Raisels Rückkehr - Noblesse
von amica libri
Kurzbeschreibung
Als Raizel wiedergeboren wurde, ist er bei seinen Freunden wieder aufgetaucht. Doch wie reagieren Tao, Takeo, M-21 und vor allem Frankenstein auf seine Rückkehr? Wie kommt es, dass er wiedergeboren wurde? Und wie kommt da jetzt sein Bruder ins Spiel? Rai hat einige Fragen zu beantworten... (Spielt nach Ende des Manhwas)
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
24.10.2021
24.10.2021
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«Ah…»
Tao seufzte. Was musste das auch so viel Papierkram sein?! Wenn er das gewusst hätte, hätte er sich das mit dem Schulleiterposten vielleicht doch besser nochmal überlegt. Wie hatte der Boss das alles nur hingekriegt? Vor allem, da er nebenbei noch einen Haushalt schmeissen, für ihrer aller Gesundheit sorgen, das perfekte Ramenrezept austüfteln und seinem Herrn Tee servieren musste!
Er seufzte erneut.
Das alles war jetzt nicht mehr nötig, denn Er… Er war ja nicht mehr…
Tao schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Es war zwar schon einige Wochen her, aber es schmerzte immer noch. Vermutlich würde es nie ganz aufhören, weh zu tun. Zumindest war es das, was M-21 sagte, wenn er über seine verstorbenen Kameraden sprach. Dass es zwar besser wurde, aber dass sich das Loch, dass sie hinterlassen hatten, nie ganz schloss.
Wenn ich doch nur ein bisschen schneller gewesen wäre… Dann hätte ich vielleicht verhindern können, dass…Nein! Nein, das darf ich nicht denken! Selbst der Boss hat mir gesagt, dass ich mir keine Vorwürfe machen soll. Ich muss jetzt nach vorne schauen und das Leben leben, das Er sich für uns gewünscht hat!
Entschlossen ordnete der Technik-Freak die Blätter vor sich wieder zu einem schönen Stapel und machte sich ans Werk.
Doch es dauerte nicht lange, bis seine Konzentration wieder gestört wurde, diesmal durch ein Klopfen an der Tür. Diese ging, noch bevor er etwas sagen konnte, auf und ein junges, strahlendes Gesicht erschien.
«Bruder! Du wirst es nicht glauben!»
«Ach, hallo Ikhan! Shinwoo, Mädels… Was gibt’s denn?»
Die Kinder strahlten alle übers ganze Gesicht, aber auf ihren Wangen waren noch die Spuren von Tränen zu sehen. Warum hatten sie wohl geweint? Er wollte gerade nachfragen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Die Antwort betrat gleich nach ihnen das Zimmer.
Tao musste schlucken, als er diese vertraute, schlanke Figur mit den elegant zerzausten Haaren und den blutroten Augen erblickte. Augenblicklich prasselten unzählige Erinnerungen auf ihn ein:
Raizel, als er ihn das erste Mal gesehen hatte.
Raizel, der mit rotglühenden Augen Krans besiegte und ihm so das Leben rettete.
Raizel, der auf dem Sofa sass und Tee trank.
Raizel, der mit den Kindern Spiele spielte, deren Regeln er nicht wirklich verstand.
Raizel, der ihnen ein Zuhause gab. Eine Familie.
Raizel, der sein Leben gab, um sie zu beschützen.
Raizels Stimme, die ihm sagte, sie sollen das Leben leben, dass sie sich wünschten.
Raizel, der sagte, es tue ihm leid.
Und dann rotes Licht, das vom Himmel regnete.
Taos Augen füllten sich mit Tränen und er konnte die schwarzhaarige Silhouette vor sich nur noch verschwommen erkennen. Konnte diesen gütigen, mitfühlenden und manchmal so traurigen Blick aus diesen grossen roten Augen nicht mehr sehen. Aber dafür spürte er es fast körperlich: Raizels Lächeln.
Ehe er wusste, was er da tat, ehe er überhaupt gemerkt hatte, dass sein Körper sich bewegt hatte, war er hinter dem Schreibtisch hervorgeschnellt und hatte die Arme um den Noble geschlungen.
«Raizel», wisperte er immer wieder, wie ein Mantra. «Raizel, Raizel.»
Der Jüngere merkte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen und auf Rais Schuluniform tropften.
«Oh, entschuldige!»
Verlegen wollte er sich von Rai lösen, doch dieser liess es nicht zu. Er schlang langsam und etwas unsicher die Arme um Tao, platzierte seine Hände auf dessen Rücken und drückte ihn kurz an sich. Als sie sich wieder voneinander lösten, wischte sich Tao die Tränen weg und konnte nun endlich wieder diese roten Augen klar sehen, die ihn gerade mit einer Mischung aus Glück, Sorge und viel Zuneigung anschauten.
«Ich… Ich kann es nicht glauben!»
«Haben wir doch gesagt!», rief Shinwoo dazwischen. Die Kinder grinsten alle von einem Ohr zum anderen und konnten kaum stillstehen.
Tao lachte.
«Schon klar! Aber wer rechnet auch mit sowas! Das ist einfach unfassbar!»
Dann schaute er wieder den Noblesse an und fragte zögernd: «Ähm… Raizel, Sir… Wie… Wie kann das sein?»
«Eh? Bruder, warum nennst du Rai denn Sir?», erkundigte sich Ikhan neugierig. Tao zuckte kurz zusammen und in seinem Kopf schwirrten alle möglichen Gedanken umher, ohne sich jedoch zu einer wirklich glaubhaften Antwort zu formen. Doch da kam ihm Yuna zu Hilfe:
«Rai ist doch ein Nobel!»
«Daran müsst ihr euch doch erinnern!», mischte sich jetzt auch Sui ein. «Das Foto vom Krater? Und Rai mitten drin? Hallo?!»
«Ja, schon gut, schon gut. Rai ist kein Mensch, wir wissen es. Wieder. Aber er ist unser Freund und es ist echt komisch, wenn unser Bruder ihn Sir nennt.»
Ikhan nickte heftig während den Ausführungen seines rothaarigen Freundes. «Genau! Ausserdem ist Regis doch auch ein Nobel und Tao nennt ihn nur beim Namen!»
Darüber dachten die Mädchen einen Moment nach, dann nickten sie und schauten den neuen Schulleiter fragend an. Dieser lächelte etwas verkrampft und warf seinerseits Raizel einen hilfesuchenden Blick zu.
«Naja… Also Raizel ist… kein gewöhnlicher Nobel. Und der Boss legt sehr viel Wert darauf, dass er mit dem nötigen Respekt behandelt wird.»
«Rai, du bist was Besonderes unter den Nobels?»
Raizel, der noch immer bewegungslos mitten im Raum stand, nickte. Einmal. Keine weitere Erklärung.
«Ah man», seufzte Shinwoo und kratzte sich am Kopf. «Rai hat sich kein Stück verändert. Er kriegt den Mund immer noch nicht auf…»
Raizel errötete.
«Wie auch immer», warf Tao ein, bevor die Kinder ihn noch weiter in Verlegenheit bringen konnten, «das können wir alles später klären. Jetzt muss ich erstmal Takeo und M-21 Bescheid geben! Und dem Boss!»
Bei diesen Worten wurde Rais Blick fragend und sehr intensiv.
Tao legte sich verlegen eine Hand in den Nacken.
«Der Boss ist im Moment nicht hier, er… hält sich beschäftigt. Dinge über die ehemalige Union herausfinden und so. Ich glaube… Ich glaube er muss sich einfach ablenken, damit er nicht an dich… also, ich meine… nicht, dass er nicht an dich denken will, aber… es …es tut halt weh…»
Er wusste nicht, wie er es besser erklären sollte und wie viel er sagen sollte, ohne den sanftmütigen Nobel mit seinen Worten zu verletzen. Raizel würde sich grosse Sorgen machen, wenn er erfuhr, wie schlecht es seinem Diener in letzter Zeit wirklich gegangen war, mit welch verzweifelten Elan er sich in die Recherchen mit dem dritten Ältesten gestürzt hatte, nur um seinen Geist beschäftigt zu halten. Frankenstein würde den Hacker umbringen, wenn er seinem geliebten Meister diese traurigen Wahrheiten aufbürdete.
