Konsequenz
von Silver Silence
Kurzbeschreibung
Kon·se·quenz Substantiv, feminin [die] – 1a. Folgerichtigkeit, Schlüssigkeit; 1b. Unbeirrbarkeit, [feste] Entschlossenheit; 2. Folge, Auswirkung. || Er hatte sich mit dem Teufel eingelassen. Das war nun seine Strafe dafür. [Licht x Lawless]
OneshotAngst, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Lawless / Hyde
Licht Jekylland Todoroki
24.09.2021
24.09.2021
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24.09.2021
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„Hey! Drecksigel! Wo zur Hölle bist du?“ Seine letzten Worte gingen in einem Knall unter, als Licht die Tür zu ihrem gemeinsamen Hotelzimmer auftrat. Wäre Kranz hier gewesen, hätte er jetzt wahrscheinlich Ärger bekommen, aber Kranz war nicht hier, und deshalb versuchte er nicht unnötig, sich zurückzuhalten. Auch, wenn die brennende Unruhe in seiner Brust nicht ausschließlich Lawless verschuldet war, verlor er langsam die Geduld mit seinem Servamp.
Sechzehn Uhr dreißig war vereinbart gewesen. Er hatte sich schon ungern zu diesem Treffpunkt überreden lassen, immerhin war es nicht so, als hätte Lawless irgendetwas besseres zu tun und hätte ihn nicht einfach zu diesem Interview begleiten können. Aber seit diesem Zeitpunkt war eine knappe halbe Stunde vergangen, und er war immer noch nicht aufgetaucht.
Licht versuchte, die Tür hinter sich wieder zuzuschlagen, doch seine Hand griff ins Leere. Es war der Anblick, der sich ihm bot, der ihn kurz aus dem Konzept brachte.
Seine Frage von zuvor war nicht ernst gemeint gewesen. Selbst, wenn er nicht die Anwesenheit dieses Vampirs, der durch den Vertrag an ihn gebunden war, gespürt hätte, er hatte gewusst, dass er Lawless vermutlich in der gleichen Position, in der er ihn vor zwei Stunden zurückgelassen hatte, wiederfinden würde. Er hatte es gewusst, und trotzdem schoss ein kurzer Stich durch seine Brust, von dem er sich nicht erklären konnte, welchem Gefühl er zugrunde lag.
Sein Servamp lag auf einem der Betten zu Lichts Linken, dem, das in seiner aktuellen Position weiter von ihm entfernt war. Er hatte sich von Licht weggedreht, die Decke blockierte jeden Blick, den Licht auf seine Gestalt hätte haben können. Er hatte nicht einmal aufgesehen, als er den Raum betreten hatte. Ihr gemeinsames Zimmer. Vor wie langer Zeit noch war das für sie beide absolut unvorstellbar gewesen? Dieser Gedanke war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn Licht der Stimme in seinem Kopf nachgab und versuchte, alles aufzuzählen, was an dieser Situation falsch war. Vermutlich wäre er sowieso nie damit fertig geworden.
Beginnend damit, dass Lawless vor nur ein paar Wochen noch seine Seite nicht verlassen hatte, nur, um in ihrem Zimmer zu bleiben. Damals war er zwar oft genug selbstständig unterwegs gewesen, und es war auch nicht so, als hätte Licht gewusst, wohin er ging- es hatte ihn auch nie interessiert. Aber dass er sich je mit dieser Situation konfrontiert finden würde, hatte Licht zu diesem Zeitpunkt auch nicht gedacht.
Seit den Ereignissen im Hauptquartier der Schwermut war so viel passiert… nein, das war nicht ganz das richtige Wort. Viel passiert war, seit er seinen Vertrag mit Lawless geschlossen hatte. Seit er diesen Igel nach Hause gebracht hatte. Seit allem, was mit Tsubaki passiert war, hatte sich einfach viel verändert. Dinge, die nie wieder so werden würden, wie sie einmal gewesen waren.
Weder Licht noch Hyde hatten diesen Gedanken je ausgesprochen, und doch wussten sie beide, dass er die Wahrheit war. Er stand zwischen ihnen wie ein Dämon, ein dunkler Schatten, der sie begleitete, wann immer sie beieinander waren. Licht hätte wissen müssen, was er dagegen tun hätte können. Immerhin war er ein Engel. Aber dieser Gegner schaffte es jedes Mal, sich seinen Angriffen zu entziehen.
Vielleicht hätte er es ansprechen sollen. Vielleicht müsste er es ansprechen, die Gedanken, die ihm schon so lange durch den Kopf gingen, laut aussprechen, bis sie verschwanden. Vielleicht war das alles, was er jetzt noch tun konnte.
Vielleicht würden sie beide einfach so untergehen. Er würde mit ihm fallen. Solange Licht die Hand dieses Teufels nicht losließ, würden auch all diese ungesagten Worte nichts ändern.
Es klickte leise, als die Tür hinter ihm nun doch ins Schloss fiel, doch Licht achtete nicht mehr darauf. All seine Aufmerksamkeit galt in diesem Moment seinem Servamp, der andererseits seine Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt haben schien. Oder sie einfach ignorierte. Licht wusste nicht, welche dieser beiden Optionen wahrscheinlicher war. „Steh auf“, knurrte er kühl, einige Schritte auf Lawless’ Bett zumachend. Immer noch keine Reaktion. „Die Probe geht in einer Stunde los, und hier musst du mitkommen. Kranz wartet wahrscheinlich auch schon.“ Das war nicht ganz die Wahrheit; sie würden vermutlich in frühestens einer Viertelstunde losfahren, aber Lawless machte auf ihn nicht den Eindruck, als hätte er gerade irgendeine Form von Zeitgefühl.
Licht verengte die Augen. Wartete auf den Kommentar, die vertraute, spielerisch anklagende Stimme, die ihn bisher jedes Mal begrüßt hatten, wenn er sich in dieser Situation gefunden hatte. Ja, das passierte inzwischen häufiger.
Du bist so gemein. Hab doch ein bisschen Mitleid mit mir, Engelchen. Ist immerhin auch deine Schuld, dass ich in dieser Situation bin.
Das waren normalerweise die Stichworte, die es ihm erlaubten- beziehungsweise, ihm spezifischen Anlass dazu gaben- seinen Servamp zu treten oder etwas nach ihm zu werfen. Und dann würde alles normal weitergehen.
Den Drang dazu hatte Licht zwar allemal, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht dazu durchringen. Es war immerhin auch nicht so, als bräuchte er einen Grund, um dem Teufel wehzutun, oder als würde irgendetwas davon an Reiz verlieren, wenn er nicht reagierte.
Nein, Licht wusste bei bestem Willen nicht, was ihn dazu veranlasste, sich einfach ohne ein weiteres Wort auf den Boden vor Hydes Bett zu setzen, so, dass er ihn ansehen konnte. Als hätte er die Anwesenheit seines Eves jetzt erst bemerkt, öffnete er langsam ein Auge, und das zweite, als er ihn erkannte. „Oh, Licht.“ Er blinzelte und schob in einer halbherzigen Bewegung die Decke etwas nach unten. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass, wodurch die Schatten unter seinen Augen fast schwarz wirkten, und das, obwohl er den ganzen Tag noch nicht von seinem Bett aufgestanden war. „Ist das Interview schon vorbei?“ Er richtete sich ein Stück auf; oder versuchte es, besser gesagt, denn nach einigen Sekunden hielt er inne und es sah aus, als würde der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht verschwinden. Seine Arme zitterten.
„Das war vor drei Stunden“, knurrte Licht scharf, doch irgendetwas an Hydes Zustand ließ ihn nicht ganz den gewohnten Unterton formen. „Ich habe auf dich gewartet.“
„Ah, tut mir leid.“ Lawless grinste und fuhr sich mit einer Hand über den Hinterkopf. Es war fast so normal, dass Licht die Situation, in der sie sich befanden, fast vergessen hätte können, wäre da nicht der gedrückte Unterton in seiner Stimme, gerade so präsent, dass Licht sich nicht vollkommen sicher sein konnte, ob er es sich nicht einfach einbildete, oder der schwache Schleier über seinen sonst immer funkelnden roten Augen. Licht- nein, sie beide wussten nicht, was es war, aber irgendetwas passierte mit ihm. „Ich stehe sofort auf…“ Und wieder, obwohl er im gleichen spielerisch-fröhlichen Tonfall sprach, den Licht an ihm gehasst hatte, klang seine Stimme nur eine Spur zu ernst.
„Nein, bleib, wo du bist“, murrte Licht, ohne Lawless dabei in die Augen zu sehen. Was genau er mit diesen Worten erreichen wollte, wusste er selbst nicht. Er hatte sie ausgesprochen, ohne darüber nachgedacht zu haben. Obwohl er seinem Blick bewusst auswich, konnte Licht ihn doch spüren. Einige Sekunden lang kam er damit zurecht, dann fügte er unwillig hinzu: „Und wenn es so weit ist, überlegen wir uns, was wir tun.“
„Hehe…“ Hyde gluckste leise und brachte Licht damit innerhalb einer knappen Sekunde dazu, seine Worte zu bereuen. Seine Worte, und, dass er das Zimmer überhaupt betreten hatte. „Du hast dich ganz schön verändert, Engelchen.“
„Sagt der Richtige“, knurrte Licht scharf, den Kopf immer noch von ihm weggedreht. Neben sich hörte er nur noch ein leises Rascheln, konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass Lawless sich wieder ein Stück nach unten rutschen ließ. Sagen tat er nichts.
Eine Weile der Stille verging. Es war die Art Moment, von denen Licht nie erwartet hätte, sie jemals mit Lawless zu erleben; Momente, in denen keiner von ihnen etwas tat, sagte, dachte, fühlte. Es gab nichts, nicht einmal Zeit an sich, nur die Anwesenheit des anderen.
In letzter Zeit kam das immer häufiger vor, und Licht konnte sich nicht dazu bringen, Gefallen daran zu finden. Dafür war zu viel falsch an diesen Augenblicken.
Es war nicht nur, dass es ihn daran erinnerte, dass sich etwas verändert hatte. Dass der Teufel sie beide auf einen Weg ins Ungewisse geschickt hatte, und es zu spät war, um noch umzukehren. Dass Licht jetzt mit ihm in dieser Sache steckte. Und dass keiner von ihnen wusste, wie lange sie diesen Weg zu zweit gehen würden.
Licht hatte keine Angst davor. Engel hatten keine Angst, schon gar nicht um Teufel. Wären es nur diese Gefühle, die in diesen Momenten an die Oberfläche kamen, käme er damit zurecht. Es war falsch, dass er so dachte, aber andererseits war es so abstrakt, dass er damit umgehen konnte. Es konnten unmöglich seine eigenen Gefühle sein, die ihm das sagten. Der Teufel musste irgendetwas mit ihm gemacht haben, dass sein Verstand sich einen solchen Nonsens zusammenreimte.
