Der Kurier
von Anander
Kurzbeschreibung
Sie erkennen seine Tätowierungen. Niemand behelligt den Kurier.
KurzgeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / MaleSlash
09.10.2021
09.10.2021
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Der Kurier bewegt sich zielstrebig auf langen Beinen durch dunkle Gassen. Bröckelnde Hochhäuser strecken sich gen Himmel, knöcherne Finger aus Beton. Schmutzige Lichterketten blinken an Straßenständen. Der Geruch von Verbranntem mischt sich mit süßlichem Propangas. Aus verdreckten Abflüssen wabern faule Ausdünstungen der Kanalisation. Defekte Neonlichter hängen über blinden Fenstern, an denen eine Patina aus Staub und Luftfeuchtigkeit klebt. Eine kümmerliche Auswahl an Handelsgütern wird feilgeboten.
Die Stadt leckt am Tod und schleppt sich trotzdem von einem Tag zum anderen, zu widerborstig, den finalen Atemzug zu tun.
Menschen streifen durch die Straßen - ziellose Insekten in den Überresten eines Kadavers, dessen Eingeweide längst verwest sind, übrig ein Gerippe aus Beton und Stahl. Manche gehen gebeugt, um Unsichtbarkeit bemüht, andere lauern in den Schatten, Raubtiere auf der Pirsch.
Nur die Kurtisanen und Straßenverkäufer bleiben an Ort und Stelle, warten auf Kundschaft. Ein Mädchen in rotem Kleid wirft ihm eine Kusshand zu. Das Haar ist ungekämmt, die Füße nackt, das Gesicht jung, der Mund sanft geschwungen. Niemand sonst zeigt Interesse für den Mann in Schwarz. In stillem Konsens behelligt ihn niemand.
Man erkennt ihn bereits von Weitem, lange Beine, sein Schritt zielstrebig aber nicht hastig. Seine Haut ist eine Leinwand. Gerade und verzweigten Linien verbinden Komplexe Vektorsymbole miteinander - Dioden, Trioden, Pentoden, Schnittstellen, Pulse. Doch es sind keine Zeichnungen monolithischer Schaltkreise, die sie seinen Hals, Torso, Arme und Beine bedecken, auch wenn es auf den ersten Blick so anmutet.
Ein Strang aus fünf parallelen Bahnen zieht sich seinen Arm hinauf und verästelt sich in etliche Nebenzweige und Kreisen zu einer stilisierten Baumkrone. Abstrahierte religiöse und esoterische Symbole, aus harschen geometrischen Formen zusammengefügt, bedecken Hals und Kehle. Tätowierungen von anderen induzierten Bildern ziehen sich wie ein Kragen von der Kehle bis zu Nacken und Brustbein hinab, verschwinden unter einem T-Shirt. Tauchen unter den Ärmeln wieder hervor, umschließen Bizeps, Ellenbogen, Unterarm, Handgelenk. Nur Gesicht und Hände sind unberührt, die Haut blass, starker Kontrast zu den schwarzen Tätowierungen.
Die Staffelei für die bemalte Haut des Kuriers sind schlanke Muskeln. Der Riemen einer ledernen Umhängetasche spannt sich quer über Schulter und Brustkorb.
Der Kurier umgeht einen umgeworfenen Handkarren. Alte Lumpen ergießen sich wie pestilente Zungen in den Straßendreck, verbreiten den scharfen Geruch von Ammoniak.
An einer dunklen Passage geschieht es doch. Ein Mann tritt aus den Schatten. Er ist jung, die Augen sind leer. Das Haar klebt vor Dreck starr am Kopf. Gelbstichige Augen, die Haut von Ekzemen gezeichnet. Er schwingt eine angespitzte Eisenstange. Der Kurier stoppt, macht einen Ausfallschritt zur Seite. Die Eisenstange kratzt über den Stoff seiner Hose.
Er greift danach, umschließt sie fest mit beiden Händen. Rammt sie in Richtung seines Angreifers, der noch immer das andere Ende hält. Die Stange drückt sich in die Magenkuhle des Mannes. Der Kurier schiebt weiter, macht einen Schritt nach vorn, einen weiteren. Treibt sein Gegenüber rückwärts, mit dem Rücken an die Mauer. Der Kurier spannt die Muskeln. Reißt die Stange zu sich. Stößt sie wieder nach vorne. Das stumpfe Ende prallt in das Brustbein des Mannes, sprengt Knorpel, zerreißt Gewebe, bricht Rippen.
Atemlos krümmt der Mann sich um die Stange. Der Kurier lässt los. Er hat den Weg bereits fortgesetzt als der Angreifer zu Boden stürzt.
Schutt und Unrat begleiten den Kurier bis an die Stadtgrenze. Er tritt aus dem Gerippe des urbanen Skeletts in eine neue Umgebung. Steht am Rand einer weiten Geröllebene. Zerbrochener Asphalt durchzieht die Landschaft. Rostiges Blech und zerfallene Strukturen aus Beton und Stahl sprenkeln das öde Flachland.
Kränkliche Gräser recken gelbe Halme aus verdorrtem Boden einem grauen Himmel entgegen. Der aussichtslose Kampf um Ressourcen, die längst nicht mehr vorhanden sind, ist verloren. Und weit dahinter, ein grüner Wall am Horizont. Die lebendige Farbe beinahe schmerzhaft invasiv in einer Welt aus Stein und Staub und Rost.
Der Kurier sucht sich trittsicher einen Weg durch die Trümmer. Je weiter er auf den Horizont zuläuft, desto massiver erscheint die grüne Wand. Riesige Bäume wie Hochhäuser, die Kronen weit oben im Himmel. Kleinere Bäume, verzweigtes Geäst, füllen den Raum dazwischen. Eine Stunde vergeht. Vor der Baumgrenze wird eine gedrungene Struktur erkennbar. Sie zieht sich die Waldgrenze entlang.
Eine weitere Stunde lang durchquert der Kurier die tote Ebene. Die Struktur wird eine Mauer. Eine weitere Stunde Marsch durch Ödland, die Mauer erweist sich als Bollwerk. Viermal so hoch wie der Kurier. Stacheldraht windet sich entlang des Rists. Alle 500 Meter säumen Wachtürme die Mauer, drohend und stumm. Dahinter die Baumriesen, ein vielfaches höher, unbeeindruckt von der von Menschenhand errichteten Grenze.
Der Kurier marschiert die Mauer entlang. Erreicht eine Einbuchtung. Eine Tür, massives Holz, zwei Meter hoch, kein Knauf, kein Türklopfer. Nur dicke, durch Eisenbeschläge verstärkte Holzplanken. Darüber zwei Türme. Der Kurier bleibt vor der Tür stehen. Klopft nicht, ruft nicht. Gut erkennbar seine Haut, bedeckt von schwarzer Farbe, ein Schaltplan aus stilisierten Bildern. Gut erkennbar, die schwarze Kleidung, das schwarze Haar. Gut erkennbar, die Umhängetasche, in der er die lange erwartete Post trägt.
Die Tür öffnet sich nach innen - der Kurier tritt hindurch. Zwei Frauen flankieren ihn. Braunes Lederwams, braue Lederhosen, braune Lederstiefel. Sie tragen ihr Haar zu kurzen Zöpfen geflochten und ihre Waffen an breiten Gurten über Schultern und Rücken. In den Händen, Gewehre.
Sie führen den Kurier einen Pfad entlang, den er bereits vielfach gegangen ist. Über ihm das Laubdach. Im Unterholz das Rascheln von Vögeln und Nagetieren, die Luft diesig und feucht. Sie nähern sich einer Felswand. Ein Höhleneingang, davor weitere Wachen, dahinter ein Korridor, beleuchtet von summenden Neonröhren. Gänge zweigen zu beiden Seiten ab und schlängeln sich durch den Fels. Die drei Ankömmlinge folgen dem größten der Tunnel.
Der Kurier befindet sich tief im Höhlensystem als er einen großen Raum betritt. Darin ein Tisch und Stühle, Regale und Kisten voller Waren. Batterien, Gaskartuschen, Streichhölzer, Werkzeuge. Auf dem Tisch Schreibzeug, Papier, ledergebundene Logbücher.
Ein breitschultriger Mann lehnt an dem Tisch, hohe Stirn, kräftiges Kinn, vernarbte Haut. Ein bärtiger Alter sitzt auf einem der Stühle, buckliges Kreuz, kahler Kopf, milchiger Blick. Zwei bekannte Gesichter. Das dritte Gesicht ist neu. Gebräunte Haut, athletische Glieder, wache Augen.
„Willkommen zurück.“ Der breitschultrige Mann grüßt in tiefem Bariton. „Ich habe dich nicht so früh erwartet. Was bringst du mir?“ Der Kurier zieht zwei Umschläge aus der Gesäßtasche seiner Hose. Der eine ist weiß und schmal, der andere braun und ausgebeult.
„Wo ist Mikel, Amegast?“ fragt der Kurier mit ruhiger Stimme, als er seine Lieferung übergibt.
„Tot“, antwortet Amegast. „Rorik hier ist sein Nachfolger. Er wird von nun an dein Kontaktmann sein.“ Der Blick des Kuriers bleibt auf dem schweigenden Unbekannten liegen, der ihn geduldig und still erwidert.
