Waffenbrüder 19. Staffel 2 - Alte Feindschaft
von Ann Morgan
Kurzbeschreibung
Eine unbequemer, aber harmloser Auftrag wird zu einer Reise, in der die Vergangenheit sich trotz aller Vorsicht mit der Gegenwart mischt und so die Liebe von Athos und d'Artagnan auf eine harte Probe stellt- --- Eine Waffenbrüder-Geschichte, die zwischen den Folgen 2x08 und 2x09 spielt, aber frei erfunden ist; Triggerwarnung im Vorwort des Prologs
GeschichteDrama, Angst / P18 / MaleSlash
Aramis
Athos
D'Artagnan
Graf Rochefort
Porthos
17.09.2021
11.02.2022
19
80.436
9
Alle Kapitel
102 Reviews
102 Reviews
Dieses Kapitel
7 Reviews
7 Reviews
01.10.2021
4.378
Hallo, Ihr Lieben,
hier ohne lange Vorrede das nächste Kapitel. Heute stelle ich jahreszeitlich passend Zwetschgenkuchen (ohne Wespen) mit Sahne zu Kaffee und Tee bereit, und für die, die möchten, auch ein wenig Hopfen-Lavendel-Baldriantee ;-).
Kurzweilige Leseminuten wünscht
Ann
(...) Also wandte d‘Artagnan sich ab und nahm sich vor, stattdessen lieber eine Runde bei den Wachposten zu drehen um zu sehen, ob bei ihnen alles in Ordnung war.
Als er schließlich tief in der Nacht auf dem harten Lager in seinem Zelt lag, hatten sich seine Gedanken wieder beruhigt.
Auch Athos war nur ein Mensch und hatte das Anrecht auf einen schlechten Tag. Er hatte dieses Kommando nie gewollt, und nun war er statt auf Monsieur des Essarts, einen wahren Freund der Musketiere, den auch Athos schon viele Jahre kannte und schätzte, auf einen anderen Kommandanten gestoßen. Auf einen Mann, den er offensichtlich aus seinem früheren Leben kannte und den wiederzutreffen ihm offensichtlich keine Freude bereitete.
Das alles zusammen konnte selbst seinen sonst so gelassenen Freund unwirsch werden lassen. Hätte er erst eine Nacht darüber geschlafen, würde er schon wieder normal werden.
So redete es d’Artagnan zumindest ein und fand immerhin darüber in den Schlaf.
Am anderen Morgen zeigte sich, dass er sich geirrt hatte.
D’Artagnan wurde wach, als Lupien den Kopf in sein Zelt steckte und freundlich sagte: „Guten Morgen, Monsieur d’Artagnan. Das Frühstück ist fertig!“
Er fuhr hoch, sah den Kadetten kurz verwundert an und meinte dann: „Wie spät ist es?“
„Gleich acht Uhr“, gab Lupien ihm Bescheid, und d’Artagnan stöhnte verhalten auf. „Wieso hat mich niemand früher geweckt?“ Es war eigentlich eher als rhetorische Frage gemeint, doch Lupien antwortete unbekümmert: „Der Kommandant hat befohlen, Euch länger schlafen zu lassen, weil Ihr gestern die Nachtwache begleitet habt.“
Aha, das hatte Athos also immerhin bemerkt, dachte er im Moment noch spöttisch, als ihm siedend heiß einfiel: „Kommandant de Grasse wollte heute Morgen um sieben zur Lagebesprechung kommen. War er schon da?“
Lupien nickte und verschwand wieder, ließ d’Artagnan mit seinen erneut verwirrten Gedanken zurück. Warum nur hatte Athos ihn bewusst von dieser Besprechung ausgeschlossen? Entschlossen rappelte er sich hoch. Hier im Zelt würde er keine Antworten bekommen.
Wie sich bald herausstellte aber auch draußen nicht. Das Lager war so gut wie leer, lediglich Lupien und zwei weitere Kadetten waren damit beschäftigt, die Überreste des Kompanie-Frühstücks wegzuräumen und das Kochgeschirr zu reinigen.
D’Artagnan sah zum Kommandantenzelt, das geschlossen war, und schlenderte dann zu den drei Kadetten hinüber, während er die Gurte seines Schulterharnischs festzog.
„Wo sind denn alle?“, fragte er in bemüht gleichmütigen Ton, als er bei den dreien angekommen war.
„Sind mit’m Hauptmann weg“, nuschelte der zweite, ein großer, schlaksiger Junge mit struppigen rotbraunen Haaren, den d’Artagnan nur unter seinem Spitznamen Furet kannte, und sah d’Artagnan dabei nicht einmal an. Trotzdem glaubte er, dem Tonfall eine gewisse Frustration anzuhören.
„Aha“, hakte er deshalb geduldig nach. „Und wohin?“
„Zum Lager der Kompanie des Monsieur de Grasse“, antwortete der dritte mit feiner, leiser Stimme und wurde augenblicklich rot, während er verschämt unter sich sah, als d’Artagnan ihm seinen Blick zuwandte. Er war fast noch ein Kind, wie d’Artagnan nun zum ersten Mal feststellte. Sein feingeschnittenes, milchweißes Gesicht mit großen blauen Augen unter dem glatten, blonden Haarschopf verstärkte diesen Eindruck noch. Der Junge war, ähnlich wie Lupien, erst wenige Wochen bei den Musketieren und stammte aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Ihm war der Platz in der Kompanie erkauft worden, ebenfalls ähnlich wie Lupien, wie d’Artagnan sich nun vage zu erinnern glaubte. Etwas, das es unter Tréville so niemals gegeben hatte. Bei ihm hatten nur Anwärter eine Chance, die sich in irgendeiner Weise positiv hervor taten, ungeachtet ihrer Herkunft. Leuten wie diesem Jungen oder auch Lupien hätte er dem König und ihren Familien zuliebe eine zweiwöchige Frist gewährt, in der man sie so geschleift hätte, dass sie entweder freiwillig die Flinte ins Korn geworfen – oder ihren Wert bewiesen hätten.
Ein einziges Mal hatte der König versucht, den Sohn eines seiner Günstlinge gegen Trévilles Willen bei den Musketieren unterzubringen. Daraufhin hatte der Hauptmann sich tief verbeugt, scheinbar eingelenkt: „Ich diene Euch, Majestät“, dann eine Augenbraue hochgezogen und in nüchternem Ton zu bedenken gegeben: „Und wenn es Euer ausgesprochener Wille ist, die Sicherheit Ihrer Majestäten und des ganzen Hofes in solch unfähige Hände zu legen...“
Gelassen hatte er den Wutausbruch des Königs über sich ergehen lassen. Der fragliche Sohn des Günstlings hatte nie auch nur einen Fuß in die Garnison gesetzt.
Ein wehmütiges Schmunzeln überzog d’Artagnans Gesicht, als er an diesen Vorfall dachte, dessen Zeuge er in seinen ersten Wochen bei den Musketieren geworden war. Danach erst war ihm so richtig bewusst geworden, welche Ehre man ihm damit erwies, als Rekrut aufgenommen worden zu sein. Er hatte sich an diesem Tag geschworen, seinen Hauptmann und seine Kameraden niemals zu enttäuschen.
Mit einem Mal spürte er Lupiens aufmerksamen Blick auf sich und zwang seine Gedanken ins Hier und Jetzt zurück.
„Wie heißt du?“, fragte er eilig den jüngsten der drei Burschen.
„Jean-Claude, Monsieur d’Artagnan”, antwortete der Junge schüchtern.
„Und weshalb seid ihr drei nicht bei den anderen?“, hakte er nach.
