Ein ganz kleines bisschen
von Silver Silence
Kurzbeschreibung
In letzter Zeit hat sich viel in Marias Leben verändert, und das meiste ist einfacher geworden. Mary dazu zu bringen, sein Blut zu trinken, gehört nicht dazu. [Maria x Mary | Post-canon, daher leichte/vage Spoiler]
OneshotSchmerz/Trost / P12 / MaleSlash
Bloody / Mary
Ichiro Rosario di Maria
19.09.2021
19.09.2021
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19.09.2021
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Dass Maria es nicht mehr gewohnt war, allein zu sein, hatte er längst festgestellt.
Es hätte ihn stören sollen, oder wenigstens irritieren. Immerhin hatte er den größten Teil seines Lebens allein gelebt, und es nie für nötig befunden, das zu ändern. Er kam gut so zurecht, wie es war.
Wenigstens so lange, bis dieser rothaarige Vampir aufgetaucht war und alles in seinem Leben auf den Kopf gestellt hatte. In diesem Sinne hätte es ihn vermutlich auch nicht überraschen dürfen, dass er sich irgendwann so sehr an dessen Anwesenheit gewöhnt hatte, dass es sich falsch anfühlte, wenn er fehlte. Die gewisse Ironie, die in diesen Gefühlen lag, erkannte Maria selbst, immerhin war Mary nur bei ihm geblieben, um von ihm getötet zu werden. Und immerhin hatte Maria das auch vorgehabt, eine Zeit lang, wenigstens.
Er hatte sich keine Gedanken mehr gemacht, was er getan hätte, wenn „Mary“ es nicht geschafft hätte. Dafür war er zu froh gewesen, dass es keinen Grund dazu gab.
Maria wusste, dass er es nicht mehr gewohnt war, allein zu sein. Sich nur um sich selbst kümmern zu müssen. Nicht in ein Hotelzimmer zu kommen und daran zu scheitern, ein ungutes Gefühl von Verwirrung und möglicherweise einer Spur Besorgnis zurückzudrängen, nur, weil niemand anderer hier war, während die Sonne vor dem Fenster immer weiter sank.
Nein, Maria hätte auf dieses spezifische Gefühl gut verzichten können, nur leider befand er sich im Moment in genau dieser Situation.
Seit sie Yokohama verlassen hatten, kam es häufiger vor, dass Mary tagsüber seine eigenen Wege ging, wenn auch nur für ein paar Stunden. Maria hatte nie das Gefühl gehabt, dass es ihn etwas anging, was sein Begleiter dann trieb, und Mary schien aus dieser Gleichgültigkeit gefolgert zu haben, dass er sich einfach nicht dafür interessierte. Erzählt hatte er ihm wenigstens nie, was er dann tat, und vereinzelt war es sogar vorgekommen, dass er losgezogen war, ohne Maria etwas davon zu sagen. Ob er das mit Absicht gemacht hatte oder einfach darauf vergessen, wusste er nicht.
Worauf er sich allerdings immer hatte verlassen können, war, dass Mary spätestens bei Einbruch der Dämmerung wieder hier war. Selbst, wenn sie nicht nach draußen gingen, wich er nachts nicht von Marias Seite, und diesem war das ebenfalls ganz recht. Um ihrer beider Willen.
Deswegen war es mehr als untypisch, um diese Uhrzeit in ein leeres Zimmer zurückzukehren, zumal er keine Stunde weggewesen war und Mary geschlafen hatte, als er ihn allein gelassen hatte. Maria verstand selbst nicht ganz, woher diese Nervosität kam. Er selbst musste sich immerhin keine Sorgen um sein eigenes Leben machen, und Mary-
Nein, um Mary müsste er sich Sorgen machen. Er schien das Chaos gewissermaßen anzuziehen, und hatte damit auch ein beachtliches Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Zumal er nicht mehr unsterblich war, und obwohl er immerhin gewillt war, mit seinem Leben etwas vorsichtiger umzugehen, schien er sich noch nicht ganz an diese Änderung gewöhnt zu haben. Ganz abgesehen davon, dass er sich in den letzten vierhundert Jahren anscheinend einige Feinde gemacht hatte.
Zusammenfassend waren das also keineswegs gute Bedingungen, und auch, wenn Mary körperlich immer noch stärker war als die meisten anderen Vampire, war es definitiv berechtigt, sich in dieser Situation Sorgen zu machen. Warum er diese Gedanken nicht einfach abschalten konnte, war eine andere Frage, und Maria wusste selbst, dass es keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken. Irgendwie wäre er verpflichtet, sich jetzt auf die Suche zu machen, und…
Ein leises Rascheln zog Marias Aufmerksamkeit auf sich und holte ihn in die Gegenwart zurück. Mit milder Überraschung hob er den Blick dorthin, wo das Geräusch gekommen war, um zwei schwarze Katzenohren auf dem Schrank ihm gegenüber zu sehen, und fast im gleichen Moment den Kopf, auf dem diese Kapuze lag, als Mary sich aufrichtete.
„Mary.“ Es war kein Vorwurf, der in Marias kühler Stimme lag, es war nicht einmal wirklich eine Frage; immerhin hatte er inzwischen zur Genüge gelernt, dass sich dieser Vampir manchmal einfach sonderbar verhielt.
„Oh, M-Maria…“ Mary richtete sich ein Stück höher auf, sodass Maria ihn jetzt besser sehen konnte, und rieb sich die Augen. „Du bist schon zurück?“
Maria blinzelte. Wie eine Katze. Er sprach diesen Gedanken nicht aus; stattdessen beschloss er, die Frage, die dieses Bild in ihm aufwarf, zu priorisieren, auch, wenn er inzwischen gelernt hatte, dass es keinen Sinn hatte, manche Verhaltensweisen dieses Vampirs zu hinterfragen. „Was machst du da oben?“
„Ich habe geschlafen“, antwortete Mary, als würde diese Tatsache irgendetwas an der Situation erklären. Wobei Maria allerdings auffiel, dass seine Stimme eine Spur zu unsicher klang, als dass er es auf die Müdigkeit hätte schieben können. „Ich wollte eigentlich herunterkommen, bis du wieder da bist…“ Seinen Worten zum Trotz machte er keine Anstalten, vom Schrank zu kommen.
Maria zog die Augenbrauen hoch. „Aha.“ Immerhin war es auch nicht so, als hätte er wirklich eine nützliche Antwort erwartet. „Und wann hattest-“ Er wurde von einem leisen Geräusch unterbrochen, das die Situation ein ganzes Stück besser erklärte, als Mary es hätte tun können. Diesem schien das ebenso bewusst zu sein, denn er duckte sich hastig tiefer. „Hast du Hunger?“ Ohne darüber nachzudenken begann er, die oberen Knöpfe seines Hemds zu öffnen. „Sag das doch gleich.“
Um fair zu sein, es war nicht so, als hätte Maria nicht gewusst, wozu eine solche Reaktion führen würde. Dafür war ihnen beiden dieses Szenario viel zu vertraut. Aber spätestens das Rascheln außerhalb seines Blickfelds sagte ihm, dass er vermutlich mehr darüber nachdenken hätte sollen, was er sagte und tat. Beginnend damit, Mary aus den Augen gelassen zu haben.
Maria seufzte und hob den Blick nach oben, nur, um zu sehen, dass Marys Gestalt von der Kante verschwunden war. Von seiner Perspektive aus konnte Maria nur noch die schwarzen Ohren an seiner Kapuze erkennen. Natürlich.
Von allen Vampiren auf dieser Welt hatte er wahrscheinlich den einzigen erwischt, der sich weigerte, sein Blut zu trinken. Damals war das teilweise schon lästig geworden, aber es war nicht schwer gewesen, seinen Widerstand zu brechen. Mary war ebenso viel daran gelegen, ihn am Leben zu halten wie Maria selbst, und seine Angst… hatte sich in Grenzen gehalten. Wenigstens insoweit, dass er seinem Verlangen nachgeben konnte, wenn Maria ihm lange genug die Möglichkeit bat.