„Rorik, kümmere dich um die Bezahlung und übergib die neuen Sendungen. Harris und ich haben noch etwas zu besprechen“, ordert Amegast, dann wendet er sich dem Kurier zu. „Machst du dich noch heute auf den Rückweg?“ Der Kurier schüttelt den Kopf. „Morgen.“ Amegast nickt. „Bring ihn ins Gastquartier“, richtet er sich noch einmal an Rorik, dann ist das Treffen beendet.
Der Kurier folgt Rorik zu einem anderen Teil des Höhlensystems. Sie durchqueren niedrige und hohe Passagen, natürliche Tunnel und von Werkzeugen geschlagene Korridore. Hin und wieder treffen sie auf andere Menschen. Dumpf ertönt ein rhythmisches Hämmern aus der Tiefe, wo neue Gänge in den Fels gehauen werden. Die Luft ist weder warm noch kalt und riecht mineralisch.
Sie gelangen in ein Zimmer – ein Büro. Rorik setzt sich hinter einen großen Schreibtisch, in dessen poliertes Holz feine Schnitzereien eingelassen sind. Ein großer, roter Teppich bedeckt den Steinboden.
Statt einer Neonröhre beleuchten Öllampen den Raum. Die zurückhaltenden Flammen baden Roriks Gesichtszüge in Licht und Schatten. Er öffnet eine Schublade und zieht ein Dokument und ein kleines, würfelförmiges Päckchen daraus hervor.
Mit einem leisen Schaben gleitet die Schublade zurück in den Schreibtisch. Rorik erhebt sich lautlos und tritt um den Tisch herum. Er legt dem Kurier das Päckchen in die Handfläche. Es ist federleicht. Der Kurier lässt es in den Lederbeutel gleiten, den er um die Schulter geschlungen trägt. Dann reicht Rorik ihm das Dokument. „Hier sind deine Instruktionen. Präge sie dir ein, dann gib sie mir zurück.“ Seine Stimme ist ruhig und stört die staubige Stille nicht, die den Raum erfüllt.
Der Kurier nickt, dann folgt er Rorik erneut durch das Höhlensystem, bis sie einen Tunnelausgang erreichen. Er liegt etliche Meter über dem Boden. Die schale Luft unter dem Stein wird vertrieben vom würzigen Duft feuchten Mooses. Eine Siedlung aus Hütten und Baumhäusern schmiegt sich in den Wald.
Einige Bäume sind so hoch, dass die Behausungen in den mächtigen Kronen noch über dem Höhlenausgang liegen. Der Kurier legt den Kopf in den Nacken und blickt auf ein Netzwerk aus Stegen und Hängebrücken. Treppen winden sich Baumstämme hinauf, verbinden den Grund mit dem höchsten Wipfel.
Er kennt diesen Ort, verweilt hier, wenn sich der Rückweg in die Stadt verzögert. Er darf sich nicht frei bewegen, aber er wird mit Unterkunft und Nahrung versorgt. Die Waldbewohner meiden das Gespräch mit ihm. Sie erkennen ihn sofort, auch ohne ihn zu kennen. Respektieren den tätowierten Mann, aber halten Abstand.
Der Kurier folgt Rorik in den Felsen gehauene Stufen hinab bis zu einem hölzernen Plateau, das ihnen Zugang zur Stadt gewährt. Im Zwielicht unter dem dichten Laubdach klettern Nagetiere die dicke, rissige Borke gewaltiger Baumstämme entlang und holen Insekten aus den Ritzen. Fledermäuse fliegen von Ast zu Ast. Der Ruf eines Kauzes erklingt in unmittelbarer Nähe.
Der Kurier hält den Blick vor sich gerichtet und ignoriert die verstohlenen Blicke der Waldbewohner, die auf ihm liegen. Er folgt Rorik über einen schmalen Steg, unter dem sich ein Bach zwischen moosbewachsenen Steinen und hohen Farnen durch den Wald windet. Leuchtkäfer schwirren wie Flocken aus Licht über der Wasseroberfläche.
Sie erreichen eine Hütte, ein einfaches, aber stabiles Bauwerk aus Findlingen. Es gibt keine Tür - der Eingang ist mit einem schweren Tuch verhängt. Rorik hebt es beiseite und tritt gebückt ein. Der Kurier folgt ihm. Das Innere der Hütte ist ihm vertraut. Ein schmales Bett steht an einer Wand, an einer anderen ein Regal, darin gefaltete Leinentücher. Daneben eine Feuerstelle. Auf einer Kommode eine Schüssel und ein Wasserkrug.
„Ich werde mit deiner Bezahlung zurückkommen“, sagt Rorik und lässt den Kurier allein zurück. Der Kurier entledigt sich seines Lederbeutels. Er füllt Wasser aus dem Krug in die Schüssel und nimmt ein Leinentuch aus dem Regal, um sich den Staub der Geröllebene von Gesicht und Händen zu waschen. Dann setzt er sich auf die Bettkante und studiert die Instruktionen, die er erhalten hat.
Als Rorik zurückkehrt hat der Kurier sich den Inhalt des Dokuments eingeprägt. Rorik stellt einen Korb neben der Feuerstelle auf den Boden. Ein Laib Brot und zwei Äpfel liegen darin, eine Schüssel mit Walnüssen, zwei Tonkrüge und ein Becher.
Rorik streckt die Hand aus. Ein Jutebeutel. „Deine Bezahlung.“ Der Kurier nimmt den Beutel entgegen und gibt Rorik im Gegenzug das Dokument zurück. Der Beutel enthält ein vergilbtes Plastikröhrchen, nicht größer als zwei Daumen nebeneinandergelegt, und eine Phiole aus dunkelblauem Glas. Der Kurier verstaut den Beutel in seiner Umhängetasche, und Rorik dreht sich zum Ausgang.
„Wie ist er gestorben?“ fragt der Kurier ruhig. Rorik dreht sich noch einmal zu ihm um. „Ein Schlangenbiss. Es dauerte eine Woche.“ Der Kurier wendet das Gesicht zum Fenster und betrachtet das Wurzelwerk einer großen Eiche, das aus dem Waldboden ragt wie knorrige Tentakel. Rorik lässt ihn allein in seiner Unterkunft zurück.
Der Weg zurück durch das Ödland nimmt viel Zeit in Anspruch. Ein starker Wind ist aufgekommen und fegt eine fein gemahlene Mischung aus Sand, Asche und Staub auf. Der Kurier müht sich über gesprungene Platten aus Asphalt hinweg, umrundet das verwitterte Skelett eines Busses, erklimmt die Trümmer einer eingestürzten Brücke. Sand schmirgelt seine Haut wund und brennt in seinen Augen. Im Eingang eines zerstörten Tunnels ruht er, bis sich der schlimmste Sturm gelegt hat.
Die Stadt badet in diffusem Licht, das blendet, ohne Helligkeit zu spenden. Der Kurier betritt ein vertrautes Netz aus Straßen und Gassen und Unterführungen. Einige sind unpassierbar, verschüttet unter eingestürzten Mauern und Häusern. Andere sind belebt, Orte für den Handel - Waren und Dienstleistungen. Wilde Knoten aus Kabelzügen über den Köpfen der Menschen. Blinkende Schilder über Eingängen.
Das Mädchen in rotem Kleid bietet dem Kurier ihren Körper für eine Mahlzeit feil. Ein alter Mann bietet dem Kurier eine Mahlzeit für dessen Körper. Der Kurier folgt weiter seinem vorgegebenen Weg. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen.
Er durchquert einen Park. Baumstümpfe ragen schwarz und modrig aus harter Erde wie faulige Zähne. Gräser und Büsche längst verwittert. Ratten suchen im Unrat nach Nahrung, Schnauzen schnüffelnd in verrosteten Dosen und schmutzigen Kleiderhaufen vergraben – vielleicht liegt zwischen dem Stoff noch ein Körper, vielleicht versteckt sich eine Schabe.
Er passiert ein Becken, in das Rohre ragen. Zähe, rote Flüssigkeit tropft aus den Öffnungen und sammelt sich mit klebrigem Saugen am Beckengrund. Eine unsichtbare, ätzende Wolke wabert darüber. Der Kurier hebt den Saum seines T-Shirts über Nase und Mund. Um ihn herum gedrungene Bauten. Kräne mit verrosteten Gittermasten – Zerbrochene Schwenkarme liegen wie die knöchernen Extremitäten großer Tiere auf dem Gelände.
Einige Straßenzüge weiter wieder Wolkenkratzer. Diesmal Türme aus Glas, manche kerzenförmig, andere konkav wie Linsen oder aufgebläht wie Zapfen. Der Kurier ruft sich die Instruktionen ins Gedächtnis, die er sich Tags zuvor eingeprägt hat. Er folgt den Straßen bis er vor einem schlanken Hochhaus steht. Durch eine geborstene Glastür betritt er ein Foyer. Marmorfliesen, Scherben, klaffende Löcher in den Wänden, aus denen Kabel und Dämmmaterial quellen.
