Der geraubte Smaragd
von Northstar
Kurzbeschreibung
Um den Raub eines wertvollen Edelsteins aufzuklären, beschreiten Sherlock und John ungewohnte Pfade. Die führen beide Männer jedoch auch zu Erkenntnissen, die so gar nichts mit dem Fall zu tun haben. In einem London mit Kopfsteinpflasterstraßen und Gaslaternen, verrauchten Kaschemmen, umgeben von undurchsichtigen Gestalten und dem Rascheln von Seidenkleidern ist es für Sherlock Holmes und Doktor John Watson nicht einfach einen klaren Kopf zu behalten. Vor allem, wenn ein gewisser Detektiv selbst in einem der Kleider steckt....
GeschichteKrimi, Romance / P18 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
22.09.2021
22.05.2023
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17.10.2021
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Das „Chat Noir“ entpuppte sich als ein unscheinbares, schäbiges Gebäude, das in einer Reihe mit anderen, genauso heruntergekommener Häusern, die Bridle Lane säumte.
John war insgeheim erleichtert, dass nicht ein Schild über dem Eingang hing, auf dass das Wort „Sündenpfuhl“ für jedermann sichtbar in Großbuchstaben prangte. Stattdessen funkelten ihn gelbgrüne Augen vom Bildnis einer schwarzen Katze an, die jemand ungelenk auf die hölzerne Eingangstür gepinselt hatte.
Dem Arzt war nicht wohl in seiner Haut. Nun, da er in dieser dunklen, engen Gasse stand, und sich zum wiederholten Mal an diesem Tag fragte ob er das Richtige tat, hätte John gerne kehrtgemacht und wäre in die Bakerstreet zurückgefahren.
Doch er hatte Sherlock Holmes sein Wort gegeben. So straffte John die Schultern, und bezahlte dem Droschkenkutscher der ihn hergefahren hatte seinen Lohn. Dann wandte sich er entschlossen der Tür zu.
Holmes hatte ihm am Morgen, bei ihrem gemeinsamen Frühstück, ungewöhnlich genug für den Detektiv, noch einmal mit warmen Worten gedankt, dass er ihm bei dieser wichtigen und heiklen Ermittlung zur Seite stand.
Holmes Dankbarkeit reichte allerdings nicht so weit, als das er John gegenüber mehr über Miss Prickton preisgegeben hätte. So hatte er sich, wohl oder übel, damit abfinden müssen im Unklaren gelassen zu werden. Vorerst zumindest.
Nervös strich John über seinen neuen Mantel aus feinem Wollstoff. Dieser, und der Abendanzug, den er in seinem Kleiderschrank vorgefunden hatte, passten ihm tatsächlich wie angegossen. Unmöglich, das Sherlock ein so geschultes Auge besaß. Eher, so vermutete der Arzt, hatte sich der Detektiv bei Johns Schneider seine Kleidermaße besorgt.
Der Arzt rückte noch einmal den Zylinder zurecht und klopfte mit der silbernen Spitze des Spazierstocks energisch gegen die Eingangstür. Angespannt horchte er, ob sich dahinter etwas rührte.
Es dauerte tatsächlich nur wenige Sekunden bis sich eine kleine Luke, auf Kopfhöhe in der Tür angebracht, öffnete. Ein haselnussbraunes Augenpaar blickte ihm fragend entgegen.
„Guten Abend. Mein Name ist Hamish Applehouse. Eine Miss Wilma Prickton erwartet mich“, beeilte er sich zu erklären.
Die Luke schloss sich mit einem leisen Klacken, und gleich darauf wurde ihm die Tür geöffnet.
John sah sich einer jungen, zierlichen Frau mit dunklen, streng zu einem Dutt frisierten Haaren gegenüber. Auch das bodenlange, schwarze Kleid, das sie trug war schlicht und wirkte bieder. Der Arzt schaute sie erstaunt an. Hatte der Kutscher ihn etwa zu einer falschen Adresse gefahren?
Die Frau schien seine Zweifel bemerkt zu haben, denn sie reichte ihm ihre Hand, über die sich John automatisch hinabbeugte und einen Kuss andeutete. Als der Arzt sich wieder aufrichtete lächelte sie, und sagte mit einem, dem Arzt unbekannten, Akzent in ihrer Stimme:
„Wie schön, dass Sie meinem Haus die Ehre erweisen, Mister Applehouse. Mein Name ist Irene Adler. Sherlock Holmes hat Sie angekündigt. Treten Sie ruhig näher. Miss Prickton ist bereits eingetroffen und wartet im Salon“
Die schlanke Frau wandte sich um, und bedeutete mit einer Kopfbewegung John ihr zu folgen. Sie gingen durch einen schmalen, nur von flackernden Gaslampen erleuchteten, Flur.
Rechts und links an der mit dunklem Holz verschalten Wand, waren Kleiderhaken angebracht. An ihnen hingen Mäntel und Capes. Nachdem auf Miss Adlers Geheiß, John seinen Übermantel und Zylinder ebenfalls abgelegt hatte, endete Ihr kurzer Weg vor einer Flügeltür, welche seine Begleitung mit Schwung öffnete und den Blick freigab auf eine Örtlichkeit an der, buntgemischt in Stand, Herkunft und Alter, Männer und Frauen hin und her wogten und sich ihren Vergnügungen hingaben.
Unter ihnen machte der Arzt auch eine Reihe Männer in Abendgarderobe aus. Doch nicht wenige der Anwesenden trugen die ganz einfache Alltagskleidung der Dockarbeiter und Dienstboten. Viele der weiblichen Anwesenden trugen zudem grellbunte Kleider und ein Übermaß an Schminke zur Schau. Neben einem babylonischen Stimmengewirr, welches gekrönt wurde von lautem Gelächter und Rufen, schlug John ein Schwall warme, von Tabak und Alkohol geschwängerte, Luft entgegen.
Der Arzt wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch Miss Adler hakte sich an seinem Arm unter und zwang ihn so an ihre Seite. John blieb nicht viel anderes übrig als dreinzugeben, wenn er seine Gastgeberin nicht vor aller Augen blamieren wollte. Während John sich durch die Reihen der aufgekratzt wirkenden Besucher hindurchlotsen ließ, sah er sich neugierig um.
Der Raum, den er betreten hatte, war überraschend groß. Eingerichtet im Stil der Salons großbürgerlicher Häuser, sollte er wohl ein edles Ambiente vermitteln. Nur leider war das nicht gelungen. Wer auch immer bei der Innenausstattung Hand angelegt hatte, er war entweder blind oder ohne jeden Ahnung gewesen.
Auf den Seidentapeten, welche sämtliche Wände bedeckten, tummelten sich, auf grellrotem Untergrund, große, buntgefärbte Vögel, die zwischen riesigen, exotischen Blumen und Ranken umherflogen. Unterbrochen wurde dieser sonderbar anmutende Garten Eden an einigen Stellen von schweren Samtvorhängen in einem, sich mit dem Rot der Tapeten beißenden, Violett. John vermutete, dass sich dahinter Eingänge zu kleinen Nischen, in denen Gäste ungestört waren, oder Türen zu weiteren Räumlichkeiten, verbargen.
Im hinteren Bereich entdeckte John eine große, verspiegelte Bar, hinter dessen Tresen zwei Frauen, in asiatisch anmutenden Kleidern, Getränke ausschenkten. Eine weitere Frau, unverkennbar eine Afrikanerin, balancierte mit einem Tablett, voll beladen mit Gläsern und Karaffen, geschickt zwischen Sesseln, Ottomanen und Tischchen aller Stilarten und Erhaltungszuständen umher, um die dort sitzendenden Gäste zu bedienen.
Etwa in der Mitte des Salons befand sich etwas, was John entfernt an eine kleine Bühne erinnerte. Es bestand aus einem sehr breiten und wuchtigen Mahagonitisch mit zerschrammter Tischplatte. Darauf stand ein kleiner Hocker.
Die Beleuchtung der ganzen Szenerie war auf das Allernotwendigste beschränkt. An den funkelnden Kristalllüstern, die tief von der Decke herunterhingen, waren nur einige wenige Kerzen entzündet worden. Sicher mit Absicht, mutmaßte der Arzt. Eine zu grelle Beleuchtung hätte bei der einen oder anderen Dame, aber auch bei einigen der Herren schnell ihr wahres Alter erkennen lassen.