Damals war Maria noch irgendwie froh darüber gewesen. Es hatte Mary wenigstens ein bisschen vertrauenswürdiger gemacht, in dem Sinne, dass er sich sonst vermutlich auf keinen Vampir eingelassen hätte.
Aber nach allem, was sie erlebt hatten, war die Frage, ob er Mary vertrauen konnte, vom Tisch. Vampir oder nicht, er kannte Mary, er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte- und dass er ihm nicht wehtun würde. Nun ja. Letzter Punkt brachte Konsequenzen mit sich, die Maria fast hinterfragen ließen, ob ein Mittelweg nicht die bessere Möglichkeit gewesen wäre.
„Mary“, wiederholte er, nicht viel lauter als zuvor, aber ein ganzes Stück eindringlicher. Auf dem Schrank raschelte es leise, als Mary sich bewegte, doch er schien weiterhin seinen strengen Abstand zur Kante einzuhalten.
Mit einem leisen Seufzen schloss Maria den Knopf seines Hemdes wieder und richtete den Kragen zurück in seine ursprüngliche Position. Dass fast im gleichen Moment, als er sich wieder abwandte, Marys Kopf wieder über der Kante erschien, trug nicht dazu bei, seine Frustration zu mindern. „Du weißt, dass du nicht mehr daran vorbeikommst, oder?“, knurrte er knapp, bevor er sich endgültig umdrehte und zur Tür hinüberging. „Oder willst du wieder sterben? Weil sich das auch so einrichten ließe.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, zog er den Rosenkranz unter seinem Hemd hervor. Vermutlich wusste Mary ohnehin, dass das eine leere Drohung war. Noch, wenigstens.
Hinter ihm ertönte ein leises Geräusch, als Mary wieder auf dem Boden landete, und dann Schritte, die fast lästig sorgfältig auf seinen eigenen Rhythmus abgestimmt waren. Für einige Sekunden lang fragte sich Maria, ob Mary das mit Absicht machte, schob den Gedanken aber zur Seite, bevor er zu einem Ergebnis kommen konnte. Das war doch lächerlich.
„N-nein“, antwortete Mary jetzt auf seine Frage von zuvor. Seine Stimme klang kläglich und erinnerte Maria fast an damals, nachdem er ihm zum ersten Mal begegnet war. Ich hab doch schon gesagt, ich will dein Blut nicht. Ich will von dir getötet werden! Na ja, wenigstens eines davon hatte sich geändert. „Vielleicht könnte ich…“ Seine Worte wurden zu einem undeutlichen Murmeln, von dem Maria das Gefühl hatte, dass es mehr an sich selbst gerichtet war als an ihn.
Er wusste nicht, was genau ihn dazu veranlasst hatte, nachzufragen. Eigentlich war das immerhin mehr, als er wissen wollte, und Marys Theater hatte ihn nicht wirklich in Stimmung für ein Gespräch gebracht. Abgesehen davon, dass er ein entferntes Gefühl hatte, es gar nicht so genau hören zu wollen. „Du könntest was?“
Marys Schritte wurden unregelmäßig, als er sein Tempo verlangsamte. Als Maria stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, hielt er ebenfalls an und sah ihn an wie eine Katze, der er auf den Schwanz getreten war. „Wenn ich vielleicht das Blut von jemand anderem…“
„Denk gar nicht erst daran.“ Maria unterbrach ihn, bevor er überhaupt zuordnen konnte, woher dieses brennende Stechen in seiner Brust, das Marys Vorschlag ausgelöst hatte, kam. Nicht, dass diese instinktive Reaktion keinen Sinn ergab. Immerhin wusste er selbst am besten, wie es sich anfühlte, ständig von Vampiren verfolgt zu werden, und so weit kümmerte er sich dann doch um das Wohlbefinden eines völlig Fremden.
Nein… ganz so einfach war das doch nicht.
Maria seufzte frustriert und schob diesen Gedanken zur Seite. Es sollte keinen Grund dafür geben, überhaupt darüber nachzudenken, aber wenn Mary involviert war, funktionierten die Dinge aus irgendeinem Grund nie so, wie sie sollten. Dieser Vampir sollte Verantwortung dafür übernehmen, wie kompliziert er die Sache machte, aber Maria musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass alles in Marys Blick ihm allemal sagte, dass er nichts davon verstand. Geschweige denn, den Willen hätte, etwas daran zu ändern.
Dann würde das heute eben ein freier Tag werden. Schon wieder.
Ein zweites Mal seufzte er angespannt und drehte sich um. Seit sie dieses neue Leben begonnen hatten, hatte sich einiges geändert, und das meiste war leichter geworden. Irgendwie, wenigstens. Nur, dass Marys Abneigung dagegen, sein Blut zu trinken, zu einer aufrichtigen Angst geworden war, war wirklich lästig.
Es war nicht einmal so, als könnte Maria ihn nicht verstehen, irgendwie. Immerhin hatte er sich für den Großteil seines Lebens in einer ähnlichen Situation befunden, und er kannte Mary allemal gut genug, um zu wissen, dass dieser auf ein solches Erlebnis mit Angst reagieren würde. Aber dieses Verständnis, das er ihm widerwillig zugestehen musste, änderte nichts daran, dass es anstrengend war, damit umzugehen. Maria wollte überhaupt nicht wissen, wie viele Stunden er schon verschwendet hatte, weil Mary sich dazu entschieden hatte, die Dinge unnötig kompliziert zu machen. Jedes Mal wieder.
Mary legte vorsichtig eine Hand auf seinen Arm, und eine Sekunde lang musste Maria sich beherrschen, sie nicht wegzuschlagen. Anscheinend musste er sich jedoch angespannt haben, oder Mary hatte seine Unruhe gespürt, denn er zuckte zurück. „Aber dann könnten wir…“
„Ich sagte, denk gar nicht erst daran“, wiederholte Maria scharf. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Mary zurückzuckte. „Meinetwegen stirb doch. Oder, du hörst auf, Theater zu machen, und trinkst einfach mein Blut.“
Mary quiekte auf. Mit drei Sprüngen war er zurück auf dem Schrank; zwar nah genug, dass Maria ihn noch ansehen konnte, aber doch mit genügend Abstand zur Kante. Er sagte nichts mehr, aber seine Lippen waren aufeinander gepresst und seine Augen immer noch ein Stück geweitet, und dieser Ausdruck gab Maria allemal genug Aufschluss darüber, wie ein potentielles Gespräch weitergehen würde.
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich der Tür zu. Dann eben so. So, wie es jetzt aussah, hatte es ohnehin keinen Sinn, mit Mary zu diskutieren, und er hatte nicht genug Energie, um sie mit diesem sturen Vampir zu verschwenden.
Hinter sich konnte er ein Rascheln hören, als Mary hastig zurück zur Kante rutschte- diesmal, ohne hinunterzuspringen- und eine knappe Sekunde später auch seine Stimme. „W-warte! Wo willst du denn hin? Maria!“
Seine Worte verstummten im gleichen Augenblick, in dem die Tür hinter Maria ins Schloss fiel.
Die Sonne war längst untergegangen, als Maria zu ihrem Zimmer zurückkehrte. Im Gang brannten nur einige Lampen, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten, und so kam die Dunkelheit, die ihn begrüßte, als er die Tür wieder öffnete, im ersten Moment überraschend für ihn. Kurz fragte er sich, ob Mary überhaupt noch hier war, bis er selbst das Licht anschaltete und einen Blick auf den Raum und Mary, der in der Zwischenzeit vom Schrank gekommen war, erhielt.
Richtig. So, wie er sich verhielt, konnte er manchmal vergessen, dass Mary immer noch ein Vampir war.
Mary hatte auf dem Bett gesessen, den Blick zum Fenster gerichtet, sprang aber im gleichen Augenblick auf, als Maria das Zimmer betrat. „Wo bist du gewesen?“ Trotz der Lautstärke und des Nachdrucks, der in seiner Stimme lag, konnte er anscheinend doch nicht ganz verhindern, dass sie zitterte, und als sie nur noch knappe drei Meter Entfernung trennten, begann er, bei jedem Schritt, den Maria noch in seine Richtung machte, ein Stück zurückzuweichen. „Ich dachte schon, du bist nach draußen gegangen! Dann hätte ich… ich…“ Er verstummte, Maria war sich nicht ganz sicher, ob er selbst nicht wusste, was er dann getan hätte, oder es einfach nicht aussprechen oder hören wollte.
Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Maria zog die Augenbrauen nach oben und setzte sich auf das Bett. „Vielleicht hätte ich das tun sollen“, überlegte er kühl, mehr, um Marys Reaktion zu sehen, als weil es wirklich zur Auswahl gestanden hätte. Auch, wenn er sich jetzt ohne Probleme selbst gegen die Vampire verteidigen könnte, fühlte es sich immer noch falsch an, nachts ohne Mary an seiner Seite nach draußen zu gehen. Mary schien das etwas anders zu gehen, oder er hatte einfach die Implikation hinter diesen Worten verstanden, denn er spannte sich sichtlich an. „Aber nein, bin ich nicht. Ich-“ Er unterbrach sich. „Willst du wirklich die ganze Zeit hier stehen bleiben?“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, rutschte er ein Stück zur Seite.
In seinen Augen lag eine Spur von Misstrauen, doch Mary setzte sich zögerlich neben ihn, immer noch auf einen gewissen Sicherheitsabstand achtend. „Wo bist du dann gewesen?“ Seine Stimme klang immerhin ein bisschen weniger unsicher als zuvor.
Maria seufzte. Anscheinend war er nicht der einzige, der es während ihrer gemeinsamen Zeit verlernt hatte, sich allein zu beschäftigen. „Ich habe mit Takumi telefoniert.“
Mary blinzelte. „Takumi?“, wiederholte er zögerlich, in seiner Stimme lag ein zweifelnder Unterton, den Maria besser nachvollziehen konnte, als es ihm angenehm gewesen wäre. Es wäre ihm auch lieber gewesen, seinen Freund nicht in die Sache mit einzubeziehen, zumal er Mary kannte und damit vermutlich nicht auf die Ausrede mit der Katze hereinfallen würde.
Nicht, dass Maria es nicht damit versucht hatte. Das Ergebnis war zwar leider wie erwartet ausgefallen, aber er hatte es Takumi immerhin ausreden können, selbst hierher zu kommen. Maria wurde den Verdacht nicht los, dass sein Freund auf so eine Gelegenheit gewartet hatte, seinem Enthusiasmus von zuvor nach zu urteilen, wenigstens. Warum, wusste er bei bestem Willen nicht.
„Egal.“ Maria seufzte angespannt, er war sich selbst nicht ganz sicher, ob diese Aussage an Mary oder ihn selbst gerichtet war. „Ich will etwas ausprobieren“, fuhr er fort, während er mit einer Hand die oberen Knöpfe seines Hemds öffnete. Seine freie Hand schloss sich fast in der gleichen Sekunde um Marys Handgelenk; offenbar berechtigterweise, denn er zuckte zurück.
„M-Maria?“ Marys Stimme wackelte, er rutschte so weit von Maria weg, wie es ihm möglich war, während dieser ihn immer noch festhielt. „Was wird das?“ Er versuchte nicht, sich loszureißen, obwohl sie beide vermutlich wussten, dass er es gekonnt hätte, hätte er es gewollt.
„Ich habe es doch schon gesagt“, meinte Maria kühl, seine Stimme klang vollkommen ruhig. „Ich will etwas ausprobieren. Komm her.“ Er zog Mary wieder zu sich; der Vampir ließ es immer noch geschehen, wenn Maria auch einen stärkeren Widerstand spürte als zuvor.
„Maria-“ Mary hörte sich an, als würde er noch etwas sagen wollen, sprach jedoch nicht weiter. Irgendetwas an seinem Blick gab Maria das Gefühl, dass seine Worte ohnehin nicht viel mehr Inhalt gehabt hätten.
Maria senkte den Blick. Entspannte den Arm, mit dem er Mary festhielt, ein Stück, ohne seinen Griff zu lockern. Dass es keinen Sinn hatte, mit seinem Partner zu diskutieren, hatte er inzwischen längst gelernt, und ein Streit würde zu keinem Ergebnis führen. Nein, Marias Möglichkeiten waren großteils eingeschränkt. „Mary.“ Mary brauchte ihn nicht, nicht mehr, und damit hatte es auch keinen Sinn, zu versuchen, ihn zu irgendetwas zu zwingen. Solange Mary es nicht selbst wollte, oder wenigstens glaubte, er wollte es selbst, wäre alles sinnlos. „Ich weiß, du hast keinen Grund, auf mich zu hören.“ Er spürte, wie Mary sich ein Stück mehr anspannte, sah ihn aber bewusst nicht an. „Du wirst mir einfach vertrauen müssen. Kannst du das tun?“
Mary sagte nichts mehr, doch so, wie Maria seinen Zustand einschätzte, kam das einer Bestätigung gleich. Diesmal wehrte er sich nicht mehr, als Maria ihn zu sich zog, doch er konnte spüren, dass er immer noch zitterte. Von ihrer neuen Position aus konnte er Marys Gesicht zwar nicht sehen, doch er wusste auch so, dass er die Lippen aufeinander gepresst hatte.
„Es ist alles gut“, murmelte Maria, so leise, dass Mary ihn vermutlich nicht einmal gehört hätte, wenn er auch nur ein Stück weiter von ihm entfernt gewesen wäre. „Mir geht es gut. Du musst keine Angst haben.“ Er führte Marys Hand, die er immer noch festhielt, an seine Brust, dort, wo sein Herz lag. „Kannst du meinen Herzschlag spüren? Es ist alles in Ordnung. Du kannst sofort aufhören, wenn du willst.“ Mary schien sich ein Stück zu entspannen, obwohl er so fest gegen Marias Brust drückte, dass dieser im ersten Moment fast das Gleichgewicht verlor. „Siehst du? Es ist alles gut.“ Er hätte niemals erwartet, sich je in einer Situation wie dieser zu finden. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Du willst doch nicht sterben, oder?“
Mary winselte erstickt auf, seine linke Hand klammerte sich an den Stoff von Marias Hemd, dort, wo er sie hingeführt hatte. Nur eine knappe Sekunde später spürte er den vertrauten Schmerz von Marys Fangzähnen an seinem Hals, und seine warmen Tränen, die von seinen Wangen auf ihn fielen und sich mit einzelnen Tropfen Blut aus der Wunde vermischten.
Maria wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis Mary von ihm zurückzuckte. Mit seiner freien Hand wischte er das Blut von seinem Mund, die andere immer noch gegen Marias Brust gepresst, wenn sich seine Finger auch langsam lösten. In seinen Augen schimmerten Tränen.
Langsam lehnte Maria sich zu ihm nach vorne. Marys Hand löste sich in dieser Bewegung von seiner Brust und fiel reglos an seine Seite, als würde sie überhaupt nicht zu seinem Körper gehören. „Siehst du? Es ist alles gut“, murmelte Maria leise und wischte mit einem Finger eine einzelne Träne von Marys Wange. „Das hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“ Seine Hand wanderte nach oben, strich Mary eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr ihm vorsichtig über den Kopf.
„Wa-“
Maria wusste nicht, welche Reaktion er erwartet hatte, aber es traf ihn doch etwas unvorbereitet, dass Mary zurückzuckte und dabei fast schon wieder gegen die Wand stieß. Seine Augen schimmerten, sein Gesicht war rot. Es war ein solcher Wandel von seinem Verhalten vor noch ein paar Sekunden, dass Maria ihm nicht folgte.
Nun ja. Das war immerhin eine Reaktion, wenn sich Maria auch nicht ganz sicher war, ob gut oder schlecht.
„Was war das?“ Marys Stimme zitterte ein wenig, was nicht zu Marias Verständnis der Situation beitrug.
