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Der geraubte Smaragd

von Northstar
Kurzbeschreibung
GeschichteKrimi, Romance / P18 / MaleSlash
Dr. John Watson Sherlock Holmes
22.09.2021
22.05.2023
22
72.446
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01.11.2021 3.878
 
Der Detektiv verschloss, nachdem er an einem Drehschalter das Gas der Deckenbeleuchtung so weit geöffnet hatte, dass das Zimmer ausreichend erhellt war um sich zurecht zu finden, die Tür hinter ihnen und steuerte schnurstracks auf ein übergroßes Bett aus dunklem Holz zu.

Dies nahm, umgeben von fadenscheinigen Bettvorlegern, überfrachtet mit großen Kissen und bunt gefärbten Wolldecken, fast die Hälfte des Raumes ein. Kaum das Sherlock sich auf dessen Kante niedergelassen hatte, begann er sich seines Schuhwerks zu entledigen. Ungeduldig riss er an den Senkeln, um diese zu lösen. Nach einigen vergeblichen Versuchen schaute Sherlock missmutig zu John auf.

Der stand noch immer unsicher im Türrahmen und wusste nicht so recht wohin mit sich.
Sherlock hob auffordernd die Brauen.

„Was Holmes?“, fragte John alarmiert.

Der Detektiv streckte ihm, anstatt einer Antwort, einen seiner Füße entgegen.

„Wieso stehen Sie dort herum, John? Legen Sie lieber einmal Hand an diese verhexten Stiefel!“

Der Arzt warf einen argwöhnischen Blick auf das Schuhwerk. Die Vielzahl an Ösen und Häkchen wurden von den Schuhbändern in einer komplizierten Anordnung durchzogen. Das ganze Muster wirkte recht kniffelig und verworren.

„Nein danke, Holmes. Das überlasse ich Ihnen. Ich bin nicht Ihr Kammerdiener“,

entschied John und strebte dem einzigen Sessel zu, den er im Zimmer entdecken konnte. Er sank auf dessen abgenutztes Polster nieder und überließ es Sherlock, weiter unter Verrenkungen und leisen Flüchen, mit seinen Stiefeln zu kämpfen.

Neugierig blickte der Arzt sich um.

Das Zimmer war gerade groß genug für das wuchtige Bett, den Sessel und einer niedrigen Waschkommode, über der ein halbblinder Spiegel, eingefasst in einer verschnörkelten Umrahmung, hing.

Durch das Fenster, zugehangen mit einer vergrauten Gardine, schimmerte das gelbliche Licht einer Straßenlaterne herein. Eine ausgeblichene Tapete mit verspieltem Rankenmuster hatte irgendwann einmal den Raum behaglich erscheinen lassen. Doch nun blätterte sie an vielen Stellen ab, und gab den Blick auf alte, grob gemauerte Ziegelwände frei.

In dem offenen Kamin, gleich neben Johns Sessel, hatte schon lange keine Feuer mehr gebrannt. Auf dem breiten Sims darüber fristete eine kleine Standuhr aus angelaufenem Messing, halb begraben von Stapeln aus Kladden und Aktenmappen, ihr Dasein. Auf einigen der Umschläge erkannte John, neben dem hochoffiziellen Stempel von Scotland Yard, Lestrades gestochen klare Handschrift. Ob der gute Inspektor wusste, an welchem Ort Sherlock Holmes diese, vermutlich brisanten, Unterlagen aufbewahrte?

Über dem ganzen Durcheinander thronte, ein wenig schief an seinem Nagel hängend, das Porträt Ihrer Majestät, Queen Victoria. Es schien John, dass die königliche Hoheit noch missmutiger auf die Szenerie herabblickte als auf anderen Bildern, die landauf, landab überall von ihr zu sehen waren. Kein Wunder, wer konnte wissen, was jene gestrengen Augen in diesem Zimmer schon an Ausschweifungen gesehen hatten? John schüttelte sich unwillkürlich und drehte sich zu Sherlock um.