John seufzte still in sich hinein und schlängelte sich, Arm in Arm mit seiner Begleitung, geschickt an den vielen unbekannten Gesichtern vorbei, bis sie schließlich, in einer ruhigeren Ecke des Salons, vor einer Sitzgruppe Halt machten. Diese bestand aus zwei Sesseln, die durch einen niedrigen Tisch getrennt, in einer Nische platziert worden waren.
In einer dieser Sitzgelegenheiten saß eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren dunkle Locken ihr offen in den Nacken fielen. Ihr schulterfreies, schwarzes Kleid war mit einer Korsage eng um ihre schmale Taille geschnürt, was ihren ranken Wuchs noch mehr betonte.
Die helle Haut ihrer bloßen Schultern schien gegen den dunklen Stoff der Kleidung zu leuchten. Tiefrot geschminkte Lippen, und mit schwarzem Khol umrandete Augen, verliehen dem stark gepuderten Gesicht der Frau etwas Maskenhaftes.
Die Nägel ihrer langen Finger waren sauber gebürstet und ordentlich manikürt. Wenigstens benutzte diese Person Wasser und Seife, anstatt sich nur auf zweifelhafte Kosmetik zu verlassen, stellte der Arzt in John routiniert fest. An den Füßen trug sie hohe, schwarze Schnürstiefel aus glänzendem Leder.
Der Arzt konnte das Schuhwerk beim besten Willen nicht übersehen, denn die Frau hatte ihre langen, mit schwarzem Seidengewebe, bestrumpften Beine so wenig damenhaft übereinander geschlagen, dass das Kleid hochgerutscht, mehr preisgab als es schicklich gewesen wäre.
Als diese Frau John ansichtig wurde, nickte sie Irene Adler zu, die daraufhin seinen Unterarm freigab und sich diskret zurückzog.
Das also war dann wohl Miss Wilma Prickton.
John wusste nicht genau zu sagen, was er eigentlich erwartet hatte. Doch das Gefühl hier fehl am Platz zu sein, wurde mit einem Male überwältigend. Er schalt sich einen Dummkopf, dass er sich von Holmes hatte überreden lassen hierher zu kommen. Unauffällig blickte er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es sollte ein Leichtes sein in dem Gewimmel um ihn herum zu verschwinden.
Jedoch, als ob Miss Prickton ihm seinen Unmut angesehen hatte, setzte sie ihre Füße züchtig beieinander auf den Boden und ordnete ihr Kleid. Sie begrüßte John mit einer seltsam heiser klingenden Stimme.
„Mister Applehouse. Ich freue mich, dass sie meiner Bitte gefolgt und hergekommen sind. Sherlock Holmes hat sie mir wärmstens empfohlen, daher hoffe ich inständig das Sie mir helfen können.“
Miss Prickton hob den Arm und John machte Anstalten sie mit einer formalen Kusshand zu begrüßen; doch die Frau wies lediglich auf den leeren Sessel neben sich. John folgte der Einladung und ließ sich darin nieder. Er merkte wie seine Anspannung etwas nachließ und erwiderte höflich:
„Mein Vergnügen, Miss Prickton. Ich nehme an, sie wissen dass ich Arzt bin. Kein Detektiv, wie Sherlock Holmes. Als ich seiner Bitte folgte, ihre Bekanntschaft zu machen, vermutete ich es könnte sich auch um ein medizinisches Problem handeln. Vielleicht brauchten sie deswegen meinen Rat? Aber Sie scheinen, dem ersten Anschein nach, bei bester Gesundheit zu sein.“
Bei Johns Worten huschte über Miss Pricktons Gesicht ein flüchtiges Lächeln. Doch anstatt ihm zu antworten, öffnete sie ein kleines silbernes Kästchen welches auf dem Tischchen stand. Sie entnahm diesem ein elfenbeinfarbenes Mundstück und einen dünn gewickelten Zigarillo. Als die dunkelhaarige Frau beides zusammengefügt hatte, beugte sie sich zu John herüber und bat:
“Haben sie Feuer?“
John, der die Schachtel mit den Zündhölzern neben dem Zigarettenetui längst bemerkt hatte, tat worum er gefragt wurde. Miss Prickton nahm einen ersten, tiefen Zug, lehnte den Kopf zurück und blies den Rauch mit geschlossenen Lidern genussvoll wieder aus.
John beobachtete sie dabei mit leichter Missbilligung.
„Sie sollten den Gebrauch von Tabak aufgeben, Miss Prickton. Es ist eine Unart, die keiner Frau steht.“
Miss Prickton, die im Begriff gewesen war den Zigarillo wieder zum Mund zu führen, hielt in ihrer Bewegung inne, und öffnete ihre Augen. Dann begann sie lauthals zu lachen, und John sah eine Reihe perlweiße, makellose Zähne zwischen ihren roten Lippen aufblitzen.
„Ich weiß ihre Fürsorge zu schätzen, Mister Applehouse. Doch seien sie gewiss, dass ich es nicht übertreiben werde. Gibt es denn nicht auch andere Laster?“
Miss Prickton deutete in einer weit ausholenden, eleganten Bewegung mit ihrer freien Hand auf die Gesellschaft um sie herum.
John, der seitdem er den Raum betreten hatte, bemüht gewesen war, dem Treiben um sich herum nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, wagte einen schnellen Rundumblick.
Er sah Haut, viel Haut. Auch an Stellen, die besser bedeckt bleiben sollten, wollte man nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor einem Richter landen. Gleiches galt für einige verirrte Hände und Münder, die sich dort befanden wo sie keinesfalls in Anwesenheit anderer zu sein hatten.
Doch das hier war keine Öffentlichkeit, sondern das „Chat Noir“ in Soho. Kein Richter und kein Polizist würde sich, ohne genügend Rückendeckung, in Ausübung ihrer Pflichten hierher verirren. Für das Privatleben solch respektabler Personen wollte John nicht die Hand ins Feuer legen. Was wusste er schon, welche Ämter jene innehatten, die wie er selbst, hier im feinen Zwirn herumstolzierten, das Whiskyglas in der einen Hand, und die andere unter dem Rock einer aufgehübschten Dame?
Der Arzt lenkte verlegen seinen Blick auf Miss Prickton zurück.
„Ich würde die Freuden der Körperlichkeit nicht als Laster bezeichnen. Natürlich sofern sie in einer ehelichen Gemeinschaft stattfinden“
„Was Sie nicht sagen, Hamish“, antwortete Wilma Prickton trocken.
Ganz selbstverständlich war sie dazu übergegangen ihn mit Vornamen anzusprechen. Sie betrachtete nachdenklich den Zigarillo, den sie fast bis auf das Mundstück heruntergeraucht hatte. Mit einem Ausdruck leisen Bedauerns ließ sie dann den noch glühenden Stummel auf den ausgetretenen Steinboden fallen.
Sie wandte sich wieder John zu und sah ihn prüfend an.
„Ich verstehe. Dann sind Sie also ein Verfechter der monogamen Beziehung zwischen Mann und Frau!“
Solch eine Feststellung hatte John von Miss Prickton nicht erwartet. Etwas verwirrt, antwortete er daher schärfer als es seine Absicht war:
„So könnte man sagen. Doch ich bin nicht deswegen hier. Wären Sie also so gütig und sagen mir einfach was Sie von mir verlangen“
Miss Prickton atmete tief ein und faltete ihre Hände sittsam in ihrem Schoß. Dann hefteten sich ihre blauen Augen fest auf John.
„Ich bin auf der Suche nach Jemandem, der etwas sehr Wertvolles einer guten Freundin von mir gestohlen hat“
„Soso“, antwortete John und runzelte die Stirn.
Mehr aus Gewohnheit fuhr er mit der Hand unter seiner Nase entlang. Dort ertastete er, statt borstiger Haare, nur glatte Haut. Fast wäre er zusammengezuckt. Ach ja. Den Schnauzer hatte er sich tatsächlich abrasiert. Wilma Prickton musterte ihn, wie es schien, mit einem Anflug von Belustigung.
