücklassen zu müssen. Jedoch war Edith zuversichtlich, dass es das beste für alle wäre und sie versicherte Mathilda, nicht zu vereinsamen, da ihr das Essen gebracht wurde, Dr. O'Loughlin nochmal vorbei sehen würde und sie ihre geliebten Bücher hätte.
Somit hatte sich Mathilda schweren Herzens alleine auf den Weg zum Dinner gemacht. Paradoxerweise konnte sie von Glück sprechen, dass die Nachricht von Ediths Zustand auch schon bei Mr. Andrews angekommen war – denn das bedeutete, dass er Mathilda direkt abfing und sie zum Dinner geleitete. Woher Mr. Andrews davon erfahren hatte, war ein offenes Geheimnis: Zu seinen engsten Bekannten gehörte immerhin Dr. O'Loughlin. Wahrscheinlich hatte sich der Arzt dem Konstrukteur anvertraut und Mathilda war sich sicher, dass Mr. Andrews ein Mann war, der diese brisanten Geheimnisse für sich behalten konnte. Sie vertraute darauf.
Das Dinner verlief ziemlich unspektakulär, was allerdings mehr daran lag, dass Mathilda mit den Gedanken ganz wo anders war. Einerseits dachte sie an Edith, die da alleine in der Kabine saß, aber andererseits war sie extrem ungeduldig. Konnte es nicht längst neun Uhr schlagen?
Natürlich hielt sich Williams vorgeschlagene Uhrzeit für sie noch im normalen Rahmen, weswegen sie gar nicht lange nachdenken hat müssen, ob sie zu diesem Treffen erschien oder nicht. Selbst wenn seine Schicht erst um Mitternacht zu Ende gegangen wäre, hätte sich Mathilda noch mit ihm getroffen. Ihre Aufregung stieg wieder ins Unermessliche. Zwar hatte sie den Offizier nun schon ziemlich oft getroffen, aber ihre verliebte Seele schien es zu genießen, die Hormone in Aufruhr zu versetzen.
Mathilda genoss dieses Gefühl der Vorfreude und so bekam sie von der langwierigen Börsengeschichte, die Mr. Guggenheim zum besten gab, glücklicherweise nichts mit. Sie hätte sich ohnehin an diesem Thema nicht beteiligen können. Von der Börse hatte sie schlicht und ergreifend keine Ahnung. Ein Blick zu seiner Begleitung Léontine Aubart verriet ihr allerdings, dass auch sie kein Interesse an dieser Geschichte zu haben schien. Die französische Sängerin, die den millionenschweren Mann auf der Überfahrt begleitete, wirkte desinteressiert und so wie sie aussah, hätte sie jetzt am liebsten über andere Dinge gesprochen. Mr. Guggenheim oder allgemein einen der Männer mitten im Gespräch zu unterbrechen oder gar das Thema zu wechseln, schickte sich nicht und war keinesfalls gern gesehen. Somit hielt sich Léontine Aubart vornehm zurück und nahm genüsslich einen Schluck ihres Champagners.
Nachdem die Männer schließlich erklärten, sich in den Rauchsalon zurückzuziehen, stand auch Mathilda auf. Für sie war es das geheime Signal, endlich vom Tisch wegzukommen.
„Darf ich Sie zu Ihrer Kabine geleiten?“, fragte ihr Sitznachbar Archibald Gracie höflich.
Mathilda schenkte ihm ein liebenswertes Lächeln. Dieser ältere Mann war einfach zum Küssen. „Nein, vielen Dank, Colonel. Ich vertrete mir noch ein wenig die Füße. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“, verabschiedete sich Mathilda und wandte sich zum Gehen um. Hinter ihr vernahm sie jedoch ein weiteres Stuhlrücken.
„Ich schließe mich Ihnen an, Mathilda. Vielleicht können wir noch in den Leseraum und uns zusammen setzen“, hörte sie Lèontine Aubart sagen.