Er schauderte leicht bei dem Gedanken an das, was sein Boss ihm antun würde und entschied sich, lieber den Mund zu halten. Stattessen zog er sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer.
«Boss? Ja, ich bins. Es hat hier… eine unerwartete Entwicklung gegeben. Nein, nein, niemand ist in Gefahr. Sicher. Aber… Du solltest herkommen. So schnell wie möglich… Ja, es ist wirklich wichtig… Nein, ich kann das gerade nicht wirklich erklären… Ja, du musst es mit eigenen Augen sehen… Gut, danke. Bis dann!»
Er legte auf und wählte gleich die nächste Nummer.
«Takeo, komm mit M-21 so schnell wie möglich in mein Büro. Ihr werdet es nicht glauben…»
Einige Stunden später sassen Tao, Takeo und M-21 zuhause nebeneinander auf dem Sofa und warfen immer wieder verstohlene Blicke auf Raizel, der wie üblich in seinem Lieblingssessel sass und eine Tasse Tee trank. Sicherlich war das Getränk nicht so gut, wie der Tee, den Frankenstein ihm bereitet hätte, aber der Noblesse hatte so viel Zucker beigefügt – seine üblichen acht Löffel und dann noch zwei aufgrund der aussergewöhnlichen Umstände – dass es sicherlich kaum einen Unterschied machte.
Nach Taos Anruf waren die anderen beiden modifizierten Menschen sofort in sein Büro gekommen. Als sie Raizel entdeckt hatten, hatten sie beide sehr emotional reagiert. Eine Menge Tränen waren geflossen, sogar M-21 konnte sie nicht zurückhalten und sie hatten freudig und verwirrt vor sich hin gestammelt, bis Raizel einen nach dem anderen kurz in den Arm genommen hatte. Er hatte zwar kein Wort gesagt, aber die Freude in seinen Augen und seinem Lächeln waren unübersehbar.
Dann hatte das Kreuzverhör begonnen. Natürlich wollten sie alle wissen, was mit Rai passiert war und wie er so plötzlich wieder aufgetaucht war, aber der dunkelhaarige Noble blieb schweigsam wie immer. Auch darüber, wieso die Kinder ihn vergessen hatten und sich jetzt, kaum war er wieder aufgetaucht, wieder an ihn erinnerten, schien er nicht sprechen zu wollen. Doch das verdächtige Rot auf seinen Wangen liess die modifizierten Menschen vermuten, dass er sich in einem sehr, sehr seltenen Anflug von Rücksicht auf seine eigenen Wünsche dazu entschlossen hatte, ihnen ihre Erinnerungen zurück zu geben. Er wollte die Erinnerungen an die gemeinsam verbrachten Stunden in der Schule oder die Spieleabende nicht einfach für immer verschwinden lassen.
Schliesslich hatten die Kinder aufgegeben, mehr aus ihrem Freund herausquetschen zu wollen (wobei Sui hart durchgreifen musste, um Shinwoo zum Schweigen zu bringen). Dafür erklärte ihnen Tao, was es mit der Stellung des Noblesse auf sich hatte, allerdings ohne zu erwähnen, dass Raizel zur Erfüllung seiner Pflicht andere Nobles getötet hatte. Es war besser, die Kinder von dieser dunklen Seite der Nobilität fernzuhalten. Es war schon gefährlich genug, dass sie überhaupt wussten, dass es Nobles gab und einige ihrer Freunde welche waren. Sie sollten sich nicht auch noch Gedanken darüber machen, was besagte Freunde in ihrem langen Leben schon alles getan hatten.
Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte und die Kinder sich dazu breitschlagen liessen, nach Hause zu gehen und Rai etwas Ruhe zu gönnen. Doch schliesslich hatten sie widerstrebend zugestimmt, nachdem der Noblesse ihnen auf seine schweigsame Art versichert hatte, dass er am nächsten Tag wieder da sein würde. Und so waren also nur noch die Bewohner von Frankensteins Haushalt anwesend, als sich die Eingangstür öffnete und der Hausherr eintrat.
«Tao», rief er, während er das Wohnzimmer ansteuerte, «was ist denn nun so Dringendes passi…»
Er brach mitten im Satz ab, die Augen weit aufgerissen, der Mund offenstehend.
Unter anderen Umständen hätte das Trio wohl über Frankensteins Gesichtsausdruck gelacht, doch sie wussten, was dieser Moment für ihren Boss bedeutete.
«M-Meister?» Es war kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.
«Frankenstein.»
Ein Schauer überlief ihn, als er seinen Namen mit dieser vertrauten Stimme ausgesprochen hörte. Er begann zu zittern. Seine Augen wurden feucht.
Meister… Mein Meister… hier, er ist hier. Er lebt.
Seine Beine gaben unter ihm nach und er sank auf ein Knie. Bevor er Raizel kannte, hatte er nie verstanden, warum manche Leute freiwillig vor anderen auf die Knie gingen. Selbst vor einem König wäre er nie auf die Idee gekommen, sich so zu demütigen und zu unterwerfen. Doch vor seinem Herrn zu knien hatte sich von Anfang an ganz natürlich angefühlt. Es erfüllte ihn sogar mit Stolz, diesem grossherzigen und selbstlosen Mann dienen zu dürfen. Nur sein Meister hatte diese Form von Ehrerbietung verdient und Frankenstein war gern bereit, sie ihm zu geben, auch wenn Raizel selbst es nie von ihm verlangt hatte. Also legte er eine Hand auf sein Herz, senkte den Kopf und sagte voller Inbrunst:
«Meister!»
Frankenstein verharrte in dieser Position, selbst als zwei Füsse in rosa Hausschuhen vor ihm auftauchten. Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter und drückt sie leicht.
«Frankenstein… Es tut mir so leid.»
Raizels Stimme war leise und aufrichtig.
Verwirrt schaute der Blonde zu seinem Herrn auf. Der Ausdruck in dessen Gesicht raubte ihm einen Moment den Atem: Reue, Trauer, Mitgefühl, Hoffnung, Freude – all diese Emotionen vermischten sich im perfekten Antlitz des Noblesse.
«Ich habe dich schon wieder alleine gelassen und dir dadurch Leid bereitet. Es tut mir leid, Frankenstein. Bitte verzeih mir.»
Seine Tränen liefen über.
«Meister… Ihr habt euer Leben für die Menschheit geopfert… Wie könnte ich da wütend sein? Es gibt nichts zu vergeben! Ich habe es nicht geschafft, euch zu beschützen! Ich hätte… ich hätte…»
«Du hast dir nichts vorzuwerfen, Franken. Du hast so viel für mich getan. Bitte gräme dich nicht.»
«Aber… aber…»
Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Dann stellte er die drängendste seiner Fragen: «Mein Herr, geht es euch gut?»
Raizel nickte.
«Ich bin wieder bei bester Gesundheit.»
Der Wissenschaftler sank etwas in sich zusammen, als die Erleichterung ihn durchflutete, und er wischte sich die Tränen von den Wangen.
«Bitte verzeiht diesen… Ausbruch.»
«Es ist alles gut, Franken.»
«Meister…»
Es waren rund zwanzig Minuten vergangen, bis sie zu fünft wieder um den Couchtisch herumsassen – diesmal war der Tee in Raizels Tasse von Frankenstein bereitet worden. Das Trio hatte den Austausch zwischen Diener und Meister etwas beschämt, aber glücklich beobachtet. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, wie viel es den beiden bedeuten musste, wieder beisammen zu sein, lebend und im Kreise ihrer Familie.
