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Ritual

Kurzbeschreibung
OneshotRomance, Freundschaft / P12 / MaleSlash
Blair Sandburg James Ellison
18.09.2021
18.09.2021
1
5.525
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18.09.2021 5.525
 
Kommentar
... okay, ich bin offenbar doch noch nicht fertig mit den beiden. ;)

Es gelten SPOILER für das Staffelfinale der 3. Staffel und die erste Folge der 4. Staffel: "Sentinel Too" (Part 1 & 2)
Schade, dass die Serie den Sentinel-Mythos immer recht vage gehalten hat, ich hätte gerne gesehen, wie sie das Universum weiter aufbauen und auch mehr auf Menschen wie Blair, also Guides, eingehen.
Das Ritual und das ganze Drumherum ist auf meinem Mist gewachsen, der Rest gehört zur Serie. Viel Spaß beim Lesen! :)




Ritual


Es begann kurz nach ihrer Rückkehr aus Peru.
Alex Barnes war in eine Institution für Schwerkriminelle nach Seattle verlegt worden und mit ihr verschwanden nicht nur die Visionen von ihrem Jaguar, sondern auch die seltsame Verbindung, die zwischen ihr und Jim geherrscht hatte. Offenbar durfte es nicht mehr als einen Sentinel in einem Umkreis von hundert Meilen geben, damit seine Sinne nicht verrücktspielten.
Und es war ein Umstand, den Jim begrüßte. Alex hatte ihn zu einer Person gemacht, die er selbst kaum wiedererkannt hatte, und es war ihm noch immer zutiefst unangenehm, wie sehr er in ihrer Nähe die Kontrolle über sich und seine Gefühle verloren hatte. Ganz zu schweigen von den unverzeihlichen Dingen, die er ihretwegen Blair angetan hatte, und die sie fast ihre Freundschaft – und Blair das Leben – gekostet hatte.
Doch nun war wieder Normalität eingekehrt. Sein Partner war zurück in die Loft gezogen und nach einer unbeholfenen, aber von Herzen kommenden Entschuldigung von Jim sowie ein paar holprigen, ersten Tagen konnten sie sich langsam wieder in die Augen sehen.
Man hätte fast meinen können, dass alles wie beim Alten war.
Aber auch nur fast.
Denn seit ein paar Tagen konnte Jim einen Herzschlag hören, der nicht der seine war, und es irritierte ihn über alle Maßen.
Oh, er konnte ihn selbstverständlich ausblenden, so wie all seine anderen Sinne auch, wenn es die Situation erforderte. Aber sobald er seinen Hörsinn wieder vollständig öffnete, war auch der Herzschlag wieder da. Mal schneller und mal gemächlicher, doch er war stets präsent.
Und er verfolgte ihn überallhin: ins Bett, auf die Arbeit, beim Einkaufen – selbst auf seinen gelegentlichen Dates ließ er ihm keine Ruhe.
Das Frustrierendste war jedoch, dass er seine Quelle nicht lokalisieren konnte. Das konstante Pochen hatte stets dieselbe Lautstärke, so als würde  sich der Besitzer des aufdringlichen Herzschlags direkt neben Jim befinden.
Und es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, seine Irritation zu verbergen.

„Jim!“, rief jemand direkt neben ihm. „Ellison! Verdammt, was ist los?“
Jim blinzelte und erwachte aus seiner Starre.
Er saß an seinem Schreibtisch auf dem Revier und hatte sich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen von dem beruhigenden Klopfen des fremden Herzschlags einlullen lassen. Bisher war er dabei immer nur für wenige Minuten abwesend gewesen, doch dieses Mal hatte seine Starre offenbar lange genug angedauert, dass auch sein Vorgesetzter es mitbekommen hatte.
„Simon“, erwiderte er ruhig und hob den Blick, um in die besorgte Miene seines Captains zu sehen. „Was gibt es?“
Simon runzelte die Stirn, als konnte er nicht glauben, dass Jim ihm tatsächlich diese Frage stellte, und deutete dann mit dem Daumen über seine Schulter.
„Mein Büro. Sofort!“
Seufzend erhob sich Jim von seinem Stuhl und folgte Simon.
Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als der andere Mann auch schon seine Tirade begann.
„Was zur Hölle stimmt nicht mit dir, Jim?“, fragte er. „So abwesend und unkonzentriert wie in den letzten paar Tagen habe ich dich selten erlebt. Ist etwas passiert?“
Jim biss die Zähne zusammen. Simon war nicht nur sein Captain, er war auch sein Freund, und wenn jemand die Wahrheit verdient hatte, dann er. Allerdings hatte er keine Ahnung, wo er anfangen sollte.
„So könnte man das sagen, ja“, erwiderte er ausweichend. „Es gibt im Moment ein paar Dinge, die mich beschäftigen.“
Simon rieb sich die Nasenwurzel.
„Ist es ein Sentinel-Ding?“, kam er ohne Umschweife direkt auf das Problem zu sprechen. „Hat es mit Alex Barnes zu tun?“
Am Anfang hatte Jim diese Möglichkeit in Betracht gezogen, doch er hatte sie sofort wieder verworfen. Er wusste, nein, er spürte, dass es keine Verbindung mehr zwischen Alex und ihm gab. Selbst wenn sie sich noch einmal begegnen sollten – diese Art von gegenseitigem Verstehen, dieses sich-zueinander-hingezogen-Fühlen... sie würden nie wieder dorthin zurückkehren.