Er blinzelte. „Ich sagte doch, ich will etwas ausprobieren“, wiederholte er ruhig. „Wenn du dich bei jemandem beschweren willst, tu es bei Takumi.“ Maria hatte selbst nicht ganz verstanden, wie sein Freund auf diese Idee gekommen war, aber er schien sehr zuversichtlich gewesen zu sein. Wenn es sich also als Unsinn herausstellen würde, könne er ihm das wenigstens vorhalten.
„N-nein, das…“ Mary blinzelte und fuhr sich mit einer Hand langsam über das Gesicht. Als würde ihm jetzt erst auffallen, wie rot er war, zuckte er hoch und ließ die Hand nur langsam wieder sinken. „W-“ Er murmelte etwas, das Maria nicht verstehen konnte, und erst nach einer Weile gelang es ihm wieder, klare Worte zu formen. Oder ein klares Wort, wenigstens. „Warum?“
„Weil ich auch keine Lust habe, dass wir uns jedes Mal Stunden damit aufhalten müssen“, kommentierte Maria kühl. Anscheinend erreichten diese Worte auch etwas in Mary, denn er zuckte zurück. „Damit tust du mir auch keinen Gefallen.“
Mary drehte den Kopf zur Seite. „Das ist nicht…“ Er beendete den Satz nicht, sah allerdings aus, als würde er sich in der Situation unwohl genug fühlen, dass Maria ungefähr darauf schließen konnte, was er hatte sagen wollen.
„Wenn du mich nicht mehr brauchst, kannst du verschwinden.“ Er versuchte sein bestes, sich nicht vorzustellen, was passieren würde, sollte Mary tatsächlich gehen. Aus irgendeinem Grund versetzte dieser Gedanke Maria einen Stich, und er war sich nicht sicher, ob er die Ursache dafür kennen wollte. Immerhin konnte er sich jetzt sehr gut selbst verteidigen. Er brauchte Mary nicht mehr, und Mary brauchte ihn nicht mehr, aber… „Aber ansonsten hat sich nichts geändert“, fuhr er fort, hauptsächlich, um seine eigenen Gedanken zu unterbrechen. „Und ich habe immer noch keine Lust darauf, dass du mich angreifst oder mir wegstirbst. Also?“
Mary presste die Lippen aufeinander, den Kopf immer noch von Maria weggedreht. Ein paar Sekunden lang schien er wirklich darüber nachzudenken, und Maria unterdrückte den Impuls, ihm die Entscheidung einfach abzunehmen. Auf die harte Tour, wenn er es gerne so haben wollte. Warum musste dieser Vampir so kompliziert sein? „Na gut“, murmelte er schließlich, den Blick weiterhin zur Seite gerichtet. „Ich werde es versuchen.“
Versuchen. Maria zog die Augenbrauen hoch. Wie vielversprechend sich dieser Entschluss zeigen würde, würde sich erst noch herausstellen. Aber wenn Mary wirklich vorhatte, in Zukunft besser zu kooperieren, hatten sie immerhin einen kleinen Schritt geschafft. Für die nächsten paar Tage, zumindest.
Oder weniger.
„Und, Maria…“ Marys Stimme unterbrach seine Überlegungen und er wandte sich wieder dem Vampir zu. Dieser sah ihn jetzt auch wieder an, seine roten Augen schimmerten schwach. „Kannst du das von vorhin noch einmal machen?“
Maria blinzelte. Ob er wirklich damit gerechnet hatte, dass Mary schon beim ersten Versuch auf seine Belohnung reagieren würde, wusste er nicht, aber ein wenig überraschte ihn dieses Ergebnis doch. Aber gut, das würde ihm eine ganze Reihe von zukünftigen Unannehmlichkeiten ersparen. „Nein.“
„Was?“ Ein zweites Mal zuckte Mary zurück, wenn auch, seinem Blick nach zu urteilen, diesmal aus anderen Gründen. Er schien nicht mit einer Ablehnung gerechnet zu haben; warum, war Maria vollkommen schleierhaft. „Warum nicht?“
Maria blinzelte. „Weil es eine Belohnung sein soll“, kommentierte er trocken. „Es wäre kontraproduktiv, wenn du danach fragen könntest.“
„D-dann-“ Mary schluckte, in seiner Stimme lag eine Entschlossenheit, die Maria schon eine Weile lang nicht mehr bei ihm gehört hatte. Es erinnerte ihn fast ein bisschen an früher, wenn er ihn gebeten hatte, ihn zu töten. Interessant. „Dann lass mich trinken!“
„Was? Nein!“
„Warum nicht?!“
„Willst du, dass ich sterbe?“ Maria seufzte angespannt und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. Was für eine Entwicklung. Anscheinend gab es für Mary hier nur ganz oder gar nicht, oder er hatte sich doch für eine falsche Belohnung entschieden. Zu viel Enthusiasmus konnte er auch nicht gebrauchen. „Wehe, du machst beim nächsten Mal wieder einen Aufstand.“
Mary blinzelte. „Du bist gemein“, beschwerte er sich. Seine Augen schimmerten. „Du weißt, dass…“ Er verstummte. Dabei wirkte er, als wüsste er selbst nicht, wie er den Satz beenden sollte, was Maria fast Lust machte, weiter nachzufragen.
Fast.
„Nächstes Mal“, wiederholte er stattdessen nur kühl. Irgendetwas gab ihm das Gefühl, dass Mary die Sache bis dahin sowieso vergessen hätte. Das klang erfahrungsgemäß nach ihm, wenigstens.
Im Moment allerdings schien Mary hinter seinem Vorsatz zu stehen, und das so überdramatisiert, dass Maria lachen musste, bevor er sich stoppen konnte. Der Vampir hatte sich von ihm weggedreht, die Arme verschränkt, und die Lippen in einer schmollenden Geste aufeinander gepresst, und Maria hatte nicht erwartet, ihn jemals so zu sehen, weil er ihm kein Blut geben wollte. Irgendwie war dieser Gedanke zufriedenstellend.
Mary allerdings schien seine ganz eigenen Prioritäten zu haben, denn auf Marias Lachen hin drehte er sich wieder zu ihm um. Der Rest seiner Gestik blieb gleich. „Das ist nicht lustig“, beschwerte er sich; seine Stimme passte zu seinem Ausdruck, und nahm seinen Worten ein wenig die Wirkung.
Maria zog die Augenbrauen hoch. „Du hast recht“, entgegnete er, wieder ernst. Mary blinzelte. „Denk einfach beim nächsten Mal daran und sei brav, ja?“ Bevor er Mary Zeit gab, zu reagieren, oder überhaupt sich selbst, um seine Handlungen zu erfassen, lehnte er sich näher und strich ihm vorsichtig die roten Haare aus dem Gesicht. „Gut gemacht“, murmelte er leise und berührte Marys Stirn flüchtig mit den Lippen.
Es vergingen keine zwei Sekunden, bis er wieder in seiner ursprünglichen Position saß, doch Mary starrte ihn an, als hätte er sein Leben verändert. Er sagte nichts; musste nichts sagen, sein Blick sprach Bände, und dabei sah er so überrascht und verwirrt aus, dass Maria nicht einmal dazu kam, seine eigenen Gefühle gerade zu reflektieren. Das hatte sein Partner ihm abgenommen, auf eine recht amüsante Weise.
Mit einem milden Lächeln wandte sich Maria wieder ab und stand vom Bett auf. Auch auf Marys aufgeregte Stimme hin drehte er sich nicht mehr um. „Maria! Was war das jetzt? Maria!“ Er wartete die Schritte des Vampirs ab, die ihm folgten, doch sie blieben aus. Anscheinend hatte er sich noch nicht genug gefangen, um so weit zu denken.
Maria gluckste leise. Er wusste nicht, ob Mary dieses Geräusch gehört hatte, aber es war ihm egal. Er durfte ruhig wissen, wie der aktuelle Stand der Dinge für sie beide aussah. Und dass diese seltsame Idee so gut funktionieren würde, hätte er auch nicht erwartet. Vielleicht könnte er das ja auch bei anderen Dingen ausprobieren. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.