Ungefragt schob Lupien ihm einen Teller mit Haferbrei und einen Becher heißen Tees zu, die er mit einem dankbaren Nicken annahm. Er setzte sich neben die drei auf einen als Sitzgelegenheit umfunktionierten Baumstamm und sah Lupien auffordernd an, der in erschütternd nüchternem Tonfall antwortete: „Weil wir die Schlechtesten der Kompanie sind.“
Und Furet ergänzte bitter: „Der Leutnant will sich nich blamieren vor dem vornehmen Comte...!“
D’Artagnan ließ den Löffel, den er schon zum Mund geführt hatte, langsam sinken und sah die drei nacheinander ungläubig an. Dann fuhr er scharf auf: „Das hat der Kommandant niemals gesagt!“
„Nein!“, beschwichtigte Lupien sofort. „Es musste ja jemand zurückbleiben, um auf das Lager und das Feuer zu achten. Da ist es doch verständlich, dass die Wahl auf uns fiel.“
D’Artagnan wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Das war nicht die Art der Musketiere, nicht die, die Tréville, Porthos, Aramis und vor allem Athos ihn gelehrt hatten. Niemand blieb zurück. Vielleicht war es nicht mit rechten Dingen zugegangen, dass ausgerechnet diese drei jungen Burschen bei den Kadetten der Elitetruppe des Königs gelandet waren – aber nun gehörten sie dazu, und sollten als solche behandelt werden.
Entschlossen stellte er den Teller bei Seite, sah die drei an und erklärte fest: „Nun, wer denkt, ihr wäret die Schlechtesten der Kompanie, der hat sich geirrt! Wenn die anderen weg sind, um sich mit den Gardes Françaises einen netten Tag zu machen, werden wir trainieren.“ Die drei sahen ihn verwundert an, als habe er gerade erklärt, er wolle mit ihnen zum Mond reisen, so dass er ungeduldig hinzu fügte: „Nun – was sagt ihr?“
Furet begann zu grinsen, auf eine Art, die sein spitzes Gesicht mit einem Mal freundlich wirken ließ, Jean-Claude wagte ein schüchternes Lächeln, nur Lupien sah zwar freundlich, aber zugleich auch skeptisch drein.
Doch d’Artagnan war Feuer und Flamme für die selbstgestellte Aufgabe und ignorierte den Zweifel. „Holt euch einen Übungsdegen, und wir treffen uns da drüben auf dem ebenen Stück Grund am Waldrand.“
Nur wenige Minuten später begann er, die drei in dem zu unterrichten, was er am besten konnte – dem Fechten.
Schnell stellte sich heraus, dass diese Trainingsstunde nicht nur für die drei jungen Rekruten lehrreich war, sondern auch d’Artagnan verstand mit einem Mal so einiges. Vor allen Dingen erkannte er zum ersten Mal, mit welcher Besonnenheit und unerschütterlicher Ruhe Athos ihn trainiert hatte. Und wenn die Ungeduld mit ihm durchgehen wollte, weil Furet auch nach der zehnten freundlichen Ermahnung seinen Fuß falsch setzte, um Jean-Claudes zaghaften Angriff abzuwehren oder Lupien einmal mehr den Degen fast fallen ließ, während er vor d’Artagnans behutsamen Schlag zurückwich, rief er sich das Gesicht seines Freundes vor Augen – nicht in den intimen Momenten, die sie geteilt hatten, nicht in den kameradschaftlichen, sondern in denen, in denen er als sein Lehrmeister und Mentor aufgetreten war. Egal, wie Athos sich gestern und heute verhalten hatte, dieses zutiefst verinnerlichte Bild der ruhigen, gelassenen Stärke half d’Artagnan, ebenfalls seine Geduld zu bewahren.
Nach zwei schweißtreibenden Stunden hatte er zwar nicht das Gefühl, dass seine Schützlinge einen bedeutenden Fortschritt gemacht hätten – aber allen dreien stand die Freude über das Training derart offen ins Gesicht geschrieben, dass er allein das bereits als Erfolg wertete. Ein nicht geringer Teil des gekonnten Umgangs mit einer Waffe rührte aus dem gesunden Selbstvertrauen des Kämpfers. Und deshalb gehörte zu einem guten Training, auch dies zu schulen und zu fördern.
D’Artagnan nickte jedem der drei zu und entschied: „Das soll für heute genug sein!“, als er hinter sich am nahen Waldrand plötzlich ein Händeklatschen hörte. Hastig, den Degen instinktiv in Verteidigungshaltung, drehte er sich um – und sah einen lächelnden de Grasse lässig an einen Baumstamm gelehnt da stehen. Verlegen senkte er die Waffe.
„Habt Ihr uns schon länger beobachtet?“, war das erste, was d’Artagnan herausrutschte, und fast im selben Moment ärgerte er sich über seine Worte – und noch mehr über den erschrockenen Tonfall darin. Er hatte nichts falsch gemacht, nichts, was die Musketiere in einem schlechten Licht dastehen lassen könnte.
Doch de Grasse schien sich weder an seinem Tonfall noch an seinen Worten zu stören, sondern stieß sich vom Baumstamm ab und erklärte, während er zu d’Artagnan hinüber schlenderte, schulterzuckend: „Eine Weile!“ Und dann trat ein verschmitztes Grinsen in sein Gesicht, das ihn augenblicklich um Jahre jünger aussehen ließ, als er hinzufügte: „Ich versichere Euch: Das, was Ihr mir hier in kurzer Zeit geboten habt, war weitaus ansehnlicher und interessanter als alles, was die restlichen Rekruten und ihr Kommandant drüben in meinem Lager zeigten!“
Verlegen sah d’Artagnan bei Seite. Er war solch schmeichelnden Komplimente nicht gewohnt; war seine Arbeit in Ordnung, so erhielt er ein Schulterklopfen, ein schlichtes „Gut gemacht!“ oder ein zufriedenes Lächeln – keine Worte wie diese. Und zugleich meldete sich seine Loyalität gegenüber Athos und den anderen Rekruten, und so erwiderte er etwas hölzern: „Nun – das waren ein paar einfache Übungen – nichts Besonderes. Unsere besten Rekruten sind bei Euch.“
De Grasse war nun dicht bei ihm angekommen und legte ihm eine Hand auf die Schulter, während sein Gesicht ernst wurde: „Nein, d’Artagnan – ich meine, was ich sagte: Gute Leute zu schulen, das kann jeder Idiot. Einen schwachen Rekruten zu motivieren, über sich hinauszuwachsen – das ist ein Talent. Und Ihr habt eben bewiesen, dass Ihr es habt! Wieso nur hat Athos diesen Anblick mir und meinen Männern vorenthalten?“
„Jemand musste schließlich im Lager bleiben...“, erwiderte d’Artagnan etwas lahm und tat einen Schritt bei Seite, so dass de Grasses Hand von seiner Schulter glitt. Allerdings: De Grasse hatte ja nur seine eigenen Fragen laut geäußert.
Der Graf seufzte, sah zu den drei jungen Burschen hinüber, die gemeinsam am Feuer saßen und gestikulierend offenbar noch einmal das ungewohnte Training Revue passieren ließen, und blickte zurück zu d’Artagnan. „Sicher drei anständige junge Männer – aber offenbar von.... weniger nobler Herkunft als Euer Kommandant, nicht wahr?“
D’Artagnan runzelte die Stirn, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf der Comte hinaus wollte. „Nun – zwei von ihnen stammen aus wohlhabenden Kaufmannsfamilien.“ Dass Furet ein Kind des berüchtigten Hofs der Wunder war, verschwieg er lieber.
„Aber nicht adelig, vermute ich?“, hakte de Grasse nach, und d’Artagnan zuckte ungeduldig mit den Schultern. „Was für eine Bedeutung sollte das haben?“
„Es sollte keine haben“, erwiderte der Comte sofort begütigend. „Doch meine Erfahrung mit dem werten Comte de la Fère... Nein!“, unterbrach er sich selbst entschieden. „Es gehört sich nicht, dass ich schlecht über Euren Kommandanten und Freund spreche! Verzeiht!“
D’Artagnans Gesicht war zu einer Maske erstarrt und er schaffte es nur mit Mühe, seinen Ton vordergründig höflich zu halten, als er erwiderte: „Ihr habt recht: Niemand darf in meiner Gegenwart schlecht über Athos reden!“
De Grasse verneigte sich demütig und sah d’Artagnan von unten herauf an. „Mein Fehler, Monsieur!“
D’Artagnan nickte knapp, und de Grasse richtete sich wieder auf. Offenbar um Wiedergutmachung seines Fauxpas bemüht erklärte freundlich: „Wie wäre es, wenn ich Euch und die drei jungen Kadetten in unser Lager einlade, damit sie am gemeinsamen Training teilhaben können?“
D’Artagnan runzelte die Stirn. De Grasse forderte ihn zum offenen Handeln gegen einen klaren Befehl auf. Und doch war er für einen kurzen Moment versucht, das Angebot anzunehmen – und sei es nur, um Athos’ verblüffte Miene zu sehen.