Schliesslich brach Frankenstein das Schweigen: «Mein Herr… Darf ich fragen, wie es sein kann, dass Ihr noch am Leben seid?»
«Das bin ich nicht.»
«…»
Panik flammte in den vier modifizierten Menschen auf. Sollte das etwa bedeuten, dass er wieder verschwinden würde? War er gar nicht hier, um zu bleiben?
«Aber Sir», warf Tao zögernd ein, «Sie haben doch denn Kindern versprochen, morgen noch hier zu sein. Also werden Sie doch nicht wieder verschwinden, oder?»
«Nein.»
«…»
Raizel seufzte, als er in die verwirrten Gesichter seiner Familie sah. Das würde einiges an Erklärungen verlangen.
«Ich bin nicht noch am Leben, sondern wieder.»
«Sie wurden also… wiedergeboren?», erkundigte sich M-21, woraufhin Raizel nur stoisch nickte.
«Eine Wiedergeburt…», sinnierte Frankenstein. «Davon habe ich unter den Nobles noch nie gehört. Andererseits waren sie auch nie besonders erpicht darauf, mit mir über die Eigenheiten ihrer Rasse zu reden.» Er lachte leise, wurde aber gleich wieder ernst. «Es würde tatsächlich Sinn machen, in Anbetracht dessen, dass die stärkste Angriffsform meines Herrn ein Phönix ist…»
«Du liegst richtig», warf Raizel ein und sofort richtete sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller anwesenden auf ihn. «Der Noblesse ist der Phönix. Er vergeht und entsteht von Neuem. Darum besitzt er auch keine Soul Weapon. Seine Seele kehrt in einen neuen Körper zurück, nicht zu den Nachkommen.»
«Aber Meister… warum habt Ihr uns das nicht gesagt?!?», rief Frankenstein entsetzt aus.
Wenn ich gewusst hätte… Ich hätte mir all die Sorgen sparen können! Ich hätte einfach nur warten müssen, bis er wiedergeboren wird!
«Ich wusste es nicht.»
Schweigen.
Die anwesenden Menschen starrten Raizel mit offenen Mündern an. Keiner wusste, was er dazu sagen sollte. Frankenstein war allem Anschein nach in akutem Schockzustand, sein Gehirn weigerte sich, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu erzeugen. Sein Denkprozess schien vollkommen zum Stillstand gekommen zu sein. Es war M-21, der sich als Erster wieder fing.
«Raizel… Könntest du uns das etwas genauer erklären? Es klang vorhin so, als wäre es ganz normal für den Noblesse, wiedergeboren zu werden, aber du hast trotzdem nichts davon gewusst? Wie kann das sein?»
Rai nahm nochmal in aller Ruhe einen Schluck von seinem Tee. Heute würde er viel reden müssen. Aber immerhin war es auch ein besonderer Tag für seine Familie, also würde er ihnen alle Fragen so gut beantworten, wie er konnte.
«Es ist normal für den Noblesse, wiedergeboren zu werden. Aber genauso normal ist es, dass die jeweilige Reinkarnation nicht weiss, dass sie nicht wirklich in den ewigen Schlaf gehen wird. Ein Noblesse, oder wohl eher der Noblesse in all seinen Reinkarnationen, wird nicht geboren, sondern er erscheint nach dem Tod des vorherigen. Zu dem Zeitpunkt weiss er nur seinen Namen, dass er der Noblesse ist, dass es seine Aufgabe ist, die Nobles, die Werte der Nobilität und die Menschen zu beschützen und dass er dafür stückweise sein Leben geben muss.»
«Macht irgendwie Sinn…», murmelte Takeo mit gesenktem Kopf zu sich selbst. Als er die Blicke der anderen auf sich spürte, schaute er etwas nervös auf und erklärte: «Naja, wenn der Noblesse wüsste, dass er einfach immer wieder geboren wird, wenn er stirbt, hat er keinen Grund, mit seiner Lebenskraft sparsam umzugehen.»
Und sofort stimmte ihm Tao bei: «Ja, und mit so einer riesigen Kraft… Wahrscheinlich ist es eine Art Schutzmechanismus, dass der Noblesse sein Leben einsetzen muss, um diese Kraft zu nutzen. Sonst könnte er tun und lassen was er wollte. Nicht dass Raizel das tun würde!», fügt er schnell hinzu, als sein Boss ihm mit violett flackernder Aura einen mörderischen Blick zuwarf.
Aber dennoch musste der blonde Wissenschaftler zugeben, dass diese Theorie etwas für sich hatte. Ohne eine solche Einschränkung wäre der Noblesse tatsächlich ein beinahe allmächtiges Wesen. Nichts könnte sich ihm in den Weg stellen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er daran dachte, was gewisse verkommene Subjekte mit einer solchen Macht alles anstellen würden. Wieder einmal erfasste ihn eine tiefe Welle der Bewunderung für seinen Herrn, der seine Kraft stets zum Wohle anderer einsetzte und lieber in der Einsamkeit seines leeren Hauses blieb, als Einfluss auf die Welt und ihre Bewohner zu nehmen.
.
«Aber warum kannst du dich dann an uns erinnern?»
M-21s Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Es stimmte, nach dem was Raizel gerade erklärt hatte, hätte er sich an nichts erinnern dürfen. Und doch erkannte er sie alle wieder.
«Frankenstein», sagte Raizel sanft, als würde das alle Fragen beantworten.
«Ich? Was habe ich damit zu tun?»
«Wir sind durch einen Vertrag aneinander gebunden. Offenbar wurde dieser bei meiner Wiedergeburt erneut in Kraft gesetzt und hat dafür gesorgt, dass ich als derselbe zurückkehre, der ich… vorher war. Zumindest ist das die einzige Erklärung, die ich dafür habe. Noch nie zuvor hat ein Noblesse einen Vertrag mit einem Menschen geschlossen.»
Das machte Frankenstein sprachlos. Ihr Vertrag hatte seinen Herrn gerettet?
Und der Noblesse hatte noch nie einen Vertrag geschlossen? Hiess das, dass er sich wirklich immer von allen Leuten ferngehalten hatte? Seit wann es den Noblesse wohl schon gab? Wie lange die verschiedenen Reinkarnationen seines Herrn die Menschen wohl schon beschützte? Wie viele tausend und abertausend Jahre er dieses einsame Leben wohl schon führte? Allein der Gedanke daran betrübte Frankenstein zutiefst. Sein armer, grossherziger Meister! Ganz allein…
Moment.
Allein?
«Mein Herr? Ich möchte ja keine traurigen Erinnerungen wecken, aber habt ihr nicht einmal einen Bruder gehabt? Wurde er auch reinkarniert?»
«Bruder?!», riefen die modifizierten Menschen überrascht aus. Davon hatten sie noch nie gehört.
«Das könnte man so sagen», antwortete Raizel seinem treuen Diener.
«Wo ist er dann? Er müsste doch sicher in eurer Nähe erschienen sein…»
Auf dem Schulgelände? Nein, Tao hätte das bemerkt. Seinem Überwachungssystem würde kein Fremder entgehen. Aber er war durch die Rückkehr meines Herrn abgelenkt…
«Meister, bitte verzeiht mir», begann Frankenstein mit gesenktem Kopf und legte sich die Hand aufs Herz, «Ich werde augenblicklich nach Eurem Bruder suchen und ihn…»
«Frankenstein.»
Ein merkwürdiges Gefühl flutete durch ihre mentale Verbindung. Es war eine Mischung aus Trauer und Erleichterung, die er nicht einordnen konnte.
«Er ist nicht hier», erklärte Raizel ruhig, aber auch in seinem Gesicht war dieses gemischte Gefühl sichtbar, zumindest wenn man ihn gut genug kannte, um die kleinen Veränderungen in seiner Mimik, die seine jeweiligen Gefühle ausdrückten, zu erkennen. Sein Blick wanderte in die Ferne und nun waren seine grossen, roten Augen erfüllt mit Trauer.