Der Kurier durchquert die Empfangshalle. Eine Reihe von Aufzügen liegt vor ihm. Einige Aufzugtüren sind verschlossen, andere entblößen dunkle Schächte. Am Ende der Reihe eine Tür, dahinter ein Treppenhaus. Der Kurier beginnt den Aufstieg. Teppich bedeckt die Stufen, kaum berührt von Zeit und Witterung. Die Farben leuchten, das Gewebe ist sauber und weich, die Wände weiß getüncht, ein anachronistischer Ort.
Der Kurier zählt die Stockwerke. Verlässt das Treppenhaus und tritt in einen Korridor. Verwittertes Papier, angenagte Stuhlpolster, mehr Glasscherben. Der Korridor verzweigt sich, und der Kurier folgt den Instruktionen. Findet eine markierte Tür. Ein rotes Kreuz in der linken Ecke, klein, unauffällig. Er öffnet die Tür und betritt einen Büroraum. Es gibt kein Fenster, und das Tageslicht aus dem Korridor ist zu kraftlos, um den Raum zu erhellen. Der Kurier zieht eine schmale Taschenlampe aus seiner Umhängetasche.
Der Lichtkegel ist schwach, die Batterien fast leer. Der Strahl der Lampe tastet das Büro ab. Streift über einen Stuhl, einen Schreibtisch, darauf Monitore. Stifte und Papier, wie durch ein Wunder den Plünderern entgangen. Der Kurier zieht das würfelförmige Päckchen aus der Tasche und legt es auf ein Regalbrett an der gegenüberliegenden Wand. Dann verlässt er den Raum und schließt die Tür.
An einem verregneten Morgen, zwei Wochen später, verlässt der Kurier seine Unterkunft. Er verriegelt die schwere Tür hinter sich und folgt dem kurzen, dunklen Flur bis zu einem kleinen Fenster, steigt hindurch auf eine Feuertreppe und hinab zur Straße. Sein Stiefel streift eine leere Pappschachtel, und eine Schabe krabbelt daraus hervor, verschwindet in einem Loch in der Hauswand.
Die Straßenhändler haben ihre Stände noch nicht aufgebaut. In Lumpen gehüllte Menschen liegen in Hauseingängen. Das Mädchen im roten Kleid wankt unstet die Straße entlang. Sie hebt die Hand zu einem schwachen Gruß.
Nieselregen fällt von einem grauen Himmel. Die Tropfen hinterlassen feuchte Punkte im Straßenstaub. Der Kurier verliert keine Zeit. Als er den Glasturm erreicht, regnet es stark. Der Stoff seiner Kleidung haftet klamm an seiner Haut. Er durchquert das Foyer, betritt das Treppenhaus, steigt bis in das Stockwerk, in dem das Büro liegt.
Das rote Kreuz ist noch an der Tür. Der Kurier schaltet seine Taschenlampe ein und betritt den Raum. Das Päckchen ist vom Regal verschwunden. Seinen Platz hat ein Plastikkoffer eingenommen. Er ist klein – der Henkel gerade groß genug, dass eine Kinderhand ihn bequem umfassen kann. Das Bild eines geflügelten Ponys mit großen Augen ziert das zerkratzte pinke Gehäuse. Neben dem Koffer liegt ein Bündel Dokumente – zwei Umschläge, ein schmales Notizbuch, eine Mappe mit Papieren.
Der Kurier steckt die Dokumente in seine Umhängetasche und nimmt den Koffer in die Hand. Dann macht er sich auf den Weg.
Amegast ist erfreut über die Lieferung. Er dankt, dann wendet er sich Harris zu. Der Kurier wird zur Hütte geleitet. Rorik ist ungehalten, als ein Waldbewohner dem Kurier ein unfreundliches Wort zuruft. Der Kurier beobachtet einen Eichelhäher, der von Ast zu Ast hüpft, ihnen neugierig folgt. Das blau schillernde Flügelfeld wie ein Juwel im grün des Blätterwaldes.
Rorik lässt Räucherfleisch und Wein bringen. Setzt sich vor die Feuerstelle und fragt den Kurier nach seinem Befinden. Dann essen sie schweigend. „Ist es schlimm in der Stadt?“ fragt Rorik, als sie sich eine Pfeife mit duftendem Tabak teilen. Der Kurier denkt lange über die Frage nach. „Es ist, wie es ist“, antwortet er. „Amegast hat keinen neuen Auftrag. Bleib ein paar Wochen“, sagt Rorik. Der Kurier schüttelt den Kopf.
Einen Monat lang erfüllt der Kurier Aufträge, bevor er den Wald erneut besucht. Zuerst kehrt er in die Stadt zurück. Er füllt seine Tasche mit Dokumenten und Gegenständen. Bestellungen, private Nachrichten und Warenlieferungen. Er durchwandert die farblose Salzwüste im Süden. In die Rümpfen toter Schiffe hat Rost meterhohe Löcher gefressen. Die Luft riecht metallisch. Ein Zweitagesmarsch. Als der Kurier die Siedlungen dahinter erreicht, ist seine Haut trocken und von einer pulvrigen Salzschicht bedeckt. Salzstaub hängt in seinen Wimpern und Nasenlöchern und sammelt sich in den Ritzen seiner aufgesprungenen Lippen.
Von dort zieht er weiter zum See, zwei Tagesmärsche durch Felsschluchten und Grasland. Große, gehörnte Huftiere in der Ferne. Fliegen umschwirren sein Gesicht. Dann ist er am Ziel. Das Gewässer weit wie ein Meer, das entfernte Ufer nicht zu sehen. Schwimmende Hütten auf dem Wasser, davor Menschen, die ihm neugierig entgegensehen.
Weitere Orte folgen. Der Kurier verteilt seine Sendungen und sammelt neue ein. Als er schließlich in die Stadt zurückkehrt, ist sie ein bisschen mehr verfallen, ein wenig toter, aber immer noch dieselbe Stadt. Eine Verschnaufpause, eine Woche Ruhezeit. Dann zum Wald.
Amegast lehnt sich in seinen Stuhl vor. Er schiebt einen Stapel Briefumschläge über den Tisch auf den Kurier zu und schürzt die Lippen. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Du bist schon dort gewesen. Du kennst den Weg, und die Westerner kennen dich. Jeder kennt dich. Sie werden dich nicht behelligen.“
Der Kurier lässt sich mit seiner Antwort zeit. Er nimmt einen Schluck Wein und lässt den Blick durch den Raum schweifen.
Behauene Wände wölben sich über ihnen zu einer niedrigen Kuppel. Sie sitzen zu dritt um einen Tisch. Harris, der vierte Mann, liegt mit Fieber im Krankenbett. Die Tischplatte glänzt im Kerzenschein speckig und ist von Kerben durchzogen. Roriks Augen liegen auf dem Kurier. Amegast betrachtet seine Finger, klaubt Dreck unter einem Fingernagel hervor. Seufzt und lehnt sich vor. „Du bestimmst die Höhe der Bezahlung.“
Der Kurier nickt. „Ich erhalte die Bezahlung im Voraus. Sobald ich sie habe, breche ich auf.“ Seine Stimme ist leise, aber sein Tonfall lässt keinen Raum für Verhandlungen. Amegast bläht die Brust und öffnet den Mund, sinkt dann aber in sich zusammen und wedelt wegwerfend mit der Hand. „Na schön. Sag Rorik deinen Preis und was du für den Weg brauchst. Er wird sich um alles kümmern.“
Der Kurier bleibt zwei Tage in der Hütte im Wald. Er darf sich freier bewegen als üblich, solange er den Boden nicht verlässt. Er benutzt einen Zuber, um mit Wasser vom Bach seine Kleidung zu waschen und hängt sie zum Trocknen über einen tiefen Ast. Ein Junge bringt ihm Wechselkleidung und ein Frühstück und betrachtet mit großen Augen die tätowierte Haut, die den Körper des Kuriers schmückt.
Später packt er seine Ausrüstung zusammen. Er hat die Umhängetasche gegen einen Rucksack getauscht. Darin verstaut er einen Langen Ledermantel, ein gezähntes Messer und eine Gasmaske. Salbe und Mullbinden. Neben dem Rucksack liegen ein noch leerer Wasserschlauch und ein aufgeschlagenes Leinentuch, in dessen Mitte ein Laib Brot liegt. Die Kruste ist dick mit eingebackenen Nüssen und Beeren gespickt.
Rorik betritt die Hütte. Er trägt eine geschnitzte Holzschatulle in beiden Armen. Ein Messingschlüssel steckt in einem Schloss an der Vorderseite. Rorik stellt die Schatulle auf dem Bett ab und macht einen Schritt zurück. Der Kurier setzt sich und dreht den Schlüssel im Schloss. Der Deckel schnappt auf.
Das Kästchen ist mit Samt ausgekleidet. In dem Stoff befinden sich acht kleine Einbuchtungen. Jede hält eine Phiole. In einer weiteren, größeren Einbuchtung liegt ein Fläschchen mit breitem Hals. Darin weiße, ovale Kapseln. Der Kurier inspiziert jedes Objekt gründlich. Er entnimmt eine Phiole, steckt sie in seinen Rucksack, dann schließt er die Schatulle.