„Soso“, wiederholte der Arzt ratlos,
„Worum handelt es sich denn bei diesem Wertvollen, das Ihrer Freundin abhandengekommen ist? Und weshalb beauftragen Sie nicht gleich Sherlock Holmes damit? Ich glaube nicht, dass ich Ihnen bei dieser Angelegenheit von Nutzen sein kann. Die Fähigkeiten eines talentierten Detektivs, wie Sherlock Holmes, fehlen mir vollständig“
Wilma Prickton lächelte ihn an. Dann senkte sie ihre langen Wimpern, bevor sie antwortete:
„Sie halten Mister Holmes also auch für einen außerordentlich begabten Vertreter seines Standes? Da stimme ich Ihnen zu. Doch in dieser Sache hielt er es für angeraten, dass ich mich an Sie wende. Sagt Ihnen der Begriff „Grüner Blitz“ etwas, Hamish?“
John richtete sich wie vom Donner gerührt kerzengrade auf und stieß hervor:
„Meinen Sie den „Grünen Blitz“, jener Smaragd, von dem alle Zeitungen hierzulande schon seit Wochen berichten? Der bei einem schändlichen Raubüberfall auf den Landsitz von Lord und Lady Cartwright gestohlen wurde, und seitdem unauffindbar ist? Genau wie der Schuft selbst, der dafür verantwortlich ist? Es ist eine Schande, das nur sein Handlanger, ein gewisser Wilkins wenn ich mich recht erinnere, welcher Schmiere gestanden hat, der Polizei ins Netz gegangen ist“
Hätte John seinen Schnauzbart noch besessen, so hätte jedes einzelne Haar auf seiner Oberlippe vor Aufregung gezittert.
Erschrocken legte Miss Prickton einen Zeigefinger auf ihre rotgeschminkten Lippen.
„Nicht so laut, Mister Applehouse. Selbstverständlich spreche ich von diesem Smaragd! Da die Inspektoren von Scotland Yard bisher keinen Erfolg bei ihrer Suche danach vermelden können, ist Lady Genoveva Cartwright am Boden zerstört. Der Stein bedeutet ihr sehr viel. Sie bat mich daher, als gute Freundin, einen diskreten Ermittler mit dieser Angelegenheit zu betrauen. Selbstverständlich ohne Lord Cartwright, oder die Polizei dabei vor den Kopf zu stoßen“
„Lady Cartwright ist IHRE Freundin?“
Der Arzt starrte Miss Prickton fassungslos an.
In ihrer Aufmachung passte sie allenfalls an einen Ort wie das „Chat Noir“. Bei einer gemütlichen Teestunde mit Lady Cartwright konnte John sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Doch eine Antwort darauf sollte er nicht bekommen, denn um ihn herum war eine plötzliche Unruhe entstanden.
Laute Rufe erklangen.
„Wilma, auf, auf!“
„Prickton, sei Deinen Lohn wert“
„Willi, Willi!“
„Huggi wartet schon, Schätzchen!“
John schaute sich verschreckt um. Viele der Anwesenden hatten ihre Augen auf ihn gerichtet; oder doch eher auf Miss Prickton? Denn die erhob sich anmutig und strich den raschelnden Stoff ihres Kleides glatt.
„Entschuldigen Sie mich, Hamish. Ich muss Sie für einen Moment verlassen, um mein Geld zu verdienen“
Mit diesen Worten beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn wie selbstverständlich auf den Mund.
In der nächsten Sekunde bahnte sich Wilma Prickton, lachend und spielerisch Knüffe an die sie umringenden Männer verteilend, ihren Weg hinüber zum Mahagonitisch. Darauf stand schon ein schiefgewachsener, kleiner Mann in schäbiger Kleidung, Er trug einen einem dumpfen Ausdruck auf seinem runden Gesicht zur Schau. Die heftigen Armbewegungen die er ausführte, und offensichtlich Miss Prickton golten, verrieten seine Ungeduld, mit der er sie erwartete.
Johns Lippen brannten noch von der unerwarteten Berührung, als er zusah wie die Frau sich von hilfreichen, kräftigen Armen auf den Tisch heben ließ. Dann beugte sie sich lächelnd zu dem Kleinwüchsigen hinunter und strich ihm sanft über die Wangen.
Was sollte das werden? Sie würde doch nicht etwa…? Der Arzt spürte deutlich wie ihm die Röte in den Nacken stieg, und er gedachte sich auf der Stelle von diesem Ort zu verabschieden.
Dann jedoch sah er wie Wilma Prickton Geige und Bogen zugereicht wurden. Unbekümmert stellte sie ihr linkes Bein auf den bereitstehenden Hocker. Ein Teil des Kleides schob dabei hoch und gab ein Stück weit die Sicht auf ihr gutgeformtes Bein frei. Die Menge, die sich mittlerweile um den Tisch gescharrt hatte, kommentierte diesen Anblick mit lautem Johlen.
Miss Prickton schien sich nicht weiter daran zu stören. Sie sprach ein paar Worte zu dem Mann vor sich, der ihr, den Mund offenstehend, aufmerksam zuhörte.
Dann klemmte sie sich das Instrument fest unter ihr Kinn, hob den Bogen und mit einem Mal war der Salon von einer zarten, schwerelos anmutenden Melodie erfüllt. Nach ein paar Takten setzte Gesang ein. Die Stimme des Mannes klang glasklar und hätte in jedem Opernhaus Englands das Publikum in Entzücken versetzt.
Und nicht nur dort. Die Anwesenden hielten, mit was auch immer sie gerade beschäftigt gewesen waren, inne. Alle Aufmerksamkeit gehörte nun dem ungleichen Paar, das von der kleinen Bühne herab jedes Gemüt mit ihrer Darbietung berührte.
Auch John konnte sich dem nicht entziehen. Das Lied selbst war ihm unbekannt. Es klang in seinen Ohren süß und traurig zugleich. Vielleicht war es die Schöpfung eines modernen Komponisten.
Als es endete, folgte ein bekanntes irisches Volkslied. Einige der Umherstehenden begannen sogleich im Takt mit den Füßen zu stampfen und viele der Zuhörer fielen in den Gesang mit ein.
Der Geigenbogen flog nur so über die Saiten. Wilma Pricktons dunkle Lockenpracht wirbelte bei jeder ihrer Bewegungen ungezügelt umher. Ihr Geigenspiel, gleichermaßen mitreißend wie kraftvoll, stand der Stimme des Sängers in nichts nach.
Dieser sang, die Augen geschlossen, aus voller Brust. Miss Prickton beobachtete ihn konzentriert und nahm jede kleine Variation, die er in die Melodien einfließen ließ, in ihr Spiel auf. Sie war die perfekteste Begleitung, die sich ein Sänger nur wünschen konnte.
Ein Lied folgte dem anderen. Die Stimmung der Gäste stieg dabei stetig, und die Raumtemperatur tat es ihr gleich. Der Arzt begann zu schwitzen. Der gestärkte Kragen seines Hemdes scheuerte ihn unangenehm am Hals. Er öffnete die Fliege, zog den Hemdkragen herunter und atmete erleichtert auf. So war es schon besser.
John hatte nicht darauf geachtet wie viele Lieder aufeinander gefolgt waren, doch schließlich senkte Wilma Prickton Geige und Bogen und wandte sich vom Sänger ab. Der stand noch einen Augenblick lang leicht schwankend da und lächelte verträumt in die Runde. Dann streckten sich ihm Arme entgegen und er ließ sich, sichtlich erschöpft, vom Tisch herunterhelfen.
Miss Prickton jedoch schien noch keine Lust zu haben die Bühne zu verlassen. Sie spannte die Saiten ihres Instruments nach, und gleich darauf setzte eine neue Melodie ein, die John augenblicklich auffahren ließ.
Ohne es zu bemerken riss er Augen und Mund auf. Er kannte dieses Lied gut. Nahezu täglich war es in den letzten Wochen in der Bakerstreet erklungen. Sherlock selbst hatte es komponiert.
Doch, wie zum Teufel…?
John starrte die Geigerin an, die seinen Blick, über die Köpfe der Menge hinweg, mit einem wissenden Lächeln auffing, und ihm verschwörerisch zuzwinkerte.
In nächsten Augenblick fiel es dem Arzt wie Schuppen von den Augen.
Dort oben, auf dieser kleinen Bühne; das war niemand anderes als S-h-e-r-l-o-c-k H-o-l-m-e-s ! !
Sein Mitbewohner! Selbsternannter Berater von Scotland Yard mit exzentrischem Benehmen und seltsamen Angewohnheiten.
John stand wie betäubt da.
Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, doch zunehmend wütend, wurde er Zeuge wie die vermeintliche Wilma Prickton ihr Geigenspiel schließlich mit einem furiosen Crescendo beendete.