Der hatte sich endlich seiner Stiefel entledigt und warf diese mit mehr Schwung als nötig zu Boden. Geschickt raffte er die Falten seines voluminösen Kleides zusammen, ließ sich anmutig auf der Mitte des Bettes nieder und machte es sich dort mit untergeschlagenen Beinen bequem.
 
„So, John. Wir haben ein wenig Zeit totzuschlagen. Ich denke eine gute Stunde sollte genügen. Was meinen Sie?“

„Wozu?“, fragte der Arzt verdutzt.

Sherlock verdrehte die Augen gen Zimmerdecke und klopfte sachte gegen die Matratze auf der er saß.

„Was glauben Sie, warum jemand dieses überdimensionale Möbel hier hinein geschafft hat? Daher sollten wir….. Gütiger Himmel, John! Nun schauen Sie nicht gleich so entsetzt drein. Selbstverständlich wird nichts geschehen, was Ihr Anstandsgefühl in irgendeiner Form verletzt. Jedoch,…“,

über das Gesicht des Detektivs wischte ein sardonisches Lächeln,

„den Erwartungen des Publikums sollten wir immerhin Rechnung tragen. Lassen wir uns zu früh, oder im Gegenteil, erst in Stunden wieder im Salon blicken wird man Sie entweder für einen ungeduldigen, oder aber schwachen Liebhaber halten. Nach meinen Beobachtungen verbringen Paare in diesen Zimmern üblicherweise eine Stunde und siebzehn Minuten. Ich denke, es ist eine ausgezeichnete Idee dasselbe zu tun. Was meinen Sie, Doktor?“

Sherlock schien keine Antwort darauf zu erwarten, denn schon im nächsten Moment sprang er auf und begann eifrig die Unterlagen auf dem Kaminsims zu durchstöbern. Mit einem Ordnerstapel in den Händen kletterte er wieder auf das Bett, schob die Kissen in seinem Rücken zurecht, streckte die Beine aus, schlug eine der Mappen auf und vertiefte sich ohne ein weiteres Wort in den eng beschriebenen Papieren darin.

John, dem bei Sherlocks Ausführungen zwar der Kiefer heruntergefallen, aber keine passende Entgegnung eingefallen war, beschloss es dabei zu belassen und machte es sich ebenfalls in seinem Sessel gemütlich.

Es herrschte Schweigen zwischen ihnen. Keines, das John unangenehm gewesen wäre. Es glich jener Ruhe die manchmal zwischen ihnen einkehrte wenn sie in ihrem Wohnzimmer, ein jeder mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die Abende verbrachten.

Leider war dieser friedvolle Zustand nur selten von Dauer. Denn Sherlocks Experimente misslangen des Öfteren und lösten sich dabei vorzugsweise in Knall und Rauch auf.

Einmal war es ihnen nur mit Mühe und Not gelungen einen Küchenbrand zu löschen, als der Detektiv  bei einem seiner Versuche den Küchenofen nutzte, um eine kleine Kartusche, gefüllt mit Ammoniak, zu erhitzen. Den Arzt wunderte es manchmal, dass das Gebäude der Bakerstreet 221 überhaupt noch stand.

Doch nun herrschte, außer dem leisen Ticken des Uhrwerks, dem Rascheln von Papier und dem gelegentlichen Klappern von Pferdehufen wenn draußen auf der Gasse eine Droschke entlangfuhr, Stille.

Die Minuten flossen dahin und John ertappte sich dabei, dass er des öfteren verstohlen zu Sherlock hinüber sah.

Der Detektiv in Frauenkleidern, Lestrades Unterlagen studierend, bot ein seltsames Bild. John musste insgeheim zugeben das Sherlock darin gut aussah. Viel zu gut,…. für einen Mann, korrigierte sich der Arzt rasch selbst. Nur deshalb, und weil der Detektiv seine Rolle perfekt gespielt hatte, war es Sherlock gelungen ihn zu täuschen. John beschlich allmählich das Gefühl, das er Holmes, mitsamt seinen Fähigkeiten, sträflich unterschätzte.