„Entspricht das deinen Forderungen?“ fragt Rorik. Der Kurier nickt. Ich werde morgen früh aufbrechen.“ Er schiebt das Kästchen behutsam in seine Umhängetasche. Dann sieht er auf. Rorik steht noch immer in der Hütte und betrachtet ihn. Der Kurier wartet.
Rorik steht in der Lichtsäule, die durch das Fenster in die Hütte fällt. Seine dunklen Wimpern leuchten kupfern im Sonnenschein. Er zieht einen ledernen Armreif aus seiner Tasche und hält ihn dem Kurier entgegen. Der Kurier betrachtet den Reif, ohne danach zu greifen.
„Das war Mikels“, sagt Rorik. „Ich weiß“, antwortet der Kurier.
Knacken im Unterholz dringt von draußen durch das Fenster. Ein Specht klopft auf der Suche nach Nahrung gegen einen toten Baumstumpf. Von weit über der Hütte, aus der Stadt in den Bäumen, ertönt ein entfernter Ruf, der von einem weiteren beantwortet wird.
Rorik kniet sich vor den Kurier und zieht dessen Hand zu sich. Er legt den Lederriemen um das tätowierte Handgelenk und zieht die Schlaufen zusammen, bis der Reif sich an das Gelenk schmiegt. Sein Daumen zeichnet die Kontur einer schlanken Silhouette nach, die sich um den Unterarm des Kuriers windet. Ein stilisierter Dornenzweig, mit schwarzer Tinte in der Haut verewigt. Dann legt er den Arm des Kuriers auf dessen Knie ab und erhebt sich.
Der Kurier sieht nicht auf, als Rorik die Hütte verlässt. Sein Blick ist auf eine Stelle knapp oberhalb des Lederriemens gerichtet, auf das Bild des Dornenzweigs.
Der Kurier ist ausgezehrt, als er aus dem Westen zurückkehrt. Seine Lungen sind verätzt, seine Kleidung hängt lose an seinem Körper. Ein Hosenbein ist zerrissen und blutgetränkt, ein schmutziges Leinentuch darum gewickelt. Er hat die Lieferung dabei. Sein Rucksack hält neue und ausgefranste Umschläge, gefaltete, unverpackte Papiere, zerknitterte Seiten. Manche waren bereits einmal beschrieben oder bedruckt. Amegast will das gesamte Gepäck an sich nehmen. Der Kurier schüttelt den Kopf. Er überlässt seine Post keinem Dritten. Er überreicht Amegast die für ihn bestimmten Dokumente.
„Wo ist meine Tasche?“ fragt der Kurier. Amegast weiß im ersten Augenblick nicht, wovon der Kurier redet. „Sie ist in meiner Obhut“, sagt Rorik. Er trägt jetzt Harris blaue Schärpe. Das Fieber. Roriks Position wird nun von einer Waldbewohnerin gefüllt. Sie ist groß und schlank und aufmerksam. Doch es ist Rorik, der den Kurier durch die Höhlengänge zu seiner Unterkunft geleitet.
Es ist diesmal nicht die Hütte, sondern ein großes Baumhaus. Es legt sich wie ein Ring um den Stamm eines schlanken aber kräftigen Baumes. Um sie herum dichtes Laubwerk das sie wie ein lebendiger Vorhang von der Außenwelt abschirmt.
Ein großer Zuber steht bereit. Der Kurier strauchelt, als er sich das Hemd abstreifen will. Rorik eilt an seine Seite. Er hilft dem Kurier aus seiner kontaminierten, ruinierten Kleidung. Er entfernt das besudelte Leintuch von der Wunde am Bein.
Rorik wirft Leintuch und Lumpen achtlos auf dem Boden. Mikels Armreif löst er behutsam vom Handgelenk des Kuriers und legt ihn auf eine schmale Kommode.
Der Kurier spürt ein scharfen Schmerz am Bein, als er ins warme Wasser sinkt. In der Haut klafft eine Wunde, nicht tief, aber großflächig. Getrocknetes Blut löst sich und färbt das Wasser hellrot.
Eine Frau mit blasser Haut und weißem Haar platziert eine Schale mit Kräutern über einer Kerzenflamme. Der Dampf lindert das Brennen in den Lungen des Kuriers. Ein Korb mit Brot und getrockneten Früchten, Wasser und Bier wird zu ihm gebracht.
Rorik bietet seinen Arm als Stütze, und der Kurier hievt sich aus dem Wasser. Er trocknet sich Haut und Haar mit einem frischen Leinentuch. Rorik verteilt eine würzig duftende Salbe auf dem Bein des Kuriers und legt ihm einen Verband an. Dann öffnet er eine Truhe und entnimmt ihr die lederne Umhängetasche. Er lässt den Kurier allein in dem Baumhaus zurück.
Der Kurier lässt sich mühsam auf einen Stuhl sinken und zieht die Holzschatulle hervor. Er öffnet sie. Immer noch liegen die Phiolen und das Glas darin. Der Kurier schließt den Deckel. Dann stillt er Hunger und Durst und legt sich in ein Bett, das nach Zedern duftet. Dann schläft er.
Es ist Roriks Haus, in dem er zu Gast ist. Zwei Tage verweilt er dort, schläft und badet und isst. Seine Lungen erholen sich, und die Wunde am Bein schließt sich. Nachts umfangen ihn das Rascheln der Blätter und das Rufen und Zirpen nachtaktiver Wesen. Die Luft ist kühl und feucht und getränkt vom Duft von Moos, Holz und Regen.
Am dritten Tag lässt der Kurier, die Waldbewohner zusammenzurufen. Er steht auf einem Plateau, um ihn herum Menschen mit gebräunter Haut und schlanken Gliedern Er verteilt, was er mitgebracht hat. Rorik bleibt an seiner Seite, lässt Bier und Brot bringen. Übrig bleiben Briefe, die nicht zu ihren Empfängern finden.
Am vierten Tag öffnet der Kurier die Schatulle, entnimmt ihr eine Phiole und klaubt eine weiße Kapsel aus dem Glas mit dem weiten Hals. Er legt die Kapsel in seinen Mund, spürt die Hülle an seiner Zunge kleben, öffnet die Phiole und setzt sie an die Lippen. Der Kurier schließt die Augen und schluckt. Atmet tief ein. Das Gift, das in der Farbe seiner Tätowierungen lauert, für eine Weile auf Abstand gehalten.
Am fünften Tag legt Rorik sich zu ihm. Sein Körper ist kraftvoll und geschmeidig, seine Hände begabt, sein Mund selbstlos. Der Kurier bäumt sich auf, seine Muskeln kontrahieren, ein Beben durchfährt ihn. Rorik sinkt stöhnend auf ihn. Ihre Haut ist klamm, die Nachtluft eisig, als sie sich um sie legt. Sie ziehen die Laken über sich. Rorik vergräbt sein Gesicht in der Halsbeuge des Kuriers.
Am sechsten Tag bricht der Kurier auf. Es liegen immer noch Dokumente im Rucksack. Rorik schaut ihm vom Wachturm aus nach, als der Kurier sich auf den Weg über die Geröllwüste macht.
Der Kurier lehnt sich gegen den Eiswind, der mit scharfen Klauen nach seinem Gesicht greift. Seine Lippen sind taub. Eiskristalle sammeln sich in seinen Wimpern. Er macht einen mühsamen Schritt nach vorn, dann schiebt ihn eine Sturmbö zwei Schritte zurück.
Seine Glieder sind steif gefroren, als er den Schutz der Stadt erreicht. Die Straßen liegen dunkel und still. Es ist kalt. Der Kurier biegt in seinen Straßenzug ein. Bevor er aus den Schatten in die kränklichen Neonlichter tritt, greifen Hände nach ihm. Er schlägt einen Arm beiseite, aber sein eigener Arm ist steif und kalt, zu langsam. Ein Stiefel treibt ihm die Luft aus den Lungen. Der Kurier fällt auf den gefrorenen Boden. Er greift den Fuß, der nach ihm tritt, dreht ihn so fest und weit er vermag. Ein Schrei. Dann ein scharfer Schmerz in seiner Brust.
Hände ziehen ihm Rucksack und Tasche vom Körper. Der Kurier spürt ein Kribbeln wie Nadelstiche in Händen und Füßen, Armen und Beinen, dann folgt Taubheit. Sein Herz pumpt verzweifelt mehr Blut aus seinem Körper. Jemand beugt sich über ihn. Ein Mädchen. Sie trägt ein rotes Kleid. Sie kniet neben ihm. Ihr Gesicht dicht vor seinem. Ihre Lippen sind blau vor Kälte. Sie legt ihr Ohr an seinen Mund und lauscht aufmerksam seinen Worten.
Der Kurier durchquert die Geröllwüste. Selbst im Frühling, in der wärmenden Sonne, ist sie leblos und leer. Der Horizont dahinter ist saftig grün. Im Tauwasser dauert es viele Stunden, die Mauer zu erreichen. Kalte, nasse Füße, die Stiefel zu groß, der Mantel zu weit. Weiter, die Barriere entlang, bis zu der eingelassenen Tür, den Mantel von den Schultern schütteln. Die Tätowierungen sind eindeutig, Dioden und Trioden und Pentoden. Der Zugang öffnet sich. Zwei Wachen warten still. Eine dritte Person wartet auch. Hochgewachsen und athletisch. Dunkles Haar glänzt Kupfern im Winterlicht.