Solange er etwas fand, das es wert wäre, es zu ändern. Ein Teil von Maria fand ein gewisses Interesse daran, nicht mehr um Marys Willen, sondern seiner selbst. Vielleicht konnte er irgendwie die Gefühle seines Partners nachvollziehen. Vielleicht gefiel ihm diese Art der Belohnung ja auch, ein bisschen wenigstens. Ein ganz kleines bisschen.
Es hätte ihn stören sollen, oder wenigstens irritieren. Immerhin hatte er den größten Teil seines Lebens allein gelebt, und es nie für nötig befunden, das zu ändern. Er kam gut so zurecht, wie es war.
Wenigstens so lange, bis dieser rothaarige Vampir aufgetaucht war und alles in seinem Leben auf den Kopf gestellt hatte. In diesem Sinne hätte es ihn vermutlich auch nicht überraschen dürfen, dass er sich irgendwann so sehr an dessen Anwesenheit gewöhnt hatte, dass es sich falsch anfühlte, wenn er fehlte. Die gewisse Ironie, die in diesen Gefühlen lag, erkannte Maria selbst, immerhin war Mary nur bei ihm geblieben, um von ihm getötet zu werden. Und immerhin hatte Maria das auch vorgehabt, eine Zeit lang, wenigstens.
Er hatte sich keine Gedanken mehr gemacht, was er getan hätte, wenn „Mary“ es nicht geschafft hätte. Dafür war er zu froh gewesen, dass es keinen Grund dazu gab.
Maria wusste, dass er es nicht mehr gewohnt war, allein zu sein. Sich nur um sich selbst kümmern zu müssen. Nicht in ein Hotelzimmer zu kommen und daran zu scheitern, ein ungutes Gefühl von Verwirrung und möglicherweise einer Spur Besorgnis zurückzudrängen, nur, weil niemand anderer hier war, während die Sonne vor dem Fenster immer weiter sank.
Nein, Maria hätte auf dieses spezifische Gefühl gut verzichten können, nur leider befand er sich im Moment in genau dieser Situation.
Seit sie Yokohama verlassen hatten, kam es häufiger vor, dass Mary tagsüber seine eigenen Wege ging, wenn auch nur für ein paar Stunden. Maria hatte nie das Gefühl gehabt, dass es ihn etwas anging, was sein Begleiter dann trieb, und Mary schien aus dieser Gleichgültigkeit gefolgert zu haben, dass er sich einfach nicht dafür interessierte. Erzählt hatte er ihm wenigstens nie, was er dann tat, und vereinzelt war es sogar vorgekommen, dass er losgezogen war, ohne Maria etwas davon zu sagen. Ob er das mit Absicht gemacht hatte oder einfach darauf vergessen, wusste er nicht.
Worauf er sich allerdings immer hatte verlassen können, war, dass Mary spätestens bei Einbruch der Dämmerung wieder hier war. Selbst, wenn sie nicht nach draußen gingen, wich er nachts nicht von Marias Seite, und diesem war das ebenfalls ganz recht. Um ihrer beider Willen.
Deswegen war es mehr als untypisch, um diese Uhrzeit in ein leeres Zimmer zurückzukehren, zumal er keine Stunde weggewesen war und Mary geschlafen hatte, als er ihn allein gelassen hatte. Maria verstand selbst nicht ganz, woher diese Nervosität kam. Er selbst musste sich immerhin keine Sorgen um sein eigenes Leben machen, und Mary-
Nein, um Mary müsste er sich Sorgen machen. Er schien das Chaos gewissermaßen anzuziehen, und hatte damit auch ein beachtliches Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Zumal er nicht mehr unsterblich war, und obwohl er immerhin gewillt war, mit seinem Leben etwas vorsichtiger umzugehen, schien er sich noch nicht ganz an diese Änderung gewöhnt zu haben. Ganz abgesehen davon, dass er sich in den letzten vierhundert Jahren anscheinend einige Feinde gemacht hatte.
Zusammenfassend waren das also keineswegs gute Bedingungen, und auch, wenn Mary körperlich immer noch stärker war als die meisten anderen Vampire, war es definitiv berechtigt, sich in dieser Situation Sorgen zu machen. Warum er diese Gedanken nicht einfach abschalten konnte, war eine andere Frage, und Maria wusste selbst, dass es keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken. Irgendwie wäre er verpflichtet, sich jetzt auf die Suche zu machen, und…
Ein leises Rascheln zog Marias Aufmerksamkeit auf sich und holte ihn in die Gegenwart zurück. Mit milder Überraschung hob er den Blick dorthin, wo das Geräusch gekommen war, um zwei schwarze Katzenohren auf dem Schrank ihm gegenüber zu sehen, und fast im gleichen Moment den Kopf, auf dem diese Kapuze lag, als Mary sich aufrichtete.
„Mary.“ Es war kein Vorwurf, der in Marias kühler Stimme lag, es war nicht einmal wirklich eine Frage; immerhin hatte er inzwischen zur Genüge gelernt, dass sich dieser Vampir manchmal einfach sonderbar verhielt.
„Oh, M-Maria…“ Mary richtete sich ein Stück höher auf, sodass Maria ihn jetzt besser sehen konnte, und rieb sich die Augen. „Du bist schon zurück?“
Maria blinzelte. Wie eine Katze. Er sprach diesen Gedanken nicht aus; stattdessen beschloss er, die Frage, die dieses Bild in ihm aufwarf, zu priorisieren, auch, wenn er inzwischen gelernt hatte, dass es keinen Sinn hatte, manche Verhaltensweisen dieses Vampirs zu hinterfragen. „Was machst du da oben?“
„Ich habe geschlafen“, antwortete Mary, als würde diese Tatsache irgendetwas an der Situation erklären. Wobei Maria allerdings auffiel, dass seine Stimme eine Spur zu unsicher klang, als dass er es auf die Müdigkeit hätte schieben können. „Ich wollte eigentlich herunterkommen, bis du wieder da bist…“ Seinen Worten zum Trotz machte er keine Anstalten, vom Schrank zu kommen.
Maria zog die Augenbrauen hoch. „Aha.“ Immerhin war es auch nicht so, als hätte er wirklich eine nützliche Antwort erwartet. „Und wann hattest-“ Er wurde von einem leisen Geräusch unterbrochen, das die Situation ein ganzes Stück besser erklärte, als Mary es hätte tun können. Diesem schien das ebenso bewusst zu sein, denn er duckte sich hastig tiefer. „Hast du Hunger?“ Ohne darüber nachzudenken begann er, die oberen Knöpfe seines Hemds zu öffnen. „Sag das doch gleich.“
Um fair zu sein, es war nicht so, als hätte Maria nicht gewusst, wozu eine solche Reaktion führen würde. Dafür war ihnen beiden dieses Szenario viel zu vertraut. Aber spätestens das Rascheln außerhalb seines Blickfelds sagte ihm, dass er vermutlich mehr darüber nachdenken hätte sollen, was er sagte und tat. Beginnend damit, Mary aus den Augen gelassen zu haben.
Maria seufzte und hob den Blick nach oben, nur, um zu sehen, dass Marys Gestalt von der Kante verschwunden war. Von seiner Perspektive aus konnte Maria nur noch die schwarzen Ohren an seiner Kapuze erkennen. Natürlich.
Von allen Vampiren auf dieser Welt hatte er wahrscheinlich den einzigen erwischt, der sich weigerte, sein Blut zu trinken. Damals war das teilweise schon lästig geworden, aber es war nicht schwer gewesen, seinen Widerstand zu brechen. Mary war ebenso viel daran gelegen, ihn am Leben zu halten wie Maria selbst, und seine Angst… hatte sich in Grenzen gehalten. Wenigstens insoweit, dass er seinem Verlangen nachgeben konnte, wenn Maria ihm lange genug die Möglichkeit bat.
Damals war Maria noch irgendwie froh darüber gewesen. Es hatte Mary wenigstens ein bisschen vertrauenswürdiger gemacht, in dem Sinne, dass er sich sonst vermutlich auf keinen Vampir eingelassen hätte.