Sein Blick streifte, wie von einem Magneten angezogen, immer wieder an dessen bestrumpften Beinen entlang. Jedes weibliche Wesen müsste auf solch wohlgeformte Waden, die am unteren Ende in schlanken Fesseln endeten, neidisch sein.

John schrak aus seinen Gedankengängen empor, als Sherlock sich plötzlich aufrichtete und die Kladde, deren Inhalt er noch Augenblicke zuvor aufmerksam studiert hatte, zuschlug und sie achtlos zu weiteren warf, welche bereits auf dem Bett in unordentlichen Haufen verteilt lagen.

„Nicht, dass ich Sie davon abhalten möchte, meine Unterschenkel ausgiebig zu bewundern, John. Aber wir sollten anfangen an unseren Plänen für den weiteren Abend zu arbeiten.“

Der Arzt blickte den Detektiv ertappt an. Um seine Verlegenheit zu verbergen, fragte er rasch:

“Welche Pläne, Holmes? Heißt das etwa, dass diese Komödie, die ich hier spielen musste, noch nicht zu Ende ist?“

Der Detektiv lachte leise, zog beide Beine an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Er warf John einen listigen Blick zu und fuhr fort:

„Mein bester Watson. Wir haben doch nicht so viel Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, um einfach in die Nacht zu verschwinden! Wer weiß, vielleicht zappelt schon Beute am Haken? Nun, jedenfalls kommen Sie jetzt ins Spiel, Doktor. Und das meine ich wörtlich. Dank Ihrer Neigung zum Kartenklopfen habe ich die Gelegenheit herauszufinden, ob meine Theorie richtig ist, und die Spur des Smaragds ins „Chat Noir“ führt.“

„Ach so!“, war die verständnislose Antwort des Arztes,

„Sie meinen, jemand hat den „Grüner Blitz“ hier versteckt?“

John begann seinen Blick aufmerksam durch das Zimmer schweifen zu lassen.

Sherlock stieß einen ungläubigen Ton aus, und schlug mit einer dramatischen Geste seine feingliedrigen Hände vor das Gesicht.

„Gütiger! Sie sind ein braver und tapferer Mann, John. Doch wie lebt es sich nur mit so einem kleinen Verstand wie Ihrem? Das muss ein Vergnügen sein, das ich wohl nie kennenlernen werde.“

Bevor noch der Arzt seinen Unmut über Sherlocks Unverschämtheit Luft machen konnte, sprach der Detektiv bereits weiter.

„Sie werden den Smaragden nicht allen Ernstes an so einem Ort wie diesem vermuten, John?! Jedoch, es gibt einen guten Grund sich einige Gäste von Miss Irene Adler näher anzusehen.
Wussten Sie, dass der Ehemann unserer Auftraggeberin, Lord Clayford Cartwright, sich im „Chat Noir“ seit Monaten zum Kartenspielen einfindet? Nein? Nun, woher sollen Sie auch wissen, dass die diskrete und geschäftstüchtige Miss Adler ein kleines Nebenzimmer für diesen Zeitvertreib hergerichtet hat. Lord Cartwright hat bei diesen Gelegenheiten übrigens immer einen Strolch im Schlepptau, der auf den Namen Alfie hört. Zumindest solange keine Polizei nach ihm fragt. Dann ist er wie vom Erdboden verschluckt.“

„Nun“, sagte John bedächtig,

„Auch wenn es merkwürdig erscheint sich mit einem solchen Individuum abzugeben; es ist Lord Cartwrights Angelegenheit in welcher Gesellschaft er seine Abende verbringt. In Miss Adlers Salon verkehren ja wohl alle Schichten, soweit ich das beurteilen kann.“

Sherlock nickte zustimmend.