Aber nein... Er war mitverantwortlich für die Feldübung, für die Kadetten – und somit für die Aufrechterhaltung der Disziplin in der Truppe. Und so erwiderte er freundlich, aber entschlossen: „Ich danke Euch. Aber wir haben unsere Befehle. Vielleicht morgen...?“
De Grasse musterte ihn intensiv aus seinen verwirrend tiefblauen Augen, dann lächelte er erneut und erwiderte: „Natürlich habt Ihr recht! Ich rede mit Eurem Kommandanten“, und nun bekam sein Lächeln wieder etwas Verschmitztes, so, wie gestern bei ihrer Ankunft: „Ich möchte es mir nicht entgehen lassen, Euch in meinem Lager zu haben!“ Und bevor d’Artagnan verwirrt überlegen konnte, was der Graf damit meinte, fügte er hinzu: „Damit meine Kadetten auch von Eurer Lehrkunst profitieren können.“ Und nach kurzem Zögern ergänzte zurückhaltend: „Nun ja, und die anderen Musketier-Rekruten.“
„Athos ist der beste Lehrer, den das Regiment hat“, erwiderte d’Artagnan gelassen.
„Hm...“, schien der Comte das anzuzweifeln, und als er sah, dass sich d’Artagnans Miene einmal mehr grimmig verzog, beeilte er sich, zu erklären: „Das ist er gewiss! Aber es ist nicht gut für die Moral der Truppe, wenn der Kommandant einen Rekruten bevorzugt...“
Einen Moment lang erstarrte d’Artagnan. Verdammt – sprach de Grasse da von ihm und Athos?
Dann beruhigte er sich – er war schließlich kein Rekrut mehr, er war seit mehreren Monaten patentierter Musketier. Und so rutschte ihm unwillkürlich in scharfem Ton die Frage heraus: „Was wollt Ihr damit sagen?“
„Ich habe Euch schon wieder verärgert!“, entgegnete de Grasse unglücklich, atmete einmal tief durch und fuhr dann entschlossen fort: „Und trotzdem muss ich es sagen: Euer Kommandant hat einen persönlichen Liebling.“ D’Artagnans ablehnenden Blick ignorierend fuhr er fort: „Marcel de Coligny, Sohn von Baron Coligny, wie mir scheint. Heute, in meinem Lager, widmete Euer Kommandant sich fast ausschließlich dem Training mit ihm, wodurch er den anderen Rekruten von geringerem Stand kaum Beachtung schenkte. Und die Art, wie la Fère diesen Jungen lobte... Nun, der Überschwang war... nicht angemessen...“ Verlegen schwieg er.
D’Artagnan starrte sein Gegenüber nur an. Er wusste schlicht nicht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte. Er hatte de Grasse gehört, doch das, was der Mann sagte, aber noch viel mehr das, was er versuchte, zwischen den Zeilen mitschwingen zu lassen passte so wenig zu Athos, dass er keine Ahnung hatte, wie er darauf reagieren sollte.
Der Comte interpretierte sein Schweigen falsch, legte ihm begütigend die Hand auf den Oberarm und erklärte mitfühlend: „Ich weiß, es ist schockierend. Doch so kenne ich la Fère...“
Endlich fand d’Artagnan seine Sprache wieder und entgegnete eher erstaunt als erbost: „Ihr habt mit Sicherheit etwas völlig falsch verstanden.“
De Grasse maß ihn mit einem derart undurchdringlichen Blick, dass ihm mit einem Mal unwohl wurde, er sich mit einem Schritt zurück erneut aus der Berührung wand und dunkel murmelte: „Verzeiht, Comte – ich muss mich um meine Männer kümmern!“
„Natürlich!“, erwiderte de Grasse sofort und fügte noch einmal leise hinzu: „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich es bin, der Euch diese unangenehme Seite Eures Kommandanten aufzeigt.“
So bizarr dies ganze Gespräch auch war, hatte d’Artagnan doch das Gefühl, de Grasses Mitgefühl sei aufrichtig gemeint. So nickte er etwas steif und versicherte: „Es besteht kein Grund für Eure Entschuldigung.“ Damit drehte er sich um und ging zu seinen Rekruten.
„Monsieur d’Artagnan – was sollten wir jetzt machen?“, empfing ihn Jean-Claude eifrig, und d’Artagnan war froh über die Ablenkung. Trotzdem konnte er nicht umhin, einen letzten Blick zum Waldrand zu werfen. De Grasse war verschwunden.
Erst am späten Nachmittag kehrten die anderen Rekruten unter Athos’ Führung zurück. D’Artagnan wollte nicht so wirken, als habe er den ganzen Tag auf ihre Rückkehr gewartet, und so blieb er zunächst sitzen und beendete die Lehrstunde zum Thema Reinigen einer Muskete, bevor er sich erhob, um zu Athos hinüberzugehen.
Dieser gab gerade Anweisungen an zwei der mit ihm zurückgekehrten Rekruten, und so wartete d’Artagnan geduldig, bis die Jungen gingen, um ihre Aufträge zu erledigen.
Einer von ihnen war Marcel, doch den anderen kannte er nicht. Seiner Uniform nach gehörte er zu den Gardes Françaises.
„Ich wünsche dir einen guten Tag!“, entbot d’Artagnan mit leise spöttischem Unterton seinen Gruß, und endlich drehte Athos sich zu ihm um, nickte ihm zu und fragte in geschäftsmäßigem Ton: „Nun – war hier alles in Ordnung?“
„Keine besonderen Vorkommnisse“, entgegnete d’Artagnan. „Doch ich muss mit dir reden.“
„Ist es wichtig? Ich möchte mich nämlich jetzt gerne etwas ausruhen. Immerhin war ich den ganzen Tag mit den Kadetten unterwegs...“ Mit unbewegter Miene wartete er auf d’Artagnans Antwort – dem es zum dritten Mal an diesem Tag die Sprache verschlug.
Irritiert schüttelte er den Kopf, hinterfragte dann aber doch: „Denkst du, ich hätte hier in der Zwischenzeit gefaulenzt?“
Athos antwortete nicht, sondern hob nur eine Augenbraue. Vergeblich hielt d’Artagnan nach einer Spur Humors Ausschau, und so fühlte er sich genötigt zu erklären: „Ich habe mit den drei Kadetten trainiert, die du zurückgelassen hast.“ Er ärgerte sich über den defensiven Tonfall seiner Stimme, doch Athos sah ihn schon nicht mehr an, sondern ließ seinen Blick wachsam über das Lager gleiten und erwiderte dann mäßig interessiert: „Gut.“
Damit wollte er sich bereits wieder wegdrehen, als d’Artagnan sich erinnerte, was er eigentlich mit seinem Freund hatte besprechen wollen. „Da ist noch etwas...“
Athos seufzte nahezu unhörbar, bevor er lediglich erwiderte: „Was?“
„Nun – sag mir, was zwischen dir und de Grasse los ist.“
Einige Sekunden herrschte atemloses Schweigen.
„Was meinst du?“, erwiderte Athos schließlich, doch dieses Mal klang sein Tonfall zu defensiv, als dass d’Artagnan darauf hereingefallen wäre, und so setzte er nach: „Er erzählte...seltsame Dinge...“
Athos fuhr herum. „Er erzählte...? Wann hast du ihn getroffen?“
Verwirrt von der plötzlichen unterschwelligen Anspannung erwiderte d’Artagnan: „Nun – er war heute Vormittag hier im Lager...“
„Er war hier?“, fuhr Athos auf und verlangte scharf zu wissen: „Was wollte er?“
„Nichts! Er hat uns beim Training zugesehen und sich ein wenig mit mir unterhalten - ich weiß nicht, was er wollte!“, erwiderte d’Artagnan lauter als beabsichtigt, und sofort sah Athos sich um – doch niemand schien sie zu beachten.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen wendete er sich d’Artagnan wieder zu und erklärte: „Wenn der Comte etwas zu besprechen hat, dann kann er das mit mir tun, nicht mit dir. Ich will, dass du dich von ihm fern hältst.“
Einen Moment lang war d’Artagnan verblüfft – hatte Athos etwa Sorge, er würde hinter seinem Rücken etwas mit de Grasse vereinbaren und so Athos' Stellung als Kommandant untergraben – die er ursprünglich nicht einmal hatte haben wollen? Da kam ihm mit einem Anflug von schlechtem Gewissen de Grasses Vorschlag in den Sinn, gegen Athos' Befehl mit zum Lager der Gardes zu kommen. Und darüber hinaus dessen Worte, mit denen er zuvor angedeutet hatte, für Athos seien Rang und Stellung eines Rekruten von großer Bedeutung.