„Alex hat damit nichts zu tun“, antwortete Jim schließlich. „Aber ja, es hat mit meinen Sentinel-Sinnen zu tun, und ich versuche bereits, dieser Sache Herr zu werden.“
Simon murmelte einen unverständlichen Fluch vor sich hin.
„Na schön“, sagte er schließlich. „Hast du mit Sandburg darüber gesprochen? Immerhin ist genau das der Grund, weshalb er bei uns ist und dir überallhin folgt.“
Jim sah aus dem Fenster. „Noch nicht, Sir.“
„Dann hoffe ich, dass du es schnellstmöglich tust“, entgegnete Simon mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Ich brauche einen Detective, der sich auf seine Aufgaben konzentrieren kann, und nicht regelmäßig ins Wunderland verschwindet.“
Jim gab keine Antwort, sondern nickte nur knapp.
Simon seufzte.
„Red einfach mit Sandburg, okay?“, wiederholte er mit etwas versöhnlicherer Stimme. „Der Junge macht einen guten Job und bisher konnte er dir immer helfen.“
Er machte eine auffordernde Geste. „Und jetzt zurück an die Arbeit.“
Jim stand auf und wandte sich zum Gehen. „Jawohl, Sir.“
Und damit fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

An den meisten Tagen konnte Jim den Herzschlag gut ignorieren, auch wenn er nie ganz verschwand. Doch an manchen Tagen war das pausenlose Pochen so penetrant, dass er Kopfschmerzen davon bekam.
So auch am nächsten Tag, dem dritten Samstag nach ihrer Rückkehr aus Peru.
Schon seit dem Aufstehen spürte Jim ein unangenehmes Stechen hinter der Stirn und es nahm im Laufe des Vormittags nur weiter zu.
Blair, der von Notizen und Büchern umgeben am Tisch saß und bereits den zweiten Tag in Folge an einem Artikel für eine anthropologische Fachzeitschrift arbeitete, warf Jim einen besorgten Blick zu, als er zum wiederholten Mal in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen.
„Ich kann dir was gegen die Kopfschmerzen geben, wenn du willst“, bot er an, als Jim sich gegen die Küchenzeile lehnte und mit geschlossenen Augen das kühle Glas an seine Stirn presste. „Hundert Prozent pflanzlich und natürlich, versteht sich.“
„Sind die Kopfschmerzen so offensichtlich?“, fragte Jim, ohne die Augen zu öffnen.
Er hatte es bisher vermieden, mit Blair über den Herzschlag zu sprechen, der ihn verfolgte, denn das würde nur in weiteren Testreihen resultieren und dafür hatte Jim im Moment keine Nerven. Doch wenn es so weiterging, würde er sich früher oder später tatsächlich an ihn wenden müssen, allein schon, weil Simon ihm sonst den Kopf abriss. Sein Freund hatte bisher fast immer eine Lösung für seine Sentinel-Probleme gefunden und er würde vielleicht auch dieses Mal eines finden.
Aber noch war Jim nicht verzweifelt genug dafür.
„Jim, du machst schon seit Stunden ein Gesicht, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was los ist“, erwiderte Blair mit einiger Verzögerung.
Jim stellte seufzend sein Glas beiseite und rieb sich die Schläfen. Blair hatte Recht. Er quälte sich schon zu lange mit den Kopfschmerzen herum.
„Na schön“, sagte er. Und fügte, weil er nicht widerstehen konnte, mit trockener Stimme hinzu: „Bitte hilf mir, oh großer Schamane, du bist meine letzte Hoffnung.“
Blair sah ihn überrascht an, dann lachte er auf und erhob sich, um in sein Zimmer zu gehen.
Jim sah kurz mit an, wie er in seinem Schrank herumwühlte, und setzte sich dann an den Tisch. Dort wartete er, den Kopf in die Hände gestützt, bis der andere Mann zurückgekehrt war und eine kleine runde Metalldose vor ihm auf die Tischplatte stellte.
„Ich habe sie von einem Volk in Papua-Neuguinea, das total auf diese Paste schwört“, erklärte Blair, während Jim die Dose aufschraubte und skeptisch an ihrem giftgrünen Inhalt roch. „Du musst einfach nur eine Messerspitze davon schlucken und nach einer Viertelstunde sollte sich die Wirkung entfalten.“
Jim befolgte Blairs Anweisung – was hatte er auch schon zu verlieren? – und setzte sich dann auf die Couch und lehnte sich zurück, während er darauf wartete, dass die Kopfschmerzen nachließen. In der Zwischenzeit hantierte Blair in der Küche mit Tellern und Pfannen und begann, das Mittagessen zuzubereiten.
Jims Geruchssinn identifizierte Salat, Tomaten, Hackfleisch und Weißbrot.