Was sich Licht mit diesem Argument nicht erklären konnte, war, dass er diese Momente genoss. Warum ihm irgendetwas daran das Gefühl gab, dass er alles hatte, was er brauchte. Er dachte an nichts, er musste an nichts denken; und er sollte es hassen. Aber aus irgendeinem Grund tat er das nicht.
Vielleicht war das auch das Werk dieses Teufels. Erklären würde das wenigstens eine ganze Menge, aber andererseits neue Fragen aufwerfen. Fragen, auf die Licht noch nicht vorbereitet war.
Grundsätzlich hatte er ein gutes Verständnis von sich und seiner Umwelt. Und als Engel war es seine Position, sich dem Teufel entgegenzusetzen. Er hatte ihn gehasst, genau so, wie es hatte sein sollen. Also wann hatte sich das geändert? Wann waren diese Regeln umgeschrieben worden? Nein… wann hatte er aufgehört, so zu denken?
Lawless. Gesetzloser.
Wie ironisch.
Es hatte keinen Zweck, zu versuchen, sich irgendetwas vorzumachen. Es lief alles auf diesen verdammten Teufel hinaus, und was auch immer er mit Licht gemacht hatte. Wenigstens war das die einzige Erklärung, die er hatte. Was sonst war passiert? Immerhin hatte er ihn von Anfang an gehasst- gut, nicht ganz von Anfang an, schließlich hatte er ihn für einen Igel gehalten. Danach, nachdem sie diesen Vertrag geschlossen hatten…
Es stimmte, er hasste Lawless, oder sollte ihn wenigstens hassen. Er wüsste nicht, an welchem Punkt die Sache umgeschlagen war. Er wusste es schließlich besser, als dass er sich auf den Teufel eingelassen hätte. Und dass sie sich nicht voneinander entfernen durften, war schlussendlich doch auch nur ein stummes Versprechen gewesen, dass sie irgendwann durch die Hand des anderen sterben würden. Je nach dem, wem es früher gelang.
Das war wenigstens das, wovon Licht immer ausgegangen war. Und von Lawless’ Seite aus schien sich diese Ansicht auch geändert zu haben, soweit er selbst das beurteilen konnte, wenigstens. Seit er seine Dschinn verloren hatte, verhielt er sich wenigstens ein ganzes Stück weniger… nun ja, eindrucksvoll, wenn das auch nicht ganz das Wort war, mit dem Licht ihn früher beschrieben hätte. Ob es in irgendeiner Relation zu den Ereignissen mit Tsubaki stand, oder irgendetwas anderes der Auslöser gewesen war, wusste Licht nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Sollte der Teufel machen, was er wollte, er hatte seine eigenen Ziele.
Hatte er das?
So verhielt man sich doch nicht jemandem gegenüber, den man hasste, richtig? Selbst Kranz hatte inzwischen angemerkt, dass sie es früher nicht so lange im gleichen Raum ausgehalten hätten, ohne zu streiten zu beginnen.
Licht versuchte, die Stimme in seinem Kopf, welche diese Worte immer wieder wiederholte, zu verdrängen, zu übertönen, irgendwie zum Schweigen zu bringen. Das war allein das Handeln des Drecksigels, und Licht hatte eingeschränkte Optionen, wie er darauf reagieren konnte. Dieser Idiot hatte schließlich zugelassen, dass Tsubaki ihr Vertragsobjekt zerstörte, und dann…
Sein Rucksack fühlte sich plötzlich seltsam schwer an.
Licht biss sich auf die Zunge. Dieser Gedanke… war ziemlich das letzte gewesen, was ihm in dieser Situation gefehlt hatte. Er hätte wissen müssen, dass es eine schlechte Idee gewesen war, dieses Ding zu machen, und es immer bei sich zu behalten. Hätte er damals nur ein Stück mehr nachgedacht, hätte er vermutlich nie damit begonnen.
Was für ein hässliches Wort. Vermutlich. Es war lächerlich, darüber nachzudenken; selbst, wenn er sich damals anders hätte entscheiden können, war es jetzt zu spät, noch etwas zu bereuen. Es würde auch nichts mehr ändern.
Ja? Da war sie wieder, diese leise, mahnende Stimme in seinem Kopf, an die er sich inzwischen viel zu sehr gewöhnt hatte. Wenn es nur etwas gäbe, das man jetzt noch dagegen tun könnte, in genau diesem Moment. Je stärker Licht versuchte, ihre Worte zu ignorieren, desto präsenter wurden sie.
Er zögerte. Wie oft hatte er sich schon in dieser Situation befunden? Wie oft hatte er sich schon vorgestellt, was passieren würde, wenn er an dieser Stelle einfach den letzten Schritt machte? Und wie oft hatte er das alles nach hinten verschoben, auf einen späteren Zeitpunkt, von dem er nicht wusste, ob er je kommen würde?
Licht hasste sich dafür. Wenn er Hyde dieses Ding nicht hätte geben wollen, hätte er es nicht gemacht, glaubte er wenigstens. Tatsächlich waren seine Erinnerungen an damals verschwommen, versteckt hinter einem Nebelschleier, und er wusste nicht mehr, was er zu diesem Zeitpunkt gefühlt oder gedacht hatte. Alles, was er wusste, war, dass es sich richtig angefühlt hatte- nein, das war nicht ganz das richtige Wort, es hatte sich einfach falsch angefühlt, es nicht zu tun.
In diesem Leben gab es nichts geschenkt, und er wusste das. Wenn er nicht selbst den Schritt machte, würde sich nichts an ihrer Situation, wie sie jetzt war, ändern. Er wusste, was er zu tun hatte. Also warum brachte er es sich nicht über sich?
„Ich…“ Ist das richtig? Licht versuchte mit aller Kraft, diese Gedanken zurückzudrängen, weiterzusprechen, ohne sein Handeln zu hinterfragen. Ja, es war richtig, verdammt. Er hatte es schließlich begonnen, und irgendwann würde er es zu Ende bringen müssen. „Ich habe…“ Und ist das der Punkt, an dem es so weit sein sollte?
Licht biss sich auf die Zunge, murmelte etwas, von dem er selbst nicht ganz wusste, was es bedeuten sollte, und wartete darauf, dass Lawless nachfragte. Es war nervig, sich das vorzustellen und darauf einzustellen, aber ein Teil von Licht hoffte darauf, dass sein Servamp ihm die Entscheidung damit abnehmen würde. Oder wenigstens leichter machen. Aber natürlich reagierte der nutzlose Teufel nicht; Licht war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt irgendetwas von dem, was um ihn herum geschah, mitbekam.
Mit einem Tch drehte Licht den Kopf zur Seite. Fuhr mit den Augen die Bodenkante nach. War dieser Riss in der Wand schon immer da gewesen? Das war ihm noch nie aufgefallen. Vielleicht, weil sein Bett auf der anderen Seite des Raums stand, und er damit keinen Blick auf diese Ecke hatte. Lawless war derjenige, der es von seinem Bett aus erkennen können müsste. Ob ihm dieses Detail aufgefallen war?
Lichts Hände schlossen sich ohne sein zutun zu Fäusten. Dieses Theater war doch lächerlich. Er trug dieses Ding seit Wochen- seit Monaten?- mit sich herum, weil er sich jedes Mal eingeredet hatte, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt war, um es ihm zu geben. Und jedes Mal, wenn er mit diesem Gedanken konfrontiert wurde, mischte sich diese mahnende Stimme darunter, die mit jedem Mal ein Stück eindringlicher wurde. Wie genau stellst du dir diesen Moment vor? Ich denke nicht, dass er so kommen wird. Licht schloss die Augen, versuchte, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, doch um ihn herum war es zu still. Es gab nichts, mit dessen Hilfe er die vertrauten Worte ausblenden hätte können; Worte, die er viel zu gut kannte, und die er nicht noch einmal hören musste. Nicht noch einmal hören wollte. Irgendwann wird es zu spät sein.
„Ignorier mich nicht, Idiotenhyde“, knurrte er, so leise, dass er sich nicht einmal sicher war, ob Hyde ihn überhaupt hören hatte können. Vermutlich waren diese Worte ohnehin nicht wirklich an deren Empfänger gerichtet gewesen. Stattdessen blieben sie im Raum hängen wie der Nachklang einer Melodie, und hallten in Lichts Ohren wieder.
Von dem Teufel hatte er keine Unterstützung zu erwarten. Von dem Teufel wollte er keine Unterstützung, nicht in dieser Situation. Immerhin wusste er, was er tun sollte, zu tun hatte, und alles, was er noch brauchte, war die Kraft, um diesen letzten Schritt zu machen.
Was hielt ihn davon ab? Was war daran so schwer? Was hatte dieser verdammte Teufel mit ihm gemacht?
„Licht?“ Hydes Stimme war leise, so ungewohnt schwach, und vermutlich hätte er ihn nicht einmal gehört, wenn es um sie herum nicht so still gewesen wäre. Und trotzdem reichte es aus, um alle von Lichts Gedanken mit einem Schlag zu unterbrechen. Seinen Kopf für einen Sekundenbruchteil vollkommen auszufüllen, und dann leer zurückzulassen.
Es war nur sein Name gewesen, so etwas unbedeutendes in dieser Sache, und trotzdem gab es Licht in diesem Moment jede Bestätigung, von der er nicht gewusst hatte, dass sie ihm fehlte. In seinem Kopf war keine mahnende Stimme zurückgeblieben, die ihn daran erinnerte, dass er sich auf nichts, von dem er immer ausgegangen war, verlassen konnte, solange Hyde involviert war. Keine Zweifel. Keine Unsicherheiten. Nichts.
„Ich habe etwas für dich“, beendete Licht seinen Satz von zuvor. Seine eigene Stimme hörte sich in seinen Ohren fremd an, trocken und tonlos. Seine Hände waren taub, als er langsam und mit fast mechanischen Bewegungen seinen Rucksack abnahm. Alles, was er in diesem Moment spürte, alles, was in diesem Moment existierte, war Hydes Blick auf ihm.
Ein Blick, den er bewusst nicht erwiderte.
Vorsichtig öffnete er eines der Fächer. Es hatte sich seltsam angefühlt, dieses Ding in seinem Rucksack aufzubewahren, aber aus irgendeinem Grund hatte sich etwas in ihm geweigert, es nicht immer bei sich zu behalten. Irgendetwas daran… hatte ihm ein Gefühl der Verbundenheit zurückgelassen, ein Gefühl der Sicherheit, das ihm gefehlt hatte, seit ihr Vertragsobjekt zerstört worden war. Warum, wusste er nicht, und eigentlich wollte er es überhaupt nicht wissen.
Neben sich hörte er ein leises Rascheln, als Lawless sich ein Stück zu ihm hinüberlehnte, um besser sehen zu können, was er tat. Licht presste die Lippen aufeinander und schluckte einen bissigen Kommentar hinunter. Er hatte gewollt, dass der Vampir mehr Interesse zeigte, und das hatte er nun davon. Wobei es jetzt ohnehin schon zu spät war, sich noch umzuentscheiden.