Es dauerte einige Minuten, bis sich Tao traute, den Herrn seines Bosses in seinen Gedanken zu stören. Vorsichtig fragte er:
«Raizel… Was ist mit deinem Bruder passiert?»
«… Ich habe ihn getötet.»
Der Schwarzhaarige schloss kurz die Augen und versuchte das Bild seines Bruders zu verdrängen, als sein Blutphönix ihn in voller Stärke traf. Er sprach nicht gerne über dieses Thema. Es schmerzte ihn, zu was er gezwungen gewesen war. Es schmerzte ihn, die eine Person getötet zu haben, die ihm als einziges ab und an Gesellschaft geleistet hatte. Und es schmerzte ihn, was diese jungen Menschen hier vor ihm – seine Kinder – von ihm denken mussten. Aber sie hatten eine befriedigende Antwort verdient.
«Eigentlich war er nicht mein Bruder. Er war mein Zwilling.»
«Aber ein Zwilling ist doch ein Bruder!», warf Takeo scharf ein, Geschwister waren bei ihm ein sensibles Thema. Obwohl er wusste, dass Rai nie jemandem ohne guten Grund verletzen oder gar töten würde, konnte er nicht anders als es ihm etwas übel zu nehmen. Er hatte diesen Bruder ja nicht gekannt, aber Geschwister mussten zusammenhalten! Er hätte alles für Teira getan… Doch als auch ihn Frankensteins Killerblick traf, duckte er sich und murmelte: «Ich meine… also…»
«Ich verstehe deine Verwirrung und deinen Unmut», versicherte ihm der sanftmütige Noblesse. «Doch wenn ich sage, er war mein Zwilling, meine ich tatsächlich keinen Bruder. Vielmehr war er ein Teil meiner selbst.»
Zum x-ten Mal an diesem Abend rief Raizels Bemerkung lediglich grosse Verwirrung hervor. Die modifizierten Menschen begannen schon an ihrer Intelligenz zu zweifeln.
Rai seufzte erneut. So befriedigend schien seine Antwort nicht gewesen zu sein. Aber er war es nun Mal nicht gewohnt, so viel zu reden. Jahrtausende lang hatte er nur geschwiegen, gab es doch niemanden, mit dem er hätte reden können. Und auch danach hatte er die Kommunikation wann immer möglich Frankenstein überlassen. Aber heute würde er nicht darum herumkommen.
«Ein jeder Noblesse wird mit einem Zwilling… geboren, wenn man diesen Ausdruck dafür verwenden kann. Dieser Zwilling sieht im äusserlich ähnlich, denn er verkörpert einen bestimmten Teil seiner selbst. Er ist nicht grundsätzlich eine schlechte Person, aber anfällig für Gier oder Egoismus. Als Noblesse darf man sich nie von solchen Gefühlen hinreissen lassen. So gesehen ist der Zwilling das, was der Noblesse nicht sein darf. Und dennoch ist sein Herz im Grunde gut, sodass man nicht anders kann, als ihn zu lieben wie einen Bruder…»
Erneut schweifte sein rubinroter Blick in die Ferne und er sah irgendwie verloren aus. Den vier Menschen zog sich das Herz schmerzhaft zusammen und Frankenstein sandte eine Welle beruhigender Emotionen durch ihre Verbindung. Er fing Raizels Blick auf, als dieser ihn anschaute und nickte ihm mit einem sanften, verständnisvollen Lächeln zu.
Der Dunkelhaarige erwiderte das Lächeln und fuhr fort:
«Früher oder später wird ein jeder Zwilling dieser Anfälligkeit nachgeben, sich der Gier hingeben. Bis der Noblesse einschreiten muss. Es ist wie eine Prüfung: Nur wenn man in der Lage ist, diesen Teil seiner selbst zu überwinden, ihn auch in den ewigen Schlaf zu schicken, wenn es seine Pflicht verlangt, nur dann kann er als Wächter der noblen Gesinnung seine Pflicht auch richtig erfüllen. Jeder Noblesse weiss, dass es früher oder später dazu kommen wird.»
Tao, Takeo und M-21 schauten ihn voller Mitgefühl an. Einen Teil seiner Selbst töten zu müssen, wenn man sowieso schon sein Leben für andere hergab, das war einfach nicht fair!
«Wie war es bei dir?», fragte Tao zögernd, «Was hat dein Zwilling getan?»
«Er hat den Blutstein gestohlen.»
Der Technik-Fan schluckte. Er erinnerte sich nur zu gut an die gewaltige Kraft, die ihre Gegner durch dieses Artefakt aufsaugen konnten.
«Wieso hat er das getan?», wollte er ungläubig wissen.
«Er… er hat es für mich getan. Er wollte mich befreien.»
Diesen Teil der Geschichte hatte selbst Frankenstein noch nicht gehört. Sein Herr sprach im Grunde nie über seinen Bruder und hatte ihn nur zwei oder drei Mal erwähnt. Als guter Butler hatte er nie weiter nachgebohrt, sah er doch jedes Mal die Trauer und die Reue in den Augen seines Herrn, wenn das Thema aufkam. Doch nun schien der richtige Zeitpunkt gekommen, seine Neugier ein wenig zu befriedigen.
«Inwiefern, Meister? Was könnte es Euch nützen, wenn er den Blutstein stiehlt?»
«Er war der Ansicht, meine Isolation sei nur den Menschen geschuldet. Im Zweifelsfall ist es als Noblesse meine Aufgabe, einen Noble in den ewigen Schlaf zu schicken, wenn er seine Macht gegenüber Menschen missbraucht. Darum musste ich mich stets von ihnen fernhalten, um nicht beeinflusst zu werden. Ich habe es zum Wohl der Menschen getan. Meinem Zwilling kam es aber so vor, als würden die Menschen mich einsperren. So oft ich ihm auch sagte, dass ich freiwillig in meinem Haus blieb, er konnte es einfach nicht akzeptieren. Also stahl er den Blutstein, um mit ihm die gesamte Menschheit auszulöschen. Nur dann würde ich seiner Ansicht nach frei sein. Natürlich musste ich mich ihm in den Weg stellen.»
«Also hast du quasi einen Teil deiner selbst getötet, um die Menschheit zu retten?»
«Ja.»
Takeo war fassungslos. So weit war dieser Noble gegangen, um die Menschen zu beschützen. Und er hatte so harsch reagiert…! Er schüttelte den Kopf.
«Es tut mir Leid, Raizel. Ich hätte vorhin nicht so reagieren dürfen.»
«Ich verstehe es.»
Takeo lächelte ihn dankbar an.
«Also», ergriff Frankenstein nun wieder das Wort, «wurde Euer Zwilling nicht mit euch wieder geboren, weil Ihr ihn bereits überwunden habt. Da Ihr eure Erinnerungen nicht verloren habt, braucht ihr auch diese Prüfung nicht erneut zu bestehen.»
Raizel nickte nur.
«Mit anderen Worten: Raizel ist wieder hier, er ist wieder gesund, er hat seine Erinnerung noch und kann jetzt einfach sein Leben mit Schule und allem weiterleben, wie er es vorher getan hat. Nur dass es die Union nicht mehr gibt und er also keinen Grund mehr hat, sein Leben zu geben», fasste Tao breit grinsend zusammen und klatschte enthusiastisch in die Hände. «Das ist doch grossartig!»
Die anderen Menschen mussten lachen und auch der Noble hatte ein leises Lächeln im Gesicht.
Ja, dachte er und sein Lächeln wurde noch etwas breiter. Meine Freunde in der Schule, meine Kinder, Frankenstein – meine Familie. Ich bin umgeben von all diesen wundervollen Menschen, lebe dieses Leben voller Wunder. Es ist grossartig.
Er dachte an seinen Zwilling und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte es sich dabei nicht an, als würde eine unsichtbare Macht sein Herz zusammendrücken.