Sogleich brandete begeisterter Applaus auf, und „Zugabe“ Rufe ertönten aus der Zuhörerschaft.
Doch Sherlock, John konnte ihn beim besten Willen nicht mehr als“ Wilma Prickton“ titulieren, verließ rasch die Bühne. Flankiert von Miss Adler, welche energisch zu aufdringliche Verehrer beiseiteschob, kehrte er an seinen Platz zurück.
Dort angekommen, ließ er sich lasziv in den Sessel fallen; nahm lächelnd einen Krug Bier, der ihm von einem der Gäste gereicht wurde, entgegen und überließ es im übrigen Miss Adler die Schar der Bewunderer auseinander zu treiben.
John funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen in stummem Zorn an. Sherlock schien das nicht zu bemerken. Er strahlte förmlich, beantwortete die Zurufe der ihn umringenden Männer und Frauen mit Winken, oder einer scherzhaften Antwort und ignorierte den Arzt, der mit geballten Fäusten dabeisaß, gekonnt.
Endlich jedoch ließ das Interesse nach, und die Anwesenden zerstreuten sich. Als sie wieder ungestört waren, konnte der Arzt nicht länger an sich halten,
„Sie haben mich geküsst, Holmes!“, zischte er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sherlock, der mit kleinen Schlucken das Bier aus dem Krug nippte, blickte ihn über den Rand hinweg mit einem amüsierten Funkeln in seinen Augen an.
„Das ist es, was Sie am meisten beschäftigt, John? Selbstverständlich habe ich Sie geküsst! Schon vergessen? Sie sind Hamish Applehouse. Ein tüchtiger und sehr erfolgreicher Händler aus Glasgow. Und noch dazu mein glühender Verehrer und Liebhaber, auf den ich seit Tagen sehnsüchtig gewartet habe“
John war schockiert. So brauchte es einige sehr, sehr tiefe Atemzüge, bis der Arzt seine Fassung zurückgewann. Zumindest so weit, um sich sicher zu sein, nicht auf der Stelle wie ein Berserker toben zu müssen.
„Sie haben das allen hier so erzählt und mich dann, mit der faustdicken Lüge, die sie mir über einen angeblichen Fall aufgetischt haben, hierher gelockt?“
Johns Stimme war, im Gegensatz zu dem Ausdruck in seinem hochroten Gesicht, gefährlich ruhig.
Der Detektiv stellte den Humpen auf das Tischchen, stützte die Arme auf der Sessellehne ab, legte sein Kinn auf ineinander verschränkte Handrücken, und blinzelte ihn mit unschuldiger Miene an.
„Nein. Dankenswerter Weise hat das Miss Adler für mich übernommen. Als Eigentümerin dieser Örtlichkeit wird ihr geglaubt, was Sie über ihre Angestellten zu berichten weiß“
John glaubte sich verhört zu haben. Er wies mit dem Kopf ungläubig zu dem bunten Völkchen um sie beide herum.
„Sie arbeiten an diesem Ort doch nicht als …nun, …, sie wissen schon was ich meine. Soweit kann selbst Ihre Leidenschaft für das Lösen von Kriminalfällen nicht gehen!“
Ein undeutbarer Ausdruck huschte über Sherlocks Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich denke nicht John, dass Sie besonders viel von Leidenschaften verstehen. Doch zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen versichern, dass ich, abgesehen von Auftritten, wie jenem dessen Zeuge Sie heute Abend geworden sind, die Tugend in Person bin. Schließlich ist mein Herz, wie hier alle wissen, schon an einen Mister Applehouse vergeben“
Sherlock beugte sich ein wenig mehr zu dem Arzt hinüber, und sandte ihm aus halbgeschlossenen Augen einen schmachtenden Blick zu.
„Um Himmels Willen, lassen Sie das Holmes“, murrte der Arzt unwillig, „Was macht Sie eigentlich so sicher, dass ich bei Ihrer Scharade mitspielen werde?“
Der Detektiv lächelte dünn und rückte ein wenig von John ab.
„Ich kenne Sie inzwischen ein wenig, Doktor. Sie sind ein Spieler! Etwas zu riskieren reizt Sie. Außerdem, falls es Ihnen entgangen sein sollte, Sie stecken schon mittendrin in dieser Scharade, wie Sie es zu nennen pflegen. Doch seien Sie gewarnt! Dies ist kein Spiel, sondern es handelt sich um ein Verbrechen. Dessen Aufklärung wurde mir von Lady Cartwright unter größter Diskretion angetragen. Eine solche Abwechslung zu Ihrer eintönigen Arbeit als Arzt werden Sie sich doch nicht entgehen lassen, oder?“
Sherlock hielt inne und warf einen aufmerksamen Blick auf das Treiben um sie herum. Dann wandte er sich wieder John zu und fuhr fort:
„Nebenbei, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir uns in der Öffentlichkeit weiter als Wilma und Hamish ansprechen würden. Schließlich sind wir für die Anwesenden ein wiedervereintes Liebespaar. Da wäre ein kleines Lächeln auf Ihrem Gesicht recht hilfreich, Hamish. Sie schauen das die Milch sauer wird. Spielen Sie einfach mit. Wie heißt es so schön? Die ganze Welt ist ein Theater“
Sherlock langte zu John hinüber und nahm dessen Hand in seine eigene. Doch John schüttelte den Detektiv unwillig ab und schnaubte gereizt. Was dachte Holmes sich eigentlich?
Der Arzt war nicht gewillt klein beizugeben. Nur eine Marionette in Sherlocks Plan zu sein, von dem er inzwischen ahnte, dass der mehr für ihn bereithielt als dieses Schauspiel, das sie hier gerade vor aller Augen aufführten, reichte ihm nicht.
Ungehalten griff er nach dem Bierkrug und trank einen tiefen Zug daraus.
Sherlock sah ihm dabei zu; schweigend und mit emporgezogenen Brauen, während er eine seiner dunklen Haarlocken um den Zeigefinger wickelte. Unzufrieden zog er einen Schmollmund.
„Wirklich Hamish! Als mein Liebhaber geben Sie eine ausnehmend schlechte Figur ab. Dabei könnte es sein das wir bereits Aufmerksamkeit bei bestimmten Personen erregt haben. Was nicht weiter schlimm wäre, da es für unser Vorhaben nur förderlich sein kann. Aber Ihr Auftritt hier, Doktor, ist nicht gerade überzeugend. Das sollten wir schleunigst ändern.“
Der Detektiv stand auf und reichte John auffordernd seine rechte Hand. Ohne nachzudenken ergriff dieser sie, und wurde mit erstaunlicher Kraft aus dem Sessel gezogen. Sofort hakte sich Sherlock bei dem Arzt unter und dirigierte ihn unerbittlich, den Kopf vertraulich auf dessen Schulter abgelegt, in den rückwärtigen Teil des Salons.
Kurz erwog John sich Sherlocks Gängelei zu widersetzen, doch gegen den harten Griff mit dem dieser ihn festhielt hatte er keine Chance. Und ein Versuch Sherlock abzuschütteln würde sonderbar erscheinen, nachdem was über sie beide in diesem Etablissement im Umlauf war.
„Gut gemacht, Holmes“, dachte John grimmig.
„Lächeln, Hamish, lächeln Sie einfach!“, schnurrte Sherlock, während sie sich durch einen Pulk angetrunkener Männer hindurchkämpften, die sie laut mit anzüglichen Bemerkungen bedachten.
Zähneknirschend setzte der Arzt eine halbwegs freundliche Miene auf. Dabei widerstand er dem fast übermächtigen Drang Sherlocks Lockenhaupt von seiner Schulter zu schieben, um mit schlagenden Argumenten diesen unverschämten Kerlen vor ihnen klarzumachen, was er von Anreden wie „Turteltäubchen“ und „Schelmchen“ hielt.
Als sie die Theke passiert hatten, steuerte Sherlock auf einen der violetten Vorhänge zu. Er schlug diesen ein wenig zur Seite und schob John durch den dahinterliegenden Durchgang in einen Flur hinein. Dieser zog sich in die Länge, und war dem recht ähnlich den John bei seiner Ankunft passiert hatte. Doch hier lagen Türen zu beiden Seiten. Der Detektiv ließ den Vorhang hinter ihnen zufallen und gab Johns Arm frei, was der Arzt mit einem erleichterten Seufzer quittierte.