Erschrocken sah sich Mathilda gezwungen, sich wieder zur Tischrunde umzudrehen. Einige Männer standen schon, um den Rauchsalon aufzusuchen und auch Lèontine Aubart stand auf. Mr. Guggenheim tätschelte ihren Arm und ließ verlauten, dass er ihr einen schönen Abend wünsche. Mathilda empfand es jedoch als ziemlich unpraktisch, dass Lèontine sich nun an ihre Fersen heften wollte. Sie kannte die Sängerin überhaupt nicht und außer beim Abendessen hatte sie nie ein Wort mit ihr gewechselt. Zudem wollte sie pünktlich bei ihrer Verabredung sein.
Doch Mathilda war auch zu höflich, um sie abzuwimmeln. Und so sah sie zu, wie sich auch Lèontine Aubart von den Anwesenden verabschiedete und mit trippelnden Schritten auf sie zu kam. Die Sängerin nickte höflich, als sie mit Mathilda auf Augenhöhe war.
Mathilda erwiderte ihr Lächeln zwar, aber schon im nächsten Augenblick erstarb es, als Madame Aubart verlauten ließ: „Draußen soll ein herrlicher Sternenhimmel sein. Wunderschön, aber zu kalt.“
„Ja, deswegen werde ich mich wahrscheinlich gleich in meine Kabine zurückziehen“, unternahm Mathilda einen kargen Rettungsversuch.
Sie passierten gerade den Eingang des Salons, als Lèontine über ihre Schulter sah und flüsterte: „Ist Mr. Guggenheim noch zu sehen?“
Mathilda war irritiert. Sie blickte sich um und prüfte kritisch die Umgebung. „Nein, ich kann ihn nicht mehr sehen. Vermutlich ist er mit den anderen in den Rauchsalon. Aber, verzeihen Sie die Frage – was um alles in der Welt bezwecken Sie damit? Wir kennen uns doch kaum.“ Mathildas Sehnsucht nach William war weitaus größer, als die Höflichkeit Lèontine gegenüber.
Die Französin kicherte und hielt sich ihre behandschuhte Hand vor den Mund. „Verzeihung für dieses Spielchen“, erwiderte sie gut gelaunt. „Aber Benjamin möchte auch dann, wenn er nicht anwesend ist, mein Wohlergehen. Was allerdings bedeutet, dass ich sein Personal ständig am Hals habe.“
„Entschuldigung, ich fürchte, ich verstehe nicht...“ Mathilda ignorierte es, dass sich die französische Sängerin längst bei ihr eingehakt hatte.
„Nun, ich möchte einen Abend auch mal alleine sein. Ohne, dass mir ständig einer seiner Angestellten hinterher rennt und versucht, mir meine Wünsche zu erfüllen.“ Ein theatralischer Seufzer. „Und das funktioniert nur, wenn ich mich mit einer anderen Dame aus der höheren Gesellschaft aus dem Dinnersalon stehle.“ Sie lächelte verschwörerisch.
„Dann war ich also ein passender Vorwand?“ So langsam begriff Mathilda, was die Sängerin vor hatte.
„So können Sie es ausdrücken.“ Lèontine Aubart blieb vor den Liften stehen. „Verzeihen Sie mir, aber ich bin keineswegs an einem Abend mit Ihnen interessiert. Ich genieße jetzt das Alleinsein auf diesem zauberhaften Schiff. Bitte entschuldigen Sie, falls ich zu aufdringlich war.“
Mathilda musste trotz all dieser Dreistigkeit lachen. Selbst in der höheren Gesellschaft schien das emsige Personal ab und an zu viel zu werden. „Keineswegs. Ich freue mich, wenn ich behilflich sein konnte. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Lèontine.“
Die Französin nickte zum Abschied, ehe der Lift sich schloss und die Begleitung von Benjamin Guggenheim verschwand. Erleichtert atmete Mathilda aus. Einen Augenblick lang hatte sie befürchtet, Lèontine dauerhaft an sich kleben zu haben. Glücklicherweise hatte es sich schnell aufgeklärt und Mathilda warf ihren Mantel um die Schultern, um endlich nach draußen zu gelangen. Sie ahnte, dass sie zu früh am vereinbarten Treffpunkt war, doch länger hielt Mathilda es nicht aus.