Was zur Hölle...
„Verdammt, Athos – was ist los?“, forderte er verwirrt zu wissen, leise, aber eindringlich.
Doch Athos hatte sich schon wieder abgewandt und entgegnete distanziert: „Nichts, was dich betrifft. Morgen kommen die Gardes Françaises zum gemeinsamen Waffentraining hierher zu uns, und ich möchte, dass wir uns dann von einer professionellen Seite zeigen. Halte dich an die Befehlskette. Bekommst du das hin?“
Völlig irritiert von dem mehr als seltsamen Verhalten seines Freundes trat d’Artagnan einen Schritt näher, wollte Athos in einer vertrauten Geste am Arm fassen, als dieser steif zu ihm herumfuhr und ihn anherrschte: „Ich habe eine Frage gestellt, Musketier! Könnt Ihr das Ganze professionell händeln?“
D’Artagnans Miene verhärtete sich – nun gut, wenn es das war, was Athos verlangte...
„Natürlich, Kommandant!“, erwiderte er bissig, ging in Hab-acht-Stellung und fragte: „Was sind Eure Befehle für heute Abend?“
Einen Augenblick lang dachte er, in Athos' Miene etwas zu entdecken... Reue, Bedauern... doch dann war da nur noch Erleichterung, und Athos erwiderte deutlich ruhiger: „Nichts besonderes mehr. Die Burschen haben für heute genug getan. Sie sollen essen und dann ausruhen.“ Ohne ein weiteres Wort nickte er d’Artagnan zu, wandte sich endgültig ab und ging in sein Zelt. Sein Gefährte blieb allein und zutiefst verwirrt zurück.
Nachdem die Zeltbahnen hinter ihm zugefallen waren, ließ Athos sich erleichtert auf seine Pritsche fallen. Dann lauschte er nach draußen. Einige Sekunden lang herrschte Stille, bevor deutlich zu hören war, wie d’Artagnan auf dem leicht sandigen Untergrund knirschend Kehrt machte und mit großen Schritten davon stapfte.
Sein Freund war wütend. Enttäuscht vielleicht – auf jeden Fall verwirrt über sein Verhalten. Doch er hatte zumindest verstanden, dass sie sich wie Soldaten benehmen mussten, nicht wie zwei verliebte Turteltauben.
Athos seufzte frustriert...
Der Vergleich war schlecht gewählt, denn so hatten sie sich nie verhalten. D’Artagnan hatte in all den Monaten mindestens ebenso viel Disziplin an den Tag gelegt wie Athos selbst, wenn es darum ging, ihre Beziehung nach außen hin geheim zu halten. Doch mit einem Mal galt es nicht länger, lediglich die Kameraden, Tréville, das Königspaar und den Hofstaat samt Rochefort im Ungewissen zu lassen – jetzt hatten sie es mit de Grasse zu tun.
Athos fühlte sich schlecht, wenn er an den Mann dachte – doch zugleich packte ihn kalte Wut bei der Vorstellung, dass Vichy mit d’Artagnan allein gewesen war. Mit d’Artagnan - und den drei anderen Kadetten, die Athos bewusst im Musketier-Lager zurückgelassen hatte. Vergeblich, wie sich nun zeigte.
Morgen würde er es besser machen. Morgen würde er alle im Auge behalten. Und zugleich alles dafür tun, dass de Grasse nichts davon erfuhr, wie sehr ein gewisser Comte sein Herz an einen bestimmten Bauernburschen verloren hatte. Wenn er dafür d’Artagnan wie vorhin vor den Kopf stoßen musste, war das ein geringer Preis. Der Gascogner war hart im Nehmen. Und wenn sie erst wieder sicher in Paris waren, würde er d’Artagnan für die Kränkungen auf jede erdenkliche Art Abbitte und Wiedergutmachung leisten.
Zufrieden mit seinem Plan nickte er, straffte sich und ging zu dem kleinen Tisch hinüber, um sich ein Glas Wein einzuschenken und dann einen Blick auf das Konzept für die Manöver-Übung am letzten Trainingstag zu werfen. Doch so sehr er sich bemühte, fiel es ihm schwer, sich auf die Aufgabe zu fokussieren. Verärgert warf er schließlich den Plan, den er gerade skizzieren wollte, von sich und griff nach seinem Becher.
Er war leer.
Frustriert grollte er auf und starrte gegen die Zeltwand. Er wusste, dass er das Richtige tat. Wieso aber verfolgte ihn dann d’Artagnans verletzter Blick...?
Nach einer unruhigen Nacht wachte d’Artagnan bei den ersten Sonnenstrahlen auf. In Paris hatte er sich angewöhnt, so lange wie möglich zu schlafen, bevor der Drill des Tages begann, doch hier draußen auf dem Land regte sich die von Kindheit an vertraute Gewohnheit, mit dem beginnenden Morgen munter zu sein – egal, wie die Nacht verlaufen war.
Er streckte sich ausgiebig, zog etwas umständlich seine Reithose an, griff nach seinem Hemd und verließ barfuß das Zelt.
Um ihn her herrschte morgendliche Ruhe; die meisten Kadetten schliefen noch fest, und nur die Wachposten nickten ihm mit müden Augen zu, als er an ihnen vorbei zum Bach ging.
Der von keinem menschlichen Laut unterbrochene Friede des frühen Morgens beruhigte sein Gemüt, das unermüdliche Singen und Zwitschern der Waldvögel vertrieb die düsteren Gedanken und Sorgen der Nacht.
Und während er sich zum Wasser hinab beugte, um sich Gesicht und Oberkörper mit dem morgenkalten, klaren Wasser des Bachs zu waschen wanderten seine Gedanken ungehindert zu seinem Freund.
Gut – Athos verhielt sich seltsam.
Und ganz offensichtlich hatte er eine gemeinsame Vergangenheit mit de Grasse, die er nicht mit d’Artagnan teilen wollte.
Athos und er waren Freunde, Waffenbrüder und Geliebte – doch das bedeutete nicht, dass der Ältere ihm alles erzählen musste.
D’Artagnan hielt kurz inne.
Tatsächlich wusste er erstaunlich wenig über Athos’ Vergangenheit als Comte de la Fère. Natürlich wusste er von Milady und Athos’ unglücklicher Ehe mit ihr. Auch über Thomas, seinen jüngeren Bruder, hatte sein Gefährte hin und wieder gesprochen, meist mir einem kleinen, wehmütigen Lächeln. Doch über seine restliche Familie, über Freunde, Feinde, Liebschaften, Pflichten oder wie der junge Comte sich seine Zukunft ausgemalt hatte – darüber hatte Athos kein Wort verloren.
Nun – d’Artagnan hatte auch nie gefragt, musste er sich selbst eingestehen.
Die Vergangenheit eines Musketiers war nicht von Bedeutung. Und da ihr Leben jede Menge Gefahren barg, war auch die Zukunft ungewiss. So zählte im Regiment vor allem das Hier und Jetzt, und so war es auch zwischen d’Artagnan und Athos.
Das Wasser lief ihm in sanften Tropfen über das Gesicht, als er nachdenklich vor sich hin starrte. Wollte er daran etwas ändern? Und wenn ja: War Athos bereit dazu?
Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, weil er mit einem Mal das untrügliche Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Hastig griff er nach dem Parierdolch, den er immer bei sich trug und sah sich aufmerksam um. Doch außer einer Amsel, die einige Meter entfernt von ihm das trockene Laub nach einer morgendlichen Leckerei durchstöberte sah er nichts.
Also steckte er den Dolch wieder in den Gürtel, griff nach seinem Hemd und kleidete sich an, wobei seine Gedanken zu Athos zurückkehrten.