Sie begegneten niemanden, als er eilig Sherlock den Gang hinunter folgte. Vor einer der Türen machte Sherlock schließlich Halt, fingerte einen kleinen, silbernen Schlüssel aus dem Ausschnitt seines Kleides hervor und schloss ihnen auf. Er zerrte John, der noch unsicher vor der Schwelle verharrte, ungeduldig mit sich in das Zimmer hinein.
„Kommen Sie schon, Doktor. Hier ist es ein wenig privater. Außerdem muss ich diese furchtbar unbequemen Stiefel loswerden!“
John war insgeheim erleichtert, dass nicht ein Schild über dem Eingang hing, auf dass das Wort „Sündenpfuhl“ für jedermann sichtbar in Großbuchstaben prangte. Stattdessen funkelten ihn gelbgrüne Augen vom Bildnis einer schwarzen Katze an, die jemand ungelenk auf die hölzerne Eingangstür gepinselt hatte.
Dem Arzt war nicht wohl in seiner Haut. Nun, da er in dieser dunklen, engen Gasse stand, und sich zum wiederholten Mal an diesem Tag fragte ob er das Richtige tat, hätte John gerne kehrtgemacht und wäre in die Bakerstreet zurückgefahren.
Doch er hatte Sherlock Holmes sein Wort gegeben. So straffte John die Schultern, und bezahlte dem Droschkenkutscher der ihn hergefahren hatte seinen Lohn. Dann wandte sich er entschlossen der Tür zu.
Holmes hatte ihm am Morgen, bei ihrem gemeinsamen Frühstück, ungewöhnlich genug für den Detektiv, noch einmal mit warmen Worten gedankt, dass er ihm bei dieser wichtigen und heiklen Ermittlung zur Seite stand.
Holmes Dankbarkeit reichte allerdings nicht so weit, als das er John gegenüber mehr über Miss Prickton preisgegeben hätte. So hatte er sich, wohl oder übel, damit abfinden müssen im Unklaren gelassen zu werden. Vorerst zumindest.
Nervös strich John über seinen neuen Mantel aus feinem Wollstoff. Dieser, und der Abendanzug, den er in seinem Kleiderschrank vorgefunden hatte, passten ihm tatsächlich wie angegossen. Unmöglich, das Sherlock ein so geschultes Auge besaß. Eher, so vermutete der Arzt, hatte sich der Detektiv bei Johns Schneider seine Kleidermaße besorgt.
Der Arzt rückte noch einmal den Zylinder zurecht und klopfte mit der silbernen Spitze des Spazierstocks energisch gegen die Eingangstür. Angespannt horchte er, ob sich dahinter etwas rührte.
Es dauerte tatsächlich nur wenige Sekunden bis sich eine kleine Luke, auf Kopfhöhe in der Tür angebracht, öffnete. Ein haselnussbraunes Augenpaar blickte ihm fragend entgegen.
„Guten Abend. Mein Name ist Hamish Applehouse. Eine Miss Wilma Prickton erwartet mich“, beeilte er sich zu erklären.
Die Luke schloss sich mit einem leisen Klacken, und gleich darauf wurde ihm die Tür geöffnet.
John sah sich einer jungen, zierlichen Frau mit dunklen, streng zu einem Dutt frisierten Haaren gegenüber. Auch das bodenlange, schwarze Kleid, das sie trug war schlicht und wirkte bieder. Der Arzt schaute sie erstaunt an. Hatte der Kutscher ihn etwa zu einer falschen Adresse gefahren?
Die Frau schien seine Zweifel bemerkt zu haben, denn sie reichte ihm ihre Hand, über die sich John automatisch hinabbeugte und einen Kuss andeutete. Als der Arzt sich wieder aufrichtete lächelte sie, und sagte mit einem, dem Arzt unbekannten, Akzent in ihrer Stimme:
„Wie schön, dass Sie meinem Haus die Ehre erweisen, Mister Applehouse. Mein Name ist Irene Adler. Sherlock Holmes hat Sie angekündigt. Treten Sie ruhig näher. Miss Prickton ist bereits eingetroffen und wartet im Salon“
Die schlanke Frau wandte sich um, und bedeutete mit einer Kopfbewegung John ihr zu folgen. Sie gingen durch einen schmalen, nur von flackernden Gaslampen erleuchteten, Flur.
Rechts und links an der mit dunklem Holz verschalten Wand, waren Kleiderhaken angebracht. An ihnen hingen Mäntel und Capes. Nachdem auf Miss Adlers Geheiß, John seinen Übermantel und Zylinder ebenfalls abgelegt hatte, endete Ihr kurzer Weg vor einer Flügeltür, welche seine Begleitung mit Schwung öffnete und den Blick freigab auf eine Örtlichkeit an der, buntgemischt in Stand, Herkunft und Alter, Männer und Frauen hin und her wogten und sich ihren Vergnügungen hingaben.
Unter ihnen machte der Arzt auch eine Reihe Männer in Abendgarderobe aus. Doch nicht wenige der Anwesenden trugen die ganz einfache Alltagskleidung der Dockarbeiter und Dienstboten. Viele der weiblichen Anwesenden trugen zudem grellbunte Kleider und ein Übermaß an Schminke zur Schau. Neben einem babylonischen Stimmengewirr, welches gekrönt wurde von lautem Gelächter und Rufen, schlug John ein Schwall warme, von Tabak und Alkohol geschwängerte, Luft entgegen.
Der Arzt wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch Miss Adler hakte sich an seinem Arm unter und zwang ihn so an ihre Seite. John blieb nicht viel anderes übrig als dreinzugeben, wenn er seine Gastgeberin nicht vor aller Augen blamieren wollte. Während John sich durch die Reihen der aufgekratzt wirkenden Besucher hindurchlotsen ließ, sah er sich neugierig um.
Der Raum, den er betreten hatte, war überraschend groß. Eingerichtet im Stil der Salons großbürgerlicher Häuser, sollte er wohl ein edles Ambiente vermitteln. Nur leider war das nicht gelungen. Wer auch immer bei der Innenausstattung Hand angelegt hatte, er war entweder blind oder ohne jeden Ahnung gewesen.
Auf den Seidentapeten, welche sämtliche Wände bedeckten, tummelten sich, auf grellrotem Untergrund, große, buntgefärbte Vögel, die zwischen riesigen, exotischen Blumen und Ranken umherflogen. Unterbrochen wurde dieser sonderbar anmutende Garten Eden an einigen Stellen von schweren Samtvorhängen in einem, sich mit dem Rot der Tapeten beißenden, Violett. John vermutete, dass sich dahinter Eingänge zu kleinen Nischen, in denen Gäste ungestört waren, oder Türen zu weiteren Räumlichkeiten, verbargen.
Im hinteren Bereich entdeckte John eine große, verspiegelte Bar, hinter dessen Tresen zwei Frauen, in asiatisch anmutenden Kleidern, Getränke ausschenkten. Eine weitere Frau, unverkennbar eine Afrikanerin, balancierte mit einem Tablett, voll beladen mit Gläsern und Karaffen, geschickt zwischen Sesseln, Ottomanen und Tischchen aller Stilarten und Erhaltungszuständen umher, um die dort sitzendenden Gäste zu bedienen.
Etwa in der Mitte des Salons befand sich etwas, was John entfernt an eine kleine Bühne erinnerte. Es bestand aus einem sehr breiten und wuchtigen Mahagonitisch mit zerschrammter Tischplatte. Darauf stand ein kleiner Hocker.
Die Beleuchtung der ganzen Szenerie war auf das Allernotwendigste beschränkt. An den funkelnden Kristalllüstern, die tief von der Decke herunterhingen, waren nur einige wenige Kerzen entzündet worden. Sicher mit Absicht, mutmaßte der Arzt. Eine zu grelle Beleuchtung hätte bei der einen oder anderen Dame, aber auch bei einigen der Herren schnell ihr wahres Alter erkennen lassen.
John seufzte still in sich hinein und schlängelte sich, Arm in Arm mit seiner Begleitung, geschickt an den vielen unbekannten Gesichtern vorbei, bis sie schließlich, in einer ruhigeren Ecke des Salons, vor einer Sitzgruppe Halt machten. Diese bestand aus zwei Sesseln, die durch einen niedrigen Tisch getrennt, in einer Nische platziert worden waren.