Augenblicklich schlug ihr die eisige Luft entgegen. Die Temperatur muss wieder um einige Grad gefallen sein. Als sich die Türe hinter Mathilda schloss, wurde es dunkler. Die See war heute besonders ruhig und glich einer glatten, schwarzen Ölpfütze. Für Mathilda war es ein wenig beunruhigend. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit irgendetwas sehen zu können. William hatte am Nachmittag noch von Eisbergen gesprochen. Würde sie vermutlich welche davon sehen können?
Mathilda rügte sich für diesen absurden Gedanken. Sie sah wieder Schatten, wo vermutlich keine waren. Ringsherum war es dunkel, pechschwarz. Die Titanic war vermutlich der einzige Lichtkegel auf diesem finsteren Ozean. Nur die Sterne am Firmament strahlten unermüdlich in dieser klaren Nacht.
In diesem Punkt hatte Lèontine Aubart Recht behalten – es war ein wunderschöner Anblick. Mathilda hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte verträumt nach oben. Eine ganze Weile lang beobachtete sie diese funkelnden Diamanten, die so bunt verstreut über ihr am Himmel hingen.
Mathilda genoss diesen Moment der Ruhe. Von innen drang die Geräuschkulisse zahlreicher lachender Passagiere ab und an nach draußen, aber hier unter diesem Meer aus Sternen herrschte dagegen fast völlige Stille.
Unter diese Stille mischten sich nun schwere Schritte, die genau hinter ihr zum Stehen kamen. Offensichtlich hatte er sich genau diesen ruhigen Moment ausgesucht, um aus dem Hintergrund hervorzuschreiten.
Mathilda lächelte selig, als sie das Rasierwasser vernahm und sich binnen eines Wimpernschlages starke Hände von hinten mit leichtem Druck auf ihre Oberarme legten. Automatisch lehnte sich Mathilda zurück und sog die Wärme, die von ihm ausging, sofort in sich auf.
„Woran hast du erkannt, dass ich es bin?“, fragte William neugierig, da Mathilda sich nicht zu ihm umgedreht, sondern sofort angelehnt hatte.
Ein leises Lachen erklang. Mathilda schmiegte sich nun noch enger an ihn. „Es ist dein Rasierwasser. Das hab ich mir inzwischen eingeprägt“, lächelte sie.
Daraufhin hauchte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe und lachte entspannt. „Ich freue mich, dass du meiner Bitte nachgekommen bist“, flüsterte er leise und sein warmer Atem bescherte ihr eine Gänsehaut.
„Nichts hätte mich davon abhalten können“, erwiderte Mathilda und fügte gedanklich hinzu: „Nicht einmal eine Lèontine Aubart.“ Bei dem Gedanken an die Sängerin und deren skurriles Verhalten schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Williams Hände glitten ihre Oberarme hinab und blieben auf ihrer Taille liegen. Er zog sie dabei noch ein Stück enger an sich, was Mathilda ein angenehmes Prickeln bescherte. „Darüber bin ich sehr froh“, raunte er ihr ins Ohr. „Lights hat sich hoffentlich auch höflich benommen?“
„Als ob du das nicht schon wüsstest.“ Mathilda drehte ihren Kopf ein Stück um ihn ansehen zu können. Sie ahnte schon, dass mit „Lights“ der Zweite Offizier Charles Lightoller gemeint war. „Aber ja, er war wirklich sehr höflich. Er hat mir von seiner Frau erzählt.“
William lachte kurz auf. „Freiwillig?“
Da Mathilda sein Gesicht bestens im Blick hatte, erkannte sie auch, dass er einen amüsierten Blick aufgesetzt hatte. „So halbwegs“, gestand sie und kicherte, als Will sie daraufhin fester an sich drückte. „Ich hab ihn danach gefragt. Er war einen Augenblick lang ziemlich perplex, aber hat dann brav geantwortet.“
„Ach, du gute Güte. Das wird er mir wieder bei der nächsten Gelegenheit vorhalten.“ William schenkte ihr erneut einen Kuss auf die Schläfe. „Vielleicht hätte ich Harry doch besser die fünf Pfund Sterling geben sollen, anstatt Lights loszuschicken.“
Mathilda befreite sich ein wenig aus seinem Griff, sodass sie ihm nun vollendend ins Gesicht sehen konnte. Allerdings hielt sie es nicht lange ohne seine Berührung aus und legte ihre Hände auf seine Brust. Auch Will reagierte direkt, und seine Hände fanden ihren Weg wieder an ihre Taille.