Der Kurier greift in eine Umhängetasche und zieht einen ledernen Armriemen hervor. Sie reicht ihn dem Mann, dessen Finger sich behutsam darum schließen. Seine Augen verweilen auf dem Reif. Er atmet ein, erschaudert. Hebt den Blick und schaut sie an. „Hier entlang“, sagt er und weist den Weg.
Die Stadt leckt am Tod und schleppt sich trotzdem von einem Tag zum anderen, zu widerborstig, den finalen Atemzug zu tun.
Menschen streifen durch die Straßen - ziellose Insekten in den Überresten eines Kadavers, dessen Eingeweide längst verwest sind, übrig ein Gerippe aus Beton und Stahl. Manche gehen gebeugt, um Unsichtbarkeit bemüht, andere lauern in den Schatten, Raubtiere auf der Pirsch.
Nur die Kurtisanen und Straßenverkäufer bleiben an Ort und Stelle, warten auf Kundschaft. Ein Mädchen in rotem Kleid wirft ihm eine Kusshand zu. Das Haar ist ungekämmt, die Füße nackt, das Gesicht jung, der Mund sanft geschwungen. Niemand sonst zeigt Interesse für den Mann in Schwarz. In stillem Konsens behelligt ihn niemand.
Man erkennt ihn bereits von Weitem, lange Beine, sein Schritt zielstrebig aber nicht hastig. Seine Haut ist eine Leinwand. Gerade und verzweigten Linien verbinden Komplexe Vektorsymbole miteinander - Dioden, Trioden, Pentoden, Schnittstellen, Pulse. Doch es sind keine Zeichnungen monolithischer Schaltkreise, die sie seinen Hals, Torso, Arme und Beine bedecken, auch wenn es auf den ersten Blick so anmutet.
Ein Strang aus fünf parallelen Bahnen zieht sich seinen Arm hinauf und verästelt sich in etliche Nebenzweige und Kreisen zu einer stilisierten Baumkrone. Abstrahierte religiöse und esoterische Symbole, aus harschen geometrischen Formen zusammengefügt, bedecken Hals und Kehle. Tätowierungen von anderen induzierten Bildern ziehen sich wie ein Kragen von der Kehle bis zu Nacken und Brustbein hinab, verschwinden unter einem T-Shirt. Tauchen unter den Ärmeln wieder hervor, umschließen Bizeps, Ellenbogen, Unterarm, Handgelenk. Nur Gesicht und Hände sind unberührt, die Haut blass, starker Kontrast zu den schwarzen Tätowierungen.
Die Staffelei für die bemalte Haut des Kuriers sind schlanke Muskeln. Der Riemen einer ledernen Umhängetasche spannt sich quer über Schulter und Brustkorb.
Der Kurier umgeht einen umgeworfenen Handkarren. Alte Lumpen ergießen sich wie pestilente Zungen in den Straßendreck, verbreiten den scharfen Geruch von Ammoniak.
An einer dunklen Passage geschieht es doch. Ein Mann tritt aus den Schatten. Er ist jung, die Augen sind leer. Das Haar klebt vor Dreck starr am Kopf. Gelbstichige Augen, die Haut von Ekzemen gezeichnet. Er schwingt eine angespitzte Eisenstange. Der Kurier stoppt, macht einen Ausfallschritt zur Seite. Die Eisenstange kratzt über den Stoff seiner Hose.
Er greift danach, umschließt sie fest mit beiden Händen. Rammt sie in Richtung seines Angreifers, der noch immer das andere Ende hält. Die Stange drückt sich in die Magenkuhle des Mannes. Der Kurier schiebt weiter, macht einen Schritt nach vorn, einen weiteren. Treibt sein Gegenüber rückwärts, mit dem Rücken an die Mauer. Der Kurier spannt die Muskeln. Reißt die Stange zu sich. Stößt sie wieder nach vorne. Das stumpfe Ende prallt in das Brustbein des Mannes, sprengt Knorpel, zerreißt Gewebe, bricht Rippen.
Atemlos krümmt der Mann sich um die Stange. Der Kurier lässt los. Er hat den Weg bereits fortgesetzt als der Angreifer zu Boden stürzt.
Schutt und Unrat begleiten den Kurier bis an die Stadtgrenze. Er tritt aus dem Gerippe des urbanen Skeletts in eine neue Umgebung. Steht am Rand einer weiten Geröllebene. Zerbrochener Asphalt durchzieht die Landschaft. Rostiges Blech und zerfallene Strukturen aus Beton und Stahl sprenkeln das öde Flachland.
Kränkliche Gräser recken gelbe Halme aus verdorrtem Boden einem grauen Himmel entgegen. Der aussichtslose Kampf um Ressourcen, die längst nicht mehr vorhanden sind, ist verloren. Und weit dahinter, ein grüner Wall am Horizont. Die lebendige Farbe beinahe schmerzhaft invasiv in einer Welt aus Stein und Staub und Rost.
Der Kurier sucht sich trittsicher einen Weg durch die Trümmer. Je weiter er auf den Horizont zuläuft, desto massiver erscheint die grüne Wand. Riesige Bäume wie Hochhäuser, die Kronen weit oben im Himmel. Kleinere Bäume, verzweigtes Geäst, füllen den Raum dazwischen. Eine Stunde vergeht. Vor der Baumgrenze wird eine gedrungene Struktur erkennbar. Sie zieht sich die Waldgrenze entlang.
Eine weitere Stunde lang durchquert der Kurier die tote Ebene. Die Struktur wird eine Mauer. Eine weitere Stunde Marsch durch Ödland, die Mauer erweist sich als Bollwerk. Viermal so hoch wie der Kurier. Stacheldraht windet sich entlang des Rists. Alle 500 Meter säumen Wachtürme die Mauer, drohend und stumm. Dahinter die Baumriesen, ein vielfaches höher, unbeeindruckt von der von Menschenhand errichteten Grenze.
Der Kurier marschiert die Mauer entlang. Erreicht eine Einbuchtung. Eine Tür, massives Holz, zwei Meter hoch, kein Knauf, kein Türklopfer. Nur dicke, durch Eisenbeschläge verstärkte Holzplanken. Darüber zwei Türme. Der Kurier bleibt vor der Tür stehen. Klopft nicht, ruft nicht. Gut erkennbar seine Haut, bedeckt von schwarzer Farbe, ein Schaltplan aus stilisierten Bildern. Gut erkennbar, die schwarze Kleidung, das schwarze Haar. Gut erkennbar, die Umhängetasche, in der er die lange erwartete Post trägt.
Die Tür öffnet sich nach innen - der Kurier tritt hindurch. Zwei Frauen flankieren ihn. Braunes Lederwams, braue Lederhosen, braune Lederstiefel. Sie tragen ihr Haar zu kurzen Zöpfen geflochten und ihre Waffen an breiten Gurten über Schultern und Rücken. In den Händen, Gewehre.
Sie führen den Kurier einen Pfad entlang, den er bereits vielfach gegangen ist. Über ihm das Laubdach. Im Unterholz das Rascheln von Vögeln und Nagetieren, die Luft diesig und feucht. Sie nähern sich einer Felswand. Ein Höhleneingang, davor weitere Wachen, dahinter ein Korridor, beleuchtet von summenden Neonröhren. Gänge zweigen zu beiden Seiten ab und schlängeln sich durch den Fels. Die drei Ankömmlinge folgen dem größten der Tunnel.
Der Kurier befindet sich tief im Höhlensystem als er einen großen Raum betritt. Darin ein Tisch und Stühle, Regale und Kisten voller Waren. Batterien, Gaskartuschen, Streichhölzer, Werkzeuge. Auf dem Tisch Schreibzeug, Papier, ledergebundene Logbücher.
Ein breitschultriger Mann lehnt an dem Tisch, hohe Stirn, kräftiges Kinn, vernarbte Haut. Ein bärtiger Alter sitzt auf einem der Stühle, buckliges Kreuz, kahler Kopf, milchiger Blick. Zwei bekannte Gesichter. Das dritte Gesicht ist neu. Gebräunte Haut, athletische Glieder, wache Augen.
„Willkommen zurück.“ Der breitschultrige Mann grüßt in tiefem Bariton. „Ich habe dich nicht so früh erwartet. Was bringst du mir?“ Der Kurier zieht zwei Umschläge aus der Gesäßtasche seiner Hose. Der eine ist weiß und schmal, der andere braun und ausgebeult.
„Wo ist Mikel, Amegast?“ fragt der Kurier mit ruhiger Stimme, als er seine Lieferung übergibt.
„Tot“, antwortet Amegast. „Rorik hier ist sein Nachfolger. Er wird von nun an dein Kontaktmann sein.“ Der Blick des Kuriers bleibt auf dem schweigenden Unbekannten liegen, der ihn geduldig und still erwidert.
„Rorik, kümmere dich um die Bezahlung und übergib die neuen Sendungen. Harris und ich haben noch etwas zu besprechen“, ordert Amegast, dann wendet er sich dem Kurier zu. „Machst du dich noch heute auf den Rückweg?“ Der Kurier schüttelt den Kopf. „Morgen.“ Amegast nickt. „Bring ihn ins Gastquartier“, richtet er sich noch einmal an Rorik, dann ist das Treffen beendet.