„Das ist wohl wahr, Doktor.“,

der Detektiv stieß heftig mit seinem dünnen Zeigefinger in Johns Richtung,

„Aber der gute Alfie, mit dem Talent zum Verschwinden, hat einen wirklich guten Kumpanen. Beide taten immer unzertrennlich. Leider sitzt einer der beiden gerade in einer ungemütlichen Zelle in Pentonville, und beginnt sich nach eben jenem Alfie so sehr zu sehnen, das er, trotz seiner Verstocktheit, Inspektor Lestrade kürzlich ein paar Dinge erzählte die höchst aufschlussreich waren. Können Sie erraten von wem ich spreche, John?“

Der Arzt rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht, das aber schnell einem verwunderten Ausdruck Platz machte.

„Sie sprechen von Wilkins, der Mann, den die Polizei auf frischer Tat erwischt hat! Ich habe Recht, nicht wahr? Aber warum sollte sich Lord Cartwright sich ausgerechnet mit Jemandem abgeben, der gut Freund ist mit einem, der am Raub seines Eigentums beteiligt war?“

Der Detektiv holte tief Luft, und ließ langsam seinen Atem wieder durch die Nase entweichen. Dabei wanderte ein fassungsloser Blick aus blassblauen Augen einmal von John zur Zimmerdecke und wieder zurück. Durch die dick aufgetragene Puderschicht schimmerte die Haut in seinem Gesicht leicht rosig. Jedoch, als er dem Arzt antwortete, klang seine Stimme ruhig und gefasst.

„John, wissen Sie denn nicht, dass der „Grüner Blitz“ Lady Genoveva Cartwright gehört? Er war ein Geschenk des Radscha von Dhar an seine Ladyschaft. Das ist viele Jahre her. Der Radscha hatte sie damals als „Ehrenwerte Genoveva Burbank“ bei einem Empfang des britischen Konsuls in Delhi kennengelernt, wo ihr Vater, Viscount Robert Burbank, ehemaliger Admiral der königlichen Marine und seit langem Witwer, im diplomatischen Dienst tätig war.
Der Radscha verliebte sich in sie und machte ihr den Hof. Doch die junge Frau zog es zurück in ihre Heimat England, und der Radscha erhielt, wie man zu sagen pflegt, von ihr „einen Korb“.

Am Tag ihrer Abreise erschien der Abgewiesene, zum nicht geringen Erstaunen von Miss Burbank, mit großem Gefolge höchstpersönlich im Hafen von Goa und übergab ihr etwas von unermesslichen Wert; eben diesen Smaragd, der dann unter dem Namen „Grüner Blitz“ bekannt geworden ist. Keine Frage, das Funkeln und Strahlen darin erinnert doch ganz an ein Wetterleuchten. Jedenfalls, nachdem der Visconte in Indien verstorben war, erbte sie ein beachtliches Vermögen und heiratete einige Zeit später Lord Clayford Cartwright.

Ihr Ehemann war gutaussehend, charmant und ein Spross aus altem, aber verarmten englischen Adel. Bis zur Heirat hatte er sich mit allerlei unrentablen Geschäften versucht, erfolglos an der Börse spekuliert und buchstäblich sein letztes Seidenhemd beim Pferderennen in Newark verloren. Sämtliche Pfandleiher und Buchmacher Londons saßen dem glücklosen Lord im Nacken, bis die Vermählung mit der solventen, jungen Dame ihn schließlich von all seinen Geldsorgen befreite.“

John, der dem Detektiv aufmerksam gelauscht hatte, runzelte nun die Stirn und sagte widerstrebend:

„Sie meinen, Lord Cartwright hat Admiral Burbanks Tochter nur wegen ihres Vermögens geehelicht? Wenn es wirklich so ist, kann man die Ärmste nur bedauern das sie auf Lord Cartwright hereingefallen ist.“

„Nun John, ich habe Ihre Ladyschaft kennengelernt und kann Ihnen versichern, dass sie mir keinesfalls dumm oder einfältig erscheint. Sicher hat sie gewusst auf wen sie sich einließ, als sie Lord Cartwright heiratete. Diese neue Mode mit Romantik, Treue und Hingabe! Ach Watson, ist die Liebe nicht immer nur wenig mehr als ein Tauschhandel?“

Mit diesen Worten schloss Sherlock seine Ansprache und seufzte tief.