„Wer ist Harry?“, wollte Mathilda neugierig wissen, während sie verträumt an seinem Kragen entlang strich.
„Harold Lowe, unser Fünfter Offizier. Er erledigt sehr gerne Botengänge“, amüsierte sich William. „Doch da ich Harry nicht schnell genug gefunden habe, musste Charles als Bote herhalten.“
Mathilda schüttelte lachend den Kopf, während sie dieses sympathische und attraktive Gesicht des Ersten Offiziers verliebt ansah, als wolle sie es sich einprägen. Sie streckte ihren Hals durch und lehnte sich mutig gegen ihn, um sich den ersehnten Kuss von ihm zu stehlen. William wich keineswegs zurück. Stattdessen drückte er die junge Frau eng an sich und verschloss ihre Lippen mit den seinen. Versunken in diesen so zärtlichen und gleichermaßen intensiven Kuss, vergaßen die beiden, dass ihnen hier draußen jederzeit jemand begegnen konnte. Allerdings störte sich Mathilda daran nicht mehr. Wenn eine Lèontine Aubart, eine französische Sängerin, sich mit einem verheirateten Millionär einlassen konnte, dann durfte eine ledige, verliebte Frau wie Mathilda die Nähe eines unverheirateten Offiziers genießen.
„Das hat mir gefehlt“, seufzte Mathilda, als sie sich von William löste, wobei ihr allerdings schon die nächste Frage durch den Kopf schoss. „Sag mal, hast du keine Angst vor einer Ansteckung?“ Sie musste nicht groß aussprechen, wovon sie sprach.
William bedachte sie mit einem innigen Blick, während er ihr gefühlvoll über ihr gelocktes, rötliches Haar strich. „Nein, immerhin weiß ich, dass du dich nicht angesteckt hast. Außerdem kann mich nichts davon abhalten, dir nah zu sein“, gab er eine Antwort, die so voller Zuneigung war, dass sich in Mathildas Augen leichte Tränen sammelten.
„Woher weißt du das?“ Eigentlich fragte sie nur aus Höflichkeit. Sie ahnte schon, dass William seine Augen und Ohren überall hatte.
„Ich war nochmal bei Dr. O'Loughlin“, eröffnete er ihr ehrlich. „Ich habe ihn informiert, dass für Edith alles in die Wege geleitet wird und dabei habe ich ihn nach deinem Gesundheitszustand befragt.“
Mathilda zog kokett eine Augenbraue nach oben. „Normalerweise hätte er dir nichts sagen dürfen“, merkte sie scharf an.
„Nein, eigentlich nicht. Aber offenbar hat er gemerkt, wie wichtig du mir bist. Außerdem hat unser Doktor ein geübtes Auge.“ Dass er damit nicht unbedingt auf die ärztlichen Fähigkeiten des Mannes ansprach, wusste Mathilda. Also hatte Dr. O'Loughlin tatsächlich bemerkt, dass zwischen ihr und Will mehr als nur Sympathie stand.
Wie selbstverständlich glitten ihre Finger über seine Wangen. „Ich bin dir wichtig?“, fragte sie dabei zuckersüß.