„Burger, Chief?“, fragte er. „Für mich?“
„Hey, es ist das mindeste, was ich für dich an diesem verkorksten Tag tun kann, Mann“, erwiderte Blair fröhlich, während er das Fleisch anbriet. „Außerdem sahst du hungrig aus.“
Jim hatte in der Tat Hunger auf Burger, aber er wusste auch, dass er nicht zu den Leuten gehörte, denen man einen leeren Magen ansehen konnte.
Doch jetzt, wo er Zeit hatte, darüber nachzudenken, fiel ihm plötzlich auf, dass Blair in den letzten zwei Wochen überdurchschnittlich häufig auf seine Bedürfnisse eingegangen war, ohne dass Jim auch nur ein Wort hatte sagen müssen. Fast als könnte er seine Gedanken lesen.
Blair hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, wenn Jim sich nach Ruhe sehnte, er hatte ihm Kaffee mitgebracht, wenn er schlecht oder zu wenig geschlafen hatte und während seiner Schicht die ersten Müdigkeitssymptome spürte, und er hatte sich zu ihm auf die Couch gesetzt und den Sportsender angemacht, wann immer er das Bedürfnis nach Gesellschaft hatte.
Da Blair schon immer aufmerksam und empathisch gewesen war und sie sich nach dem Drama mit Alex beide verstärkt um einen Wiederaufbau ihrer Beziehung bemüht hatten, hatte Jim sich anfangs nicht viel dabei gedacht. Doch mittlerweile häuften sich die Zufälle zu sehr, als dass er sie länger ignorieren konnte.
Als sie zwanzig Minuten später gemeinsam am Tisch saßen und ihre Burger aßen, beschloss Jim, das Thema vorsichtig anzusprechen.
„Danke für die Medizin“, sagte er. „Das Schlimmste ist überstanden, denke ich.“
Blairs blaue Augen leuchteten auf.
„Hey, kein Problem, Mann. Freut mich, dass ich dir helfen konnte.“
„Und danke auch für das Essen“, fuhr Jim fort. „Auch wenn ich mir nicht erklären kann, woher du wusstest, worauf ich Hunger habe. Geschweige denn, dass ich Hunger habe.“
Blair senkte den Blick und sah auf seinen Teller, als hätte Jim ihn auf frischer Tat ertappt.
„Tja, nun, ich kenne dich halt einfach sehr gut“, murmelte er.
„Blair.“
Es kam selten genug vor, dass Jim ihn beim Vornamen ansprach, und Blair hob vorsichtig den Blick.
„Was ist los?“, fragte Jim und sah ihn durchdringend an. „Was verschweigst du mir?“
Blair gab keine Antwort und erwiderte nur unsicher seinen Blick, doch dafür pochte der fremde Herzschlag in Jims Ohren plötzlich lauter und schneller als je zuvor.
Und Jim fand endlich die Antwort auf eine gänzlich andere Frage.
„Gib mir deine Hand, Sandburg“, sagte er und hielt ihm auffordernd seine eigene Hand hin.
Sein Freund sah ihn verwundert an. „Jim, was...?“
„Vertrau mir einfach, okay?“, unterbrach ihn Jim leise.
Blair blinzelte kurz, doch dann streckte er die Hand aus und legte sie in die von Jim.
Der Herzschlag begann zu rasen.
Und Jim fragte sich plötzlich, wie er so blind hatte sein können, als seine Fingerkuppen über die Innenseite von Blairs Handgelenk wanderten und denselben Herzschlag spürten, der ihn schon seit Wochen begleitete.
Andererseits – wieso hätte er Blair auch als Ursprung des Pochens verdächtigen sollen? Sie waren seit Peru schon oft getrennt unterwegs gewesen. Jim hatte auf dem Polizeirevier mehrere kleinere Fälle allein erledigt, während Blair in der Universität alle Aufgaben abgearbeitet hatte, die sich während ihrer Zeit in Südamerika angesammelt hatten. Außerdem respektierte Jim die Privatsphäre seines Partners und hatte es sich bereits zu Beginn ihrer Freundschaft zur Grundregel gemacht, seinen Herzschlag nicht zu überwachen.
Der Vorfall mit Alex und dem Springbrunnen war bisher die einzige Ausnahme gewesen.
„Was ist los, Jim?“, hörte er Blair fragen, und das offenbar nicht zum ersten Mal, dem panischen Unterton in seiner Stimme nach zu schließen.
Verdammt. Jim schüttelte den Kopf. Er musste den Rest der Welt schon wieder komplett ausgeblendet haben.
Doch anstatt Blair zu erklären, was er herausgefunden hatte, beschloss er, seine Erkenntnis für den Moment für sich zu behalten.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, erwiderte er und ließ Blair wieder los. „Sag mir, was dich beschäftigt, und ich erzähle dir, was ich entdeckt habe.“
Blair schob seinen Teller beiseite und fuhr sich frustriert mit einer Hand durch seine langen Locken.
„Du zwingst mich wirklich, es auszusprechen, was?“, klagte er.
Jim schenkte ihm ein Lächeln. „Du hast es erfasst.“
Blair seufzte. „Du wirst mich für verrückt erklären, wenn ich es dir sage...“
„Leg mir keine Worte in den Mund, Sandburg“, entgegnete Jim stirnrunzelnd. „Ich werde mir meine Meinung erst bilden, wenn ich alle Fakten gehört habe.“
„... okay, okay.“ Blair hob kapitulierend die Hände.