„Wenn dem so ist, war es dem Radscha von Dhar jedenfalls nicht bekannt. Er hat den Smaragd verschenkt, obwohl ihm klar sein musste das er keine Gegenleistung erhalten würde. Ist das nicht ein leuchtendes Beispiel für Hingabe und Romantik?“,

entgegnete ihm John.

Der Detektiv schüttelte unwillig den Kopf.

„Nein, es war vielmehr der Versuch die Schmach zu überdecken, die ihm mit der Zurückweisung von Seiten einer Frau zuteil wurde. Mit dieser kostbaren Gabe stand sie in einer Schuld ihm gegenüber, die sie niemals würde einlösen können.“

„Sie hätte den Smaragd nicht annehmen müssen.“, bemerkte der Arzt trocken.

Der Detektiv verzog ungehalten das Gesicht.

„Pah! Der Radscha hätte ihr die Kostbarkeit, vielleicht mit ein paar Zeilen seiner Bewunderung und Bedauerns, durch seine Boten überbringen lassen können. Das wäre bequemer und weniger aufwendig für ihn gewesen. Stattdessen reiste der Verschmähte mit dem halben Hofstaat und seiner persönlichen Leibwache zur Übergabe an. Was glauben Sie John, was für Folgen es für die damalige Miss Burbank gehabt hätte, wenn sie in dieser Lage den Stein abgelehnt hätte?  Es wäre eine weitere Zurückweisung  gewesen. Unterschätzen Sie niemals die gekränkte Eitelkeit eines Mannes, Watson.“

„Sie müssen es ja wissen, Holmes“,  

murmelte der so Zurechtgewiesene leise, um dann lauter hinzuzufügen:

„Letztlich ist Lady Cartwright dadurch zu einer der reichsten Frauen in diesem Land geworden.“

„Und das bleibt sie nur, wenn der Smaragd auch wieder auftaucht. Und dafür, John, werden wir jetzt sorgen. Kommen Sie, stehen Sie schon auf, und seien Sie so gütig ihre Kleidung etwas mehr in Unordnung zu bringen. Ihr Kragen stand bereits offen, als ich Sie hierher geführt habe.“

Mit diesen Worten kletterte der Detektiv vom Bett und trat vor den Spiegel. Nach einem raschen Blick auf sein Ebenbild begann er mit den Fingern durch seine Locken zu fahren und sie zu zerzausen. Er strich über seine, tiefrot geschminkten, Lippen und wischte die darauf haftenden Farbe über beide Mundwinkel hinaus. Dann öffnete er die oberen Haken seines Korsetts, klaubte einen der Stiefel vom Boden auf und machte sich daran, auf einem Bein hüpfend, den Fuß hinein zu zwängen.

Ächzend vor Anstrengung stieß er hervor:

„Uff! Bisher ist mir Irene Adler immer behilflich gewesen. Da ich jetzt wohl kaum auf diesen Beistand, noch auf Unterstützung Ihrerseits hoffen kann John, seien Sie wenigstens ein Gentleman und starren Sie nicht so. Und öffnen Sie endlich Ihr Jackett und ein paar Knöpfe an Ihrem Oberhemd.“

John, der noch immer fasziniert Sherlocks eigentümlichen Tanz auf dem Bettvorleger verfolgte, erkundigte sich abwesend:

„Wozu soll das gut sein, Holmes?“

Der Detektiv hielt inne und lächelte süffisant.