Trotzdem schloss er seine Hand im gleichen Moment, in dem seine Finger gegen das kühle Metall stießen, um den kleinen Gegenstand, sodass Hyde ihn nicht würde sehen können, bis Licht ihm die Erlaubnis dazu gab.
Er wusste selbst nicht, was er hinauszuzögern versuchte, als er seinen Rucksack wieder schloss und über seine Schultern hängte, die rechte Hand die ganze Zeit zu einer Faust geschlossen. In einer fließenden, aber langsamen Bewegung nahm er vorsichtig Hydes Hand, öffnete sie und legte den Anhänger hinein. Vorsichtig drückte er die Finger des Servamps über das Metall, dann erst ließ er seine Hand wieder los und wandte sich ein Stück ab. All das geschah, ohne, dass er ein Wort gesprochen hätte, oder ihm in die Augen gesehen.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Hyde blinzelte und die Hand öffnete. Es schien einige Sekundenbruchteile zu brauchen, bis ihm bewusst wurde, was es war, denn seine Augen weiteten sich ein Stück. „Licht-“ Wenn er noch etwas hatte sagen wollen, beendete den Satz nicht. Hob nur seine freie Hand und strich vorsichtig über die kleine Platte. Folgte den Gravuren, die Licht hineingeritzt hatte.
Vier Buchstaben… ein Wort. Nein, kein Wort. Ein Name.
Hyde.
Licht blinzelte, suchte nach irgendetwas, das er ansehen konnte, um eine Ausrede zu haben, warum er Hyde nicht in die Augen sah. „Ich weiß, es wird nichts ändern an…“ Er beendete den Satz nicht. Inzwischen wusste er nicht mehr, ob er das um Hydes oder seiner selbst Willen tat. Er wollte es nicht hören. „Aber nachdem das, das ich dir gegeben habe, kaputt ist, dachte ich, ich sollte dir… ein neues machen.“
Sollte. Lügner.
Licht ignorierte die leise Stimme in seinem Kopf; die gleiche Stimme von zuvor, und all den anderen Malen. Er hatte nicht das Gefühl, dass Lawless ohnehin irgendetwas davon durchschauen würde. Verstehen, warum Licht sich diese Umstände gemacht hatte, nur, um dem Teufel ein Geschenk zu machen. Immerhin verstand er es selbst nicht.
Das Vertragsobjekt war etwas anderes gewesen. Er hatte es für Hyde gemacht, nicht Lawless. Für den Igel, den er so falsch eingeschätzt hatte, wie… nun ja, wie er ein Tier falsch einschätzen konnte. Nicht für diesen verdammten Teufel, den er vom ersten Moment an zu hassen gelernt hatte.
Lichts Augen wurden ein Stück schmäler, als er den Blick auf das glatte Metall in den Händen seines Servamps senkte. Verfolgte die Linien, die er hineingeritzt hatte, ein Stück sauberer als beim ersten Mal.
Nein, an seinem Motiv hatte sich nichts geändert. Dieses Geschenk war an Hyde gerichtet, nicht Lawless. Er fragte sich nur, wann die Grenze zwischen den beiden verschwommen war.
Langsam hob Hyde den Blick zu Licht nach oben, zögerte kurz, und senkte ihn dann wieder auf den Anhänger. Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male, bis Licht ihm schließlich nachgab und den Blick ebenfalls hob. „Was ist?“, knurrte er. „Hör auf damit. Du machst mich nervös.“
Anscheinend hatte er seinem Servamp mit dieser Reaktion gegeben, was er erreichen hatte wollen, denn er schloss die rechte Hand wieder um den Anhänger und lächelte schwach. Seine Augen glänzten. „Danke“, murmelte er in einer leisen, seltsam ruhigen Stimme, von der Licht nicht gewusst hatte, dass er überhaupt dazu fähig war. Und dann, nach einer kleinen Pause, als hätte er gewartet, ob sein Eve etwas dazu sagen wollte, fügte er hinzu: „Danke, Licht.“ Seine Stimme verlor sich, er senkte den Blick wieder.
„Wehe, du wirst jetzt übermütig, Drecksigel“, knurrte Licht eine Spur halbherziger, als er beabsichtigt hatte. Um seine Worte zu unterstreichen und diesen Verlust auszugleichen, wandte er sich jetzt ab und stand wieder von seinem Platz auf. „Wir müssen jedenfalls bald gehen“, erinnerte er seinen Servamp scharf, während er zum Klavier an der gegenüberliegenden Wand hinüberging. „Und ich werde sicherstellen, dass es dir bis dahin besser geht.“ Weil du so oder so mitkommen musst. Nicht, weil ich mir Sorgen mache oder etwas in der Art. Er sprach diese Gedanken nicht aus. Auch, wenn er nicht das Gefühl hatte, als würde es irgendetwas ändern, sollte er es tun. „Warum? Weil ich-“
„-ein Engel bin“, beendete Lawless den Satz und veranlasste damit Licht dazu, sich wieder zu ihm umzudrehen. „Unterbrich mich nicht.“ Es war faszinierend, mit welcher Sicherheit dieser Teufel es schaffte, Lichts Abneigung ihm gegenüber wieder zu bestätigen, selbst in dieser Situation.
Lawless lächelte nur. Kein Grinsen, kein Schmunzeln- ein aufrichtiges Lächeln, das Licht bisher nur sehr, sehr selten auf seinem Gesicht gesehen hatte. „Nichts Trauriges, okay?“
Licht gab keine Antwort. Nichts, was er in diesem Moment hätte sagen können, hätte sich richtig angefühlt.
So setzte er sich einfach ans Klavier, legte die Finger auf die Tasten, hielt inne. Einen Herzschlag lang musste er den Drang unterdrücken, sich noch einmal zu Hyde umzudrehen. Er wusste auch so, dass der Blick seines Servamps immer noch auf ihm lag.
Er selbst spürte, dass eine Spur zu viel Nachdruck in seinem Handeln lag, als er seine Konzentration auf das Klavier richtete. Nicht, dass irgendetwas davon Lawless auffallen würde, in diesem Sinne konnte er tun, was er wollte. Es gab niemanden, dem er hier irgendetwas beweisen müsste. Er würde einfach nur spielen, damit hätte er alles getan, was in seiner Verantwortung lag.
Seine Finger bewegten sich von allein. Für einen Sekundenbruchteil bereute er es, kein anderes Stück ausgesucht zu haben; er hatte das hier schon so oft gespielt, er musste sich nicht mehr konzentrieren, um die richtigen Tasten zu treffen, das Tempo zu halten, und teilweise brachte es ihn nur durcheinander, wenn er versuchte, sich auf die Noten zu konzentrieren, alles andere auszublenden.
Normalerweise funktionierte das. Wann immer er auf einer Bühne spielte- nein, wann immer er vor Publikum spielte, sei es auch nur eine Person, verließ jeder andere Gedanke seinen Kopf. Es war tatsächlich einer der Gründe, warum er in diesem Moment zum Klavier gegangen war; es gab Dinge, auf die er sich gerade nicht konzentrieren wollte, Gedanken, die er abschalten wollte, wie mit einem Lichtschalter.
Warum funktionierten die Dinge nie so, wie sie sollten, wenn Lawless involviert war?
Dabei müsste er doch selbst am besten wissen, dass die Dinge nicht mehr so waren wie früher. Immerhin saß er nicht einmal in der ersten Reihe, er stand direkt auf dieser verdammten Bühne. Und allein die Tatsache, dass er in diesem Moment hier war, war nur ein Beweis dafür, dass er sich auch irgendwann verändert hatte. Schleichend genug, dass er es nicht bemerkt hatte, aber jetzt, in dieser Situation nicht mehr von der Hand zu weisen war.
Es gab etwas, das ihn mit Hyde verband, mehr als die violettgelbe Kette, ihr Vertrag.
Dieser Gedanke hätte sich falsch anfühlen müssen. Dieser Gedanke fühlte sich falsch an, aber Licht wusste nicht mehr, wie er es sonst ausdrücken sollte. Er hatte versucht, andere Erklärungen dafür zu finden, irgendetwas, aber es musste schließlich einen Grund geben, was sich verändert hatte.
War durch Tsubaki irgendetwas mit dem Vertrag passiert? Diese Möglichkeit hörte sich doch recht weit hergeholt an in Lichts Ohren, aber er hatte keine wirkliche andere Erklärung. Oder waren das nur weitere Langzeitfolgen, von denen der Drecksigel ihm nichts gesagt hatte? Wenn er immerhin sterben würde, wenn sie zu lange zu weit voneinander entfernt waren, warum sollte nicht auch so etwas möglich sein?
Schlussendlich war es egal, warum es passiert war. Es sah ganz so aus, als wäre er dem Teufel in die Falle gegangen. Und er war zu tief gefallen, als dass sein Verstand als Engel ihm noch sagen würde, dass das, was er tat, falsch war.
Nein, dieser Ausdruck hörte sich nicht gut an. Es implizierte, dass es nichts gab, was er hätte tun können, wenigstens von dem Zeitpunkt an, als Lawless ihn dazu gebracht hatte, den Vertrag abzuschließen. Es implizierte, dass sich nichts seitdem verändert hatte, weder an Hyde, noch an ihm selbst, oder ihnen beiden gemeinsam, sowohl als Eve und Servamp, als auch… was auch immer er für Hyde war. Oder besser, was auch immer Hyde für ihn war.
Und nichts davon war auch nur im entferntesten die Wahrheit.
Vielleicht war es sinnlos, sich nach dem Warum zu fragen. Vielleicht war das, worüber er eigentlich nachdenken sollte, was er damit tun sollte. Immerhin schien es kein Zurück mehr zu geben, es sei denn, der verdammte Igel kratzte jetzt endgültig ab, und…
Und aus irgendeinem Grund brachte dieser Gedanke Licht nicht die Befriedigung, die er hätte tun sollen.
Ganz im Gegenteil. An dieser Stelle war von ihrer Feindschaft, von dem Wunsch, Lawless tot zu sehen, nur noch eine stumpfe Angst geblieben. Ein Unwohlsein, das er nicht ganz zu fassen bekommen konnte, das aber mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die verstrich, stärker wurde, und seine Gedanken immer wieder auf dieses Thema lenkte.
Er wusste nicht, was mit Hyde passierte. Keiner von ihnen wusste es. Das einzige, was er wusste, war, dass sein Servamp Angst hatte, und dass sich diese Angst irgendwie auf ihn übertragen musste. Eigentlich könnte es ihm schließlich nicht gleichgültiger sein. Außer dem Vertrag gab es nichts, was sie miteinander verband, und dieser würde auch brechen, wenn er starb. Lichts Leben würde normal weitergehen, so normal, wie es eben weitergehen könnte, nach allem, was passiert war. Es gab jetzt schon nichts, was ihn an der Seite dieses Vampirs hielt, aber das konnte er auf das Distanzlimit schieben. Wenn er es auch ausschöpfen könnte, wenn er gewollt hätte.