Siehst du, wie frei ich bin? Siehst du, wie glücklich mich diese Menschen machen?
Freust du dich für mich, Bruder?
Und einen Moment lang hatte er das Gefühl, eine Hand auf seiner Schulter zu spüren, die sanft zudrückte.
Ja.
Tao seufzte. Was musste das auch so viel Papierkram sein?! Wenn er das gewusst hätte, hätte er sich das mit dem Schulleiterposten vielleicht doch besser nochmal überlegt. Wie hatte der Boss das alles nur hingekriegt? Vor allem, da er nebenbei noch einen Haushalt schmeissen, für ihrer aller Gesundheit sorgen, das perfekte Ramenrezept austüfteln und seinem Herrn Tee servieren musste!
Er seufzte erneut.
Das alles war jetzt nicht mehr nötig, denn Er… Er war ja nicht mehr…
Tao schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Es war zwar schon einige Wochen her, aber es schmerzte immer noch. Vermutlich würde es nie ganz aufhören, weh zu tun. Zumindest war es das, was M-21 sagte, wenn er über seine verstorbenen Kameraden sprach. Dass es zwar besser wurde, aber dass sich das Loch, dass sie hinterlassen hatten, nie ganz schloss.
Wenn ich doch nur ein bisschen schneller gewesen wäre… Dann hätte ich vielleicht verhindern können, dass…Nein! Nein, das darf ich nicht denken! Selbst der Boss hat mir gesagt, dass ich mir keine Vorwürfe machen soll. Ich muss jetzt nach vorne schauen und das Leben leben, das Er sich für uns gewünscht hat!
Entschlossen ordnete der Technik-Freak die Blätter vor sich wieder zu einem schönen Stapel und machte sich ans Werk.
Doch es dauerte nicht lange, bis seine Konzentration wieder gestört wurde, diesmal durch ein Klopfen an der Tür. Diese ging, noch bevor er etwas sagen konnte, auf und ein junges, strahlendes Gesicht erschien.
«Bruder! Du wirst es nicht glauben!»
«Ach, hallo Ikhan! Shinwoo, Mädels… Was gibt’s denn?»
Die Kinder strahlten alle übers ganze Gesicht, aber auf ihren Wangen waren noch die Spuren von Tränen zu sehen. Warum hatten sie wohl geweint? Er wollte gerade nachfragen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Die Antwort betrat gleich nach ihnen das Zimmer.
Tao musste schlucken, als er diese vertraute, schlanke Figur mit den elegant zerzausten Haaren und den blutroten Augen erblickte. Augenblicklich prasselten unzählige Erinnerungen auf ihn ein:
Raizel, als er ihn das erste Mal gesehen hatte.
Raizel, der mit rotglühenden Augen Krans besiegte und ihm so das Leben rettete.
Raizel, der auf dem Sofa sass und Tee trank.
Raizel, der mit den Kindern Spiele spielte, deren Regeln er nicht wirklich verstand.
Raizel, der ihnen ein Zuhause gab. Eine Familie.
Raizel, der sein Leben gab, um sie zu beschützen.
Raizels Stimme, die ihm sagte, sie sollen das Leben leben, dass sie sich wünschten.
Raizel, der sagte, es tue ihm leid.
Und dann rotes Licht, das vom Himmel regnete.
Taos Augen füllten sich mit Tränen und er konnte die schwarzhaarige Silhouette vor sich nur noch verschwommen erkennen. Konnte diesen gütigen, mitfühlenden und manchmal so traurigen Blick aus diesen grossen roten Augen nicht mehr sehen. Aber dafür spürte er es fast körperlich: Raizels Lächeln.
Ehe er wusste, was er da tat, ehe er überhaupt gemerkt hatte, dass sein Körper sich bewegt hatte, war er hinter dem Schreibtisch hervorgeschnellt und hatte die Arme um den Noble geschlungen.
«Raizel», wisperte er immer wieder, wie ein Mantra. «Raizel, Raizel.»
Der Jüngere merkte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen und auf Rais Schuluniform tropften.
«Oh, entschuldige!»
Verlegen wollte er sich von Rai lösen, doch dieser liess es nicht zu. Er schlang langsam und etwas unsicher die Arme um Tao, platzierte seine Hände auf dessen Rücken und drückte ihn kurz an sich. Als sie sich wieder voneinander lösten, wischte sich Tao die Tränen weg und konnte nun endlich wieder diese roten Augen klar sehen, die ihn gerade mit einer Mischung aus Glück, Sorge und viel Zuneigung anschauten.
«Ich… Ich kann es nicht glauben!»
«Haben wir doch gesagt!», rief Shinwoo dazwischen. Die Kinder grinsten alle von einem Ohr zum anderen und konnten kaum stillstehen.
Tao lachte.
«Schon klar! Aber wer rechnet auch mit sowas! Das ist einfach unfassbar!»
Dann schaute er wieder den Noblesse an und fragte zögernd: «Ähm… Raizel, Sir… Wie… Wie kann das sein?»
«Eh? Bruder, warum nennst du Rai denn Sir?», erkundigte sich Ikhan neugierig. Tao zuckte kurz zusammen und in seinem Kopf schwirrten alle möglichen Gedanken umher, ohne sich jedoch zu einer wirklich glaubhaften Antwort zu formen. Doch da kam ihm Yuna zu Hilfe:
«Rai ist doch ein Nobel!»
«Daran müsst ihr euch doch erinnern!», mischte sich jetzt auch Sui ein. «Das Foto vom Krater? Und Rai mitten drin? Hallo?!»
«Ja, schon gut, schon gut. Rai ist kein Mensch, wir wissen es. Wieder. Aber er ist unser Freund und es ist echt komisch, wenn unser Bruder ihn Sir nennt.»
Ikhan nickte heftig während den Ausführungen seines rothaarigen Freundes. «Genau! Ausserdem ist Regis doch auch ein Nobel und Tao nennt ihn nur beim Namen!»
Darüber dachten die Mädchen einen Moment nach, dann nickten sie und schauten den neuen Schulleiter fragend an. Dieser lächelte etwas verkrampft und warf seinerseits Raizel einen hilfesuchenden Blick zu.
«Naja… Also Raizel ist… kein gewöhnlicher Nobel. Und der Boss legt sehr viel Wert darauf, dass er mit dem nötigen Respekt behandelt wird.»
«Rai, du bist was Besonderes unter den Nobels?»
Raizel, der noch immer bewegungslos mitten im Raum stand, nickte. Einmal. Keine weitere Erklärung.
«Ah man», seufzte Shinwoo und kratzte sich am Kopf. «Rai hat sich kein Stück verändert. Er kriegt den Mund immer noch nicht auf…»
Raizel errötete.
«Wie auch immer», warf Tao ein, bevor die Kinder ihn noch weiter in Verlegenheit bringen konnten, «das können wir alles später klären. Jetzt muss ich erstmal Takeo und M-21 Bescheid geben! Und dem Boss!»
Bei diesen Worten wurde Rais Blick fragend und sehr intensiv.
Tao legte sich verlegen eine Hand in den Nacken.
«Der Boss ist im Moment nicht hier, er… hält sich beschäftigt. Dinge über die ehemalige Union herausfinden und so. Ich glaube… Ich glaube er muss sich einfach ablenken, damit er nicht an dich… also, ich meine… nicht, dass er nicht an dich denken will, aber… es …es tut halt weh…»
Er wusste nicht, wie er es besser erklären sollte und wie viel er sagen sollte, ohne den sanftmütigen Nobel mit seinen Worten zu verletzen. Raizel würde sich grosse Sorgen machen, wenn er erfuhr, wie schlecht es seinem Diener in letzter Zeit wirklich gegangen war, mit welch verzweifelten Elan er sich in die Recherchen mit dem dritten Ältesten gestürzt hatte, nur um seinen Geist beschäftigt zu halten. Frankenstein würde den Hacker umbringen, wenn er seinem geliebten Meister diese traurigen Wahrheiten aufbürdete.