„Was glauben Sie denkt unser Publikum, wenn wir nicht ein wenig derangiert wieder auf der der Bildfläche erscheinen? Wollen Sie wirklich als der Mann gelten, welcher seine Herzallerliebste im Regen stehen ließ, nachdem er sie wochenlang nicht gesehen hat?“

Der Arzt fühlte wie ihm das Blut in den Kopf stieg und er rot anlief, als er realisierte was Sherlock gerade angedeutet hatte. Doch musste er zugeben, dass der Detektiv nicht Unrecht hatte. Auch wenn sie allen etwas vorspielten, als solcher Tölpel mochte er nicht in Erinnerung bleiben. So öffnete er sein Jackett und, etwas trotzig, die oberen Knöpfe seines Hemdes. Auch folgte er Sherlocks Beispiel und brachte sein, mit reichlich Brillantine in Form gebrachtes, Haar in einige Unordnung.

Nach einem schnellen Seitenblick in den Spiegel war er von dem Ergebnis selbst überrascht. Er hatte nicht zu viel von seiner Haut preisgegeben. Trotzdem:  das offen stehende Hemd und die zerraufte Frisur gaben seinem Aussehen etwas Verwegenes.

Angetan von sich selbst wandte er sich zu Sherlock Holmes um. Der stand mit hängenden Schultern da und blinzelte ratlos auf den halbgeschnürten Stiefel hinab.

„Bitte, John! Vergessen Sie doch einmal Ihren verdammten Stolz und helfen Sie mir. Es ist mir allein schon ein Rätsel wie Frauen darin stundenlang gehen können. Doch ein viel größeres Mysterium ist, wie sie es gebunden bekommen.“

Sherlock begann erneut, vor Ungeduld knurrend, an den Bändern zu zerren. Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Das ist ja zum Erbarmen mit Ihnen, Holmes. Hier, setzen Sie sich in den Sessel. Gut so. Nun geben Sie mir Ihren Fuß!“,

kommandierte John, kniete sich zu Boden und beäugte kritisch den, gehorsam in seinen Schoß gelegten, Stiefel.

Seine Hände glitten forschend über das dunkle, glänzende Leder, tasteten sich über die zahlreichen Ösen und Häkchen und entwirrten, da und dort, eine Schlinge die der Detektiv versehentlich in den Senkel geknotet hatte. Flink und mit ruhiger Hand begann er schließlich die dünnen Stränge zu ordnen und dabei geschickt durch die Verschlüsse hindurch zu fädeln.

Als er einmal kurz zu Sherlock aufsah, begegnete er dessen Blick. Der Detektiv starrte ausdruckslos auf ihn hinunter. Doch das normalerweise helle Blau seiner Iris war verschwunden und die Pupillen so geweitet, das sie schwarz erschienen. John hielt einen Wimpernschlag lang den Augenkontakt aufrecht.

Dann, mit dem eigentümlichen Gefühl soeben in einen dunklen, bodenlosen Brunnen gestürzt zu sein, wandte er sich rasch ab und wieder seiner Tätigkeit zu. Inständig hoffte er, das Sherlock das Zittern, welches seine Hände urplötzlich befallen hatte, nicht bemerkte.

Schließlich holte der Arzt auch den anderen Stiefel herbei und half Sherlock hinein zu schlüpfen. John kam nicht umhin den Unterschenkel, … so schlank; und die Fessel, … so grazil, des Detektivs zu berühren. Beschämt, wohin seine Gedanken ganz unerwartet abschweiften, atmete John tief ein und lenkte energisch alle Aufmerksamkeit auf seine Aufgabe, Sherlock Holmes die Stiefel zu binden, zurück.

Als das vollbracht war, stand er auf und klopfte den Staub an seiner Anzughose, der sich beim Hinknien auf dem Holzboden angeheftet hatte, sorgfältig  aus.

Sherlock begutachtete währenddessen die Arbeit, welche der Arzt an seinem Schuhwerk geleistet hatte. Dann hob er verwundert den Blick.