Wie auch immer: Hier war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, diesen Aspekt ihrer Beziehung zu hinterfragen. Denn Athos war nicht nur sein Geliebter und sein Waffenbruder – auf dieser Mission war er auch sein Kommandant, und als solchen würde d’Artagnan ihn nun auch behandeln.
Und mehr hatte Athos schließlich auch nicht verlangt. Eine legitime Forderung, der d’Artagnan von nun an nachkommen würde, wie er sich fest vornahm.
Alles andere würden sie in Paris klären.
tbc...
Furet = Frettchen
Nun, d’Artagnans Plan klingt doch ganz vernünftig, oder?
Und Athos... Nun – ich lade herzlich zum Spekulieren auf, was ihn umtreibt, warum er sich derart grob d’Artagnan gegenüber verhält.
Nun wünsche ich ein schönes Wochenende und eine ruhige Woche,
Ann
hier ohne lange Vorrede das nächste Kapitel. Heute stelle ich jahreszeitlich passend Zwetschgenkuchen (ohne Wespen) mit Sahne zu Kaffee und Tee bereit, und für die, die möchten, auch ein wenig Hopfen-Lavendel-Baldriantee ;-).
Kurzweilige Leseminuten wünscht
Ann
(...) Also wandte d‘Artagnan sich ab und nahm sich vor, stattdessen lieber eine Runde bei den Wachposten zu drehen um zu sehen, ob bei ihnen alles in Ordnung war.
Als er schließlich tief in der Nacht auf dem harten Lager in seinem Zelt lag, hatten sich seine Gedanken wieder beruhigt.
Auch Athos war nur ein Mensch und hatte das Anrecht auf einen schlechten Tag. Er hatte dieses Kommando nie gewollt, und nun war er statt auf Monsieur des Essarts, einen wahren Freund der Musketiere, den auch Athos schon viele Jahre kannte und schätzte, auf einen anderen Kommandanten gestoßen. Auf einen Mann, den er offensichtlich aus seinem früheren Leben kannte und den wiederzutreffen ihm offensichtlich keine Freude bereitete.
Das alles zusammen konnte selbst seinen sonst so gelassenen Freund unwirsch werden lassen. Hätte er erst eine Nacht darüber geschlafen, würde er schon wieder normal werden.
So redete es d’Artagnan zumindest ein und fand immerhin darüber in den Schlaf.
Am anderen Morgen zeigte sich, dass er sich geirrt hatte.
- Kapitel 3: Die drei Rekruten -
D’Artagnan wurde wach, als Lupien den Kopf in sein Zelt steckte und freundlich sagte: „Guten Morgen, Monsieur d’Artagnan. Das Frühstück ist fertig!“
Er fuhr hoch, sah den Kadetten kurz verwundert an und meinte dann: „Wie spät ist es?“
„Gleich acht Uhr“, gab Lupien ihm Bescheid, und d’Artagnan stöhnte verhalten auf. „Wieso hat mich niemand früher geweckt?“ Es war eigentlich eher als rhetorische Frage gemeint, doch Lupien antwortete unbekümmert: „Der Kommandant hat befohlen, Euch länger schlafen zu lassen, weil Ihr gestern die Nachtwache begleitet habt.“
Aha, das hatte Athos also immerhin bemerkt, dachte er im Moment noch spöttisch, als ihm siedend heiß einfiel: „Kommandant de Grasse wollte heute Morgen um sieben zur Lagebesprechung kommen. War er schon da?“
Lupien nickte und verschwand wieder, ließ d’Artagnan mit seinen erneut verwirrten Gedanken zurück. Warum nur hatte Athos ihn bewusst von dieser Besprechung ausgeschlossen? Entschlossen rappelte er sich hoch. Hier im Zelt würde er keine Antworten bekommen.
Wie sich bald herausstellte aber auch draußen nicht. Das Lager war so gut wie leer, lediglich Lupien und zwei weitere Kadetten waren damit beschäftigt, die Überreste des Kompanie-Frühstücks wegzuräumen und das Kochgeschirr zu reinigen.
D’Artagnan sah zum Kommandantenzelt, das geschlossen war, und schlenderte dann zu den drei Kadetten hinüber, während er die Gurte seines Schulterharnischs festzog.
„Wo sind denn alle?“, fragte er in bemüht gleichmütigen Ton, als er bei den dreien angekommen war.
„Sind mit’m Hauptmann weg“, nuschelte der zweite, ein großer, schlaksiger Junge mit struppigen rotbraunen Haaren, den d’Artagnan nur unter seinem Spitznamen Furet kannte, und sah d’Artagnan dabei nicht einmal an. Trotzdem glaubte er, dem Tonfall eine gewisse Frustration anzuhören.
„Aha“, hakte er deshalb geduldig nach. „Und wohin?“
„Zum Lager der Kompanie des Monsieur de Grasse“, antwortete der dritte mit feiner, leiser Stimme und wurde augenblicklich rot, während er verschämt unter sich sah, als d’Artagnan ihm seinen Blick zuwandte. Er war fast noch ein Kind, wie d’Artagnan nun zum ersten Mal feststellte. Sein feingeschnittenes, milchweißes Gesicht mit großen blauen Augen unter dem glatten, blonden Haarschopf verstärkte diesen Eindruck noch. Der Junge war, ähnlich wie Lupien, erst wenige Wochen bei den Musketieren und stammte aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Ihm war der Platz in der Kompanie erkauft worden, ebenfalls ähnlich wie Lupien, wie d’Artagnan sich nun vage zu erinnern glaubte. Etwas, das es unter Tréville so niemals gegeben hatte. Bei ihm hatten nur Anwärter eine Chance, die sich in irgendeiner Weise positiv hervor taten, ungeachtet ihrer Herkunft. Leuten wie diesem Jungen oder auch Lupien hätte er dem König und ihren Familien zuliebe eine zweiwöchige Frist gewährt, in der man sie so geschleift hätte, dass sie entweder freiwillig die Flinte ins Korn geworfen – oder ihren Wert bewiesen hätten.
Ein einziges Mal hatte der König versucht, den Sohn eines seiner Günstlinge gegen Trévilles Willen bei den Musketieren unterzubringen. Daraufhin hatte der Hauptmann sich tief verbeugt, scheinbar eingelenkt: „Ich diene Euch, Majestät“, dann eine Augenbraue hochgezogen und in nüchternem Ton zu bedenken gegeben: „Und wenn es Euer ausgesprochener Wille ist, die Sicherheit Ihrer Majestäten und des ganzen Hofes in solch unfähige Hände zu legen...“
Gelassen hatte er den Wutausbruch des Königs über sich ergehen lassen. Der fragliche Sohn des Günstlings hatte nie auch nur einen Fuß in die Garnison gesetzt.
Ein wehmütiges Schmunzeln überzog d’Artagnans Gesicht, als er an diesen Vorfall dachte, dessen Zeuge er in seinen ersten Wochen bei den Musketieren geworden war. Danach erst war ihm so richtig bewusst geworden, welche Ehre man ihm damit erwies, als Rekrut aufgenommen worden zu sein. Er hatte sich an diesem Tag geschworen, seinen Hauptmann und seine Kameraden niemals zu enttäuschen.
Mit einem Mal spürte er Lupiens aufmerksamen Blick auf sich und zwang seine Gedanken ins Hier und Jetzt zurück.
„Wie heißt du?“, fragte er eilig den jüngsten der drei Burschen.
„Jean-Claude, Monsieur d’Artagnan”, antwortete der Junge schüchtern.
„Und weshalb seid ihr drei nicht bei den anderen?“, hakte er nach.