Er schauderte leicht bei dem Gedanken an das, was sein Boss ihm antun würde und entschied sich, lieber den Mund zu halten. Stattessen zog er sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer.
«Boss? Ja, ich bins. Es hat hier… eine unerwartete Entwicklung gegeben. Nein, nein, niemand ist in Gefahr. Sicher. Aber… Du solltest herkommen. So schnell wie möglich… Ja, es ist wirklich wichtig… Nein, ich kann das gerade nicht wirklich erklären… Ja, du musst es mit eigenen Augen sehen… Gut, danke. Bis dann!»
Er legte auf und wählte gleich die nächste Nummer.
«Takeo, komm mit M-21 so schnell wie möglich in mein Büro. Ihr werdet es nicht glauben…»
Einige Stunden später sassen Tao, Takeo und M-21 zuhause nebeneinander auf dem Sofa und warfen immer wieder verstohlene Blicke auf Raizel, der wie üblich in seinem Lieblingssessel sass und eine Tasse Tee trank. Sicherlich war das Getränk nicht so gut, wie der Tee, den Frankenstein ihm bereitet hätte, aber der Noblesse hatte so viel Zucker beigefügt – seine üblichen acht Löffel und dann noch zwei aufgrund der aussergewöhnlichen Umstände – dass es sicherlich kaum einen Unterschied machte.
Nach Taos Anruf waren die anderen beiden modifizierten Menschen sofort in sein Büro gekommen. Als sie Raizel entdeckt hatten, hatten sie beide sehr emotional reagiert. Eine Menge Tränen waren geflossen, sogar M-21 konnte sie nicht zurückhalten und sie hatten freudig und verwirrt vor sich hin gestammelt, bis Raizel einen nach dem anderen kurz in den Arm genommen hatte. Er hatte zwar kein Wort gesagt, aber die Freude in seinen Augen und seinem Lächeln waren unübersehbar.
Dann hatte das Kreuzverhör begonnen. Natürlich wollten sie alle wissen, was mit Rai passiert war und wie er so plötzlich wieder aufgetaucht war, aber der dunkelhaarige Noble blieb schweigsam wie immer. Auch darüber, wieso die Kinder ihn vergessen hatten und sich jetzt, kaum war er wieder aufgetaucht, wieder an ihn erinnerten, schien er nicht sprechen zu wollen. Doch das verdächtige Rot auf seinen Wangen liess die modifizierten Menschen vermuten, dass er sich in einem sehr, sehr seltenen Anflug von Rücksicht auf seine eigenen Wünsche dazu entschlossen hatte, ihnen ihre Erinnerungen zurück zu geben. Er wollte die Erinnerungen an die gemeinsam verbrachten Stunden in der Schule oder die Spieleabende nicht einfach für immer verschwinden lassen.
Schliesslich hatten die Kinder aufgegeben, mehr aus ihrem Freund herausquetschen zu wollen (wobei Sui hart durchgreifen musste, um Shinwoo zum Schweigen zu bringen). Dafür erklärte ihnen Tao, was es mit der Stellung des Noblesse auf sich hatte, allerdings ohne zu erwähnen, dass Raizel zur Erfüllung seiner Pflicht andere Nobles getötet hatte. Es war besser, die Kinder von dieser dunklen Seite der Nobilität fernzuhalten. Es war schon gefährlich genug, dass sie überhaupt wussten, dass es Nobles gab und einige ihrer Freunde welche waren. Sie sollten sich nicht auch noch Gedanken darüber machen, was besagte Freunde in ihrem langen Leben schon alles getan hatten.
Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte und die Kinder sich dazu breitschlagen liessen, nach Hause zu gehen und Rai etwas Ruhe zu gönnen. Doch schliesslich hatten sie widerstrebend zugestimmt, nachdem der Noblesse ihnen auf seine schweigsame Art versichert hatte, dass er am nächsten Tag wieder da sein würde. Und so waren also nur noch die Bewohner von Frankensteins Haushalt anwesend, als sich die Eingangstür öffnete und der Hausherr eintrat.
«Tao», rief er, während er das Wohnzimmer ansteuerte, «was ist denn nun so Dringendes passi…»
Er brach mitten im Satz ab, die Augen weit aufgerissen, der Mund offenstehend.
Unter anderen Umständen hätte das Trio wohl über Frankensteins Gesichtsausdruck gelacht, doch sie wussten, was dieser Moment für ihren Boss bedeutete.
«M-Meister?» Es war kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.
«Frankenstein.»
Ein Schauer überlief ihn, als er seinen Namen mit dieser vertrauten Stimme ausgesprochen hörte. Er begann zu zittern. Seine Augen wurden feucht.
Meister… Mein Meister… hier, er ist hier. Er lebt.
Seine Beine gaben unter ihm nach und er sank auf ein Knie. Bevor er Raizel kannte, hatte er nie verstanden, warum manche Leute freiwillig vor anderen auf die Knie gingen. Selbst vor einem König wäre er nie auf die Idee gekommen, sich so zu demütigen und zu unterwerfen. Doch vor seinem Herrn zu knien hatte sich von Anfang an ganz natürlich angefühlt. Es erfüllte ihn sogar mit Stolz, diesem grossherzigen und selbstlosen Mann dienen zu dürfen. Nur sein Meister hatte diese Form von Ehrerbietung verdient und Frankenstein war gern bereit, sie ihm zu geben, auch wenn Raizel selbst es nie von ihm verlangt hatte. Also legte er eine Hand auf sein Herz, senkte den Kopf und sagte voller Inbrunst:
«Meister!»
Frankenstein verharrte in dieser Position, selbst als zwei Füsse in rosa Hausschuhen vor ihm auftauchten. Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter und drückt sie leicht.
«Frankenstein… Es tut mir so leid.»
Raizels Stimme war leise und aufrichtig.
Verwirrt schaute der Blonde zu seinem Herrn auf. Der Ausdruck in dessen Gesicht raubte ihm einen Moment den Atem: Reue, Trauer, Mitgefühl, Hoffnung, Freude – all diese Emotionen vermischten sich im perfekten Antlitz des Noblesse.
«Ich habe dich schon wieder alleine gelassen und dir dadurch Leid bereitet. Es tut mir leid, Frankenstein. Bitte verzeih mir.»
Seine Tränen liefen über.
«Meister… Ihr habt euer Leben für die Menschheit geopfert… Wie könnte ich da wütend sein? Es gibt nichts zu vergeben! Ich habe es nicht geschafft, euch zu beschützen! Ich hätte… ich hätte…»
«Du hast dir nichts vorzuwerfen, Franken. Du hast so viel für mich getan. Bitte gräme dich nicht.»
«Aber… aber…»
Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Dann stellte er die drängendste seiner Fragen: «Mein Herr, geht es euch gut?»
Raizel nickte.
«Ich bin wieder bei bester Gesundheit.»
Der Wissenschaftler sank etwas in sich zusammen, als die Erleichterung ihn durchflutete, und er wischte sich die Tränen von den Wangen.
«Bitte verzeiht diesen… Ausbruch.»
«Es ist alles gut, Franken.»
«Meister…»
Es waren rund zwanzig Minuten vergangen, bis sie zu fünft wieder um den Couchtisch herumsassen – diesmal war der Tee in Raizels Tasse von Frankenstein bereitet worden. Das Trio hatte den Austausch zwischen Diener und Meister etwas beschämt, aber glücklich beobachtet. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, wie viel es den beiden bedeuten musste, wieder beisammen zu sein, lebend und im Kreise ihrer Familie.
Schliesslich brach Frankenstein das Schweigen: «Mein Herr… Darf ich fragen, wie es sein kann, dass Ihr noch am Leben seid?»
«Das bin ich nicht.»
«…»
Panik flammte in den vier modifizierten Menschen auf. Sollte das etwa bedeuten, dass er wieder verschwinden würde? War er gar nicht hier, um zu bleiben?