Dann nahm er einen Schluck von seinem Bier und lehnte sich zurück.
„Seit der...“ Er räusperte sich. „Seit der Sache mit Alex kann ich deine Stimmungen spüren.“
Jim starrte ihn an. „Bitte was?!“
Blair verdrehte die Augen. „Siehst du, ich wusste, dass du mir nicht glauben würdest. Darum wollte ich es dir auch nicht–“
„Wann?“, unterbrach ihn Jim jedoch nur.
Blair zog die Augenbrauen hoch.
„Wann was?“, fragte er.
„Wann hast du gemerkt, dass du... diese Dinge spüren kannst?“
Blair dachte kurz nach.
„Im Krankenhaus“, erwiderte er dann leise. „Als du neben mir am Bett gestanden hast, wurde ich plötzlich von Gefühlen überwältigt, von denen ich erst später erkannt habe, dass sie in diesem Moment nicht meine eigenen waren. Die Freude und Erleichterung waren das eine, da ging es uns beiden sehr ähnlich. Aber nicht die tiefen Schuldgefühle – und erst recht nicht das Gefühl, fast meinen besten Freund verloren zu haben...“
Plötzlich ergaben all die kleinen, seltsamen Momente in den letzten Wochen einen Sinn.
„Warum hast du bisher nichts gesagt?“, fragte Jim mit rauer Stimme.
„Was hätte ich sagen sollen?“, entgegnete Blair hilflos. „Ich dachte, ich verliere den Verstand, Jim! Egal, wo ich war, und egal, wie weit wir voneinander entfernt waren, ich wusste jederzeit, wie es dir ging! Ich halte mich emotional eigentlich für ziemlich stabil, aber das hat mir auf Dauer echt zu schaffen gemacht, Mann. Ganz davon abgesehen, dass diese neue ‚Fähigkeit‘ eine massive Grenzüberschreitung ist und ich genau weiß, was du davon hältst, wenn jemand deine Privatsphäre nicht respektiert!“
„Es ist nicht so, als hättest du dir diese Fähigkeit ausgesucht, Sandburg“, beschwichtigte ihn Jim. „Glaub mir, ich weiß, wie es ist, in so einer Position zu sein.“
„Das mag sein, aber das macht es nicht besser.“ Blair seufzte. „Ich habe in den letzten zwei Wochen alle Beruhigungs- und Atemtechniken angewandt, die ich auch dir immer empfohlen habe, wenn deine Sinne verrückt gespielt haben, und nichts davon hat funktioniert. Ich kann es nicht abschalten.“
Er vergrub die Hände in seinen Haaren. „Ich mag dich, Mann, ich mag dich wirklich. Aber das wird selbst mir langsam zu viel.“
Jim sah ihn wortlos an. Diese ganze Situation war so absurd, dass ihm plötzlich zum Lachen zumute war.
Und Blair schien dies deutlich zu spüren, denn er erwiderte entgeistert seinen Blick.
„Was bitte ist so lustig daran?“
Falls Jim am Wahrheitsgehalt seiner Geschichte gezweifelt hatte, hatte er spätestens damit den Beweis.
„Nichts“, erwiderte er und schüttelte den Kopf. „Nichts daran ist lustig. Ganz im Gegenteil, nach dem, was mir selbst in den letzten Wochen widerfahren ist, hätte ich mit so etwas rechnen sollen...“
Die blauen Augen seines Freundes musterten ihn aufmerksam.
„Was meinst du?“, fragte er. „Was ist dir widerfahren?“
„Ich kann deinen Herzschlag hören, Chief“, sagte Jim nüchtern. „Egal, wie weit weg du bist. Ich habe ihn ständig im Ohr, und ihn zu ignorieren ist nur dann möglich, wenn ich alle anderen Geräusche ebenfalls ausblende.“
Blair klappte mehrmals sprachlos den Mund auf und zu.
„Was zur Hölle“, meinte er schließlich.
„Ja“, bestätigte Jim. „Was zur Hölle.“

„Okay, also wenn ich das richtig sehe, haben wir diese Fähigkeiten seit dem Moment, in dem du mich wiederbelebt hast und unsere spirituellen Begleiter miteinander verschmolzen sind, korrekt?“
Sie hatten den Tisch abgeräumt und das Geschirr abgewaschen, und nun wanderte Blair unruhig vor dem Fernseher hin und her, während Jim lang ausgestreckt auf dem Sofa lag und ihn beobachtete.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Jim. „Aber ich nehme es an, ja.“
„Meinst du, du hast instinktiv irgendein Sentinel-Ritual begonnen und es nicht korrekt ausgeführt, weshalb wir uns jetzt in diesem Limbo befinden?“, überlegte Blair weiter.
Jim hob eine Augenbraue.
„Chief, ich weiß es nicht“, sagte er. „Die einzige Person, die uns hätte helfen können, war Incacha – und ihn können wir nicht länger fragen. Wir sind in dieser Sache auf uns allein gestellt.“
Blair warf hilflos die Hände in die Luft, dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzen in den Sessel neben dem Sofa sinken.