In einer dieser Sitzgelegenheiten saß eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren dunkle Locken ihr offen in den Nacken fielen. Ihr schulterfreies, schwarzes Kleid war mit einer Korsage eng um ihre schmale Taille geschnürt, was ihren ranken Wuchs noch mehr betonte.
Die helle Haut ihrer bloßen Schultern schien gegen den dunklen Stoff der Kleidung zu leuchten. Tiefrot geschminkte Lippen, und mit schwarzem Khol umrandete Augen, verliehen dem stark gepuderten Gesicht der Frau etwas Maskenhaftes.
Die Nägel ihrer langen Finger waren sauber gebürstet und ordentlich manikürt. Wenigstens benutzte diese Person Wasser und Seife, anstatt sich nur auf zweifelhafte Kosmetik zu verlassen, stellte der Arzt in John routiniert fest. An den Füßen trug sie hohe, schwarze Schnürstiefel aus glänzendem Leder.
Der Arzt konnte das Schuhwerk beim besten Willen nicht übersehen, denn die Frau hatte ihre langen, mit schwarzem Seidengewebe, bestrumpften Beine so wenig damenhaft übereinander geschlagen, dass das Kleid hochgerutscht, mehr preisgab als es schicklich gewesen wäre.
Als diese Frau John ansichtig wurde, nickte sie Irene Adler zu, die daraufhin seinen Unterarm freigab und sich diskret zurückzog.
Das also war dann wohl Miss Wilma Prickton.
John wusste nicht genau zu sagen, was er eigentlich erwartet hatte. Doch das Gefühl hier fehl am Platz zu sein, wurde mit einem Male überwältigend. Er schalt sich einen Dummkopf, dass er sich von Holmes hatte überreden lassen hierher zu kommen. Unauffällig blickte er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es sollte ein Leichtes sein in dem Gewimmel um ihn herum zu verschwinden.
Jedoch, als ob Miss Prickton ihm seinen Unmut angesehen hatte, setzte sie ihre Füße züchtig beieinander auf den Boden und ordnete ihr Kleid. Sie begrüßte John mit einer seltsam heiser klingenden Stimme.
„Mister Applehouse. Ich freue mich, dass sie meiner Bitte gefolgt und hergekommen sind. Sherlock Holmes hat sie mir wärmstens empfohlen, daher hoffe ich inständig das Sie mir helfen können.“
Miss Prickton hob den Arm und John machte Anstalten sie mit einer formalen Kusshand zu begrüßen; doch die Frau wies lediglich auf den leeren Sessel neben sich. John folgte der Einladung und ließ sich darin nieder. Er merkte wie seine Anspannung etwas nachließ und erwiderte höflich:
„Mein Vergnügen, Miss Prickton. Ich nehme an, sie wissen dass ich Arzt bin. Kein Detektiv, wie Sherlock Holmes. Als ich seiner Bitte folgte, ihre Bekanntschaft zu machen, vermutete ich es könnte sich auch um ein medizinisches Problem handeln. Vielleicht brauchten sie deswegen meinen Rat? Aber Sie scheinen, dem ersten Anschein nach, bei bester Gesundheit zu sein.“
Bei Johns Worten huschte über Miss Pricktons Gesicht ein flüchtiges Lächeln. Doch anstatt ihm zu antworten, öffnete sie ein kleines silbernes Kästchen welches auf dem Tischchen stand. Sie entnahm diesem ein elfenbeinfarbenes Mundstück und einen dünn gewickelten Zigarillo. Als die dunkelhaarige Frau beides zusammengefügt hatte, beugte sie sich zu John herüber und bat:
“Haben sie Feuer?“
John, der die Schachtel mit den Zündhölzern neben dem Zigarettenetui längst bemerkt hatte, tat worum er gefragt wurde. Miss Prickton nahm einen ersten, tiefen Zug, lehnte den Kopf zurück und blies den Rauch mit geschlossenen Lidern genussvoll wieder aus.
John beobachtete sie dabei mit leichter Missbilligung.
„Sie sollten den Gebrauch von Tabak aufgeben, Miss Prickton. Es ist eine Unart, die keiner Frau steht.“
Miss Prickton, die im Begriff gewesen war den Zigarillo wieder zum Mund zu führen, hielt in ihrer Bewegung inne, und öffnete ihre Augen. Dann begann sie lauthals zu lachen, und John sah eine Reihe perlweiße, makellose Zähne zwischen ihren roten Lippen aufblitzen.
„Ich weiß ihre Fürsorge zu schätzen, Mister Applehouse. Doch seien sie gewiss, dass ich es nicht übertreiben werde. Gibt es denn nicht auch andere Laster?“
Miss Prickton deutete in einer weit ausholenden, eleganten Bewegung mit ihrer freien Hand auf die Gesellschaft um sie herum.
John, der seitdem er den Raum betreten hatte, bemüht gewesen war, dem Treiben um sich herum nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, wagte einen schnellen Rundumblick.
Er sah Haut, viel Haut. Auch an Stellen, die besser bedeckt bleiben sollten, wollte man nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor einem Richter landen. Gleiches galt für einige verirrte Hände und Münder, die sich dort befanden wo sie keinesfalls in Anwesenheit anderer zu sein hatten.
Doch das hier war keine Öffentlichkeit, sondern das „Chat Noir“ in Soho. Kein Richter und kein Polizist würde sich, ohne genügend Rückendeckung, in Ausübung ihrer Pflichten hierher verirren. Für das Privatleben solch respektabler Personen wollte John nicht die Hand ins Feuer legen. Was wusste er schon, welche Ämter jene innehatten, die wie er selbst, hier im feinen Zwirn herumstolzierten, das Whiskyglas in der einen Hand, und die andere unter dem Rock einer aufgehübschten Dame?
Der Arzt lenkte verlegen seinen Blick auf Miss Prickton zurück.
„Ich würde die Freuden der Körperlichkeit nicht als Laster bezeichnen. Natürlich sofern sie in einer ehelichen Gemeinschaft stattfinden“
„Was Sie nicht sagen, Hamish“, antwortete Wilma Prickton trocken.
Ganz selbstverständlich war sie dazu übergegangen ihn mit Vornamen anzusprechen. Sie betrachtete nachdenklich den Zigarillo, den sie fast bis auf das Mundstück heruntergeraucht hatte. Mit einem Ausdruck leisen Bedauerns ließ sie dann den noch glühenden Stummel auf den ausgetretenen Steinboden fallen.
Sie wandte sich wieder John zu und sah ihn prüfend an.
„Ich verstehe. Dann sind Sie also ein Verfechter der monogamen Beziehung zwischen Mann und Frau!“
Solch eine Feststellung hatte John von Miss Prickton nicht erwartet. Etwas verwirrt, antwortete er daher schärfer als es seine Absicht war:
„So könnte man sagen. Doch ich bin nicht deswegen hier. Wären Sie also so gütig und sagen mir einfach was Sie von mir verlangen“
Miss Prickton atmete tief ein und faltete ihre Hände sittsam in ihrem Schoß. Dann hefteten sich ihre blauen Augen fest auf John.
„Ich bin auf der Suche nach Jemandem, der etwas sehr Wertvolles einer guten Freundin von mir gestohlen hat“
„Soso“, antwortete John und runzelte die Stirn.
Mehr aus Gewohnheit fuhr er mit der Hand unter seiner Nase entlang. Dort ertastete er, statt borstiger Haare, nur glatte Haut. Fast wäre er zusammengezuckt. Ach ja. Den Schnauzer hatte er sich tatsächlich abrasiert. Wilma Prickton musterte ihn, wie es schien, mit einem Anflug von Belustigung.
„Soso“, wiederholte der Arzt ratlos,
„Worum handelt es sich denn bei diesem Wertvollen, das Ihrer Freundin abhandengekommen ist? Und weshalb beauftragen Sie nicht gleich Sherlock Holmes damit? Ich glaube nicht, dass ich Ihnen bei dieser Angelegenheit von Nutzen sein kann. Die Fähigkeiten eines talentierten Detektivs, wie Sherlock Holmes, fehlen mir vollständig“
Wilma Prickton lächelte ihn an. Dann senkte sie ihre langen Wimpern, bevor sie antwortete:
„Sie halten Mister Holmes also auch für einen außerordentlich begabten Vertreter seines Standes? Da stimme ich Ihnen zu. Doch in dieser Sache hielt er es für angeraten, dass ich mich an Sie wende. Sagt Ihnen der Begriff „Grüner Blitz“ etwas, Hamish?“
John richtete sich wie vom Donner gerührt kerzengrade auf und stieß hervor:
„Meinen Sie den „Grünen Blitz“, jener Smaragd, von dem alle Zeitungen hierzulande schon seit Wochen berichten? Der bei einem schändlichen Raubüberfall auf den Landsitz von Lord und Lady Cartwright gestohlen wurde, und seitdem unauffindbar ist? Genau wie der Schuft selbst, der dafür verantwortlich ist? Es ist eine Schande, das nur sein Handlanger, ein gewisser Wilkins wenn ich mich recht erinnere, welcher Schmiere gestanden hat, der Polizei ins Netz gegangen ist“
Hätte John seinen Schnauzbart noch besessen, so hätte jedes einzelne Haar auf seiner Oberlippe vor Aufregung gezittert.