Ungefragt schob Lupien ihm einen Teller mit Haferbrei und einen Becher heißen Tees zu, die er mit einem dankbaren Nicken annahm. Er setzte sich neben die drei auf einen als Sitzgelegenheit umfunktionierten Baumstamm und sah Lupien auffordernd an, der in erschütternd nüchternem Tonfall antwortete: „Weil wir die Schlechtesten der Kompanie sind.“
Und Furet ergänzte bitter: „Der Leutnant will sich nich blamieren vor dem vornehmen Comte...!“
D’Artagnan ließ den Löffel, den er schon zum Mund geführt hatte, langsam sinken und sah die drei nacheinander ungläubig an. Dann fuhr er scharf auf: „Das hat der Kommandant niemals gesagt!“
„Nein!“, beschwichtigte Lupien sofort. „Es musste ja jemand zurückbleiben, um auf das Lager und das Feuer zu achten. Da ist es doch verständlich, dass die Wahl auf uns fiel.“
D’Artagnan wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Das war nicht die Art der Musketiere, nicht die, die Tréville, Porthos, Aramis und vor allem Athos ihn gelehrt hatten. Niemand blieb zurück. Vielleicht war es nicht mit rechten Dingen zugegangen, dass ausgerechnet diese drei jungen Burschen bei den Kadetten der Elitetruppe des Königs gelandet waren – aber nun gehörten sie dazu, und sollten als solche behandelt werden.
Entschlossen stellte er den Teller bei Seite, sah die drei an und erklärte fest: „Nun, wer denkt, ihr wäret die Schlechtesten der Kompanie, der hat sich geirrt! Wenn die anderen weg sind, um sich mit den Gardes Françaises einen netten Tag zu machen, werden wir trainieren.“ Die drei sahen ihn verwundert an, als habe er gerade erklärt, er wolle mit ihnen zum Mond reisen, so dass er ungeduldig hinzu fügte: „Nun – was sagt ihr?“
Furet begann zu grinsen, auf eine Art, die sein spitzes Gesicht mit einem Mal freundlich wirken ließ, Jean-Claude wagte ein schüchternes Lächeln, nur Lupien sah zwar freundlich, aber zugleich auch skeptisch drein.
Doch d’Artagnan war Feuer und Flamme für die selbstgestellte Aufgabe und ignorierte den Zweifel. „Holt euch einen Übungsdegen, und wir treffen uns da drüben auf dem ebenen Stück Grund am Waldrand.“
Nur wenige Minuten später begann er, die drei in dem zu unterrichten, was er am besten konnte – dem Fechten.
Schnell stellte sich heraus, dass diese Trainingsstunde nicht nur für die drei jungen Rekruten lehrreich war, sondern auch d’Artagnan verstand mit einem Mal so einiges. Vor allen Dingen erkannte er zum ersten Mal, mit welcher Besonnenheit und unerschütterlicher Ruhe Athos ihn trainiert hatte. Und wenn die Ungeduld mit ihm durchgehen wollte, weil Furet auch nach der zehnten freundlichen Ermahnung seinen Fuß falsch setzte, um Jean-Claudes zaghaften Angriff abzuwehren oder Lupien einmal mehr den Degen fast fallen ließ, während er vor d’Artagnans behutsamen Schlag zurückwich, rief er sich das Gesicht seines Freundes vor Augen – nicht in den intimen Momenten, die sie geteilt hatten, nicht in den kameradschaftlichen, sondern in denen, in denen er als sein Lehrmeister und Mentor aufgetreten war. Egal, wie Athos sich gestern und heute verhalten hatte, dieses zutiefst verinnerlichte Bild der ruhigen, gelassenen Stärke half d’Artagnan, ebenfalls seine Geduld zu bewahren.
Nach zwei schweißtreibenden Stunden hatte er zwar nicht das Gefühl, dass seine Schützlinge einen bedeutenden Fortschritt gemacht hätten – aber allen dreien stand die Freude über das Training derart offen ins Gesicht geschrieben, dass er allein das bereits als Erfolg wertete. Ein nicht geringer Teil des gekonnten Umgangs mit einer Waffe rührte aus dem gesunden Selbstvertrauen des Kämpfers. Und deshalb gehörte zu einem guten Training, auch dies zu schulen und zu fördern.
D’Artagnan nickte jedem der drei zu und entschied: „Das soll für heute genug sein!“, als er hinter sich am nahen Waldrand plötzlich ein Händeklatschen hörte. Hastig, den Degen instinktiv in Verteidigungshaltung, drehte er sich um – und sah einen lächelnden de Grasse lässig an einen Baumstamm gelehnt da stehen. Verlegen senkte er die Waffe.
„Habt Ihr uns schon länger beobachtet?“, war das erste, was d’Artagnan herausrutschte, und fast im selben Moment ärgerte er sich über seine Worte – und noch mehr über den erschrockenen Tonfall darin. Er hatte nichts falsch gemacht, nichts, was die Musketiere in einem schlechten Licht dastehen lassen könnte.
Doch de Grasse schien sich weder an seinem Tonfall noch an seinen Worten zu stören, sondern stieß sich vom Baumstamm ab und erklärte, während er zu d’Artagnan hinüber schlenderte, schulterzuckend: „Eine Weile!“ Und dann trat ein verschmitztes Grinsen in sein Gesicht, das ihn augenblicklich um Jahre jünger aussehen ließ, als er hinzufügte: „Ich versichere Euch: Das, was Ihr mir hier in kurzer Zeit geboten habt, war weitaus ansehnlicher und interessanter als alles, was die restlichen Rekruten und ihr Kommandant drüben in meinem Lager zeigten!“
Verlegen sah d’Artagnan bei Seite. Er war solch schmeichelnden Komplimente nicht gewohnt; war seine Arbeit in Ordnung, so erhielt er ein Schulterklopfen, ein schlichtes „Gut gemacht!“ oder ein zufriedenes Lächeln – keine Worte wie diese. Und zugleich meldete sich seine Loyalität gegenüber Athos und den anderen Rekruten, und so erwiderte er etwas hölzern: „Nun – das waren ein paar einfache Übungen – nichts Besonderes. Unsere besten Rekruten sind bei Euch.“
De Grasse war nun dicht bei ihm angekommen und legte ihm eine Hand auf die Schulter, während sein Gesicht ernst wurde: „Nein, d’Artagnan – ich meine, was ich sagte: Gute Leute zu schulen, das kann jeder Idiot. Einen schwachen Rekruten zu motivieren, über sich hinauszuwachsen – das ist ein Talent. Und Ihr habt eben bewiesen, dass Ihr es habt! Wieso nur hat Athos diesen Anblick mir und meinen Männern vorenthalten?“
„Jemand musste schließlich im Lager bleiben...“, erwiderte d’Artagnan etwas lahm und tat einen Schritt bei Seite, so dass de Grasses Hand von seiner Schulter glitt. Allerdings: De Grasse hatte ja nur seine eigenen Fragen laut geäußert.
Der Graf seufzte, sah zu den drei jungen Burschen hinüber, die gemeinsam am Feuer saßen und gestikulierend offenbar noch einmal das ungewohnte Training Revue passieren ließen, und blickte zurück zu d’Artagnan. „Sicher drei anständige junge Männer – aber offenbar von.... weniger nobler Herkunft als Euer Kommandant, nicht wahr?“
D’Artagnan runzelte die Stirn, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf der Comte hinaus wollte. „Nun – zwei von ihnen stammen aus wohlhabenden Kaufmannsfamilien.“ Dass Furet ein Kind des berüchtigten Hofs der Wunder war, verschwieg er lieber.
„Aber nicht adelig, vermute ich?“, hakte de Grasse nach, und d’Artagnan zuckte ungeduldig mit den Schultern. „Was für eine Bedeutung sollte das haben?“
„Es sollte keine haben“, erwiderte der Comte sofort begütigend. „Doch meine Erfahrung mit dem werten Comte de la Fère... Nein!“, unterbrach er sich selbst entschieden. „Es gehört sich nicht, dass ich schlecht über Euren Kommandanten und Freund spreche! Verzeiht!“
D’Artagnans Gesicht war zu einer Maske erstarrt und er schaffte es nur mit Mühe, seinen Ton vordergründig höflich zu halten, als er erwiderte: „Ihr habt recht: Niemand darf in meiner Gegenwart schlecht über Athos reden!“
De Grasse verneigte sich demütig und sah d’Artagnan von unten herauf an. „Mein Fehler, Monsieur!“
D’Artagnan nickte knapp, und de Grasse richtete sich wieder auf. Offenbar um Wiedergutmachung seines Fauxpas bemüht erklärte freundlich: „Wie wäre es, wenn ich Euch und die drei jungen Kadetten in unser Lager einlade, damit sie am gemeinsamen Training teilhaben können?“
D’Artagnan runzelte die Stirn. De Grasse forderte ihn zum offenen Handeln gegen einen klaren Befehl auf. Und doch war er für einen kurzen Moment versucht, das Angebot anzunehmen – und sei es nur, um Athos’ verblüffte Miene zu sehen.