„Was ich nicht verstehe, ist: wieso ausgerechnet diese Fähigkeiten?“, fragte er leise. „Nehmen wir an, wir sind in diesem Moment tatsächlich eine Art von... keine Ahnung... nennen wir es mal ‚spiritueller Verbindung‘ eingegangen.“
Er lehnte den Kopf nach hinten und starrte an die Decke. „Und nehmen wir an, dass diese Verbindung zwischen einem Sentinel und seinem Partner tatsächlich eine feste Tradition hat: du als Beschützer der Gemeinde und ich als dein Begleiter, dein Schamane, dein...“ Er suchte nach einem passenden Wort. „... dein Guide.“
„Warum sollte ein Sentinel den Herzschlag seines Guides hören können?“, führte Jim seine Überlegungen fort. „Und was bringt es dir zu wissen, wie ich mich fühle?“
Blair schnippte mit den Fingern. „Exakt. Und so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich finde keine Antwort auf die erste Frage. Die zweite hingegen... nun ja...“
Jim sah ihn aufmerksam an. „Was ist deine Theorie?“
„Okay.“ Blair zog die Beine an seinen Körper, um sie im Schneidersitz übereinanderzuschlagen. „Du bist der Sentinel von Cascade, richtig? Der Wächter dieser Stadt. Du bist in einer gesellschaftlichen Position, in der du Gefahren für gewöhnlich früh genug entdeckst und bekämpfst, um die Bevölkerung vor größerem Schaden zu bewahren.“
„Weil ich als Detective bei der Polizei arbeite.“
„Genau.“ Blair nickte. „Wenn du also eine Gefahr entdeckst, die die Gemeinschaft bedroht, dann besorgt und beunruhigt dich das, richtig? Ängstigt dich vielleicht sogar? Und ich spüre deine Sorge, deine Unruhe und deine Angst und weiß, dass du meine Unterstützung als Guide brauchen wirst, weshalb ich mich auf den Weg zu dir mache.“
„In diesem Fall zum Cascade PD.“
„Ja. Früher wäre es vermutlich eine erhöhte Position am Rand des Dorfes gewesen, aber das Gebiet eines Sentinels ist heutzutage sehr viel größer, wie wir bereits etabliert haben. – Worauf ich jedenfalls hinauswill: es ergibt gewissermaßen Sinn, wenn ein Guide die Stimmungen seines Sentinels spüren kann.“
„Deine Theorie dazu klingt logisch“, gab Jim zu. „Was ist mit dem Herzschlag?“
Blair machte ein nachdenkliches Gesicht. „Die Sache mit dem Herzschlag wäre leichter zu erklären, wenn du mit seiner Hilfe bestimmen könntest, wo ich gerade bin, damit du mich schneller findest und ich dir beistehen kann. Aber wenn er immer gleich laut für dich ist, unabhängig von der Distanz zwischen uns...“
„Vielleicht dient er gar nicht dazu, dass ich dich finde“, sagte Jim leise. „Sondern dass ich durch ihn weiß, ob du überhaupt noch am Leben bist.“
„Das wäre ziemlich morbid und deprimierend.“ Blair stützte das Kinn in die Hand. „Insbesondere in Hinsicht auf die besondere Beziehung zwischen Sentinel und Guide.“
Sein Blick verdüsterte sich. „Ich weigere mich zu glauben, dass das der einzige Sinn dahinter ist.“
„Vielleicht hattest du auch mit deiner ursprünglichen Theorie Recht“, wechselte Jim das Thema. „Vielleicht haben wir tatsächlich ein Ritual begonnen und es nicht richtig abgeschlossen. Denn Fakt ist, dass wir seitdem eine Verbindung haben, du und ich.“
Blair sah ihn aus großen Augen an, als konnte er es immer noch nicht ganz glauben.
Jims Herz schwoll mit einem Mal vor Zuneigung zu ihm an. Sie waren nicht nur Sentinel und Guide, sie waren auch enge Freunde, und daran würde sich so schnell nichts ändern. Jedenfalls nicht von Jims Seite aus, dafür hatte er den anderen Mann schon längst zu sehr ins Herz geschlossen. Und was auch immer es mit dieser Sache auf sich hatte, sie würden einen Weg finden, damit umzugehen. Weil es das war, was sie immer taten.
„Ja“, sagte Blair leise und senkte den Blick.
Jim hätte zu gerne gewusst, was in diesem Moment in seinem Freund vorging, doch Blairs Herzschlag blieb gleichmäßig und verriet nichts von seinen Emotionen.
„Was tun wir jetzt?“, fragte er stattdessen. „Wie beenden wir, was wir begonnen haben?“
„Wir müssen zurück in den Dschungel“, meinte Blair und hob die Hand, als Jim Einspruch einlegen wollte. „Und damit meine ich nicht Peru. Wir müssen zurück in den Dschungel in unseren Visionen. Zurück an den Ort, an dem unsere spirituellen Begleiter leben.“
Jims machte eine grimmige Miene. „Ich wäre ehrlich gesagt froh, wenn ich diesen verdammten Panther nie wieder sehen müsste.“
„Tja, Pech gehabt“, erwiderte Blair und grinste schief. „Er ist leider ein Teil von dir.“
Er überlegte für eine Weile.