Erschrocken legte Miss Prickton einen Zeigefinger auf ihre rotgeschminkten Lippen.
„Nicht so laut, Mister Applehouse. Selbstverständlich spreche ich von diesem Smaragd! Da die Inspektoren von Scotland Yard bisher keinen Erfolg bei ihrer Suche danach vermelden können, ist Lady Genoveva Cartwright am Boden zerstört. Der Stein bedeutet ihr sehr viel. Sie bat mich daher, als gute Freundin, einen diskreten Ermittler mit dieser Angelegenheit zu betrauen. Selbstverständlich ohne Lord Cartwright, oder die Polizei dabei vor den Kopf zu stoßen“
„Lady Cartwright ist IHRE Freundin?“
Der Arzt starrte Miss Prickton fassungslos an.
In ihrer Aufmachung passte sie allenfalls an einen Ort wie das „Chat Noir“. Bei einer gemütlichen Teestunde mit Lady Cartwright konnte John sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Doch eine Antwort darauf sollte er nicht bekommen, denn um ihn herum war eine plötzliche Unruhe entstanden.
Laute Rufe erklangen.
„Wilma, auf, auf!“
„Prickton, sei Deinen Lohn wert“
„Willi, Willi!“
„Huggi wartet schon, Schätzchen!“
John schaute sich verschreckt um. Viele der Anwesenden hatten ihre Augen auf ihn gerichtet; oder doch eher auf Miss Prickton? Denn die erhob sich anmutig und strich den raschelnden Stoff ihres Kleides glatt.
„Entschuldigen Sie mich, Hamish. Ich muss Sie für einen Moment verlassen, um mein Geld zu verdienen“
Mit diesen Worten beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn wie selbstverständlich auf den Mund.
In der nächsten Sekunde bahnte sich Wilma Prickton, lachend und spielerisch Knüffe an die sie umringenden Männer verteilend, ihren Weg hinüber zum Mahagonitisch. Darauf stand schon ein schiefgewachsener, kleiner Mann in schäbiger Kleidung, Er trug einen einem dumpfen Ausdruck auf seinem runden Gesicht zur Schau. Die heftigen Armbewegungen die er ausführte, und offensichtlich Miss Prickton golten, verrieten seine Ungeduld, mit der er sie erwartete.
Johns Lippen brannten noch von der unerwarteten Berührung, als er zusah wie die Frau sich von hilfreichen, kräftigen Armen auf den Tisch heben ließ. Dann beugte sie sich lächelnd zu dem Kleinwüchsigen hinunter und strich ihm sanft über die Wangen.
Was sollte das werden? Sie würde doch nicht etwa…? Der Arzt spürte deutlich wie ihm die Röte in den Nacken stieg, und er gedachte sich auf der Stelle von diesem Ort zu verabschieden.
Dann jedoch sah er wie Wilma Prickton Geige und Bogen zugereicht wurden. Unbekümmert stellte sie ihr linkes Bein auf den bereitstehenden Hocker. Ein Teil des Kleides schob dabei hoch und gab ein Stück weit die Sicht auf ihr gutgeformtes Bein frei. Die Menge, die sich mittlerweile um den Tisch gescharrt hatte, kommentierte diesen Anblick mit lautem Johlen.
Miss Prickton schien sich nicht weiter daran zu stören. Sie sprach ein paar Worte zu dem Mann vor sich, der ihr, den Mund offenstehend, aufmerksam zuhörte.
Dann klemmte sie sich das Instrument fest unter ihr Kinn, hob den Bogen und mit einem Mal war der Salon von einer zarten, schwerelos anmutenden Melodie erfüllt. Nach ein paar Takten setzte Gesang ein. Die Stimme des Mannes klang glasklar und hätte in jedem Opernhaus Englands das Publikum in Entzücken versetzt.
Und nicht nur dort. Die Anwesenden hielten, mit was auch immer sie gerade beschäftigt gewesen waren, inne. Alle Aufmerksamkeit gehörte nun dem ungleichen Paar, das von der kleinen Bühne herab jedes Gemüt mit ihrer Darbietung berührte.
Auch John konnte sich dem nicht entziehen. Das Lied selbst war ihm unbekannt. Es klang in seinen Ohren süß und traurig zugleich. Vielleicht war es die Schöpfung eines modernen Komponisten.
Als es endete, folgte ein bekanntes irisches Volkslied. Einige der Umherstehenden begannen sogleich im Takt mit den Füßen zu stampfen und viele der Zuhörer fielen in den Gesang mit ein.
Der Geigenbogen flog nur so über die Saiten. Wilma Pricktons dunkle Lockenpracht wirbelte bei jeder ihrer Bewegungen ungezügelt umher. Ihr Geigenspiel, gleichermaßen mitreißend wie kraftvoll, stand der Stimme des Sängers in nichts nach.
Dieser sang, die Augen geschlossen, aus voller Brust. Miss Prickton beobachtete ihn konzentriert und nahm jede kleine Variation, die er in die Melodien einfließen ließ, in ihr Spiel auf. Sie war die perfekteste Begleitung, die sich ein Sänger nur wünschen konnte.
Ein Lied folgte dem anderen. Die Stimmung der Gäste stieg dabei stetig, und die Raumtemperatur tat es ihr gleich. Der Arzt begann zu schwitzen. Der gestärkte Kragen seines Hemdes scheuerte ihn unangenehm am Hals. Er öffnete die Fliege, zog den Hemdkragen herunter und atmete erleichtert auf. So war es schon besser.
John hatte nicht darauf geachtet wie viele Lieder aufeinander gefolgt waren, doch schließlich senkte Wilma Prickton Geige und Bogen und wandte sich vom Sänger ab. Der stand noch einen Augenblick lang leicht schwankend da und lächelte verträumt in die Runde. Dann streckten sich ihm Arme entgegen und er ließ sich, sichtlich erschöpft, vom Tisch herunterhelfen.
Miss Prickton jedoch schien noch keine Lust zu haben die Bühne zu verlassen. Sie spannte die Saiten ihres Instruments nach, und gleich darauf setzte eine neue Melodie ein, die John augenblicklich auffahren ließ.
Ohne es zu bemerken riss er Augen und Mund auf. Er kannte dieses Lied gut. Nahezu täglich war es in den letzten Wochen in der Bakerstreet erklungen. Sherlock selbst hatte es komponiert.
Doch, wie zum Teufel…?
John starrte die Geigerin an, die seinen Blick, über die Köpfe der Menge hinweg, mit einem wissenden Lächeln auffing, und ihm verschwörerisch zuzwinkerte.
In nächsten Augenblick fiel es dem Arzt wie Schuppen von den Augen.
Dort oben, auf dieser kleinen Bühne; das war niemand anderes als S-h-e-r-l-o-c-k H-o-l-m-e-s ! !
Sein Mitbewohner! Selbsternannter Berater von Scotland Yard mit exzentrischem Benehmen und seltsamen Angewohnheiten.
John stand wie betäubt da.
Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, doch zunehmend wütend, wurde er Zeuge wie die vermeintliche Wilma Prickton ihr Geigenspiel schließlich mit einem furiosen Crescendo beendete.
Sogleich brandete begeisterter Applaus auf, und „Zugabe“ Rufe ertönten aus der Zuhörerschaft.
Doch Sherlock, John konnte ihn beim besten Willen nicht mehr als“ Wilma Prickton“ titulieren, verließ rasch die Bühne. Flankiert von Miss Adler, welche energisch zu aufdringliche Verehrer beiseiteschob, kehrte er an seinen Platz zurück.