„Ich dachte, das sei offensichtlich“, bemerkte William, der den Beleidigten mimte. Er fing aber sogleich an zu lachen, als Mathilda es auch tat. „Ehrlich, Liebste, ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Nicht nur gesundheitlich. Ich bin wirklich glücklich, dass ich dir begegnet bin.“ Mathilda wirkte mit einem Mal traurig. „Zu schade, dass diese Überfahrt am Mittwoch schon zu Ende ist. Ich habe mich schon daran gewöhnt, mich mit dir hier an Deck zu treffen.“
William nahm ihr Kinn in seine Hand und zwang sie dazu, ihn anzusehen. „Heißt das, du willst mich nach der Überfahrt nicht mehr sehen?“ Dabei blickte er nun in ein geschocktes Augenpaar, was ihn dazu veranlasste, sofort hinzuzufügen: „Also, was meine Person angeht, dann würde ich dich nie wieder loslassen. Ich würde uns gerne eine Zukunft schenken. Das heißt, wenn du...“
„Wenn ich mit deinem Beruf leben kann?“, beendete Mathilda seinen Satz und am liebsten wäre sie vor Glückseligkeit zersprungen, doch sie hielt sich vornehm zurück.
William nickte nach einer kurzen Zeit des Schweigens. „Ja, genau.“
„Ich würde es gerne versuchen. Bei Charles und Sylvia klappt es doch auch, oder nicht?“ Mathilda suchte in seinen Augen nach einer Antwort, doch die kam schneller als erwartet.
„Das tut es. Und die beiden sind wunderbar zusammen. Hat er dir auch erzählt, dass sie zwei Söhne haben?“ Während er sprach, hatte William seine Herzdame wieder an sich gezogen. Fast so, als wolle er sein Versprechen wahr machen und sie nie wieder loslassen.
„Nein, so weit ging unser Gespräch dann doch nicht!“, lachte Mathilda entspannt. Sie seufzte erleichtert und legte ihren Kopf an seine Brust. „Wenn das hier ein Traum ist, dann möchte ich nie wieder daraus aufwachen.“
Nie wieder.
*****
13. April 1960 – Southampton
„Dann lass uns diesen Traum gemeinsam träumen und am Leben halten. Ich werde dich immer festhalten, das verspreche ich dir, mein Liebling. Lass mich in dein Herz.“
„Du hast es doch längst... mein Herz.“
Mathilda war sich nicht sicher, überhaupt gesprochen zu haben. Williams Stimme hallte nach fast fünfzig Jahren noch immer durch ihren Kopf, bescherte ihr die bekannte Gänsehaut und erinnerte sie stets daran, was sie verloren hatte.
Als sich Mathilda zu Bett gelegt hatte, war sie körperlich komplett am Ende gewesen. Die Nacht zuvor am Hafen hatte ihren Tribut gefordert und die alte Frau komplett in die Knie gezwungen. Erst nach Stunden in der eisigen Kälte, war sie halbwegs aufgewacht und bei Sonnenaufgang nach Hause zurückgekehrt. Selbstverständlich hatte in den frühen Morgenstunden Mrs. Cummings Mathildas Weg gekreuzt. Ausgerechnet sie! Mathilda hatte der steifen Dame keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern war stur geradeaus wieder in ihr Haus zurückgekehrt. Sollte diese Person doch über sie richten und den Mund vor lauter Lästereien zerreißen – Mathilda war es schlichtweg egal. Nichts hatte mehr Sinn.
Nun saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Der Abend war längst wieder hereingebrochen und trotz der Tatsache, dass sie den ganzen Tag nur im Bett gelegen hatte, war die Kälte allgegenwärtig. Sie verschwand einfach nicht, sondern nahm zu. Selbst die Schlaftabletten, die sie von ihrem Arzt verschrieben bekommen hatte, halfen nur bedingt. Zwar war sie binnen weniger Minuten eingeschlafen, doch die Alpträume hatten an Stärke gewonnen und sie zurück in die Realität geholt. Eine Realität, die so erschreckend einsam war, dass Mathilda sich wieder einmal wünschte, mit in den Schlund des Ozeans gerissen worden zu sein.