Der Kurier folgt Rorik zu einem anderen Teil des Höhlensystems. Sie durchqueren niedrige und hohe Passagen, natürliche Tunnel und von Werkzeugen geschlagene Korridore. Hin und wieder treffen sie auf andere Menschen. Dumpf ertönt ein rhythmisches Hämmern aus der Tiefe, wo neue Gänge in den Fels gehauen werden. Die Luft ist weder warm noch kalt und riecht mineralisch.
Sie gelangen in ein Zimmer – ein Büro. Rorik setzt sich hinter einen großen Schreibtisch, in dessen poliertes Holz feine Schnitzereien eingelassen sind. Ein großer, roter Teppich bedeckt den Steinboden.
Statt einer Neonröhre beleuchten Öllampen den Raum. Die zurückhaltenden Flammen baden Roriks Gesichtszüge in Licht und Schatten. Er öffnet eine Schublade und zieht ein Dokument und ein kleines, würfelförmiges Päckchen daraus hervor.
Mit einem leisen Schaben gleitet die Schublade zurück in den Schreibtisch. Rorik erhebt sich lautlos und tritt um den Tisch herum. Er legt dem Kurier das Päckchen in die Handfläche. Es ist federleicht. Der Kurier lässt es in den Lederbeutel gleiten, den er um die Schulter geschlungen trägt. Dann reicht Rorik ihm das Dokument. „Hier sind deine Instruktionen. Präge sie dir ein, dann gib sie mir zurück.“ Seine Stimme ist ruhig und stört die staubige Stille nicht, die den Raum erfüllt.
Der Kurier nickt, dann folgt er Rorik erneut durch das Höhlensystem, bis sie einen Tunnelausgang erreichen. Er liegt etliche Meter über dem Boden. Die schale Luft unter dem Stein wird vertrieben vom würzigen Duft feuchten Mooses. Eine Siedlung aus Hütten und Baumhäusern schmiegt sich in den Wald.
Einige Bäume sind so hoch, dass die Behausungen in den mächtigen Kronen noch über dem Höhlenausgang liegen. Der Kurier legt den Kopf in den Nacken und blickt auf ein Netzwerk aus Stegen und Hängebrücken. Treppen winden sich Baumstämme hinauf, verbinden den Grund mit dem höchsten Wipfel.
Er kennt diesen Ort, verweilt hier, wenn sich der Rückweg in die Stadt verzögert. Er darf sich nicht frei bewegen, aber er wird mit Unterkunft und Nahrung versorgt. Die Waldbewohner meiden das Gespräch mit ihm. Sie erkennen ihn sofort, auch ohne ihn zu kennen. Respektieren den tätowierten Mann, aber halten Abstand.
Der Kurier folgt Rorik in den Felsen gehauene Stufen hinab bis zu einem hölzernen Plateau, das ihnen Zugang zur Stadt gewährt. Im Zwielicht unter dem dichten Laubdach klettern Nagetiere die dicke, rissige Borke gewaltiger Baumstämme entlang und holen Insekten aus den Ritzen. Fledermäuse fliegen von Ast zu Ast. Der Ruf eines Kauzes erklingt in unmittelbarer Nähe.
Der Kurier hält den Blick vor sich gerichtet und ignoriert die verstohlenen Blicke der Waldbewohner, die auf ihm liegen. Er folgt Rorik über einen schmalen Steg, unter dem sich ein Bach zwischen moosbewachsenen Steinen und hohen Farnen durch den Wald windet. Leuchtkäfer schwirren wie Flocken aus Licht über der Wasseroberfläche.
Sie erreichen eine Hütte, ein einfaches, aber stabiles Bauwerk aus Findlingen. Es gibt keine Tür - der Eingang ist mit einem schweren Tuch verhängt. Rorik hebt es beiseite und tritt gebückt ein. Der Kurier folgt ihm. Das Innere der Hütte ist ihm vertraut. Ein schmales Bett steht an einer Wand, an einer anderen ein Regal, darin gefaltete Leinentücher. Daneben eine Feuerstelle. Auf einer Kommode eine Schüssel und ein Wasserkrug.
„Ich werde mit deiner Bezahlung zurückkommen“, sagt Rorik und lässt den Kurier allein zurück. Der Kurier entledigt sich seines Lederbeutels. Er füllt Wasser aus dem Krug in die Schüssel und nimmt ein Leinentuch aus dem Regal, um sich den Staub der Geröllebene von Gesicht und Händen zu waschen. Dann setzt er sich auf die Bettkante und studiert die Instruktionen, die er erhalten hat.
Als Rorik zurückkehrt hat der Kurier sich den Inhalt des Dokuments eingeprägt. Rorik stellt einen Korb neben der Feuerstelle auf den Boden. Ein Laib Brot und zwei Äpfel liegen darin, eine Schüssel mit Walnüssen, zwei Tonkrüge und ein Becher.
Rorik streckt die Hand aus. Ein Jutebeutel. „Deine Bezahlung.“ Der Kurier nimmt den Beutel entgegen und gibt Rorik im Gegenzug das Dokument zurück. Der Beutel enthält ein vergilbtes Plastikröhrchen, nicht größer als zwei Daumen nebeneinandergelegt, und eine Phiole aus dunkelblauem Glas. Der Kurier verstaut den Beutel in seiner Umhängetasche, und Rorik dreht sich zum Ausgang.
„Wie ist er gestorben?“ fragt der Kurier ruhig. Rorik dreht sich noch einmal zu ihm um. „Ein Schlangenbiss. Es dauerte eine Woche.“ Der Kurier wendet das Gesicht zum Fenster und betrachtet das Wurzelwerk einer großen Eiche, das aus dem Waldboden ragt wie knorrige Tentakel. Rorik lässt ihn allein in seiner Unterkunft zurück.
Der Weg zurück durch das Ödland nimmt viel Zeit in Anspruch. Ein starker Wind ist aufgekommen und fegt eine fein gemahlene Mischung aus Sand, Asche und Staub auf. Der Kurier müht sich über gesprungene Platten aus Asphalt hinweg, umrundet das verwitterte Skelett eines Busses, erklimmt die Trümmer einer eingestürzten Brücke. Sand schmirgelt seine Haut wund und brennt in seinen Augen. Im Eingang eines zerstörten Tunnels ruht er, bis sich der schlimmste Sturm gelegt hat.
Die Stadt badet in diffusem Licht, das blendet, ohne Helligkeit zu spenden. Der Kurier betritt ein vertrautes Netz aus Straßen und Gassen und Unterführungen. Einige sind unpassierbar, verschüttet unter eingestürzten Mauern und Häusern. Andere sind belebt, Orte für den Handel - Waren und Dienstleistungen. Wilde Knoten aus Kabelzügen über den Köpfen der Menschen. Blinkende Schilder über Eingängen.
Das Mädchen in rotem Kleid bietet dem Kurier ihren Körper für eine Mahlzeit feil. Ein alter Mann bietet dem Kurier eine Mahlzeit für dessen Körper. Der Kurier folgt weiter seinem vorgegebenen Weg. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen.
Er durchquert einen Park. Baumstümpfe ragen schwarz und modrig aus harter Erde wie faulige Zähne. Gräser und Büsche längst verwittert. Ratten suchen im Unrat nach Nahrung, Schnauzen schnüffelnd in verrosteten Dosen und schmutzigen Kleiderhaufen vergraben – vielleicht liegt zwischen dem Stoff noch ein Körper, vielleicht versteckt sich eine Schabe.
Er passiert ein Becken, in das Rohre ragen. Zähe, rote Flüssigkeit tropft aus den Öffnungen und sammelt sich mit klebrigem Saugen am Beckengrund. Eine unsichtbare, ätzende Wolke wabert darüber. Der Kurier hebt den Saum seines T-Shirts über Nase und Mund. Um ihn herum gedrungene Bauten. Kräne mit verrosteten Gittermasten – Zerbrochene Schwenkarme liegen wie die knöchernen Extremitäten großer Tiere auf dem Gelände.
Einige Straßenzüge weiter wieder Wolkenkratzer. Diesmal Türme aus Glas, manche kerzenförmig, andere konkav wie Linsen oder aufgebläht wie Zapfen. Der Kurier ruft sich die Instruktionen ins Gedächtnis, die er sich Tags zuvor eingeprägt hat. Er folgt den Straßen bis er vor einem schlanken Hochhaus steht. Durch eine geborstene Glastür betritt er ein Foyer. Marmorfliesen, Scherben, klaffende Löcher in den Wänden, aus denen Kabel und Dämmmaterial quellen.
Der Kurier durchquert die Empfangshalle. Eine Reihe von Aufzügen liegt vor ihm. Einige Aufzugtüren sind verschlossen, andere entblößen dunkle Schächte. Am Ende der Reihe eine Tür, dahinter ein Treppenhaus. Der Kurier beginnt den Aufstieg. Teppich bedeckt die Stufen, kaum berührt von Zeit und Witterung. Die Farben leuchten, das Gewebe ist sauber und weich, die Wände weiß getüncht, ein anachronistischer Ort.