„Armee“, beantwortete John die unausgesprochene Frage, die dem Detektiv ins Gesicht geschrieben stand und fügte hinzu:

„Diese Stiefel sind jenen nicht ganz unähnlich, die meine Kameraden und ich während unseres Militärdienstes trugen.“  

„Oh, …das ist …gut!“,

war die wenig intelligente Antwort seines Gegenübers, der vorsichtig aufstand und probeweise ein paar Schritte machte.

Beflügelt durch die Tatsache, dass es ihm gelungen war den Detektiv tatsächlich beeindruckt zu haben, erkundigte sich der Arzt unternehmenslustig:

„Und was jetzt, Holmes?“

„Jetzt begeben Sie und Ich uns wieder in den Salon, und genießen die neidischen Blicke der Herrschaften dort“,

antwortete Sherlock, und ließ wie beiläufig, die Fingernägel über die blasse Haut seines Halses und des, nicht gerade üppigen, Ausschnitts gleiten. Das Ergebnis waren rosig schimmernde Kratzspuren.

„Neidisch?“,

fragte John, der Sherlocks Handbewegung gefolgt war, ein wenig zu schnell.
Mit einem Mal wusste er nicht mehr, wohin er schauen sollte. Er schluckte trocken und musterte mit großem Interesse die, vom Mauerwerk sich ablösende, Tapetenbahn vor der sein Mitbewohner zufällig gerade stand.

Sherlock verzog die Lippen.

„Natürlich Doktor! Was sonst? Die Damen glauben, dass Sie, John auf einem ansehnlichen Batzen Geld sitzen. Daher wären die meisten von ihnen nur zu gerne an meiner Stelle. Die Männer hingegen! Zwar habe ich immer beteuert Ihnen, mein guter Watson, treu ergeben zu sein. Doch das hat nicht alle daran gehindert mir, hmmm… Angebote zu unterbreiten. Also machen Sie sich auf missgünstige Augenpaare und Getuschel gefasst.“

Dem Arzt war es unbehaglich bei dem Gedanken, sich solchem Tratsch aussetzen zu müssen. Er setzte ein unglückliches Gesicht auf, bis ihm etwas einfiel.

„Holmes hatten Sie nicht eine Kartenspielgesellschaft erwähnt, die sich im „Chat Noir“ einfindet? Ein kleines Spiel wäre mir sehr viel angenehmer, als mich noch einmal von Ihnen in Gegenwart des Plebses anschmachten zu lassen.“

„Gewöhnen Sie sich lieber daran, dass ich mich vor aller Augen nach Ihnen verzehre, John. Denn ich bin mir sicher, dass wir hier nicht das letzte Mal zu Gast sein werden. Nun, wie dem auch sei. Tatsächlich habe ich Miss Adler gebeten Ihnen einen Stuhl in der heutigen Pokerrunde freizuhalten.“

John glaubte sich verhört zu haben. Ein Glücksspiel! Was hatte sich der Detektiv nur dabei gedacht?

„Ich soll pokern, Holmes? Normalerweise spiele ich Bridge. Ich habe von diesem Spiel der Falschspieler und Betrüger kaum eine Ahnung! Weiß der Himmel, welchen Ganoven ich dort Auge in Auge gegenübersitzen werde! Überhaupt fehlt es mir am nötigen Kleingeld, um in eine solche Runde einzusteigen!“

„Das Geld sollte kein Problem darstellen“,

erwiderte Sherlock gelassen. Er trat an die Waschkommode und schloss eine der Schubladen auf. Mit einem Augenzwinkern drückte er John ein Säckchen aus blauem Samt in die Hand.