Aber nein... Er war mitverantwortlich für die Feldübung, für die Kadetten – und somit für die Aufrechterhaltung der Disziplin in der Truppe. Und so erwiderte er freundlich, aber entschlossen: „Ich danke Euch. Aber wir haben unsere Befehle. Vielleicht morgen...?“
De Grasse musterte ihn intensiv aus seinen verwirrend tiefblauen Augen, dann lächelte er erneut und erwiderte: „Natürlich habt Ihr recht! Ich rede mit Eurem Kommandanten“, und nun bekam sein Lächeln wieder etwas Verschmitztes, so, wie gestern bei ihrer Ankunft: „Ich möchte es mir nicht entgehen lassen, Euch in meinem Lager zu haben!“ Und bevor d’Artagnan verwirrt überlegen konnte, was der Graf damit meinte, fügte er hinzu: „Damit meine Kadetten auch von Eurer Lehrkunst profitieren können.“ Und nach kurzem Zögern ergänzte zurückhaltend: „Nun ja, und die anderen Musketier-Rekruten.“
„Athos ist der beste Lehrer, den das Regiment hat“, erwiderte d’Artagnan gelassen.
„Hm...“, schien der Comte das anzuzweifeln, und als er sah, dass sich d’Artagnans Miene einmal mehr grimmig verzog, beeilte er sich, zu erklären: „Das ist er gewiss! Aber es ist nicht gut für die Moral der Truppe, wenn der Kommandant einen Rekruten bevorzugt...“
Einen Moment lang erstarrte d’Artagnan. Verdammt – sprach de Grasse da von ihm und Athos?
Dann beruhigte er sich – er war schließlich kein Rekrut mehr, er war seit mehreren Monaten patentierter Musketier. Und so rutschte ihm unwillkürlich in scharfem Ton die Frage heraus: „Was wollt Ihr damit sagen?“
„Ich habe Euch schon wieder verärgert!“, entgegnete de Grasse unglücklich, atmete einmal tief durch und fuhr dann entschlossen fort: „Und trotzdem muss ich es sagen: Euer Kommandant hat einen persönlichen Liebling.“ D’Artagnans ablehnenden Blick ignorierend fuhr er fort: „Marcel de Coligny, Sohn von Baron Coligny, wie mir scheint. Heute, in meinem Lager, widmete Euer Kommandant sich fast ausschließlich dem Training mit ihm, wodurch er den anderen Rekruten von geringerem Stand kaum Beachtung schenkte. Und die Art, wie la Fère diesen Jungen lobte... Nun, der Überschwang war... nicht angemessen...“ Verlegen schwieg er.
D’Artagnan starrte sein Gegenüber nur an. Er wusste schlicht nicht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte. Er hatte de Grasse gehört, doch das, was der Mann sagte, aber noch viel mehr das, was er versuchte, zwischen den Zeilen mitschwingen zu lassen passte so wenig zu Athos, dass er keine Ahnung hatte, wie er darauf reagieren sollte.
Der Comte interpretierte sein Schweigen falsch, legte ihm begütigend die Hand auf den Oberarm und erklärte mitfühlend: „Ich weiß, es ist schockierend. Doch so kenne ich la Fère...“
Endlich fand d’Artagnan seine Sprache wieder und entgegnete eher erstaunt als erbost: „Ihr habt mit Sicherheit etwas völlig falsch verstanden.“
De Grasse maß ihn mit einem derart undurchdringlichen Blick, dass ihm mit einem Mal unwohl wurde, er sich mit einem Schritt zurück erneut aus der Berührung wand und dunkel murmelte: „Verzeiht, Comte – ich muss mich um meine Männer kümmern!“
„Natürlich!“, erwiderte de Grasse sofort und fügte noch einmal leise hinzu: „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich es bin, der Euch diese unangenehme Seite Eures Kommandanten aufzeigt.“
So bizarr dies ganze Gespräch auch war, hatte d’Artagnan doch das Gefühl, de Grasses Mitgefühl sei aufrichtig gemeint. So nickte er etwas steif und versicherte: „Es besteht kein Grund für Eure Entschuldigung.“ Damit drehte er sich um und ging zu seinen Rekruten.
„Monsieur d’Artagnan – was sollten wir jetzt machen?“, empfing ihn Jean-Claude eifrig, und d’Artagnan war froh über die Ablenkung. Trotzdem konnte er nicht umhin, einen letzten Blick zum Waldrand zu werfen. De Grasse war verschwunden.
Erst am späten Nachmittag kehrten die anderen Rekruten unter Athos’ Führung zurück. D’Artagnan wollte nicht so wirken, als habe er den ganzen Tag auf ihre Rückkehr gewartet, und so blieb er zunächst sitzen und beendete die Lehrstunde zum Thema Reinigen einer Muskete, bevor er sich erhob, um zu Athos hinüberzugehen.
Dieser gab gerade Anweisungen an zwei der mit ihm zurückgekehrten Rekruten, und so wartete d’Artagnan geduldig, bis die Jungen gingen, um ihre Aufträge zu erledigen.
Einer von ihnen war Marcel, doch den anderen kannte er nicht. Seiner Uniform nach gehörte er zu den Gardes Françaises.
„Ich wünsche dir einen guten Tag!“, entbot d’Artagnan mit leise spöttischem Unterton seinen Gruß, und endlich drehte Athos sich zu ihm um, nickte ihm zu und fragte in geschäftsmäßigem Ton: „Nun – war hier alles in Ordnung?“
„Keine besonderen Vorkommnisse“, entgegnete d’Artagnan. „Doch ich muss mit dir reden.“
„Ist es wichtig? Ich möchte mich nämlich jetzt gerne etwas ausruhen. Immerhin war ich den ganzen Tag mit den Kadetten unterwegs...“ Mit unbewegter Miene wartete er auf d’Artagnans Antwort – dem es zum dritten Mal an diesem Tag die Sprache verschlug.
Irritiert schüttelte er den Kopf, hinterfragte dann aber doch: „Denkst du, ich hätte hier in der Zwischenzeit gefaulenzt?“
Athos antwortete nicht, sondern hob nur eine Augenbraue. Vergeblich hielt d’Artagnan nach einer Spur Humors Ausschau, und so fühlte er sich genötigt zu erklären: „Ich habe mit den drei Kadetten trainiert, die du zurückgelassen hast.“ Er ärgerte sich über den defensiven Tonfall seiner Stimme, doch Athos sah ihn schon nicht mehr an, sondern ließ seinen Blick wachsam über das Lager gleiten und erwiderte dann mäßig interessiert: „Gut.“
Damit wollte er sich bereits wieder wegdrehen, als d’Artagnan sich erinnerte, was er eigentlich mit seinem Freund hatte besprechen wollen. „Da ist noch etwas...“
Athos seufzte nahezu unhörbar, bevor er lediglich erwiderte: „Was?“
„Nun – sag mir, was zwischen dir und de Grasse los ist.“
Einige Sekunden herrschte atemloses Schweigen.
„Was meinst du?“, erwiderte Athos schließlich, doch dieses Mal klang sein Tonfall zu defensiv, als dass d’Artagnan darauf hereingefallen wäre, und so setzte er nach: „Er erzählte...seltsame Dinge...“
Athos fuhr herum. „Er erzählte...? Wann hast du ihn getroffen?“
Verwirrt von der plötzlichen unterschwelligen Anspannung erwiderte d’Artagnan: „Nun – er war heute Vormittag hier im Lager...“
„Er war hier?“, fuhr Athos auf und verlangte scharf zu wissen: „Was wollte er?“
„Nichts! Er hat uns beim Training zugesehen und sich ein wenig mit mir unterhalten - ich weiß nicht, was er wollte!“, erwiderte d’Artagnan lauter als beabsichtigt, und sofort sah Athos sich um – doch niemand schien sie zu beachten.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen wendete er sich d’Artagnan wieder zu und erklärte: „Wenn der Comte etwas zu besprechen hat, dann kann er das mit mir tun, nicht mit dir. Ich will, dass du dich von ihm fern hältst.“
Einen Moment lang war d’Artagnan verblüfft – hatte Athos etwa Sorge, er würde hinter seinem Rücken etwas mit de Grasse vereinbaren und so Athos' Stellung als Kommandant untergraben – die er ursprünglich nicht einmal hatte haben wollen? Da kam ihm mit einem Anflug von schlechtem Gewissen de Grasses Vorschlag in den Sinn, gegen Athos' Befehl mit zum Lager der Gardes zu kommen. Und darüber hinaus dessen Worte, mit denen er zuvor angedeutet hatte, für Athos seien Rang und Stellung eines Rekruten von großer Bedeutung.