«Aber Sir», warf Tao zögernd ein, «Sie haben doch denn Kindern versprochen, morgen noch hier zu sein. Also werden Sie doch nicht wieder verschwinden, oder?»
«Nein.»
«…»
Raizel seufzte, als er in die verwirrten Gesichter seiner Familie sah. Das würde einiges an Erklärungen verlangen.
«Ich bin nicht noch am Leben, sondern wieder.»
«Sie wurden also… wiedergeboren?», erkundigte sich M-21, woraufhin Raizel nur stoisch nickte.
«Eine Wiedergeburt…», sinnierte Frankenstein. «Davon habe ich unter den Nobles noch nie gehört. Andererseits waren sie auch nie besonders erpicht darauf, mit mir über die Eigenheiten ihrer Rasse zu reden.» Er lachte leise, wurde aber gleich wieder ernst. «Es würde tatsächlich Sinn machen, in Anbetracht dessen, dass die stärkste Angriffsform meines Herrn ein Phönix ist…»
«Du liegst richtig», warf Raizel ein und sofort richtete sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller anwesenden auf ihn. «Der Noblesse ist der Phönix. Er vergeht und entsteht von Neuem. Darum besitzt er auch keine Soul Weapon. Seine Seele kehrt in einen neuen Körper zurück, nicht zu den Nachkommen.»
«Aber Meister… warum habt Ihr uns das nicht gesagt?!?», rief Frankenstein entsetzt aus.
Wenn ich gewusst hätte… Ich hätte mir all die Sorgen sparen können! Ich hätte einfach nur warten müssen, bis er wiedergeboren wird!
«Ich wusste es nicht.»
Schweigen.
Die anwesenden Menschen starrten Raizel mit offenen Mündern an. Keiner wusste, was er dazu sagen sollte. Frankenstein war allem Anschein nach in akutem Schockzustand, sein Gehirn weigerte sich, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu erzeugen. Sein Denkprozess schien vollkommen zum Stillstand gekommen zu sein. Es war M-21, der sich als Erster wieder fing.
«Raizel… Könntest du uns das etwas genauer erklären? Es klang vorhin so, als wäre es ganz normal für den Noblesse, wiedergeboren zu werden, aber du hast trotzdem nichts davon gewusst? Wie kann das sein?»
Rai nahm nochmal in aller Ruhe einen Schluck von seinem Tee. Heute würde er viel reden müssen. Aber immerhin war es auch ein besonderer Tag für seine Familie, also würde er ihnen alle Fragen so gut beantworten, wie er konnte.
«Es ist normal für den Noblesse, wiedergeboren zu werden. Aber genauso normal ist es, dass die jeweilige Reinkarnation nicht weiss, dass sie nicht wirklich in den ewigen Schlaf gehen wird. Ein Noblesse, oder wohl eher der Noblesse in all seinen Reinkarnationen, wird nicht geboren, sondern er erscheint nach dem Tod des vorherigen. Zu dem Zeitpunkt weiss er nur seinen Namen, dass er der Noblesse ist, dass es seine Aufgabe ist, die Nobles, die Werte der Nobilität und die Menschen zu beschützen und dass er dafür stückweise sein Leben geben muss.»
«Macht irgendwie Sinn…», murmelte Takeo mit gesenktem Kopf zu sich selbst. Als er die Blicke der anderen auf sich spürte, schaute er etwas nervös auf und erklärte: «Naja, wenn der Noblesse wüsste, dass er einfach immer wieder geboren wird, wenn er stirbt, hat er keinen Grund, mit seiner Lebenskraft sparsam umzugehen.»
Und sofort stimmte ihm Tao bei: «Ja, und mit so einer riesigen Kraft… Wahrscheinlich ist es eine Art Schutzmechanismus, dass der Noblesse sein Leben einsetzen muss, um diese Kraft zu nutzen. Sonst könnte er tun und lassen was er wollte. Nicht dass Raizel das tun würde!», fügt er schnell hinzu, als sein Boss ihm mit violett flackernder Aura einen mörderischen Blick zuwarf.
Aber dennoch musste der blonde Wissenschaftler zugeben, dass diese Theorie etwas für sich hatte. Ohne eine solche Einschränkung wäre der Noblesse tatsächlich ein beinahe allmächtiges Wesen. Nichts könnte sich ihm in den Weg stellen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er daran dachte, was gewisse verkommene Subjekte mit einer solchen Macht alles anstellen würden. Wieder einmal erfasste ihn eine tiefe Welle der Bewunderung für seinen Herrn, der seine Kraft stets zum Wohle anderer einsetzte und lieber in der Einsamkeit seines leeren Hauses blieb, als Einfluss auf die Welt und ihre Bewohner zu nehmen.
.
«Aber warum kannst du dich dann an uns erinnern?»
M-21s Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Es stimmte, nach dem was Raizel gerade erklärt hatte, hätte er sich an nichts erinnern dürfen. Und doch erkannte er sie alle wieder.
«Frankenstein», sagte Raizel sanft, als würde das alle Fragen beantworten.
«Ich? Was habe ich damit zu tun?»
«Wir sind durch einen Vertrag aneinander gebunden. Offenbar wurde dieser bei meiner Wiedergeburt erneut in Kraft gesetzt und hat dafür gesorgt, dass ich als derselbe zurückkehre, der ich… vorher war. Zumindest ist das die einzige Erklärung, die ich dafür habe. Noch nie zuvor hat ein Noblesse einen Vertrag mit einem Menschen geschlossen.»
Das machte Frankenstein sprachlos. Ihr Vertrag hatte seinen Herrn gerettet?
Und der Noblesse hatte noch nie einen Vertrag geschlossen? Hiess das, dass er sich wirklich immer von allen Leuten ferngehalten hatte? Seit wann es den Noblesse wohl schon gab? Wie lange die verschiedenen Reinkarnationen seines Herrn die Menschen wohl schon beschützte? Wie viele tausend und abertausend Jahre er dieses einsame Leben wohl schon führte? Allein der Gedanke daran betrübte Frankenstein zutiefst. Sein armer, grossherziger Meister! Ganz allein…
Moment.
Allein?
«Mein Herr? Ich möchte ja keine traurigen Erinnerungen wecken, aber habt ihr nicht einmal einen Bruder gehabt? Wurde er auch reinkarniert?»
«Bruder?!», riefen die modifizierten Menschen überrascht aus. Davon hatten sie noch nie gehört.
«Das könnte man so sagen», antwortete Raizel seinem treuen Diener.
«Wo ist er dann? Er müsste doch sicher in eurer Nähe erschienen sein…»
Auf dem Schulgelände? Nein, Tao hätte das bemerkt. Seinem Überwachungssystem würde kein Fremder entgehen. Aber er war durch die Rückkehr meines Herrn abgelenkt…
«Meister, bitte verzeiht mir», begann Frankenstein mit gesenktem Kopf und legte sich die Hand aufs Herz, «Ich werde augenblicklich nach Eurem Bruder suchen und ihn…»
«Frankenstein.»
Ein merkwürdiges Gefühl flutete durch ihre mentale Verbindung. Es war eine Mischung aus Trauer und Erleichterung, die er nicht einordnen konnte.
«Er ist nicht hier», erklärte Raizel ruhig, aber auch in seinem Gesicht war dieses gemischte Gefühl sichtbar, zumindest wenn man ihn gut genug kannte, um die kleinen Veränderungen in seiner Mimik, die seine jeweiligen Gefühle ausdrückten, zu erkennen. Sein Blick wanderte in die Ferne und nun waren seine grossen, roten Augen erfüllt mit Trauer.
Es dauerte einige Minuten, bis sich Tao traute, den Herrn seines Bosses in seinen Gedanken zu stören. Vorsichtig fragte er:
«Raizel… Was ist mit deinem Bruder passiert?»