Je öfter Licht diese Worte in seinen Gedanken wiederholte, desto mehr verloren sie an Bedeutung. Inzwischen waren sie nur noch leere Hüllen, Buchstaben, Laute, von denen er sich nicht einmal mehr sicher sein konnte, dass er noch ihre Bedeutung kannte.
Er versuchte nicht, sich selbst zu belügen. Als hätte ein Engel wie er so etwas nötig, vor allem, wenn es dabei um einen Teufel ging. Sich etwas vorzumachen setzte voraus, dass es etwas in ihm auslösen würde, müsste er der Wahrheit ins Gesicht sehen. Etwas, vor dem er aus irgendeinem Grund Angst hatte.
Das war nicht der Fall, verdammt. Keiner von ihnen wusste, wie sich die Sache entwickeln würde, und damit war die Frage von Lüge oder Wahrheit vom Tisch. In der Ungewissheit gab es kein richtig oder falsch, und vielleicht wollte er ja auch daran glauben, dass es mit Lawless’ Tod enden würde.
Ein scharfer Stich schoss durch Lichts Brust, und er wäre fast zurückgezuckt, wären sein Körper und seine Muskeln nicht immer noch auf sein Spiel fokussiert gewesen. Selbstverständlich fühlte sich der Gedanke, Lawless würde sterben, falsch an; er hatte sich immerhin als unsterblich vorgestellt, und sich bei Lichts Versuchen, das Gegenteil zu beweisen, als recht zäh herausgestellt. Wenn besagte Versuche auch manchmal mehr, manchmal weniger ernst gemeint gewesen waren.
Nein… das war es nicht. Das Problem war nicht, dass sich dieser Gedanke falsch anfühlte, denn das tat er nicht. Nicht nur, wenigstens.
Er tat weh.
Licht konnte es sich selbst nicht erklären, und eigentlich wollte er es auch überhaupt nicht. Es war genug, sich das überhaupt einzugestehen. Er war ein Engel, er sollte dem Teufel gegenüber nicht so fühlen, er hasste Lawless, er-
Hyde.
Inzwischen wusste er nicht mehr, wer dieser Vampir für ihn war. Partner, so hatte Mahiru es wenigstens genannt. War das eine passende Bezeichnung für sie?
Vor ein paar Monaten noch wäre das für ihn- nein, wahrscheinlich für sie beide- außer Frage gestanden. Und Licht wusste es besser, als sich mit einem Teufel einzulassen. Oder wenigstens… hatte er es besser gewusst.
Wahrscheinlich war das seine Strafe. Strafe dafür, dass er versagt hatte, dein Teufel selbst zu töten. Strafe dafür, dass er diese Verbindung zwischen ihnen zugelassen hatte. Er wusste, dass er kämpfen musste, wenn es der Drecksigel schon nicht schaffte, aber gleichzeitig wusste er nicht, was er tun konnte.
Er konnte Hydes Seite nicht verlassen, nicht mehr. Vielleicht war das alles, was er jetzt noch tun konnte. Alles, was ihnen blieb. Geblieben war.
Der letzte Klang wurde leiser und leiser. Erst, als er vollkommen verklungen war und Licht sich der Stille um ihn herum bewusst wurde, hob er die Finger von den Tasten. Stille…
Licht schloss die Augen, versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, doch irgendetwas hier fühlte sich falsch an. Er wartete ab, bereitete sich vor- nein, hoffte, dass Hyde etwas zu seinem Spiel sagen würde, doch alles, was um ihn herum blieb, war diese Stille.
Er brauchte die Bestätigung des Teufels nicht. Er wollte die Bestätigung des Teufels nicht, aber irgendwann musste er sich daran gewöhnt haben, damit rechnen zu können. So sehr, dass es sich falsch anfühlte, so falsch, dass es beinahe schmerzte, wenn sie ausblieb.
„Hey. Idiotenhyde.“ Licht hatte unwillig klingen wollen, ein wenig genervt, so, wie er es früher immer ganz automatisch gemacht hatte, wenn er mit Hyde gesprochen hatte, und wann hatte sich das geändert? Wann war es zu etwas geworden, das er erzwingen musste?
Es war sinnlos, sich diese Frage zu stellen, nicht zuletzt, weil Licht kläglich daran scheiterte, seine Stimme ansatzweise so klingen zu lassen, wie er es gewollt hatte. Sein Tonfall war kraftlos, unruhig, er hatte eine Spur zu schnell gesprochen.
Es änderte nichts, denn Lawless reagierte nicht. Wobei diese Tatsache Licht nur noch einmal schmerzhaft vor Augen führte, dass das die schlimmere Option war.
Hyde lag auf der Seite, seine Augen wieder geschlossen. Die Decke war anscheinend in irgendeiner Bewegung, die er gemacht hatte, von seinen Schultern gerutscht, und gab von Lichts Perspektive aus den Blick auf seinen Oberkörper frei. Er lag vollkommen regungslos da.
Eine Spur schneller, als Licht bereit gewesen wäre, es vor irgendjemandem zuzugeben, stand er auf und lief zu Hyde hinüber. Mit jedem Schritt schnürte sich seine Kehle ein Stück enger zu, ohne, dass er wusste, warum, oder die Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken.
Erst, als er mehr oder weniger beabsichtigt vor Lawless’ Bett auf die Knie fiel, der gleiche Platz, den er zuvor verlassen hatte, und ohne nachzudenken eine Hand auf den Hals des Vampirs legte, ließ sein Körper ihn wieder frei atmen. Das leichte, gleichmäßige Pochen gegen seine Finger, Hydes schwaches Atmen, das war jede Art der Bestätigung, die Licht in diesem Moment brauchte.
Seine Schultern lösten sich, und jetzt erst fiel Licht überhaupt auf, wie er sich automatisch angespannt hatte. Warum? Sollte der Teufel doch sterben, mit oder ohne sein zutun. So hatte er wenigstens immer gedacht.
Aber Zeiten änderten sich, und anscheinend mehr, als er gedacht hatte. Was hatte dieser Vampir mit ihm gemacht? War das ein Teil ihres Vertrags?
Licht machte ein gequältes Geräusch wie ein verletztes Tier und ließ die Hand vorsichtig von Lawless’ Hals gleiten. Seine freie Hand schloss sich zu einer Faust, als er sein Kinn auf die Matratze stütze, sein Gesicht nur noch knappe dreißig Zentimeter von Hyde entfernt. So nah. Der Gedanke streifte Lichts Bewusstsein. Ein Engel und ein Teufel… Es hätte sich falsch anfühlen müssen. Er hätte nicht freiwillig in dieser Position bleiben dürfen. Er hätte nicht gegen den Drang kämpfen dürfen, seine freie Hand über die von Hyde zu legen. Er hätte nichts friedliches an dieser Position finden dürfen, nichts Warmes, nichts, das ihn wünschen ließ, dieser Moment würde nicht mehr enden. Das alles… war falsch.
Es tut deiner Engelhaftigkeit doch nicht weh, wenn du etwas netter zu mir bist, Lichtlein. Hydes Worte drängten sich in seinen Verstand, ohne, dass Licht den Ursprung ausmachen hätte können. Die Erinnerungen kehrten ganz von allein an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück, ohne, dass er wüsste, warum, geschweige denn, es verhindern konnte. Wovor hast du denn Angst? Das hatte Hyde jedenfalls gesagt, als Licht während einem Streit einmal ausgesprochen hatte, was er dachte. Sollten Engel nicht zu allen nett sein? Dann würde sie das nur unter Beweis stellen. An dieser Stelle hatte er gegrinst, aber in seinen Worten war ein ungewohnt ernster Unterton gelegen, der Licht ein bisschen angewidert hatte. Mir musst du doch vertrauen können, wenn ich das sage, oder, Engelchen? Dann hatte er nicht mehr weiter sprechen können, weil Licht ihn vom Balkon getreten hatte. Ob sein Servamp noch etwas hatte sagen wollen, wusste er bis heute nicht.
Damals hatte Licht diese Worte für den größten Unsinn auf Erden gehalten. Selbst, wenn sie nicht von Grund auf falsch gewesen wären, wäre ein Teufel ja wohl das letzte Wesen, das so etwas beurteilen konnte.
Aber jetzt, wo er vor Lawless’ Bett kniete, und sich der Knoten in seiner Brust, der sich eigentlich hätte lösen sollen, nur enger schnürte, fand er fast so etwas wie Trost in dieser Ansicht. Er wusste nicht, wann es passiert war, oder warum, aber irgendetwas verband ihn mit Hyde, etwas, das tiefer ging als der Vertrag, den sie geschlossen hatten. Vielleicht ist es in Ordnung. Der Knoten wurde ein Stück wärmer, und Licht biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht kann ich hier unten bei dir bleiben, nur ein bisschen. Und aus irgendeinem Grund schien der Knoten mit diesem Gedanken ein wenig lockerer zu werden.
„Verdammter Drecksigel…“, murmelte Licht. Seine Stimme klang hohl und passte nicht zu seinen Worten, die er immerhin oft genug ausgesprochen hatte, um dafür einen Vergleich zu schaffen. Gerade für das, was Hyde mit seinem Inneren anstellte, müsste er ihn hassen. Er wusste nicht, was passierte, oder warum, und er verstand nicht, warum er keine Angst vor diesem Gefühl hatte.
Nein, ganz so war das nicht. Engel hatten keine Angst, aber es war kein Fehler, vorsichtig zu sein. Vor allem, wenn es darum ging, sich mit einem Teufel einzulassen. Vielleicht hatte er ja längst seine Seele gestohlen, das würde wenigstens erklären, warum er sich so fühlte.
Er sollte es hassen. Er sollte ihn hassen, verdammt, und darauf hoffen, dass er einfach starb. So, wie es früher gewesen war. Aber trotz dieser Gedanken kam Licht nicht einmal so weit, zu versuchen, sich einzureden, dass er selbst daran glaubte. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, und vielleicht war es Lawless’ Schuld, sei es durch ihren Vertrag oder irgendeinen anderen Fluch.
Was auch immer es war, er konnte es nicht hassen, nicht so sehr, wie er sollte.
Licht presste die Lippen aufeinander und musterte Lawless. Obwohl er immer noch ungewöhnlich blass war, und die Schatten unter seinen Augen deutlich hervorstachen, wirkte er ein ganzes Stück friedlicher als zuvor. Seine Hände waren um die Kette seines neuen Namensschilds gelegt.
Langsam richtete Licht sich ein Stück auf und strich Hyde vorsichtig mit einer Hand über den Kopf. Seine kurzen Haare fühlten sich stachelig an, beinahe ähnlich seiner Tierform, und erinnerten Licht unfreiwillig daran, dass das letzte Mal, dass er Lawless so berührt hatte… eine Ewigkeit zurücklag. Es war in seiner Igelgestalt gewesen, bevor sie ihren Vertrag geschlossen hatten, und mit allem, was seitdem passiert war, hatte Licht das Gefühl, als wäre Ewigkeit ein passendes Wort, um die Zeit, die inzwischen vergangen war, zu beschreiben.