Der Kurier zählt die Stockwerke. Verlässt das Treppenhaus und tritt in einen Korridor. Verwittertes Papier, angenagte Stuhlpolster, mehr Glasscherben. Der Korridor verzweigt sich, und der Kurier folgt den Instruktionen. Findet eine markierte Tür. Ein rotes Kreuz in der linken Ecke, klein, unauffällig. Er öffnet die Tür und betritt einen Büroraum. Es gibt kein Fenster, und das Tageslicht aus dem Korridor ist zu kraftlos, um den Raum zu erhellen. Der Kurier zieht eine schmale Taschenlampe aus seiner Umhängetasche.
Der Lichtkegel ist schwach, die Batterien fast leer. Der Strahl der Lampe tastet das Büro ab. Streift über einen Stuhl, einen Schreibtisch, darauf Monitore. Stifte und Papier, wie durch ein Wunder den Plünderern entgangen. Der Kurier zieht das würfelförmige Päckchen aus der Tasche und legt es auf ein Regalbrett an der gegenüberliegenden Wand. Dann verlässt er den Raum und schließt die Tür.
An einem verregneten Morgen, zwei Wochen später, verlässt der Kurier seine Unterkunft. Er verriegelt die schwere Tür hinter sich und folgt dem kurzen, dunklen Flur bis zu einem kleinen Fenster, steigt hindurch auf eine Feuertreppe und hinab zur Straße. Sein Stiefel streift eine leere Pappschachtel, und eine Schabe krabbelt daraus hervor, verschwindet in einem Loch in der Hauswand.
Die Straßenhändler haben ihre Stände noch nicht aufgebaut. In Lumpen gehüllte Menschen liegen in Hauseingängen. Das Mädchen im roten Kleid wankt unstet die Straße entlang. Sie hebt die Hand zu einem schwachen Gruß.
Nieselregen fällt von einem grauen Himmel. Die Tropfen hinterlassen feuchte Punkte im Straßenstaub. Der Kurier verliert keine Zeit. Als er den Glasturm erreicht, regnet es stark. Der Stoff seiner Kleidung haftet klamm an seiner Haut. Er durchquert das Foyer, betritt das Treppenhaus, steigt bis in das Stockwerk, in dem das Büro liegt.
Das rote Kreuz ist noch an der Tür. Der Kurier schaltet seine Taschenlampe ein und betritt den Raum. Das Päckchen ist vom Regal verschwunden. Seinen Platz hat ein Plastikkoffer eingenommen. Er ist klein – der Henkel gerade groß genug, dass eine Kinderhand ihn bequem umfassen kann. Das Bild eines geflügelten Ponys mit großen Augen ziert das zerkratzte pinke Gehäuse. Neben dem Koffer liegt ein Bündel Dokumente – zwei Umschläge, ein schmales Notizbuch, eine Mappe mit Papieren.
Der Kurier steckt die Dokumente in seine Umhängetasche und nimmt den Koffer in die Hand. Dann macht er sich auf den Weg.
Amegast ist erfreut über die Lieferung. Er dankt, dann wendet er sich Harris zu. Der Kurier wird zur Hütte geleitet. Rorik ist ungehalten, als ein Waldbewohner dem Kurier ein unfreundliches Wort zuruft. Der Kurier beobachtet einen Eichelhäher, der von Ast zu Ast hüpft, ihnen neugierig folgt. Das blau schillernde Flügelfeld wie ein Juwel im grün des Blätterwaldes.
Rorik lässt Räucherfleisch und Wein bringen. Setzt sich vor die Feuerstelle und fragt den Kurier nach seinem Befinden. Dann essen sie schweigend. „Ist es schlimm in der Stadt?“ fragt Rorik, als sie sich eine Pfeife mit duftendem Tabak teilen. Der Kurier denkt lange über die Frage nach. „Es ist, wie es ist“, antwortet er. „Amegast hat keinen neuen Auftrag. Bleib ein paar Wochen“, sagt Rorik. Der Kurier schüttelt den Kopf.
Einen Monat lang erfüllt der Kurier Aufträge, bevor er den Wald erneut besucht. Zuerst kehrt er in die Stadt zurück. Er füllt seine Tasche mit Dokumenten und Gegenständen. Bestellungen, private Nachrichten und Warenlieferungen. Er durchwandert die farblose Salzwüste im Süden. In die Rümpfen toter Schiffe hat Rost meterhohe Löcher gefressen. Die Luft riecht metallisch. Ein Zweitagesmarsch. Als der Kurier die Siedlungen dahinter erreicht, ist seine Haut trocken und von einer pulvrigen Salzschicht bedeckt. Salzstaub hängt in seinen Wimpern und Nasenlöchern und sammelt sich in den Ritzen seiner aufgesprungenen Lippen.
Von dort zieht er weiter zum See, zwei Tagesmärsche durch Felsschluchten und Grasland. Große, gehörnte Huftiere in der Ferne. Fliegen umschwirren sein Gesicht. Dann ist er am Ziel. Das Gewässer weit wie ein Meer, das entfernte Ufer nicht zu sehen. Schwimmende Hütten auf dem Wasser, davor Menschen, die ihm neugierig entgegensehen.
Weitere Orte folgen. Der Kurier verteilt seine Sendungen und sammelt neue ein. Als er schließlich in die Stadt zurückkehrt, ist sie ein bisschen mehr verfallen, ein wenig toter, aber immer noch dieselbe Stadt. Eine Verschnaufpause, eine Woche Ruhezeit. Dann zum Wald.
Amegast lehnt sich in seinen Stuhl vor. Er schiebt einen Stapel Briefumschläge über den Tisch auf den Kurier zu und schürzt die Lippen. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Du bist schon dort gewesen. Du kennst den Weg, und die Westerner kennen dich. Jeder kennt dich. Sie werden dich nicht behelligen.“
Der Kurier lässt sich mit seiner Antwort zeit. Er nimmt einen Schluck Wein und lässt den Blick durch den Raum schweifen.
Behauene Wände wölben sich über ihnen zu einer niedrigen Kuppel. Sie sitzen zu dritt um einen Tisch. Harris, der vierte Mann, liegt mit Fieber im Krankenbett. Die Tischplatte glänzt im Kerzenschein speckig und ist von Kerben durchzogen. Roriks Augen liegen auf dem Kurier. Amegast betrachtet seine Finger, klaubt Dreck unter einem Fingernagel hervor. Seufzt und lehnt sich vor. „Du bestimmst die Höhe der Bezahlung.“
Der Kurier nickt. „Ich erhalte die Bezahlung im Voraus. Sobald ich sie habe, breche ich auf.“ Seine Stimme ist leise, aber sein Tonfall lässt keinen Raum für Verhandlungen. Amegast bläht die Brust und öffnet den Mund, sinkt dann aber in sich zusammen und wedelt wegwerfend mit der Hand. „Na schön. Sag Rorik deinen Preis und was du für den Weg brauchst. Er wird sich um alles kümmern.“
Der Kurier bleibt zwei Tage in der Hütte im Wald. Er darf sich freier bewegen als üblich, solange er den Boden nicht verlässt. Er benutzt einen Zuber, um mit Wasser vom Bach seine Kleidung zu waschen und hängt sie zum Trocknen über einen tiefen Ast. Ein Junge bringt ihm Wechselkleidung und ein Frühstück und betrachtet mit großen Augen die tätowierte Haut, die den Körper des Kuriers schmückt.
Später packt er seine Ausrüstung zusammen. Er hat die Umhängetasche gegen einen Rucksack getauscht. Darin verstaut er einen Langen Ledermantel, ein gezähntes Messer und eine Gasmaske. Salbe und Mullbinden. Neben dem Rucksack liegen ein noch leerer Wasserschlauch und ein aufgeschlagenes Leinentuch, in dessen Mitte ein Laib Brot liegt. Die Kruste ist dick mit eingebackenen Nüssen und Beeren gespickt.
Rorik betritt die Hütte. Er trägt eine geschnitzte Holzschatulle in beiden Armen. Ein Messingschlüssel steckt in einem Schloss an der Vorderseite. Rorik stellt die Schatulle auf dem Bett ab und macht einen Schritt zurück. Der Kurier setzt sich und dreht den Schlüssel im Schloss. Der Deckel schnappt auf.
Das Kästchen ist mit Samt ausgekleidet. In dem Stoff befinden sich acht kleine Einbuchtungen. Jede hält eine Phiole. In einer weiteren, größeren Einbuchtung liegt ein Fläschchen mit breitem Hals. Darin weiße, ovale Kapseln. Der Kurier inspiziert jedes Objekt gründlich. Er entnimmt eine Phiole, steckt sie in seinen Rucksack, dann schließt er die Schatulle.
„Entspricht das deinen Forderungen?“ fragt Rorik. Der Kurier nickt. Ich werde morgen früh aufbrechen.“ Er schiebt das Kästchen behutsam in seine Umhängetasche. Dann sieht er auf. Rorik steht noch immer in der Hütte und betrachtet ihn. Der Kurier wartet.
Rorik steht in der Lichtsäule, die durch das Fenster in die Hütte fällt. Seine dunklen Wimpern leuchten kupfern im Sonnenschein. Er zieht einen ledernen Armreif aus seiner Tasche und hält ihn dem Kurier entgegen. Der Kurier betrachtet den Reif, ohne danach zu greifen.