«… Ich habe ihn getötet.»
Der Schwarzhaarige schloss kurz die Augen und versuchte das Bild seines Bruders zu verdrängen, als sein Blutphönix ihn in voller Stärke traf. Er sprach nicht gerne über dieses Thema. Es schmerzte ihn, zu was er gezwungen gewesen war. Es schmerzte ihn, die eine Person getötet zu haben, die ihm als einziges ab und an Gesellschaft geleistet hatte. Und es schmerzte ihn, was diese jungen Menschen hier vor ihm – seine Kinder – von ihm denken mussten. Aber sie hatten eine befriedigende Antwort verdient.
«Eigentlich war er nicht mein Bruder. Er war mein Zwilling.»
«Aber ein Zwilling ist doch ein Bruder!», warf Takeo scharf ein, Geschwister waren bei ihm ein sensibles Thema. Obwohl er wusste, dass Rai nie jemandem ohne guten Grund verletzen oder gar töten würde, konnte er nicht anders als es ihm etwas übel zu nehmen. Er hatte diesen Bruder ja nicht gekannt, aber Geschwister mussten zusammenhalten! Er hätte alles für Teira getan… Doch als auch ihn Frankensteins Killerblick traf, duckte er sich und murmelte: «Ich meine… also…»
«Ich verstehe deine Verwirrung und deinen Unmut», versicherte ihm der sanftmütige Noblesse. «Doch wenn ich sage, er war mein Zwilling, meine ich tatsächlich keinen Bruder. Vielmehr war er ein Teil meiner selbst.»
Zum x-ten Mal an diesem Abend rief Raizels Bemerkung lediglich grosse Verwirrung hervor. Die modifizierten Menschen begannen schon an ihrer Intelligenz zu zweifeln.
Rai seufzte erneut. So befriedigend schien seine Antwort nicht gewesen zu sein. Aber er war es nun Mal nicht gewohnt, so viel zu reden. Jahrtausende lang hatte er nur geschwiegen, gab es doch niemanden, mit dem er hätte reden können. Und auch danach hatte er die Kommunikation wann immer möglich Frankenstein überlassen. Aber heute würde er nicht darum herumkommen.
«Ein jeder Noblesse wird mit einem Zwilling… geboren, wenn man diesen Ausdruck dafür verwenden kann. Dieser Zwilling sieht im äusserlich ähnlich, denn er verkörpert einen bestimmten Teil seiner selbst. Er ist nicht grundsätzlich eine schlechte Person, aber anfällig für Gier oder Egoismus. Als Noblesse darf man sich nie von solchen Gefühlen hinreissen lassen. So gesehen ist der Zwilling das, was der Noblesse nicht sein darf. Und dennoch ist sein Herz im Grunde gut, sodass man nicht anders kann, als ihn zu lieben wie einen Bruder…»
Erneut schweifte sein rubinroter Blick in die Ferne und er sah irgendwie verloren aus. Den vier Menschen zog sich das Herz schmerzhaft zusammen und Frankenstein sandte eine Welle beruhigender Emotionen durch ihre Verbindung. Er fing Raizels Blick auf, als dieser ihn anschaute und nickte ihm mit einem sanften, verständnisvollen Lächeln zu.
Der Dunkelhaarige erwiderte das Lächeln und fuhr fort:
«Früher oder später wird ein jeder Zwilling dieser Anfälligkeit nachgeben, sich der Gier hingeben. Bis der Noblesse einschreiten muss. Es ist wie eine Prüfung: Nur wenn man in der Lage ist, diesen Teil seiner selbst zu überwinden, ihn auch in den ewigen Schlaf zu schicken, wenn es seine Pflicht verlangt, nur dann kann er als Wächter der noblen Gesinnung seine Pflicht auch richtig erfüllen. Jeder Noblesse weiss, dass es früher oder später dazu kommen wird.»
Tao, Takeo und M-21 schauten ihn voller Mitgefühl an. Einen Teil seiner Selbst töten zu müssen, wenn man sowieso schon sein Leben für andere hergab, das war einfach nicht fair!
«Wie war es bei dir?», fragte Tao zögernd, «Was hat dein Zwilling getan?»
«Er hat den Blutstein gestohlen.»
Der Technik-Fan schluckte. Er erinnerte sich nur zu gut an die gewaltige Kraft, die ihre Gegner durch dieses Artefakt aufsaugen konnten.
«Wieso hat er das getan?», wollte er ungläubig wissen.
«Er… er hat es für mich getan. Er wollte mich befreien.»
Diesen Teil der Geschichte hatte selbst Frankenstein noch nicht gehört. Sein Herr sprach im Grunde nie über seinen Bruder und hatte ihn nur zwei oder drei Mal erwähnt. Als guter Butler hatte er nie weiter nachgebohrt, sah er doch jedes Mal die Trauer und die Reue in den Augen seines Herrn, wenn das Thema aufkam. Doch nun schien der richtige Zeitpunkt gekommen, seine Neugier ein wenig zu befriedigen.
«Inwiefern, Meister? Was könnte es Euch nützen, wenn er den Blutstein stiehlt?»
«Er war der Ansicht, meine Isolation sei nur den Menschen geschuldet. Im Zweifelsfall ist es als Noblesse meine Aufgabe, einen Noble in den ewigen Schlaf zu schicken, wenn er seine Macht gegenüber Menschen missbraucht. Darum musste ich mich stets von ihnen fernhalten, um nicht beeinflusst zu werden. Ich habe es zum Wohl der Menschen getan. Meinem Zwilling kam es aber so vor, als würden die Menschen mich einsperren. So oft ich ihm auch sagte, dass ich freiwillig in meinem Haus blieb, er konnte es einfach nicht akzeptieren. Also stahl er den Blutstein, um mit ihm die gesamte Menschheit auszulöschen. Nur dann würde ich seiner Ansicht nach frei sein. Natürlich musste ich mich ihm in den Weg stellen.»
«Also hast du quasi einen Teil deiner selbst getötet, um die Menschheit zu retten?»
«Ja.»
Takeo war fassungslos. So weit war dieser Noble gegangen, um die Menschen zu beschützen. Und er hatte so harsch reagiert…! Er schüttelte den Kopf.
«Es tut mir Leid, Raizel. Ich hätte vorhin nicht so reagieren dürfen.»
«Ich verstehe es.»
Takeo lächelte ihn dankbar an.
«Also», ergriff Frankenstein nun wieder das Wort, «wurde Euer Zwilling nicht mit euch wieder geboren, weil Ihr ihn bereits überwunden habt. Da Ihr eure Erinnerungen nicht verloren habt, braucht ihr auch diese Prüfung nicht erneut zu bestehen.»
Raizel nickte nur.
«Mit anderen Worten: Raizel ist wieder hier, er ist wieder gesund, er hat seine Erinnerung noch und kann jetzt einfach sein Leben mit Schule und allem weiterleben, wie er es vorher getan hat. Nur dass es die Union nicht mehr gibt und er also keinen Grund mehr hat, sein Leben zu geben», fasste Tao breit grinsend zusammen und klatschte enthusiastisch in die Hände. «Das ist doch grossartig!»
Die anderen Menschen mussten lachen und auch der Noble hatte ein leises Lächeln im Gesicht.
Ja, dachte er und sein Lächeln wurde noch etwas breiter. Meine Freunde in der Schule, meine Kinder, Frankenstein – meine Familie. Ich bin umgeben von all diesen wundervollen Menschen, lebe dieses Leben voller Wunder. Es ist grossartig.
Er dachte an seinen Zwilling und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte es sich dabei nicht an, als würde eine unsichtbare Macht sein Herz zusammendrücken.
Siehst du, wie frei ich bin? Siehst du, wie glücklich mich diese Menschen machen?
Freust du dich für mich, Bruder?
Und einen Moment lang hatte er das Gefühl, eine Hand auf seiner Schulter zu spüren, die sanft zudrückte.
Ja.