Dort angekommen, ließ er sich lasziv in den Sessel fallen; nahm lächelnd einen Krug Bier, der ihm von einem der Gäste gereicht wurde, entgegen und überließ es im übrigen Miss Adler die Schar der Bewunderer auseinander zu treiben.
John funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen in stummem Zorn an. Sherlock schien das nicht zu bemerken. Er strahlte förmlich, beantwortete die Zurufe der ihn umringenden Männer und Frauen mit Winken, oder einer scherzhaften Antwort und ignorierte den Arzt, der mit geballten Fäusten dabeisaß, gekonnt.
Endlich jedoch ließ das Interesse nach, und die Anwesenden zerstreuten sich. Als sie wieder ungestört waren, konnte der Arzt nicht länger an sich halten,
„Sie haben mich geküsst, Holmes!“, zischte er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sherlock, der mit kleinen Schlucken das Bier aus dem Krug nippte, blickte ihn über den Rand hinweg mit einem amüsierten Funkeln in seinen Augen an.
„Das ist es, was Sie am meisten beschäftigt, John? Selbstverständlich habe ich Sie geküsst! Schon vergessen? Sie sind Hamish Applehouse. Ein tüchtiger und sehr erfolgreicher Händler aus Glasgow. Und noch dazu mein glühender Verehrer und Liebhaber, auf den ich seit Tagen sehnsüchtig gewartet habe“
John war schockiert. So brauchte es einige sehr, sehr tiefe Atemzüge, bis der Arzt seine Fassung zurückgewann. Zumindest so weit, um sich sicher zu sein, nicht auf der Stelle wie ein Berserker toben zu müssen.
„Sie haben das allen hier so erzählt und mich dann, mit der faustdicken Lüge, die sie mir über einen angeblichen Fall aufgetischt haben, hierher gelockt?“
Johns Stimme war, im Gegensatz zu dem Ausdruck in seinem hochroten Gesicht, gefährlich ruhig.
Der Detektiv stellte den Humpen auf das Tischchen, stützte die Arme auf der Sessellehne ab, legte sein Kinn auf ineinander verschränkte Handrücken, und blinzelte ihn mit unschuldiger Miene an.
„Nein. Dankenswerter Weise hat das Miss Adler für mich übernommen. Als Eigentümerin dieser Örtlichkeit wird ihr geglaubt, was Sie über ihre Angestellten zu berichten weiß“
John glaubte sich verhört zu haben. Er wies mit dem Kopf ungläubig zu dem bunten Völkchen um sie beide herum.
„Sie arbeiten an diesem Ort doch nicht als …nun, …, sie wissen schon was ich meine. Soweit kann selbst Ihre Leidenschaft für das Lösen von Kriminalfällen nicht gehen!“
Ein undeutbarer Ausdruck huschte über Sherlocks Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich denke nicht John, dass Sie besonders viel von Leidenschaften verstehen. Doch zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen versichern, dass ich, abgesehen von Auftritten, wie jenem dessen Zeuge Sie heute Abend geworden sind, die Tugend in Person bin. Schließlich ist mein Herz, wie hier alle wissen, schon an einen Mister Applehouse vergeben“
Sherlock beugte sich ein wenig mehr zu dem Arzt hinüber, und sandte ihm aus halbgeschlossenen Augen einen schmachtenden Blick zu.
„Um Himmels Willen, lassen Sie das Holmes“, murrte der Arzt unwillig, „Was macht Sie eigentlich so sicher, dass ich bei Ihrer Scharade mitspielen werde?“
Der Detektiv lächelte dünn und rückte ein wenig von John ab.
„Ich kenne Sie inzwischen ein wenig, Doktor. Sie sind ein Spieler! Etwas zu riskieren reizt Sie. Außerdem, falls es Ihnen entgangen sein sollte, Sie stecken schon mittendrin in dieser Scharade, wie Sie es zu nennen pflegen. Doch seien Sie gewarnt! Dies ist kein Spiel, sondern es handelt sich um ein Verbrechen. Dessen Aufklärung wurde mir von Lady Cartwright unter größter Diskretion angetragen. Eine solche Abwechslung zu Ihrer eintönigen Arbeit als Arzt werden Sie sich doch nicht entgehen lassen, oder?“
Sherlock hielt inne und warf einen aufmerksamen Blick auf das Treiben um sie herum. Dann wandte er sich wieder John zu und fuhr fort:
„Nebenbei, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir uns in der Öffentlichkeit weiter als Wilma und Hamish ansprechen würden. Schließlich sind wir für die Anwesenden ein wiedervereintes Liebespaar. Da wäre ein kleines Lächeln auf Ihrem Gesicht recht hilfreich, Hamish. Sie schauen das die Milch sauer wird. Spielen Sie einfach mit. Wie heißt es so schön? Die ganze Welt ist ein Theater“
Sherlock langte zu John hinüber und nahm dessen Hand in seine eigene. Doch John schüttelte den Detektiv unwillig ab und schnaubte gereizt. Was dachte Holmes sich eigentlich?
Der Arzt war nicht gewillt klein beizugeben. Nur eine Marionette in Sherlocks Plan zu sein, von dem er inzwischen ahnte, dass der mehr für ihn bereithielt als dieses Schauspiel, das sie hier gerade vor aller Augen aufführten, reichte ihm nicht.
Ungehalten griff er nach dem Bierkrug und trank einen tiefen Zug daraus.
Sherlock sah ihm dabei zu; schweigend und mit emporgezogenen Brauen, während er eine seiner dunklen Haarlocken um den Zeigefinger wickelte. Unzufrieden zog er einen Schmollmund.
„Wirklich Hamish! Als mein Liebhaber geben Sie eine ausnehmend schlechte Figur ab. Dabei könnte es sein das wir bereits Aufmerksamkeit bei bestimmten Personen erregt haben. Was nicht weiter schlimm wäre, da es für unser Vorhaben nur förderlich sein kann. Aber Ihr Auftritt hier, Doktor, ist nicht gerade überzeugend. Das sollten wir schleunigst ändern.“
Der Detektiv stand auf und reichte John auffordernd seine rechte Hand. Ohne nachzudenken ergriff dieser sie, und wurde mit erstaunlicher Kraft aus dem Sessel gezogen. Sofort hakte sich Sherlock bei dem Arzt unter und dirigierte ihn unerbittlich, den Kopf vertraulich auf dessen Schulter abgelegt, in den rückwärtigen Teil des Salons.
Kurz erwog John sich Sherlocks Gängelei zu widersetzen, doch gegen den harten Griff mit dem dieser ihn festhielt hatte er keine Chance. Und ein Versuch Sherlock abzuschütteln würde sonderbar erscheinen, nachdem was über sie beide in diesem Etablissement im Umlauf war.
„Gut gemacht, Holmes“, dachte John grimmig.
„Lächeln, Hamish, lächeln Sie einfach!“, schnurrte Sherlock, während sie sich durch einen Pulk angetrunkener Männer hindurchkämpften, die sie laut mit anzüglichen Bemerkungen bedachten.
Zähneknirschend setzte der Arzt eine halbwegs freundliche Miene auf. Dabei widerstand er dem fast übermächtigen Drang Sherlocks Lockenhaupt von seiner Schulter zu schieben, um mit schlagenden Argumenten diesen unverschämten Kerlen vor ihnen klarzumachen, was er von Anreden wie „Turteltäubchen“ und „Schelmchen“ hielt.
Als sie die Theke passiert hatten, steuerte Sherlock auf einen der violetten Vorhänge zu. Er schlug diesen ein wenig zur Seite und schob John durch den dahinterliegenden Durchgang in einen Flur hinein. Dieser zog sich in die Länge, und war dem recht ähnlich den John bei seiner Ankunft passiert hatte. Doch hier lagen Türen zu beiden Seiten. Der Detektiv ließ den Vorhang hinter ihnen zufallen und gab Johns Arm frei, was der Arzt mit einem erleichterten Seufzer quittierte.
Sie begegneten niemanden, als er eilig Sherlock den Gang hinunter folgte. Vor einer der Türen machte Sherlock schließlich Halt, fingerte einen kleinen, silbernen Schlüssel aus dem Ausschnitt seines Kleides hervor und schloss ihnen auf. Er zerrte John, der noch unsicher vor der Schwelle verharrte, ungeduldig mit sich in das Zimmer hinein.
„Kommen Sie schon, Doktor. Hier ist es ein wenig privater. Außerdem muss ich diese furchtbar unbequemen Stiefel loswerden!“