„Fünfhundert englische Pfund Sterling, Mister Hamish Applehouse. Damit sind Sie dort mehr als willkommen. Keine Sorge. Ihre Aufgabe ist es, dieses Geld zu verspielen. Das dürfte Ihnen sicher nicht allzu schwerfallen. Das Sie Ihren Tischgenossen bisher unbekannt sind, ist bei unserem Plan nur von Vorteil.“

Doch John reckte sein Kinn vor, legte den Beutel neben die Waschschüssel, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich schwer auf der Bettkante nieder. Kühl und mit etwas Bitterkeit in seiner Stimme sagte er:

„Und was genau ist „unser Plan“; Holmes? Bisher weiß ich nämlich nicht viel darüber. Nur,das es um den geraubten Edelstein geht. Ich einen Händler mit einem ziemlich lächerlichen Namen darstelle; …. Hamish Applehouse….pffft…, der mit einer leichtlebigen Dame aus London liiert, sich nun mit Leuten einlassen soll, die außer gezinkten Karten, möglicherweise auch Messer in ihren Ärmeln mit sich führen. Was ist, wenn einer der Mitspieler misstrauisch wird, und mehr über diesen Mister Applehouse erfahren möchte? Bevor wir dieses Zimmer verlassen, will ich von Ihnen wissen auf was ich mich einlasse. Und in wessen Schuld stehe ich eigentlich, wenn ich das Geld verspiele?“

Sherlock gab John keine Antwort, sondern öffnete eine weitere Schublade, aus der er eine Pfeife und ein Etui mit Tabak entnahm. Dann ließ er sich in aller Seelenruhe neben John, der seine Ungeduld nur noch schlecht zügeln konnte, nieder und stopfte mit geschickten Fingern in aller Gemütsruhe das Rauchutensil.

„Also?!“,

startete der Arzt einen neuen Versuch, als Sherlock kurze Zeit später einen zufriedenen Ton von sich gab und dem dünnen Rauchfaden, der sich zur Zimmerdecke kringelte, nachdenklich hinterher sah. Dann wandte sich der Detektiv John zu und blickte ihn ernst an.

„Haben Sie keine Sorge. Ihr Spieleinsatz ist ein Teil des großzügigen Vorschusses auf jene Entlohnung die ich von Lady Cartwright erhalten werde, wenn ich den Fall, selbstverständlich erfolgreich, abgeschlossen habe. Niemand wird etwas von Ihnen zurückfordern, John. Wenn alles glatt läuft, werden Sie in den Genuss kommen noch weit mehr als diesen Betrag verspielen zu dürfen.
Was Ihre angenommene Identität angeht, so habe ich meine Verbindung zu einer einflussreichen Person in der Regierung  genutzt, um Ihre Tarnung zu untermauern. Wer diese Person ist, tut nichts zur Sache. Nur, das sie mir noch einige Gefallen schuldig war.
 
Daher sind Sie nun als Ehrenwerter Mister Hamish Applehouse, Händler für Kurzwaren aus Glasgow, und ordentliches Mitglied im dortigen “The Western Club“, neben einem Wohnhaus am Pembrigde Square, als Ihr kürzlich erworbenes  Eigentum. Des weiteren mit zwei angemieteten  Lagerhäuser nahe den St.Katherine Docks, in den Steuerverzeichnissen der Stadt London vermerkt. Außerdem können Sie ein persönliches Schließfach und ein gut gefülltes Konto bei der Bank von England ihr Eigen nennen. Glückwunsch, Doktor. Es scheint, dass Sie ein gemachter Mann sind“,  
                                                     
setzte der Detektiv mit ironischem Unterton hinzu.

Noch bevor ein fassungsloser John seine Sprache wieder fand, erhob sich Sherlock; legte die noch qualmende Pfeife in die porzellanene Waschschüssel, nahm den daneben liegenden Geldsack und trat zur Tür.

Er schloss sie auf und lugte vorsichtig hinaus. Dann wandte er sich zu dem Arzt um und reichte ihm seine freie Hand.

„Lassen Sie uns gehen, Hamish. Das Spiel hat begonnen und es wartet auf Ihren Einsatz!“
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