„Als ich noch ein Teenager war, haben Naomi und ich für ein paar Wochen mit einem Schamanen in Venezuela zusammengelebt“, erzählte er dann. „Von ihm habe ich noch Reste eines Tees, mit dem er damals die Trance eingeleitet hat, die ihn mit der Geisterwelt verbinden sollte. Wir könnten es damit probieren.“
Jim, der mit diesem ganzen mystischen Kram nie wirklich etwas hatte anfangen können, aber der auch keinen anderen Weg sah, stieß ein von Herzen kommendes Seufzen aus.
„Na schön“, erwiderte er. „Ein Versuch kann nicht schaden.“

Der Abend brach bereits an, als Blair den Topf vom Herd nahm und seinen Inhalt gleichmäßig auf zwei Tassen aufteilte.
Der Tee hatte einen unangenehmen, modrigen Geruch und Jim bereute diese Entscheidung nicht zum ersten Mal in der letzten Stunde.
„Was passiert, wenn es wirkt?“, fragte er, während sie warteten, dass der Tee etwas abkühlte.
Blair zuckte mit den Schultern. „Dann finden wir uns hoffentlich in der Geisterwelt wieder.“
„Und wenn nicht?“, bohrte Jim weiter.
„Dann sind wir entweder für ein paar Stunden high, wenn wir Glück haben, oder werden uns über der Kloschüssel wiederfinden und uns wünschen, wir wären nie geboren worden“, erwiderte Blair mit schwachem Lächeln. „So oder so werden wir danach klüger sein, als vorher.“
„Was für Aussichten“, murmelte Jim.
„Tja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, meinte Blair und hatte doch tatsächlich die Nerven, ihm zuzuzwinkern.
Doch sein rascher Herzschlag sagte Jim, dass sein Freund genauso nervös war, wie er, und versuchte, seine Unsicherheit mit Galgenhumor zu überspielen.
Nach ein paar Minuten der Stille nickte Blair ihm schließlich zu.
„Es ist so weit“, sagte er. „Bereit?“
„Finden wir es heraus“, erwiderte Jim. Dann schloss er die Augen, setzte seine Tasse an die Lippen und trank den Tee in mehreren, langen Zügen aus. Er schmeckte bitter und genauso modrig, wie er gerochen hatte, aber Jim schaffte es, ihn unten zu behalten.
So weit, so gut.
Jim lehnte sich zurück und wartete. Für eine ganze Weile passierte nichts.
Doch als er Blair gerade fragen wollte, wie es jetzt weiterging, und die Augen öffnete, um sich nach seinem Partner umzusehen... stellte er fest, dass er nicht länger auf dem Sofa in der Loft saß, sondern sich mitten in einem blau leuchtenden Dschungel befand.
Von Blair fehlte jede Spur, doch schon nach wenigen Schritten konnte Jim einen schwarzen Schatten sehen, der zwischen den Bäumen hindurchhuschte, und er wusste, dass der Panther ihn gefunden hatte.
Sein Enthusiasmus hielt sich stark in Grenzen, hatte ihm das Mistvieh bisher doch nichts als Ärger gebracht. Sein spiritueller Begleiter war jedoch alles, was er gerade hatte, und so folgte er ihm immer tiefer in den endlosen, blauen Dschungel hinein.
Jim wusste nicht, wie lange er dem Panther nachgelaufen war – Raum und Zeit waren in dieser Traumwelt relativ – doch plötzlich konnte er in der Ferne das Heulen eines Wolfes hören.
„Blair!“, stieß er hervor und eilte dem Geräusch entgegen, während der Panther mit großen Sprüngen neben ihm herrannte.
„Jim?“, hörte er in einiger Entfernung die verlorene Stimme seines Freundes und seine Schritte beschleunigten sich.
Schließlich öffnete sich der Urwald vor ihm zu einer Lichtung, auf der er Blair auf einem umgestürzten Steinpfeiler sitzen sah. Er hatte eine Hand in dem dichten Fell eines großen, grauen Wolfes vergraben, der lang ausgestreckt neben ihm auf dem Waldboden lag und mit offenem Maul vor sich hin hechelte. Was Jim jedoch beim Anblick seines Freundes verstörte, war, dass er durch Blairs Kleidung und durch seine Haut und Muskeln, durch Sehnen und Knochen hindurch sein schlagendes Herz sehen konnte.
Doch Blair sah ihn nicht weniger irritiert an.
„Wow, das Zeug ist stark“, murmelte er und stand auf, um eine Hand nach Jim auszustrecken.
Er berührte ihn jedoch nicht, sondern begann stattdessen, die Luft um ihn herum abzutasten.
Jim sah ihn stirnrunzelnd an.
„Was um aller Welt tust du da?“
Blairs Augen leuchteten vor Faszination auf. „Du hast eine Aura, Mann! Sie ist blau und umgibt dich wie ein Heiligenschein. Siehst du sie nicht?“
Jim schüttelte den Kopf. „Chief, das ist nicht der Grund, weshalb wir hier sind.“
Doch Blair hob nur eine Hand. „Moment, deine Aura verändert langsam ihre Farbe... jetzt geht sie mehr ins Grüne über...“
Jim biss die Zähne zusammen.