Aber nach allem, was sie erlebt hatten, war die Frage, ob er Mary vertrauen konnte, vom Tisch. Vampir oder nicht, er kannte Mary, er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte- und dass er ihm nicht wehtun würde. Nun ja. Letzter Punkt brachte Konsequenzen mit sich, die Maria fast hinterfragen ließen, ob ein Mittelweg nicht die bessere Möglichkeit gewesen wäre.
„Mary“, wiederholte er, nicht viel lauter als zuvor, aber ein ganzes Stück eindringlicher. Auf dem Schrank raschelte es leise, als Mary sich bewegte, doch er schien weiterhin seinen strengen Abstand zur Kante einzuhalten.
Mit einem leisen Seufzen schloss Maria den Knopf seines Hemdes wieder und richtete den Kragen zurück in seine ursprüngliche Position. Dass fast im gleichen Moment, als er sich wieder abwandte, Marys Kopf wieder über der Kante erschien, trug nicht dazu bei, seine Frustration zu mindern. „Du weißt, dass du nicht mehr daran vorbeikommst, oder?“, knurrte er knapp, bevor er sich endgültig umdrehte und zur Tür hinüberging. „Oder willst du wieder sterben? Weil sich das auch so einrichten ließe.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, zog er den Rosenkranz unter seinem Hemd hervor. Vermutlich wusste Mary ohnehin, dass das eine leere Drohung war. Noch, wenigstens.
Hinter ihm ertönte ein leises Geräusch, als Mary wieder auf dem Boden landete, und dann Schritte, die fast lästig sorgfältig auf seinen eigenen Rhythmus abgestimmt waren. Für einige Sekunden lang fragte sich Maria, ob Mary das mit Absicht machte, schob den Gedanken aber zur Seite, bevor er zu einem Ergebnis kommen konnte. Das war doch lächerlich.
„N-nein“, antwortete Mary jetzt auf seine Frage von zuvor. Seine Stimme klang kläglich und erinnerte Maria fast an damals, nachdem er ihm zum ersten Mal begegnet war. Ich hab doch schon gesagt, ich will dein Blut nicht. Ich will von dir getötet werden! Na ja, wenigstens eines davon hatte sich geändert. „Vielleicht könnte ich…“ Seine Worte wurden zu einem undeutlichen Murmeln, von dem Maria das Gefühl hatte, dass es mehr an sich selbst gerichtet war als an ihn.
Er wusste nicht, was genau ihn dazu veranlasst hatte, nachzufragen. Eigentlich war das immerhin mehr, als er wissen wollte, und Marys Theater hatte ihn nicht wirklich in Stimmung für ein Gespräch gebracht. Abgesehen davon, dass er ein entferntes Gefühl hatte, es gar nicht so genau hören zu wollen. „Du könntest was?“
Marys Schritte wurden unregelmäßig, als er sein Tempo verlangsamte. Als Maria stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, hielt er ebenfalls an und sah ihn an wie eine Katze, der er auf den Schwanz getreten war. „Wenn ich vielleicht das Blut von jemand anderem…“
„Denk gar nicht erst daran.“ Maria unterbrach ihn, bevor er überhaupt zuordnen konnte, woher dieses brennende Stechen in seiner Brust, das Marys Vorschlag ausgelöst hatte, kam. Nicht, dass diese instinktive Reaktion keinen Sinn ergab. Immerhin wusste er selbst am besten, wie es sich anfühlte, ständig von Vampiren verfolgt zu werden, und so weit kümmerte er sich dann doch um das Wohlbefinden eines völlig Fremden.
Nein… ganz so einfach war das doch nicht.
Maria seufzte frustriert und schob diesen Gedanken zur Seite. Es sollte keinen Grund dafür geben, überhaupt darüber nachzudenken, aber wenn Mary involviert war, funktionierten die Dinge aus irgendeinem Grund nie so, wie sie sollten. Dieser Vampir sollte Verantwortung dafür übernehmen, wie kompliziert er die Sache machte, aber Maria musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass alles in Marys Blick ihm allemal sagte, dass er nichts davon verstand. Geschweige denn, den Willen hätte, etwas daran zu ändern.
Dann würde das heute eben ein freier Tag werden. Schon wieder.
Ein zweites Mal seufzte er angespannt und drehte sich um. Seit sie dieses neue Leben begonnen hatten, hatte sich einiges geändert, und das meiste war leichter geworden. Irgendwie, wenigstens. Nur, dass Marys Abneigung dagegen, sein Blut zu trinken, zu einer aufrichtigen Angst geworden war, war wirklich lästig.
Es war nicht einmal so, als könnte Maria ihn nicht verstehen, irgendwie. Immerhin hatte er sich für den Großteil seines Lebens in einer ähnlichen Situation befunden, und er kannte Mary allemal gut genug, um zu wissen, dass dieser auf ein solches Erlebnis mit Angst reagieren würde. Aber dieses Verständnis, das er ihm widerwillig zugestehen musste, änderte nichts daran, dass es anstrengend war, damit umzugehen. Maria wollte überhaupt nicht wissen, wie viele Stunden er schon verschwendet hatte, weil Mary sich dazu entschieden hatte, die Dinge unnötig kompliziert zu machen. Jedes Mal wieder.
Mary legte vorsichtig eine Hand auf seinen Arm, und eine Sekunde lang musste Maria sich beherrschen, sie nicht wegzuschlagen. Anscheinend musste er sich jedoch angespannt haben, oder Mary hatte seine Unruhe gespürt, denn er zuckte zurück. „Aber dann könnten wir…“
„Ich sagte, denk gar nicht erst daran“, wiederholte Maria scharf. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Mary zurückzuckte. „Meinetwegen stirb doch. Oder, du hörst auf, Theater zu machen, und trinkst einfach mein Blut.“
Mary quiekte auf. Mit drei Sprüngen war er zurück auf dem Schrank; zwar nah genug, dass Maria ihn noch ansehen konnte, aber doch mit genügend Abstand zur Kante. Er sagte nichts mehr, aber seine Lippen waren aufeinander gepresst und seine Augen immer noch ein Stück geweitet, und dieser Ausdruck gab Maria allemal genug Aufschluss darüber, wie ein potentielles Gespräch weitergehen würde.
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich der Tür zu. Dann eben so. So, wie es jetzt aussah, hatte es ohnehin keinen Sinn, mit Mary zu diskutieren, und er hatte nicht genug Energie, um sie mit diesem sturen Vampir zu verschwenden.
Hinter sich konnte er ein Rascheln hören, als Mary hastig zurück zur Kante rutschte- diesmal, ohne hinunterzuspringen- und eine knappe Sekunde später auch seine Stimme. „W-warte! Wo willst du denn hin? Maria!“
Seine Worte verstummten im gleichen Augenblick, in dem die Tür hinter Maria ins Schloss fiel.
•°•°•°•
Die Sonne war längst untergegangen, als Maria zu ihrem Zimmer zurückkehrte. Im Gang brannten nur einige Lampen, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten, und so kam die Dunkelheit, die ihn begrüßte, als er die Tür wieder öffnete, im ersten Moment überraschend für ihn. Kurz fragte er sich, ob Mary überhaupt noch hier war, bis er selbst das Licht anschaltete und einen Blick auf den Raum und Mary, der in der Zwischenzeit vom Schrank gekommen war, erhielt.
Richtig. So, wie er sich verhielt, konnte er manchmal vergessen, dass Mary immer noch ein Vampir war.
Mary hatte auf dem Bett gesessen, den Blick zum Fenster gerichtet, sprang aber im gleichen Augenblick auf, als Maria das Zimmer betrat. „Wo bist du gewesen?“ Trotz der Lautstärke und des Nachdrucks, der in seiner Stimme lag, konnte er anscheinend doch nicht ganz verhindern, dass sie zitterte, und als sie nur noch knappe drei Meter Entfernung trennten, begann er, bei jedem Schritt, den Maria noch in seine Richtung machte, ein Stück zurückzuweichen. „Ich dachte schon, du bist nach draußen gegangen! Dann hätte ich… ich…“ Er verstummte, Maria war sich nicht ganz sicher, ob er selbst nicht wusste, was er dann getan hätte, oder es einfach nicht aussprechen oder hören wollte.
Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Maria zog die Augenbrauen nach oben und setzte sich auf das Bett. „Vielleicht hätte ich das tun sollen“, überlegte er kühl, mehr, um Marys Reaktion zu sehen, als weil es wirklich zur Auswahl gestanden hätte. Auch, wenn er sich jetzt ohne Probleme selbst gegen die Vampire verteidigen könnte, fühlte es sich immer noch falsch an, nachts ohne Mary an seiner Seite nach draußen zu gehen. Mary schien das etwas anders zu gehen, oder er hatte einfach die Implikation hinter diesen Worten verstanden, denn er spannte sich sichtlich an. „Aber nein, bin ich nicht. Ich-“ Er unterbrach sich. „Willst du wirklich die ganze Zeit hier stehen bleiben?“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, rutschte er ein Stück zur Seite.
In seinen Augen lag eine Spur von Misstrauen, doch Mary setzte sich zögerlich neben ihn, immer noch auf einen gewissen Sicherheitsabstand achtend. „Wo bist du dann gewesen?“ Seine Stimme klang immerhin ein bisschen weniger unsicher als zuvor.
Maria seufzte. Anscheinend war er nicht der einzige, der es während ihrer gemeinsamen Zeit verlernt hatte, sich allein zu beschäftigen. „Ich habe mit Takumi telefoniert.“
Mary blinzelte. „Takumi?“, wiederholte er zögerlich, in seiner Stimme lag ein zweifelnder Unterton, den Maria besser nachvollziehen konnte, als es ihm angenehm gewesen wäre. Es wäre ihm auch lieber gewesen, seinen Freund nicht in die Sache mit einzubeziehen, zumal er Mary kannte und damit vermutlich nicht auf die Ausrede mit der Katze hereinfallen würde.
Nicht, dass Maria es nicht damit versucht hatte. Das Ergebnis war zwar leider wie erwartet ausgefallen, aber er hatte es Takumi immerhin ausreden können, selbst hierher zu kommen. Maria wurde den Verdacht nicht los, dass sein Freund auf so eine Gelegenheit gewartet hatte, seinem Enthusiasmus von zuvor nach zu urteilen, wenigstens. Warum, wusste er bei bestem Willen nicht.
„Egal.“ Maria seufzte angespannt, er war sich selbst nicht ganz sicher, ob diese Aussage an Mary oder ihn selbst gerichtet war. „Ich will etwas ausprobieren“, fuhr er fort, während er mit einer Hand die oberen Knöpfe seines Hemds öffnete. Seine freie Hand schloss sich fast in der gleichen Sekunde um Marys Handgelenk; offenbar berechtigterweise, denn er zuckte zurück.
„M-Maria?“ Marys Stimme wackelte, er rutschte so weit von Maria weg, wie es ihm möglich war, während dieser ihn immer noch festhielt. „Was wird das?“ Er versuchte nicht, sich loszureißen, obwohl sie beide vermutlich wussten, dass er es gekonnt hätte, hätte er es gewollt.
„Ich habe es doch schon gesagt“, meinte Maria kühl, seine Stimme klang vollkommen ruhig. „Ich will etwas ausprobieren. Komm her.“ Er zog Mary wieder zu sich; der Vampir ließ es immer noch geschehen, wenn Maria auch einen stärkeren Widerstand spürte als zuvor.
„Maria-“ Mary hörte sich an, als würde er noch etwas sagen wollen, sprach jedoch nicht weiter. Irgendetwas an seinem Blick gab Maria das Gefühl, dass seine Worte ohnehin nicht viel mehr Inhalt gehabt hätten.
Maria senkte den Blick. Entspannte den Arm, mit dem er Mary festhielt, ein Stück, ohne seinen Griff zu lockern. Dass es keinen Sinn hatte, mit seinem Partner zu diskutieren, hatte er inzwischen längst gelernt, und ein Streit würde zu keinem Ergebnis führen. Nein, Marias Möglichkeiten waren großteils eingeschränkt. „Mary.“ Mary brauchte ihn nicht, nicht mehr, und damit hatte es auch keinen Sinn, zu versuchen, ihn zu irgendetwas zu zwingen. Solange Mary es nicht selbst wollte, oder wenigstens glaubte, er wollte es selbst, wäre alles sinnlos. „Ich weiß, du hast keinen Grund, auf mich zu hören.“ Er spürte, wie Mary sich ein Stück mehr anspannte, sah ihn aber bewusst nicht an. „Du wirst mir einfach vertrauen müssen. Kannst du das tun?“
Mary sagte nichts mehr, doch so, wie Maria seinen Zustand einschätzte, kam das einer Bestätigung gleich. Diesmal wehrte er sich nicht mehr, als Maria ihn zu sich zog, doch er konnte spüren, dass er immer noch zitterte. Von ihrer neuen Position aus konnte er Marys Gesicht zwar nicht sehen, doch er wusste auch so, dass er die Lippen aufeinander gepresst hatte.
„Es ist alles gut“, murmelte Maria, so leise, dass Mary ihn vermutlich nicht einmal gehört hätte, wenn er auch nur ein Stück weiter von ihm entfernt gewesen wäre. „Mir geht es gut. Du musst keine Angst haben.“ Er führte Marys Hand, die er immer noch festhielt, an seine Brust, dort, wo sein Herz lag. „Kannst du meinen Herzschlag spüren? Es ist alles in Ordnung. Du kannst sofort aufhören, wenn du willst.“ Mary schien sich ein Stück zu entspannen, obwohl er so fest gegen Marias Brust drückte, dass dieser im ersten Moment fast das Gleichgewicht verlor. „Siehst du? Es ist alles gut.“ Er hätte niemals erwartet, sich je in einer Situation wie dieser zu finden. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Du willst doch nicht sterben, oder?“
Mary winselte erstickt auf, seine linke Hand klammerte sich an den Stoff von Marias Hemd, dort, wo er sie hingeführt hatte. Nur eine knappe Sekunde später spürte er den vertrauten Schmerz von Marys Fangzähnen an seinem Hals, und seine warmen Tränen, die von seinen Wangen auf ihn fielen und sich mit einzelnen Tropfen Blut aus der Wunde vermischten.
Maria wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis Mary von ihm zurückzuckte. Mit seiner freien Hand wischte er das Blut von seinem Mund, die andere immer noch gegen Marias Brust gepresst, wenn sich seine Finger auch langsam lösten. In seinen Augen schimmerten Tränen.
Langsam lehnte Maria sich zu ihm nach vorne. Marys Hand löste sich in dieser Bewegung von seiner Brust und fiel reglos an seine Seite, als würde sie überhaupt nicht zu seinem Körper gehören. „Siehst du? Es ist alles gut“, murmelte Maria leise und wischte mit einem Finger eine einzelne Träne von Marys Wange. „Das hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“ Seine Hand wanderte nach oben, strich Mary eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr ihm vorsichtig über den Kopf.
„Wa-“
Maria wusste nicht, welche Reaktion er erwartet hatte, aber es traf ihn doch etwas unvorbereitet, dass Mary zurückzuckte und dabei fast schon wieder gegen die Wand stieß. Seine Augen schimmerten, sein Gesicht war rot. Es war ein solcher Wandel von seinem Verhalten vor noch ein paar Sekunden, dass Maria ihm nicht folgte.
Nun ja. Das war immerhin eine Reaktion, wenn sich Maria auch nicht ganz sicher war, ob gut oder schlecht.
„Was war das?“ Marys Stimme zitterte ein wenig, was nicht zu Marias Verständnis der Situation beitrug.
Er blinzelte. „Ich sagte doch, ich will etwas ausprobieren“, wiederholte er ruhig. „Wenn du dich bei jemandem beschweren willst, tu es bei Takumi.“ Maria hatte selbst nicht ganz verstanden, wie sein Freund auf diese Idee gekommen war, aber er schien sehr zuversichtlich gewesen zu sein. Wenn es sich also als Unsinn herausstellen würde, könne er ihm das wenigstens vorhalten.