Wenn es in Realität auch nur kurz war, viel, viel zu kurz.
Licht lächelte schwach. Er wusste nicht, wem er mit dieser Geste etwas beweisen wollte; über seinen Augen lag ein Schatten, der viel eher zu seinen richtigen Gefühlen passte, und jedem, der es gesehen hätte, sofort gesagt hätte, dass hinter diesem Lächeln nichts steckte. Und dann andererseits war auch niemand hier, der es hätte sehen können.
„Gute Nacht, Hyde.“ Wenn er aufwachte, würde Licht noch bei seiner Seite sein.
Sechzehn Uhr dreißig war vereinbart gewesen. Er hatte sich schon ungern zu diesem Treffpunkt überreden lassen, immerhin war es nicht so, als hätte Lawless irgendetwas besseres zu tun und hätte ihn nicht einfach zu diesem Interview begleiten können. Aber seit diesem Zeitpunkt war eine knappe halbe Stunde vergangen, und er war immer noch nicht aufgetaucht.
Licht versuchte, die Tür hinter sich wieder zuzuschlagen, doch seine Hand griff ins Leere. Es war der Anblick, der sich ihm bot, der ihn kurz aus dem Konzept brachte.
Seine Frage von zuvor war nicht ernst gemeint gewesen. Selbst, wenn er nicht die Anwesenheit dieses Vampirs, der durch den Vertrag an ihn gebunden war, gespürt hätte, er hatte gewusst, dass er Lawless vermutlich in der gleichen Position, in der er ihn vor zwei Stunden zurückgelassen hatte, wiederfinden würde. Er hatte es gewusst, und trotzdem schoss ein kurzer Stich durch seine Brust, von dem er sich nicht erklären konnte, welchem Gefühl er zugrunde lag.
Sein Servamp lag auf einem der Betten zu Lichts Linken, dem, das in seiner aktuellen Position weiter von ihm entfernt war. Er hatte sich von Licht weggedreht, die Decke blockierte jeden Blick, den Licht auf seine Gestalt hätte haben können. Er hatte nicht einmal aufgesehen, als er den Raum betreten hatte. Ihr gemeinsames Zimmer. Vor wie langer Zeit noch war das für sie beide absolut unvorstellbar gewesen? Dieser Gedanke war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn Licht der Stimme in seinem Kopf nachgab und versuchte, alles aufzuzählen, was an dieser Situation falsch war. Vermutlich wäre er sowieso nie damit fertig geworden.
Beginnend damit, dass Lawless vor nur ein paar Wochen noch seine Seite nicht verlassen hatte, nur, um in ihrem Zimmer zu bleiben. Damals war er zwar oft genug selbstständig unterwegs gewesen, und es war auch nicht so, als hätte Licht gewusst, wohin er ging- es hatte ihn auch nie interessiert. Aber dass er sich je mit dieser Situation konfrontiert finden würde, hatte Licht zu diesem Zeitpunkt auch nicht gedacht.
Seit den Ereignissen im Hauptquartier der Schwermut war so viel passiert… nein, das war nicht ganz das richtige Wort. Viel passiert war, seit er seinen Vertrag mit Lawless geschlossen hatte. Seit er diesen Igel nach Hause gebracht hatte. Seit allem, was mit Tsubaki passiert war, hatte sich einfach viel verändert. Dinge, die nie wieder so werden würden, wie sie einmal gewesen waren.
Weder Licht noch Hyde hatten diesen Gedanken je ausgesprochen, und doch wussten sie beide, dass er die Wahrheit war. Er stand zwischen ihnen wie ein Dämon, ein dunkler Schatten, der sie begleitete, wann immer sie beieinander waren. Licht hätte wissen müssen, was er dagegen tun hätte können. Immerhin war er ein Engel. Aber dieser Gegner schaffte es jedes Mal, sich seinen Angriffen zu entziehen.
Vielleicht hätte er es ansprechen sollen. Vielleicht müsste er es ansprechen, die Gedanken, die ihm schon so lange durch den Kopf gingen, laut aussprechen, bis sie verschwanden. Vielleicht war das alles, was er jetzt noch tun konnte.
Vielleicht würden sie beide einfach so untergehen. Er würde mit ihm fallen. Solange Licht die Hand dieses Teufels nicht losließ, würden auch all diese ungesagten Worte nichts ändern.
Es klickte leise, als die Tür hinter ihm nun doch ins Schloss fiel, doch Licht achtete nicht mehr darauf. All seine Aufmerksamkeit galt in diesem Moment seinem Servamp, der andererseits seine Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt haben schien. Oder sie einfach ignorierte. Licht wusste nicht, welche dieser beiden Optionen wahrscheinlicher war. „Steh auf“, knurrte er kühl, einige Schritte auf Lawless’ Bett zumachend. Immer noch keine Reaktion. „Die Probe geht in einer Stunde los, und hier musst du mitkommen. Kranz wartet wahrscheinlich auch schon.“ Das war nicht ganz die Wahrheit; sie würden vermutlich in frühestens einer Viertelstunde losfahren, aber Lawless machte auf ihn nicht den Eindruck, als hätte er gerade irgendeine Form von Zeitgefühl.
Licht verengte die Augen. Wartete auf den Kommentar, die vertraute, spielerisch anklagende Stimme, die ihn bisher jedes Mal begrüßt hatten, wenn er sich in dieser Situation gefunden hatte. Ja, das passierte inzwischen häufiger.
Du bist so gemein. Hab doch ein bisschen Mitleid mit mir, Engelchen. Ist immerhin auch deine Schuld, dass ich in dieser Situation bin.
Das waren normalerweise die Stichworte, die es ihm erlaubten- beziehungsweise, ihm spezifischen Anlass dazu gaben- seinen Servamp zu treten oder etwas nach ihm zu werfen. Und dann würde alles normal weitergehen.
Den Drang dazu hatte Licht zwar allemal, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht dazu durchringen. Es war immerhin auch nicht so, als bräuchte er einen Grund, um dem Teufel wehzutun, oder als würde irgendetwas davon an Reiz verlieren, wenn er nicht reagierte.
Nein, Licht wusste bei bestem Willen nicht, was ihn dazu veranlasste, sich einfach ohne ein weiteres Wort auf den Boden vor Hydes Bett zu setzen, so, dass er ihn ansehen konnte. Als hätte er die Anwesenheit seines Eves jetzt erst bemerkt, öffnete er langsam ein Auge, und das zweite, als er ihn erkannte. „Oh, Licht.“ Er blinzelte und schob in einer halbherzigen Bewegung die Decke etwas nach unten. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass, wodurch die Schatten unter seinen Augen fast schwarz wirkten, und das, obwohl er den ganzen Tag noch nicht von seinem Bett aufgestanden war. „Ist das Interview schon vorbei?“ Er richtete sich ein Stück auf; oder versuchte es, besser gesagt, denn nach einigen Sekunden hielt er inne und es sah aus, als würde der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht verschwinden. Seine Arme zitterten.
„Das war vor drei Stunden“, knurrte Licht scharf, doch irgendetwas an Hydes Zustand ließ ihn nicht ganz den gewohnten Unterton formen. „Ich habe auf dich gewartet.“
„Ah, tut mir leid.“ Lawless grinste und fuhr sich mit einer Hand über den Hinterkopf. Es war fast so normal, dass Licht die Situation, in der sie sich befanden, fast vergessen hätte können, wäre da nicht der gedrückte Unterton in seiner Stimme, gerade so präsent, dass Licht sich nicht vollkommen sicher sein konnte, ob er es sich nicht einfach einbildete, oder der schwache Schleier über seinen sonst immer funkelnden roten Augen. Licht- nein, sie beide wussten nicht, was es war, aber irgendetwas passierte mit ihm. „Ich stehe sofort auf…“ Und wieder, obwohl er im gleichen spielerisch-fröhlichen Tonfall sprach, den Licht an ihm gehasst hatte, klang seine Stimme nur eine Spur zu ernst.
„Nein, bleib, wo du bist“, murrte Licht, ohne Lawless dabei in die Augen zu sehen. Was genau er mit diesen Worten erreichen wollte, wusste er selbst nicht. Er hatte sie ausgesprochen, ohne darüber nachgedacht zu haben. Obwohl er seinem Blick bewusst auswich, konnte Licht ihn doch spüren. Einige Sekunden lang kam er damit zurecht, dann fügte er unwillig hinzu: „Und wenn es so weit ist, überlegen wir uns, was wir tun.“
„Hehe…“ Hyde gluckste leise und brachte Licht damit innerhalb einer knappen Sekunde dazu, seine Worte zu bereuen. Seine Worte, und, dass er das Zimmer überhaupt betreten hatte. „Du hast dich ganz schön verändert, Engelchen.“
„Sagt der Richtige“, knurrte Licht scharf, den Kopf immer noch von ihm weggedreht. Neben sich hörte er nur noch ein leises Rascheln, konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass Lawless sich wieder ein Stück nach unten rutschen ließ. Sagen tat er nichts.
Eine Weile der Stille verging. Es war die Art Moment, von denen Licht nie erwartet hätte, sie jemals mit Lawless zu erleben; Momente, in denen keiner von ihnen etwas tat, sagte, dachte, fühlte. Es gab nichts, nicht einmal Zeit an sich, nur die Anwesenheit des anderen.
In letzter Zeit kam das immer häufiger vor, und Licht konnte sich nicht dazu bringen, Gefallen daran zu finden. Dafür war zu viel falsch an diesen Augenblicken.
Es war nicht nur, dass es ihn daran erinnerte, dass sich etwas verändert hatte. Dass der Teufel sie beide auf einen Weg ins Ungewisse geschickt hatte, und es zu spät war, um noch umzukehren. Dass Licht jetzt mit ihm in dieser Sache steckte. Und dass keiner von ihnen wusste, wie lange sie diesen Weg zu zweit gehen würden.
Licht hatte keine Angst davor. Engel hatten keine Angst, schon gar nicht um Teufel. Wären es nur diese Gefühle, die in diesen Momenten an die Oberfläche kamen, käme er damit zurecht. Es war falsch, dass er so dachte, aber andererseits war es so abstrakt, dass er damit umgehen konnte. Es konnten unmöglich seine eigenen Gefühle sein, die ihm das sagten. Der Teufel musste irgendetwas mit ihm gemacht haben, dass sein Verstand sich einen solchen Nonsens zusammenreimte.
Was sich Licht mit diesem Argument nicht erklären konnte, war, dass er diese Momente genoss. Warum ihm irgendetwas daran das Gefühl gab, dass er alles hatte, was er brauchte. Er dachte an nichts, er musste an nichts denken; und er sollte es hassen. Aber aus irgendeinem Grund tat er das nicht.
Vielleicht war das auch das Werk dieses Teufels. Erklären würde das wenigstens eine ganze Menge, aber andererseits neue Fragen aufwerfen. Fragen, auf die Licht noch nicht vorbereitet war.