„... und jetzt mehr ins Gelbe. Faszinierend!“
Blair lachte auf. „Jim, du bist wie einer dieser Spielzeugringe für Kinder – die, die angeblich ihre Farbe wechseln, wann immer sich die Stimmung ihres Trägers verändert.“
Jim war kurz davor, seinen Freund am Kragen zu packen und zu schütteln.
„Das klingt alles sehr spannend, aber vielleicht widmen wir uns erst mal unserem eigentlichen Problem, bevor die Wirkung des Tees nachlässt. Einverstanden?“
Blair legte beschwichtigend eine Hand auf Jims Schulter.
„Okay, okay, schon gut. Du hast ja Recht.“
Dann sah er sich um.
„Wir sind beide hier“, sprach er das Offensichtliche aus. „Wie geht es nun weiter?“
Jim verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe keine Ahnung.“
Beim letzten Mal hatte ihm der Geist von Incacha den Weg gewiesen, doch dieses Mal waren sie offenbar auf sich allein gestellt.
Von ihren spirituellen Begleitern einmal abgesehen. Misstrauisch beäugte Jim den Panther und den Wolf, die angefangen hatten, einander zu umkreisen und sich zu beschnuppern.
„Was tun sie da?“, fragte Blair leise.
Jim gab keine Antwort, sondern beobachtete nur, wie die beiden Tiere sich mit jedem vorsichtigen Schritt immer näher und näher kamen. Schwarz und Hellgrau, Dunkelheit und Licht.
Schließlich blieben sie stehen und lehnten die Köpfe aneinander.
Blair stieß neben ihm ein leises Japsen aus, als die Tiere plötzlich miteinander verschmolzen und sich in Luft auflösten.
„Wo sind sie hin?“, fragte er und sah sich suchend nach seinem Wolf und Jims Panther um.
„Ich glaube, das spielt keine Rolle“, erwiderte Jim. „Ich denke eher, sie haben uns gerade demonstriert, was wir tun sollen.“
Blair runzelte die Stirn. „Miteinander verschmelzen?“
Dann schien ihm mit einem Mal klar zu werden, was er da gesagt hatte, und er hob panisch die Hände, während seine Wangen rot anliefen.
„Mann, wenn das hier auf irgendein seltsames, uraltes Sexritual hinausläuft...!“
Jim stieß ein Seufzen aus.
Ihm gefielen die Implikationen ebenso wenig, aber das hier war ein Traum, nicht die reale Welt, und er wollte endlich wieder diesen verdammten Dschungel hinter sich lassen.
Einer spontanen Eingebung folgend trat er auf Blair zu und nahm sacht sein Gesicht in die Hände.
Der andere Mann sah aus weiten, blauen Augen zu ihm auf und Jim fragte sich für einen Moment, welche Farbe seine Aura gerade hatte.
„Vertraust du mir?“, fragte er mit leiser Stimme.
Blair nickte schwach und Jim sah, wie das Herz in seiner Brust heftig klopfte. „Immer.“
Jim nickte. „Gut.“
Und mit diesem Wort beugte er sich zu Blair hinab und küsste ihn.
Und der Dschungel verschwand.

Das erste, was Jim registrierte, als er im Dämmerlicht der Loft wieder zu sich kam, war die Abwesenheit des aufdringlichen Pochens. Fast wäre ihm ein erleichtertes Seufzen entkommen.
Es hatte tatsächlich funktioniert. Sie hatten das Ritual beendet.
Nun konnte er Blairs Herzschlag nur noch dann hören, wenn er sich bewusst darauf konzentrierte, und ihn ansonsten in den Hintergrund drängen.
Ein Lächeln legte sich auf Jims Lippen. Was für eine himmlische Stille das plötzlich war. Erst jetzt merkte er wirklich, wie sehr ihn das Klopfen auf Dauer in den Wahnsinn getrieben hatte.
Neben ihm auf dem Sessel begann sich nach einer Weile auch Blair wieder zu regen.
„Wow“, murmelte er, als er die Augen aufschlug. „Es ist tatsächlich vorbei.“
Jim hätte schwören können, Enttäuschung aus seiner Stimme herauszuhören.
Er schnaubte leise. „Ich hätte mit mehr Begeisterung gerechnet.“
„Oh Mann, ich bin zweifellos froh darüber, überaus froh sogar“, erwiderte Blair und setzte sich auf. „Ich hätte nur gerne ein bisschen mehr mit dieser Verbindung herumexperimentiert.“
Jim lächelte schwach. „Das bezweifle ich nicht.“
Dann stand er auf, um das Licht anzumachen.
„Denkst du, sie ist wirklich fort?“, fragte er, nachdem er sich wieder auf das Sofa gesetzt hatte. „Denkst du, die Verbindung war tatsächlich nur noch vorhanden, weil ich bei deiner Wiederbelebung damals etwas falsch gemacht habe?“
„Ich weiß es nicht, Jim.“ Blair fuhr sich mit den Fingern durch seine Locken. „Ich weiß nur, dass ich nicht länger Emotionen spüren kann, die nicht die meinen sind, und nach den letzten paar Wochen ist das alles, was ich gerade will.“
Er räusperte sich. „Es war allerdings eine interessante Erfahrung.“
Jim hob eine Augenbraue. „Was genau meinst du?“
Blair sah ihn nicht an, als er antwortete: „Das Ritual... und der Kuss. Ich gebe zu, das war unerwartet.“
„Er erschien mir in jenem Moment logisch“, erwiderte Jim geistesabwesend. Dann fokussierte er sich wieder auf Blair. „Verzeih mir, Chief. Ich habe dich zwar vorgewarnt, aber das heißt nicht, dass es okay war, dich einfach zu küssen.“
Doch sein Freund winkte nur ab.