„Das war Mikels“, sagt Rorik. „Ich weiß“, antwortet der Kurier.
Knacken im Unterholz dringt von draußen durch das Fenster. Ein Specht klopft auf der Suche nach Nahrung gegen einen toten Baumstumpf. Von weit über der Hütte, aus der Stadt in den Bäumen, ertönt ein entfernter Ruf, der von einem weiteren beantwortet wird.
Rorik kniet sich vor den Kurier und zieht dessen Hand zu sich. Er legt den Lederriemen um das tätowierte Handgelenk und zieht die Schlaufen zusammen, bis der Reif sich an das Gelenk schmiegt. Sein Daumen zeichnet die Kontur einer schlanken Silhouette nach, die sich um den Unterarm des Kuriers windet. Ein stilisierter Dornenzweig, mit schwarzer Tinte in der Haut verewigt. Dann legt er den Arm des Kuriers auf dessen Knie ab und erhebt sich.
Der Kurier sieht nicht auf, als Rorik die Hütte verlässt. Sein Blick ist auf eine Stelle knapp oberhalb des Lederriemens gerichtet, auf das Bild des Dornenzweigs.
Der Kurier ist ausgezehrt, als er aus dem Westen zurückkehrt. Seine Lungen sind verätzt, seine Kleidung hängt lose an seinem Körper. Ein Hosenbein ist zerrissen und blutgetränkt, ein schmutziges Leinentuch darum gewickelt. Er hat die Lieferung dabei. Sein Rucksack hält neue und ausgefranste Umschläge, gefaltete, unverpackte Papiere, zerknitterte Seiten. Manche waren bereits einmal beschrieben oder bedruckt. Amegast will das gesamte Gepäck an sich nehmen. Der Kurier schüttelt den Kopf. Er überlässt seine Post keinem Dritten. Er überreicht Amegast die für ihn bestimmten Dokumente.
„Wo ist meine Tasche?“ fragt der Kurier. Amegast weiß im ersten Augenblick nicht, wovon der Kurier redet. „Sie ist in meiner Obhut“, sagt Rorik. Er trägt jetzt Harris blaue Schärpe. Das Fieber. Roriks Position wird nun von einer Waldbewohnerin gefüllt. Sie ist groß und schlank und aufmerksam. Doch es ist Rorik, der den Kurier durch die Höhlengänge zu seiner Unterkunft geleitet.
Es ist diesmal nicht die Hütte, sondern ein großes Baumhaus. Es legt sich wie ein Ring um den Stamm eines schlanken aber kräftigen Baumes. Um sie herum dichtes Laubwerk das sie wie ein lebendiger Vorhang von der Außenwelt abschirmt.
Ein großer Zuber steht bereit. Der Kurier strauchelt, als er sich das Hemd abstreifen will. Rorik eilt an seine Seite. Er hilft dem Kurier aus seiner kontaminierten, ruinierten Kleidung. Er entfernt das besudelte Leintuch von der Wunde am Bein.
Rorik wirft Leintuch und Lumpen achtlos auf dem Boden. Mikels Armreif löst er behutsam vom Handgelenk des Kuriers und legt ihn auf eine schmale Kommode.
Der Kurier spürt ein scharfen Schmerz am Bein, als er ins warme Wasser sinkt. In der Haut klafft eine Wunde, nicht tief, aber großflächig. Getrocknetes Blut löst sich und färbt das Wasser hellrot.
Eine Frau mit blasser Haut und weißem Haar platziert eine Schale mit Kräutern über einer Kerzenflamme. Der Dampf lindert das Brennen in den Lungen des Kuriers. Ein Korb mit Brot und getrockneten Früchten, Wasser und Bier wird zu ihm gebracht.
Rorik bietet seinen Arm als Stütze, und der Kurier hievt sich aus dem Wasser. Er trocknet sich Haut und Haar mit einem frischen Leinentuch. Rorik verteilt eine würzig duftende Salbe auf dem Bein des Kuriers und legt ihm einen Verband an. Dann öffnet er eine Truhe und entnimmt ihr die lederne Umhängetasche. Er lässt den Kurier allein in dem Baumhaus zurück.
Der Kurier lässt sich mühsam auf einen Stuhl sinken und zieht die Holzschatulle hervor. Er öffnet sie. Immer noch liegen die Phiolen und das Glas darin. Der Kurier schließt den Deckel. Dann stillt er Hunger und Durst und legt sich in ein Bett, das nach Zedern duftet. Dann schläft er.
Es ist Roriks Haus, in dem er zu Gast ist. Zwei Tage verweilt er dort, schläft und badet und isst. Seine Lungen erholen sich, und die Wunde am Bein schließt sich. Nachts umfangen ihn das Rascheln der Blätter und das Rufen und Zirpen nachtaktiver Wesen. Die Luft ist kühl und feucht und getränkt vom Duft von Moos, Holz und Regen.
Am dritten Tag lässt der Kurier, die Waldbewohner zusammenzurufen. Er steht auf einem Plateau, um ihn herum Menschen mit gebräunter Haut und schlanken Gliedern Er verteilt, was er mitgebracht hat. Rorik bleibt an seiner Seite, lässt Bier und Brot bringen. Übrig bleiben Briefe, die nicht zu ihren Empfängern finden.
Am vierten Tag öffnet der Kurier die Schatulle, entnimmt ihr eine Phiole und klaubt eine weiße Kapsel aus dem Glas mit dem weiten Hals. Er legt die Kapsel in seinen Mund, spürt die Hülle an seiner Zunge kleben, öffnet die Phiole und setzt sie an die Lippen. Der Kurier schließt die Augen und schluckt. Atmet tief ein. Das Gift, das in der Farbe seiner Tätowierungen lauert, für eine Weile auf Abstand gehalten.
Am fünften Tag legt Rorik sich zu ihm. Sein Körper ist kraftvoll und geschmeidig, seine Hände begabt, sein Mund selbstlos. Der Kurier bäumt sich auf, seine Muskeln kontrahieren, ein Beben durchfährt ihn. Rorik sinkt stöhnend auf ihn. Ihre Haut ist klamm, die Nachtluft eisig, als sie sich um sie legt. Sie ziehen die Laken über sich. Rorik vergräbt sein Gesicht in der Halsbeuge des Kuriers.
Am sechsten Tag bricht der Kurier auf. Es liegen immer noch Dokumente im Rucksack. Rorik schaut ihm vom Wachturm aus nach, als der Kurier sich auf den Weg über die Geröllwüste macht.
Der Kurier lehnt sich gegen den Eiswind, der mit scharfen Klauen nach seinem Gesicht greift. Seine Lippen sind taub. Eiskristalle sammeln sich in seinen Wimpern. Er macht einen mühsamen Schritt nach vorn, dann schiebt ihn eine Sturmbö zwei Schritte zurück.
Seine Glieder sind steif gefroren, als er den Schutz der Stadt erreicht. Die Straßen liegen dunkel und still. Es ist kalt. Der Kurier biegt in seinen Straßenzug ein. Bevor er aus den Schatten in die kränklichen Neonlichter tritt, greifen Hände nach ihm. Er schlägt einen Arm beiseite, aber sein eigener Arm ist steif und kalt, zu langsam. Ein Stiefel treibt ihm die Luft aus den Lungen. Der Kurier fällt auf den gefrorenen Boden. Er greift den Fuß, der nach ihm tritt, dreht ihn so fest und weit er vermag. Ein Schrei. Dann ein scharfer Schmerz in seiner Brust.
Hände ziehen ihm Rucksack und Tasche vom Körper. Der Kurier spürt ein Kribbeln wie Nadelstiche in Händen und Füßen, Armen und Beinen, dann folgt Taubheit. Sein Herz pumpt verzweifelt mehr Blut aus seinem Körper. Jemand beugt sich über ihn. Ein Mädchen. Sie trägt ein rotes Kleid. Sie kniet neben ihm. Ihr Gesicht dicht vor seinem. Ihre Lippen sind blau vor Kälte. Sie legt ihr Ohr an seinen Mund und lauscht aufmerksam seinen Worten.
Der Kurier durchquert die Geröllwüste. Selbst im Frühling, in der wärmenden Sonne, ist sie leblos und leer. Der Horizont dahinter ist saftig grün. Im Tauwasser dauert es viele Stunden, die Mauer zu erreichen. Kalte, nasse Füße, die Stiefel zu groß, der Mantel zu weit. Weiter, die Barriere entlang, bis zu der eingelassenen Tür, den Mantel von den Schultern schütteln. Die Tätowierungen sind eindeutig, Dioden und Trioden und Pentoden. Der Zugang öffnet sich. Zwei Wachen warten still. Eine dritte Person wartet auch. Hochgewachsen und athletisch. Dunkles Haar glänzt Kupfern im Winterlicht.
Der Kurier greift in eine Umhängetasche und zieht einen ledernen Armriemen hervor. Sie reicht ihn dem Mann, dessen Finger sich behutsam darum schließen. Seine Augen verweilen auf dem Reif. Er atmet ein, erschaudert. Hebt den Blick und schaut sie an. „Hier entlang“, sagt er und weist den Weg.