Grundsätzlich hatte er ein gutes Verständnis von sich und seiner Umwelt. Und als Engel war es seine Position, sich dem Teufel entgegenzusetzen. Er hatte ihn gehasst, genau so, wie es hatte sein sollen. Also wann hatte sich das geändert? Wann waren diese Regeln umgeschrieben worden? Nein… wann hatte er aufgehört, so zu denken?
Lawless. Gesetzloser.
Wie ironisch.
Es hatte keinen Zweck, zu versuchen, sich irgendetwas vorzumachen. Es lief alles auf diesen verdammten Teufel hinaus, und was auch immer er mit Licht gemacht hatte. Wenigstens war das die einzige Erklärung, die er hatte. Was sonst war passiert? Immerhin hatte er ihn von Anfang an gehasst- gut, nicht ganz von Anfang an, schließlich hatte er ihn für einen Igel gehalten. Danach, nachdem sie diesen Vertrag geschlossen hatten…
Es stimmte, er hasste Lawless, oder sollte ihn wenigstens hassen. Er wüsste nicht, an welchem Punkt die Sache umgeschlagen war. Er wusste es schließlich besser, als dass er sich auf den Teufel eingelassen hätte. Und dass sie sich nicht voneinander entfernen durften, war schlussendlich doch auch nur ein stummes Versprechen gewesen, dass sie irgendwann durch die Hand des anderen sterben würden. Je nach dem, wem es früher gelang.
Das war wenigstens das, wovon Licht immer ausgegangen war. Und von Lawless’ Seite aus schien sich diese Ansicht auch geändert zu haben, soweit er selbst das beurteilen konnte, wenigstens. Seit er seine Dschinn verloren hatte, verhielt er sich wenigstens ein ganzes Stück weniger… nun ja, eindrucksvoll, wenn das auch nicht ganz das Wort war, mit dem Licht ihn früher beschrieben hätte. Ob es in irgendeiner Relation zu den Ereignissen mit Tsubaki stand, oder irgendetwas anderes der Auslöser gewesen war, wusste Licht nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Sollte der Teufel machen, was er wollte, er hatte seine eigenen Ziele.
Hatte er das?
So verhielt man sich doch nicht jemandem gegenüber, den man hasste, richtig? Selbst Kranz hatte inzwischen angemerkt, dass sie es früher nicht so lange im gleichen Raum ausgehalten hätten, ohne zu streiten zu beginnen.
Licht versuchte, die Stimme in seinem Kopf, welche diese Worte immer wieder wiederholte, zu verdrängen, zu übertönen, irgendwie zum Schweigen zu bringen. Das war allein das Handeln des Drecksigels, und Licht hatte eingeschränkte Optionen, wie er darauf reagieren konnte. Dieser Idiot hatte schließlich zugelassen, dass Tsubaki ihr Vertragsobjekt zerstörte, und dann…
Sein Rucksack fühlte sich plötzlich seltsam schwer an.
Licht biss sich auf die Zunge. Dieser Gedanke… war ziemlich das letzte gewesen, was ihm in dieser Situation gefehlt hatte. Er hätte wissen müssen, dass es eine schlechte Idee gewesen war, dieses Ding zu machen, und es immer bei sich zu behalten. Hätte er damals nur ein Stück mehr nachgedacht, hätte er vermutlich nie damit begonnen.
Was für ein hässliches Wort. Vermutlich. Es war lächerlich, darüber nachzudenken; selbst, wenn er sich damals anders hätte entscheiden können, war es jetzt zu spät, noch etwas zu bereuen. Es würde auch nichts mehr ändern.
Ja? Da war sie wieder, diese leise, mahnende Stimme in seinem Kopf, an die er sich inzwischen viel zu sehr gewöhnt hatte. Wenn es nur etwas gäbe, das man jetzt noch dagegen tun könnte, in genau diesem Moment. Je stärker Licht versuchte, ihre Worte zu ignorieren, desto präsenter wurden sie.
Er zögerte. Wie oft hatte er sich schon in dieser Situation befunden? Wie oft hatte er sich schon vorgestellt, was passieren würde, wenn er an dieser Stelle einfach den letzten Schritt machte? Und wie oft hatte er das alles nach hinten verschoben, auf einen späteren Zeitpunkt, von dem er nicht wusste, ob er je kommen würde?
Licht hasste sich dafür. Wenn er Hyde dieses Ding nicht hätte geben wollen, hätte er es nicht gemacht, glaubte er wenigstens. Tatsächlich waren seine Erinnerungen an damals verschwommen, versteckt hinter einem Nebelschleier, und er wusste nicht mehr, was er zu diesem Zeitpunkt gefühlt oder gedacht hatte. Alles, was er wusste, war, dass es sich richtig angefühlt hatte- nein, das war nicht ganz das richtige Wort, es hatte sich einfach falsch angefühlt, es nicht zu tun.
In diesem Leben gab es nichts geschenkt, und er wusste das. Wenn er nicht selbst den Schritt machte, würde sich nichts an ihrer Situation, wie sie jetzt war, ändern. Er wusste, was er zu tun hatte. Also warum brachte er es sich nicht über sich?
„Ich…“ Ist das richtig? Licht versuchte mit aller Kraft, diese Gedanken zurückzudrängen, weiterzusprechen, ohne sein Handeln zu hinterfragen. Ja, es war richtig, verdammt. Er hatte es schließlich begonnen, und irgendwann würde er es zu Ende bringen müssen. „Ich habe…“ Und ist das der Punkt, an dem es so weit sein sollte?
Licht biss sich auf die Zunge, murmelte etwas, von dem er selbst nicht ganz wusste, was es bedeuten sollte, und wartete darauf, dass Lawless nachfragte. Es war nervig, sich das vorzustellen und darauf einzustellen, aber ein Teil von Licht hoffte darauf, dass sein Servamp ihm die Entscheidung damit abnehmen würde. Oder wenigstens leichter machen. Aber natürlich reagierte der nutzlose Teufel nicht; Licht war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt irgendetwas von dem, was um ihn herum geschah, mitbekam.
Mit einem Tch drehte Licht den Kopf zur Seite. Fuhr mit den Augen die Bodenkante nach. War dieser Riss in der Wand schon immer da gewesen? Das war ihm noch nie aufgefallen. Vielleicht, weil sein Bett auf der anderen Seite des Raums stand, und er damit keinen Blick auf diese Ecke hatte. Lawless war derjenige, der es von seinem Bett aus erkennen können müsste. Ob ihm dieses Detail aufgefallen war?
Lichts Hände schlossen sich ohne sein zutun zu Fäusten. Dieses Theater war doch lächerlich. Er trug dieses Ding seit Wochen- seit Monaten?- mit sich herum, weil er sich jedes Mal eingeredet hatte, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt war, um es ihm zu geben. Und jedes Mal, wenn er mit diesem Gedanken konfrontiert wurde, mischte sich diese mahnende Stimme darunter, die mit jedem Mal ein Stück eindringlicher wurde. Wie genau stellst du dir diesen Moment vor? Ich denke nicht, dass er so kommen wird. Licht schloss die Augen, versuchte, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, doch um ihn herum war es zu still. Es gab nichts, mit dessen Hilfe er die vertrauten Worte ausblenden hätte können; Worte, die er viel zu gut kannte, und die er nicht noch einmal hören musste. Nicht noch einmal hören wollte. Irgendwann wird es zu spät sein.
„Ignorier mich nicht, Idiotenhyde“, knurrte er, so leise, dass er sich nicht einmal sicher war, ob Hyde ihn überhaupt hören hatte können. Vermutlich waren diese Worte ohnehin nicht wirklich an deren Empfänger gerichtet gewesen. Stattdessen blieben sie im Raum hängen wie der Nachklang einer Melodie, und hallten in Lichts Ohren wieder.
Von dem Teufel hatte er keine Unterstützung zu erwarten. Von dem Teufel wollte er keine Unterstützung, nicht in dieser Situation. Immerhin wusste er, was er tun sollte, zu tun hatte, und alles, was er noch brauchte, war die Kraft, um diesen letzten Schritt zu machen.
Was hielt ihn davon ab? Was war daran so schwer? Was hatte dieser verdammte Teufel mit ihm gemacht?
„Licht?“ Hydes Stimme war leise, so ungewohnt schwach, und vermutlich hätte er ihn nicht einmal gehört, wenn es um sie herum nicht so still gewesen wäre. Und trotzdem reichte es aus, um alle von Lichts Gedanken mit einem Schlag zu unterbrechen. Seinen Kopf für einen Sekundenbruchteil vollkommen auszufüllen, und dann leer zurückzulassen.
Es war nur sein Name gewesen, so etwas unbedeutendes in dieser Sache, und trotzdem gab es Licht in diesem Moment jede Bestätigung, von der er nicht gewusst hatte, dass sie ihm fehlte. In seinem Kopf war keine mahnende Stimme zurückgeblieben, die ihn daran erinnerte, dass er sich auf nichts, von dem er immer ausgegangen war, verlassen konnte, solange Hyde involviert war. Keine Zweifel. Keine Unsicherheiten. Nichts.
„Ich habe etwas für dich“, beendete Licht seinen Satz von zuvor. Seine eigene Stimme hörte sich in seinen Ohren fremd an, trocken und tonlos. Seine Hände waren taub, als er langsam und mit fast mechanischen Bewegungen seinen Rucksack abnahm. Alles, was er in diesem Moment spürte, alles, was in diesem Moment existierte, war Hydes Blick auf ihm.
Ein Blick, den er bewusst nicht erwiderte.
Vorsichtig öffnete er eines der Fächer. Es hatte sich seltsam angefühlt, dieses Ding in seinem Rucksack aufzubewahren, aber aus irgendeinem Grund hatte sich etwas in ihm geweigert, es nicht immer bei sich zu behalten. Irgendetwas daran… hatte ihm ein Gefühl der Verbundenheit zurückgelassen, ein Gefühl der Sicherheit, das ihm gefehlt hatte, seit ihr Vertragsobjekt zerstört worden war. Warum, wusste er nicht, und eigentlich wollte er es überhaupt nicht wissen.
Neben sich hörte er ein leises Rascheln, als Lawless sich ein Stück zu ihm hinüberlehnte, um besser sehen zu können, was er tat. Licht presste die Lippen aufeinander und schluckte einen bissigen Kommentar hinunter. Er hatte gewollt, dass der Vampir mehr Interesse zeigte, und das hatte er nun davon. Wobei es jetzt ohnehin schon zu spät war, sich noch umzuentscheiden.
Trotzdem schloss er seine Hand im gleichen Moment, in dem seine Finger gegen das kühle Metall stießen, um den kleinen Gegenstand, sodass Hyde ihn nicht würde sehen können, bis Licht ihm die Erlaubnis dazu gab.