„Schon in Ordnung, ich mache dir keine Vorwürfe.“ Er schenkte Jim ein schwaches Lächeln. „Außerdem hatte ich schon deutlich schlechtere.“
„Schlechtere was?“
Blair rieb sich verlegen den Nacken. „Schlechtere Küsse.“
„... ist das so.“
Blair verdrehte die Augen. „Du musst nicht so selbstgefällig klingen, Mann, du hast mich gehört.“
Jim versuchte erst gar nicht, sich das Schmunzeln zu verkneifen.

„Also ist alles wieder wie beim Alten?“, fragte er später, als sie gemeinsam auf der Couch saßen und ein Spiel des lokalen Basketballteams guckten.
Blair nahm einen Schluck von seinem Bier. „Abgesehen davon, dass ich unfreiwillig deine komplette Gefühlswelt miterlebt habe, meinst du? Ich denke schon.“
Jim runzelte die Stirn. „Woher wusstest du, dass es immer meine Gefühle waren und nicht deine, die du gespürt hast?“
Blair gab lange keine Antwort darauf, sondern nuckelte nur nachdenklich an der Öffnung seiner Flasche.
„Um ehrlich zu sein“, erwiderte er schließlich, „wusste ich es nicht immer genau. Manchmal hast du mich angesehen, so wie du es jetzt gerade tust, und ich habe eine solche Wärme und Akzeptanz und Zuneigung gespürt, dass ich mir nicht sicher war...“
„Ja...?“ Jims Mund war mit einem Mal sehr trocken.
„... dass ich mir nicht sicher war, von wem sie stammten – und ob es in dem Moment überhaupt eine Rolle gespielt hätte“, beendete Blair leise seinen Satz.
Jim versuchte, den Blick von den blauen Augen seines Freundes abzuwenden, aber er fand nicht die Kraft dafür. „Blair...“
Doch Blair schlug die Augen nieder.
„Hey, es ist völlig okay, wenn du anders empfindest, Jim“, meinte er. „Alles andere wäre vermutlich auch eine schlechte Idee bei dem Leben, das wir führen...“
Jim schnaubte leise. „Als ob wir immer so rationale Entscheidungen getroffen hätten.“
„...Jim?“ Blairs Augen weiteten sich und Jim entdeckte in ihnen einen Funken Hoffnung.
Er schwieg für einen Moment, wohlwissend, dass – egal, wie er sich entschied – seine nächsten Worte die Art ihrer Beziehung für immer verändern würden.
Blair hatte nicht Unrecht, es barg eine Menge Risiken, ihre Beziehung weiter zu vertiefen, gerade bei ihrem ereignisreichen Alltag. Ganz davon abgesehen, was für Konsequenzen dies für Blairs Studium von Jims Fähigkeiten und seine Doktorarbeit haben würde.
Doch Fakt war auch, dass Blair Recht hatte und die Zuneigung auf Jims Seite schon seit langem existierte und mit der Zeit immer weiter zugenommen hatte. Sicher konnte er sie leugnen und Blair abweisen, aber wenn er eines in den letzten paar Jahren mit ihm gelernt hatte, dann war es, dass es nie eine gute Idee war, seine Gefühle zu unterdrücken.
Und Jim traf eine Entscheidung.
Er streckte den Arm aus und legte ihn auf die Rückenlehne der Couch.
„Komm her“, sagte er leise und nickte Blair aufmunternd zu.
Sein Freund zögerte nur kurz, dann rutschte er über das Polster auf ihn zu und schmiegte sich an seine Seite.
„Darf ich...?“, fragte Jim, als er den Arm um Blair legte und mit der anderen Hand sein Kinn nahm, um es sanft zu sich zu drehen.
Blair sah ihn an, und seine Pupillen waren so riesig und dunkel, dass sie das Blau seiner Augen fast verdrängten.
„Ja“, wisperte er.
Und als Jim ihn küsste – dieses Mal nicht im Traum, dieses Mal bei vollem Bewusstsein und in dem Wissen, dass Blair es auch wollte – wusste er, dass sie darüber würden reden müssen, und nicht nur miteinander.
Simon würde ihnen zweifellos stundenlange Vorträge über dieses Thema halten und er konnte sich jetzt schon denken, was Carolyn und Megan dazu sagen würden. Doch Jim wusste instinktiv, dass dies der Punkt war, auf den seine Beziehung mit Blair von Anfang an zugesteuert hatte, und er bereute seine Entscheidung nicht.
Sie würden gemeinsam lernen, damit umzugehen, so wie sie auch alles andere zusammen erlernt hatten.
Und sie würden stärker daraus hervorgehen, als je zuvor.

 
 
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