„N-nein, das…“ Mary blinzelte und fuhr sich mit einer Hand langsam über das Gesicht. Als würde ihm jetzt erst auffallen, wie rot er war, zuckte er hoch und ließ die Hand nur langsam wieder sinken. „W-“ Er murmelte etwas, das Maria nicht verstehen konnte, und erst nach einer Weile gelang es ihm wieder, klare Worte zu formen. Oder ein klares Wort, wenigstens. „Warum?“
„Weil ich auch keine Lust habe, dass wir uns jedes Mal Stunden damit aufhalten müssen“, kommentierte Maria kühl. Anscheinend erreichten diese Worte auch etwas in Mary, denn er zuckte zurück. „Damit tust du mir auch keinen Gefallen.“
Mary drehte den Kopf zur Seite. „Das ist nicht…“ Er beendete den Satz nicht, sah allerdings aus, als würde er sich in der Situation unwohl genug fühlen, dass Maria ungefähr darauf schließen konnte, was er hatte sagen wollen.
„Wenn du mich nicht mehr brauchst, kannst du verschwinden.“ Er versuchte sein bestes, sich nicht vorzustellen, was passieren würde, sollte Mary tatsächlich gehen. Aus irgendeinem Grund versetzte dieser Gedanke Maria einen Stich, und er war sich nicht sicher, ob er die Ursache dafür kennen wollte. Immerhin konnte er sich jetzt sehr gut selbst verteidigen. Er brauchte Mary nicht mehr, und Mary brauchte ihn nicht mehr, aber… „Aber ansonsten hat sich nichts geändert“, fuhr er fort, hauptsächlich, um seine eigenen Gedanken zu unterbrechen. „Und ich habe immer noch keine Lust darauf, dass du mich angreifst oder mir wegstirbst. Also?“
Mary presste die Lippen aufeinander, den Kopf immer noch von Maria weggedreht. Ein paar Sekunden lang schien er wirklich darüber nachzudenken, und Maria unterdrückte den Impuls, ihm die Entscheidung einfach abzunehmen. Auf die harte Tour, wenn er es gerne so haben wollte. Warum musste dieser Vampir so kompliziert sein? „Na gut“, murmelte er schließlich, den Blick weiterhin zur Seite gerichtet. „Ich werde es versuchen.“
Versuchen. Maria zog die Augenbrauen hoch. Wie vielversprechend sich dieser Entschluss zeigen würde, würde sich erst noch herausstellen. Aber wenn Mary wirklich vorhatte, in Zukunft besser zu kooperieren, hatten sie immerhin einen kleinen Schritt geschafft. Für die nächsten paar Tage, zumindest.
Oder weniger.
„Und, Maria…“ Marys Stimme unterbrach seine Überlegungen und er wandte sich wieder dem Vampir zu. Dieser sah ihn jetzt auch wieder an, seine roten Augen schimmerten schwach. „Kannst du das von vorhin noch einmal machen?“
Maria blinzelte. Ob er wirklich damit gerechnet hatte, dass Mary schon beim ersten Versuch auf seine Belohnung reagieren würde, wusste er nicht, aber ein wenig überraschte ihn dieses Ergebnis doch. Aber gut, das würde ihm eine ganze Reihe von zukünftigen Unannehmlichkeiten ersparen. „Nein.“
„Was?“ Ein zweites Mal zuckte Mary zurück, wenn auch, seinem Blick nach zu urteilen, diesmal aus anderen Gründen. Er schien nicht mit einer Ablehnung gerechnet zu haben; warum, war Maria vollkommen schleierhaft. „Warum nicht?“
Maria blinzelte. „Weil es eine Belohnung sein soll“, kommentierte er trocken. „Es wäre kontraproduktiv, wenn du danach fragen könntest.“
„D-dann-“ Mary schluckte, in seiner Stimme lag eine Entschlossenheit, die Maria schon eine Weile lang nicht mehr bei ihm gehört hatte. Es erinnerte ihn fast ein bisschen an früher, wenn er ihn gebeten hatte, ihn zu töten. Interessant. „Dann lass mich trinken!“
„Was? Nein!“
„Warum nicht?!“
„Willst du, dass ich sterbe?“ Maria seufzte angespannt und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. Was für eine Entwicklung. Anscheinend gab es für Mary hier nur ganz oder gar nicht, oder er hatte sich doch für eine falsche Belohnung entschieden. Zu viel Enthusiasmus konnte er auch nicht gebrauchen. „Wehe, du machst beim nächsten Mal wieder einen Aufstand.“
Mary blinzelte. „Du bist gemein“, beschwerte er sich. Seine Augen schimmerten. „Du weißt, dass…“ Er verstummte. Dabei wirkte er, als wüsste er selbst nicht, wie er den Satz beenden sollte, was Maria fast Lust machte, weiter nachzufragen.
Fast.
„Nächstes Mal“, wiederholte er stattdessen nur kühl. Irgendetwas gab ihm das Gefühl, dass Mary die Sache bis dahin sowieso vergessen hätte. Das klang erfahrungsgemäß nach ihm, wenigstens.
Im Moment allerdings schien Mary hinter seinem Vorsatz zu stehen, und das so überdramatisiert, dass Maria lachen musste, bevor er sich stoppen konnte. Der Vampir hatte sich von ihm weggedreht, die Arme verschränkt, und die Lippen in einer schmollenden Geste aufeinander gepresst, und Maria hatte nicht erwartet, ihn jemals so zu sehen, weil er ihm kein Blut geben wollte. Irgendwie war dieser Gedanke zufriedenstellend.
Mary allerdings schien seine ganz eigenen Prioritäten zu haben, denn auf Marias Lachen hin drehte er sich wieder zu ihm um. Der Rest seiner Gestik blieb gleich. „Das ist nicht lustig“, beschwerte er sich; seine Stimme passte zu seinem Ausdruck, und nahm seinen Worten ein wenig die Wirkung.
Maria zog die Augenbrauen hoch. „Du hast recht“, entgegnete er, wieder ernst. Mary blinzelte. „Denk einfach beim nächsten Mal daran und sei brav, ja?“ Bevor er Mary Zeit gab, zu reagieren, oder überhaupt sich selbst, um seine Handlungen zu erfassen, lehnte er sich näher und strich ihm vorsichtig die roten Haare aus dem Gesicht. „Gut gemacht“, murmelte er leise und berührte Marys Stirn flüchtig mit den Lippen.
Es vergingen keine zwei Sekunden, bis er wieder in seiner ursprünglichen Position saß, doch Mary starrte ihn an, als hätte er sein Leben verändert. Er sagte nichts; musste nichts sagen, sein Blick sprach Bände, und dabei sah er so überrascht und verwirrt aus, dass Maria nicht einmal dazu kam, seine eigenen Gefühle gerade zu reflektieren. Das hatte sein Partner ihm abgenommen, auf eine recht amüsante Weise.
Mit einem milden Lächeln wandte sich Maria wieder ab und stand vom Bett auf. Auch auf Marys aufgeregte Stimme hin drehte er sich nicht mehr um. „Maria! Was war das jetzt? Maria!“ Er wartete die Schritte des Vampirs ab, die ihm folgten, doch sie blieben aus. Anscheinend hatte er sich noch nicht genug gefangen, um so weit zu denken.
Maria gluckste leise. Er wusste nicht, ob Mary dieses Geräusch gehört hatte, aber es war ihm egal. Er durfte ruhig wissen, wie der aktuelle Stand der Dinge für sie beide aussah. Und dass diese seltsame Idee so gut funktionieren würde, hätte er auch nicht erwartet. Vielleicht könnte er das ja auch bei anderen Dingen ausprobieren. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.
Solange er etwas fand, das es wert wäre, es zu ändern. Ein Teil von Maria fand ein gewisses Interesse daran, nicht mehr um Marys Willen, sondern seiner selbst. Vielleicht konnte er irgendwie die Gefühle seines Partners nachvollziehen. Vielleicht gefiel ihm diese Art der Belohnung ja auch, ein bisschen wenigstens. Ein ganz kleines bisschen.