Er wusste selbst nicht, was er hinauszuzögern versuchte, als er seinen Rucksack wieder schloss und über seine Schultern hängte, die rechte Hand die ganze Zeit zu einer Faust geschlossen. In einer fließenden, aber langsamen Bewegung nahm er vorsichtig Hydes Hand, öffnete sie und legte den Anhänger hinein. Vorsichtig drückte er die Finger des Servamps über das Metall, dann erst ließ er seine Hand wieder los und wandte sich ein Stück ab. All das geschah, ohne, dass er ein Wort gesprochen hätte, oder ihm in die Augen gesehen.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Hyde blinzelte und die Hand öffnete. Es schien einige Sekundenbruchteile zu brauchen, bis ihm bewusst wurde, was es war, denn seine Augen weiteten sich ein Stück. „Licht-“ Wenn er noch etwas hatte sagen wollen, beendete den Satz nicht. Hob nur seine freie Hand und strich vorsichtig über die kleine Platte. Folgte den Gravuren, die Licht hineingeritzt hatte.
Vier Buchstaben… ein Wort. Nein, kein Wort. Ein Name.
Hyde.
Licht blinzelte, suchte nach irgendetwas, das er ansehen konnte, um eine Ausrede zu haben, warum er Hyde nicht in die Augen sah. „Ich weiß, es wird nichts ändern an…“ Er beendete den Satz nicht. Inzwischen wusste er nicht mehr, ob er das um Hydes oder seiner selbst Willen tat. Er wollte es nicht hören. „Aber nachdem das, das ich dir gegeben habe, kaputt ist, dachte ich, ich sollte dir… ein neues machen.“
Sollte. Lügner.
Licht ignorierte die leise Stimme in seinem Kopf; die gleiche Stimme von zuvor, und all den anderen Malen. Er hatte nicht das Gefühl, dass Lawless ohnehin irgendetwas davon durchschauen würde. Verstehen, warum Licht sich diese Umstände gemacht hatte, nur, um dem Teufel ein Geschenk zu machen. Immerhin verstand er es selbst nicht.
Das Vertragsobjekt war etwas anderes gewesen. Er hatte es für Hyde gemacht, nicht Lawless. Für den Igel, den er so falsch eingeschätzt hatte, wie… nun ja, wie er ein Tier falsch einschätzen konnte. Nicht für diesen verdammten Teufel, den er vom ersten Moment an zu hassen gelernt hatte.
Lichts Augen wurden ein Stück schmäler, als er den Blick auf das glatte Metall in den Händen seines Servamps senkte. Verfolgte die Linien, die er hineingeritzt hatte, ein Stück sauberer als beim ersten Mal.
Nein, an seinem Motiv hatte sich nichts geändert. Dieses Geschenk war an Hyde gerichtet, nicht Lawless. Er fragte sich nur, wann die Grenze zwischen den beiden verschwommen war.
Langsam hob Hyde den Blick zu Licht nach oben, zögerte kurz, und senkte ihn dann wieder auf den Anhänger. Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male, bis Licht ihm schließlich nachgab und den Blick ebenfalls hob. „Was ist?“, knurrte er. „Hör auf damit. Du machst mich nervös.“
Anscheinend hatte er seinem Servamp mit dieser Reaktion gegeben, was er erreichen hatte wollen, denn er schloss die rechte Hand wieder um den Anhänger und lächelte schwach. Seine Augen glänzten. „Danke“, murmelte er in einer leisen, seltsam ruhigen Stimme, von der Licht nicht gewusst hatte, dass er überhaupt dazu fähig war. Und dann, nach einer kleinen Pause, als hätte er gewartet, ob sein Eve etwas dazu sagen wollte, fügte er hinzu: „Danke, Licht.“ Seine Stimme verlor sich, er senkte den Blick wieder.
„Wehe, du wirst jetzt übermütig, Drecksigel“, knurrte Licht eine Spur halbherziger, als er beabsichtigt hatte. Um seine Worte zu unterstreichen und diesen Verlust auszugleichen, wandte er sich jetzt ab und stand wieder von seinem Platz auf. „Wir müssen jedenfalls bald gehen“, erinnerte er seinen Servamp scharf, während er zum Klavier an der gegenüberliegenden Wand hinüberging. „Und ich werde sicherstellen, dass es dir bis dahin besser geht.“ Weil du so oder so mitkommen musst. Nicht, weil ich mir Sorgen mache oder etwas in der Art. Er sprach diese Gedanken nicht aus. Auch, wenn er nicht das Gefühl hatte, als würde es irgendetwas ändern, sollte er es tun. „Warum? Weil ich-“
„-ein Engel bin“, beendete Lawless den Satz und veranlasste damit Licht dazu, sich wieder zu ihm umzudrehen. „Unterbrich mich nicht.“ Es war faszinierend, mit welcher Sicherheit dieser Teufel es schaffte, Lichts Abneigung ihm gegenüber wieder zu bestätigen, selbst in dieser Situation.
Lawless lächelte nur. Kein Grinsen, kein Schmunzeln- ein aufrichtiges Lächeln, das Licht bisher nur sehr, sehr selten auf seinem Gesicht gesehen hatte. „Nichts Trauriges, okay?“
Licht gab keine Antwort. Nichts, was er in diesem Moment hätte sagen können, hätte sich richtig angefühlt.
So setzte er sich einfach ans Klavier, legte die Finger auf die Tasten, hielt inne. Einen Herzschlag lang musste er den Drang unterdrücken, sich noch einmal zu Hyde umzudrehen. Er wusste auch so, dass der Blick seines Servamps immer noch auf ihm lag.
Er selbst spürte, dass eine Spur zu viel Nachdruck in seinem Handeln lag, als er seine Konzentration auf das Klavier richtete. Nicht, dass irgendetwas davon Lawless auffallen würde, in diesem Sinne konnte er tun, was er wollte. Es gab niemanden, dem er hier irgendetwas beweisen müsste. Er würde einfach nur spielen, damit hätte er alles getan, was in seiner Verantwortung lag.
Seine Finger bewegten sich von allein. Für einen Sekundenbruchteil bereute er es, kein anderes Stück ausgesucht zu haben; er hatte das hier schon so oft gespielt, er musste sich nicht mehr konzentrieren, um die richtigen Tasten zu treffen, das Tempo zu halten, und teilweise brachte es ihn nur durcheinander, wenn er versuchte, sich auf die Noten zu konzentrieren, alles andere auszublenden.
Normalerweise funktionierte das. Wann immer er auf einer Bühne spielte- nein, wann immer er vor Publikum spielte, sei es auch nur eine Person, verließ jeder andere Gedanke seinen Kopf. Es war tatsächlich einer der Gründe, warum er in diesem Moment zum Klavier gegangen war; es gab Dinge, auf die er sich gerade nicht konzentrieren wollte, Gedanken, die er abschalten wollte, wie mit einem Lichtschalter.
Warum funktionierten die Dinge nie so, wie sie sollten, wenn Lawless involviert war?
Dabei müsste er doch selbst am besten wissen, dass die Dinge nicht mehr so waren wie früher. Immerhin saß er nicht einmal in der ersten Reihe, er stand direkt auf dieser verdammten Bühne. Und allein die Tatsache, dass er in diesem Moment hier war, war nur ein Beweis dafür, dass er sich auch irgendwann verändert hatte. Schleichend genug, dass er es nicht bemerkt hatte, aber jetzt, in dieser Situation nicht mehr von der Hand zu weisen war.
Es gab etwas, das ihn mit Hyde verband, mehr als die violettgelbe Kette, ihr Vertrag.
Dieser Gedanke hätte sich falsch anfühlen müssen. Dieser Gedanke fühlte sich falsch an, aber Licht wusste nicht mehr, wie er es sonst ausdrücken sollte. Er hatte versucht, andere Erklärungen dafür zu finden, irgendetwas, aber es musste schließlich einen Grund geben, was sich verändert hatte.
War durch Tsubaki irgendetwas mit dem Vertrag passiert? Diese Möglichkeit hörte sich doch recht weit hergeholt an in Lichts Ohren, aber er hatte keine wirkliche andere Erklärung. Oder waren das nur weitere Langzeitfolgen, von denen der Drecksigel ihm nichts gesagt hatte? Wenn er immerhin sterben würde, wenn sie zu lange zu weit voneinander entfernt waren, warum sollte nicht auch so etwas möglich sein?
Schlussendlich war es egal, warum es passiert war. Es sah ganz so aus, als wäre er dem Teufel in die Falle gegangen. Und er war zu tief gefallen, als dass sein Verstand als Engel ihm noch sagen würde, dass das, was er tat, falsch war.
Nein, dieser Ausdruck hörte sich nicht gut an. Es implizierte, dass es nichts gab, was er hätte tun können, wenigstens von dem Zeitpunkt an, als Lawless ihn dazu gebracht hatte, den Vertrag abzuschließen. Es implizierte, dass sich nichts seitdem verändert hatte, weder an Hyde, noch an ihm selbst, oder ihnen beiden gemeinsam, sowohl als Eve und Servamp, als auch… was auch immer er für Hyde war. Oder besser, was auch immer Hyde für ihn war.
Und nichts davon war auch nur im entferntesten die Wahrheit.
Vielleicht war es sinnlos, sich nach dem Warum zu fragen. Vielleicht war das, worüber er eigentlich nachdenken sollte, was er damit tun sollte. Immerhin schien es kein Zurück mehr zu geben, es sei denn, der verdammte Igel kratzte jetzt endgültig ab, und…
Und aus irgendeinem Grund brachte dieser Gedanke Licht nicht die Befriedigung, die er hätte tun sollen.
Ganz im Gegenteil. An dieser Stelle war von ihrer Feindschaft, von dem Wunsch, Lawless tot zu sehen, nur noch eine stumpfe Angst geblieben. Ein Unwohlsein, das er nicht ganz zu fassen bekommen konnte, das aber mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die verstrich, stärker wurde, und seine Gedanken immer wieder auf dieses Thema lenkte.
Er wusste nicht, was mit Hyde passierte. Keiner von ihnen wusste es. Das einzige, was er wusste, war, dass sein Servamp Angst hatte, und dass sich diese Angst irgendwie auf ihn übertragen musste. Eigentlich könnte es ihm schließlich nicht gleichgültiger sein. Außer dem Vertrag gab es nichts, was sie miteinander verband, und dieser würde auch brechen, wenn er starb. Lichts Leben würde normal weitergehen, so normal, wie es eben weitergehen könnte, nach allem, was passiert war. Es gab jetzt schon nichts, was ihn an der Seite dieses Vampirs hielt, aber das konnte er auf das Distanzlimit schieben. Wenn er es auch ausschöpfen könnte, wenn er gewollt hätte.
Je öfter Licht diese Worte in seinen Gedanken wiederholte, desto mehr verloren sie an Bedeutung. Inzwischen waren sie nur noch leere Hüllen, Buchstaben, Laute, von denen er sich nicht einmal mehr sicher sein konnte, dass er noch ihre Bedeutung kannte.
Er versuchte nicht, sich selbst zu belügen. Als hätte ein Engel wie er so etwas nötig, vor allem, wenn es dabei um einen Teufel ging. Sich etwas vorzumachen setzte voraus, dass es etwas in ihm auslösen würde, müsste er der Wahrheit ins Gesicht sehen. Etwas, vor dem er aus irgendeinem Grund Angst hatte.