Selbst dieser so schöne Traum an den Abend des 13. Aprils 1912 half ihr nicht über die Trauer und Einsamkeit hinweg. Dieser wundervolle Moment, den sie einst mit William geteilt hatte, verschwand in der Dunkelheit ihrer Seele. Derselben Dunkelheit, die sie jeden Tag immer mehr einholte und drohte, sie endgültig von den Füßen zu reißen.
Mathilda saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mit leerem Blick auf die kalte Wand gegenüber. Heute fühlte sie einmal mehr, dass sie kaum mehr existierte, sondern nur noch eine leere Hülle war. Langsam zog sie ihre Beine unter der Decke hervor und setzte sich auf die Kante ihres Bettes, das leise knarzte. Ein trauriger Seufzer entrann ihrer Kehle.
Diese Erinnerung an den 13. April 1912 spielte sich noch immer in ihrem Kopf ab wie ein alter Film. Ein Projektor, der die Bilder auf einer Leinwand in ihrem Hinterstübchen abspielte. Sie waren noch immer da. Sie alle. Jeder einzelne von ihnen sah noch genauso aus, wie zu dem Zeitpunkt, als Mathilda sie zuletzt gesehen hatte. William, Edith, Thomas Andrews und all die anderen, die dort draußen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Mathildas Unterlippe zitterte unkontrolliert und die Tränen fanden ihren Weg nach unten, tropften in unregelmäßigen Abständen auf das Nachthemd, das über ihren Knien hing. Erneut erinnerte sie dieser stille, karge Augenblick daran, dass sie damals alles verloren hatte und der Untergang der Titanic der Grundstein ihres einsamen Daseins war.
Vor so vielen Jahren hatte sich Mathilda niemals vorstellen können, einmal in solch einer Einsamkeit zu versinken und sich mehr nach dem Tod als dem Leben zu sehnen. Doch damals hatte sie nicht wissen können, was die Zukunft mit ihr vor hatte. Schon oft hatte sich Mathilda gefragt, was sie im Leben verbrochen hatte, um so bestraft zu werden.
Ohne ersichtlichen Grund erhob sich die alte Dame ächzend von ihrem Bett. Langsamen Schrittes bewegte sie sich durch ihre dunkle Wohnung. Für einen Außenstehenden musste es wirr aussehen, wie sie durch den Flur wackelte, kurz anhielt und überlegte, dann aber ihren Gang wieder aufnahm. Vor einem kleinen, unscheinbaren Schrank blieb Mathilda stehen und öffnete diesen. Vorsichtig tastete sie den Inhalt des Schrankes ab und zog schließlich den Gegenstand heraus, der für sie ein klein wenig Halt bedeutete. Dieser unscheinbare Gegenstand war der einzige materielle Teil, der ihr von der Reise der Titanic geblieben war. Mit diesem Gegenstand bewegte sich die alte Frau ins Wohnzimmer und fand ihren Platz in ihrem Sessel.
„Du hast es versprochen, du Lügner.“
Ihre Handoberflächen wurden nass, als die Tränen erneut fielen. Mathilda presste den geliebten Gegenstand mit fadem Beigeschmack an ihre Brust, während sie sehnsüchtig zum Fenster hinausblickte, als würde Will jeden Moment auftauchen und sein Versprechen einlösen. Doch wie jedes Mal kam niemand. Die Trauer schnürte erneut ihre Brust ein. Wovor hatte sie mehr Angst? Vor dem Wachsein, das sie stets daran erinnerte, niemanden mehr zu haben. Oder vor dem Schlafen, das ihr wieder und wieder einen Traum bescherte, sie auf die Titanic zurückholte und den Schmerz aufrecht erhielt.
Panisch schreckte Mathilda nun auf, als die Wohnzimmeruhr schlug. Ihr Herz raste und Mathilda stand erneut vor einer Panikattacke. Die Uhr verkündete ihr, dass es Mitternacht war. Mathilda wusste, welcher Tag nun angebrochen war.
Der 14. April. Der Tag der Kollision. Der Tag, der alles Glück einst beendet hatte.