Das war nicht der Fall, verdammt. Keiner von ihnen wusste, wie sich die Sache entwickeln würde, und damit war die Frage von Lüge oder Wahrheit vom Tisch. In der Ungewissheit gab es kein richtig oder falsch, und vielleicht wollte er ja auch daran glauben, dass es mit Lawless’ Tod enden würde.
Ein scharfer Stich schoss durch Lichts Brust, und er wäre fast zurückgezuckt, wären sein Körper und seine Muskeln nicht immer noch auf sein Spiel fokussiert gewesen. Selbstverständlich fühlte sich der Gedanke, Lawless würde sterben, falsch an; er hatte sich immerhin als unsterblich vorgestellt, und sich bei Lichts Versuchen, das Gegenteil zu beweisen, als recht zäh herausgestellt. Wenn besagte Versuche auch manchmal mehr, manchmal weniger ernst gemeint gewesen waren.
Nein… das war es nicht. Das Problem war nicht, dass sich dieser Gedanke falsch anfühlte, denn das tat er nicht. Nicht nur, wenigstens.
Er tat weh.
Licht konnte es sich selbst nicht erklären, und eigentlich wollte er es auch überhaupt nicht. Es war genug, sich das überhaupt einzugestehen. Er war ein Engel, er sollte dem Teufel gegenüber nicht so fühlen, er hasste Lawless, er-
Hyde.
Inzwischen wusste er nicht mehr, wer dieser Vampir für ihn war. Partner, so hatte Mahiru es wenigstens genannt. War das eine passende Bezeichnung für sie?
Vor ein paar Monaten noch wäre das für ihn- nein, wahrscheinlich für sie beide- außer Frage gestanden. Und Licht wusste es besser, als sich mit einem Teufel einzulassen. Oder wenigstens… hatte er es besser gewusst.
Wahrscheinlich war das seine Strafe. Strafe dafür, dass er versagt hatte, dein Teufel selbst zu töten. Strafe dafür, dass er diese Verbindung zwischen ihnen zugelassen hatte. Er wusste, dass er kämpfen musste, wenn es der Drecksigel schon nicht schaffte, aber gleichzeitig wusste er nicht, was er tun konnte.
Er konnte Hydes Seite nicht verlassen, nicht mehr. Vielleicht war das alles, was er jetzt noch tun konnte. Alles, was ihnen blieb. Geblieben war.
Der letzte Klang wurde leiser und leiser. Erst, als er vollkommen verklungen war und Licht sich der Stille um ihn herum bewusst wurde, hob er die Finger von den Tasten. Stille…
Licht schloss die Augen, versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, doch irgendetwas hier fühlte sich falsch an. Er wartete ab, bereitete sich vor- nein, hoffte, dass Hyde etwas zu seinem Spiel sagen würde, doch alles, was um ihn herum blieb, war diese Stille.
Er brauchte die Bestätigung des Teufels nicht. Er wollte die Bestätigung des Teufels nicht, aber irgendwann musste er sich daran gewöhnt haben, damit rechnen zu können. So sehr, dass es sich falsch anfühlte, so falsch, dass es beinahe schmerzte, wenn sie ausblieb.
„Hey. Idiotenhyde.“ Licht hatte unwillig klingen wollen, ein wenig genervt, so, wie er es früher immer ganz automatisch gemacht hatte, wenn er mit Hyde gesprochen hatte, und wann hatte sich das geändert? Wann war es zu etwas geworden, das er erzwingen musste?
Es war sinnlos, sich diese Frage zu stellen, nicht zuletzt, weil Licht kläglich daran scheiterte, seine Stimme ansatzweise so klingen zu lassen, wie er es gewollt hatte. Sein Tonfall war kraftlos, unruhig, er hatte eine Spur zu schnell gesprochen.
Es änderte nichts, denn Lawless reagierte nicht. Wobei diese Tatsache Licht nur noch einmal schmerzhaft vor Augen führte, dass das die schlimmere Option war.
Hyde lag auf der Seite, seine Augen wieder geschlossen. Die Decke war anscheinend in irgendeiner Bewegung, die er gemacht hatte, von seinen Schultern gerutscht, und gab von Lichts Perspektive aus den Blick auf seinen Oberkörper frei. Er lag vollkommen regungslos da.
Eine Spur schneller, als Licht bereit gewesen wäre, es vor irgendjemandem zuzugeben, stand er auf und lief zu Hyde hinüber. Mit jedem Schritt schnürte sich seine Kehle ein Stück enger zu, ohne, dass er wusste, warum, oder die Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken.
Erst, als er mehr oder weniger beabsichtigt vor Lawless’ Bett auf die Knie fiel, der gleiche Platz, den er zuvor verlassen hatte, und ohne nachzudenken eine Hand auf den Hals des Vampirs legte, ließ sein Körper ihn wieder frei atmen. Das leichte, gleichmäßige Pochen gegen seine Finger, Hydes schwaches Atmen, das war jede Art der Bestätigung, die Licht in diesem Moment brauchte.
Seine Schultern lösten sich, und jetzt erst fiel Licht überhaupt auf, wie er sich automatisch angespannt hatte. Warum? Sollte der Teufel doch sterben, mit oder ohne sein zutun. So hatte er wenigstens immer gedacht.
Aber Zeiten änderten sich, und anscheinend mehr, als er gedacht hatte. Was hatte dieser Vampir mit ihm gemacht? War das ein Teil ihres Vertrags?
Licht machte ein gequältes Geräusch wie ein verletztes Tier und ließ die Hand vorsichtig von Lawless’ Hals gleiten. Seine freie Hand schloss sich zu einer Faust, als er sein Kinn auf die Matratze stütze, sein Gesicht nur noch knappe dreißig Zentimeter von Hyde entfernt. So nah. Der Gedanke streifte Lichts Bewusstsein. Ein Engel und ein Teufel… Es hätte sich falsch anfühlen müssen. Er hätte nicht freiwillig in dieser Position bleiben dürfen. Er hätte nicht gegen den Drang kämpfen dürfen, seine freie Hand über die von Hyde zu legen. Er hätte nichts friedliches an dieser Position finden dürfen, nichts Warmes, nichts, das ihn wünschen ließ, dieser Moment würde nicht mehr enden. Das alles… war falsch.
Es tut deiner Engelhaftigkeit doch nicht weh, wenn du etwas netter zu mir bist, Lichtlein. Hydes Worte drängten sich in seinen Verstand, ohne, dass Licht den Ursprung ausmachen hätte können. Die Erinnerungen kehrten ganz von allein an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück, ohne, dass er wüsste, warum, geschweige denn, es verhindern konnte. Wovor hast du denn Angst? Das hatte Hyde jedenfalls gesagt, als Licht während einem Streit einmal ausgesprochen hatte, was er dachte. Sollten Engel nicht zu allen nett sein? Dann würde sie das nur unter Beweis stellen. An dieser Stelle hatte er gegrinst, aber in seinen Worten war ein ungewohnt ernster Unterton gelegen, der Licht ein bisschen angewidert hatte. Mir musst du doch vertrauen können, wenn ich das sage, oder, Engelchen? Dann hatte er nicht mehr weiter sprechen können, weil Licht ihn vom Balkon getreten hatte. Ob sein Servamp noch etwas hatte sagen wollen, wusste er bis heute nicht.
Damals hatte Licht diese Worte für den größten Unsinn auf Erden gehalten. Selbst, wenn sie nicht von Grund auf falsch gewesen wären, wäre ein Teufel ja wohl das letzte Wesen, das so etwas beurteilen konnte.
Aber jetzt, wo er vor Lawless’ Bett kniete, und sich der Knoten in seiner Brust, der sich eigentlich hätte lösen sollen, nur enger schnürte, fand er fast so etwas wie Trost in dieser Ansicht. Er wusste nicht, wann es passiert war, oder warum, aber irgendetwas verband ihn mit Hyde, etwas, das tiefer ging als der Vertrag, den sie geschlossen hatten. Vielleicht ist es in Ordnung. Der Knoten wurde ein Stück wärmer, und Licht biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht kann ich hier unten bei dir bleiben, nur ein bisschen. Und aus irgendeinem Grund schien der Knoten mit diesem Gedanken ein wenig lockerer zu werden.
„Verdammter Drecksigel…“, murmelte Licht. Seine Stimme klang hohl und passte nicht zu seinen Worten, die er immerhin oft genug ausgesprochen hatte, um dafür einen Vergleich zu schaffen. Gerade für das, was Hyde mit seinem Inneren anstellte, müsste er ihn hassen. Er wusste nicht, was passierte, oder warum, und er verstand nicht, warum er keine Angst vor diesem Gefühl hatte.
Nein, ganz so war das nicht. Engel hatten keine Angst, aber es war kein Fehler, vorsichtig zu sein. Vor allem, wenn es darum ging, sich mit einem Teufel einzulassen. Vielleicht hatte er ja längst seine Seele gestohlen, das würde wenigstens erklären, warum er sich so fühlte.
Er sollte es hassen. Er sollte ihn hassen, verdammt, und darauf hoffen, dass er einfach starb. So, wie es früher gewesen war. Aber trotz dieser Gedanken kam Licht nicht einmal so weit, zu versuchen, sich einzureden, dass er selbst daran glaubte. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, und vielleicht war es Lawless’ Schuld, sei es durch ihren Vertrag oder irgendeinen anderen Fluch.
Was auch immer es war, er konnte es nicht hassen, nicht so sehr, wie er sollte.
Licht presste die Lippen aufeinander und musterte Lawless. Obwohl er immer noch ungewöhnlich blass war, und die Schatten unter seinen Augen deutlich hervorstachen, wirkte er ein ganzes Stück friedlicher als zuvor. Seine Hände waren um die Kette seines neuen Namensschilds gelegt.
Langsam richtete Licht sich ein Stück auf und strich Hyde vorsichtig mit einer Hand über den Kopf. Seine kurzen Haare fühlten sich stachelig an, beinahe ähnlich seiner Tierform, und erinnerten Licht unfreiwillig daran, dass das letzte Mal, dass er Lawless so berührt hatte… eine Ewigkeit zurücklag. Es war in seiner Igelgestalt gewesen, bevor sie ihren Vertrag geschlossen hatten, und mit allem, was seitdem passiert war, hatte Licht das Gefühl, als wäre Ewigkeit ein passendes Wort, um die Zeit, die inzwischen vergangen war, zu beschreiben.
Wenn es in Realität auch nur kurz war, viel, viel zu kurz.
Licht lächelte schwach. Er wusste nicht, wem er mit dieser Geste etwas beweisen wollte; über seinen Augen lag ein Schatten, der viel eher zu seinen richtigen Gefühlen passte, und jedem, der es gesehen hätte, sofort gesagt hätte, dass hinter diesem Lächeln nichts steckte. Und dann andererseits war auch niemand hier, der es hätte sehen können.
„Gute Nacht, Hyde.“ Wenn er aufwachte, würde Licht noch bei seiner Seite sein.