Was zur Hölle...
„Verdammt, Athos – was ist los?“, forderte er verwirrt zu wissen, leise, aber eindringlich.
Doch Athos hatte sich schon wieder abgewandt und entgegnete distanziert: „Nichts, was dich betrifft. Morgen kommen die Gardes Françaises zum gemeinsamen Waffentraining hierher zu uns, und ich möchte, dass wir uns dann von einer professionellen Seite zeigen. Halte dich an die Befehlskette. Bekommst du das hin?“
Völlig irritiert von dem mehr als seltsamen Verhalten seines Freundes trat d’Artagnan einen Schritt näher, wollte Athos in einer vertrauten Geste am Arm fassen, als dieser steif zu ihm herumfuhr und ihn anherrschte: „Ich habe eine Frage gestellt, Musketier! Könnt Ihr das Ganze professionell händeln?“
D’Artagnans Miene verhärtete sich – nun gut, wenn es das war, was Athos verlangte...
„Natürlich, Kommandant!“, erwiderte er bissig, ging in Hab-acht-Stellung und fragte: „Was sind Eure Befehle für heute Abend?“
Einen Augenblick lang dachte er, in Athos' Miene etwas zu entdecken... Reue, Bedauern... doch dann war da nur noch Erleichterung, und Athos erwiderte deutlich ruhiger: „Nichts besonderes mehr. Die Burschen haben für heute genug getan. Sie sollen essen und dann ausruhen.“ Ohne ein weiteres Wort nickte er d’Artagnan zu, wandte sich endgültig ab und ging in sein Zelt. Sein Gefährte blieb allein und zutiefst verwirrt zurück.
Nachdem die Zeltbahnen hinter ihm zugefallen waren, ließ Athos sich erleichtert auf seine Pritsche fallen. Dann lauschte er nach draußen. Einige Sekunden lang herrschte Stille, bevor deutlich zu hören war, wie d’Artagnan auf dem leicht sandigen Untergrund knirschend Kehrt machte und mit großen Schritten davon stapfte.
Sein Freund war wütend. Enttäuscht vielleicht – auf jeden Fall verwirrt über sein Verhalten. Doch er hatte zumindest verstanden, dass sie sich wie Soldaten benehmen mussten, nicht wie zwei verliebte Turteltauben.
Athos seufzte frustriert...
Der Vergleich war schlecht gewählt, denn so hatten sie sich nie verhalten. D’Artagnan hatte in all den Monaten mindestens ebenso viel Disziplin an den Tag gelegt wie Athos selbst, wenn es darum ging, ihre Beziehung nach außen hin geheim zu halten. Doch mit einem Mal galt es nicht länger, lediglich die Kameraden, Tréville, das Königspaar und den Hofstaat samt Rochefort im Ungewissen zu lassen – jetzt hatten sie es mit de Grasse zu tun.
Athos fühlte sich schlecht, wenn er an den Mann dachte – doch zugleich packte ihn kalte Wut bei der Vorstellung, dass Vichy mit d’Artagnan allein gewesen war. Mit d’Artagnan - und den drei anderen Kadetten, die Athos bewusst im Musketier-Lager zurückgelassen hatte. Vergeblich, wie sich nun zeigte.
Morgen würde er es besser machen. Morgen würde er alle im Auge behalten. Und zugleich alles dafür tun, dass de Grasse nichts davon erfuhr, wie sehr ein gewisser Comte sein Herz an einen bestimmten Bauernburschen verloren hatte. Wenn er dafür d’Artagnan wie vorhin vor den Kopf stoßen musste, war das ein geringer Preis. Der Gascogner war hart im Nehmen. Und wenn sie erst wieder sicher in Paris waren, würde er d’Artagnan für die Kränkungen auf jede erdenkliche Art Abbitte und Wiedergutmachung leisten.
Zufrieden mit seinem Plan nickte er, straffte sich und ging zu dem kleinen Tisch hinüber, um sich ein Glas Wein einzuschenken und dann einen Blick auf das Konzept für die Manöver-Übung am letzten Trainingstag zu werfen. Doch so sehr er sich bemühte, fiel es ihm schwer, sich auf die Aufgabe zu fokussieren. Verärgert warf er schließlich den Plan, den er gerade skizzieren wollte, von sich und griff nach seinem Becher.
Er war leer.
Frustriert grollte er auf und starrte gegen die Zeltwand. Er wusste, dass er das Richtige tat. Wieso aber verfolgte ihn dann d’Artagnans verletzter Blick...?
Nach einer unruhigen Nacht wachte d’Artagnan bei den ersten Sonnenstrahlen auf. In Paris hatte er sich angewöhnt, so lange wie möglich zu schlafen, bevor der Drill des Tages begann, doch hier draußen auf dem Land regte sich die von Kindheit an vertraute Gewohnheit, mit dem beginnenden Morgen munter zu sein – egal, wie die Nacht verlaufen war.
Er streckte sich ausgiebig, zog etwas umständlich seine Reithose an, griff nach seinem Hemd und verließ barfuß das Zelt.
Um ihn her herrschte morgendliche Ruhe; die meisten Kadetten schliefen noch fest, und nur die Wachposten nickten ihm mit müden Augen zu, als er an ihnen vorbei zum Bach ging.
Der von keinem menschlichen Laut unterbrochene Friede des frühen Morgens beruhigte sein Gemüt, das unermüdliche Singen und Zwitschern der Waldvögel vertrieb die düsteren Gedanken und Sorgen der Nacht.
Und während er sich zum Wasser hinab beugte, um sich Gesicht und Oberkörper mit dem morgenkalten, klaren Wasser des Bachs zu waschen wanderten seine Gedanken ungehindert zu seinem Freund.
Gut – Athos verhielt sich seltsam.
Und ganz offensichtlich hatte er eine gemeinsame Vergangenheit mit de Grasse, die er nicht mit d’Artagnan teilen wollte.
Athos und er waren Freunde, Waffenbrüder und Geliebte – doch das bedeutete nicht, dass der Ältere ihm alles erzählen musste.
D’Artagnan hielt kurz inne.
Tatsächlich wusste er erstaunlich wenig über Athos’ Vergangenheit als Comte de la Fère. Natürlich wusste er von Milady und Athos’ unglücklicher Ehe mit ihr. Auch über Thomas, seinen jüngeren Bruder, hatte sein Gefährte hin und wieder gesprochen, meist mir einem kleinen, wehmütigen Lächeln. Doch über seine restliche Familie, über Freunde, Feinde, Liebschaften, Pflichten oder wie der junge Comte sich seine Zukunft ausgemalt hatte – darüber hatte Athos kein Wort verloren.
Nun – d’Artagnan hatte auch nie gefragt, musste er sich selbst eingestehen.
Die Vergangenheit eines Musketiers war nicht von Bedeutung. Und da ihr Leben jede Menge Gefahren barg, war auch die Zukunft ungewiss. So zählte im Regiment vor allem das Hier und Jetzt, und so war es auch zwischen d’Artagnan und Athos.
Das Wasser lief ihm in sanften Tropfen über das Gesicht, als er nachdenklich vor sich hin starrte. Wollte er daran etwas ändern? Und wenn ja: War Athos bereit dazu?
Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, weil er mit einem Mal das untrügliche Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Hastig griff er nach dem Parierdolch, den er immer bei sich trug und sah sich aufmerksam um. Doch außer einer Amsel, die einige Meter entfernt von ihm das trockene Laub nach einer morgendlichen Leckerei durchstöberte sah er nichts.
Also steckte er den Dolch wieder in den Gürtel, griff nach seinem Hemd und kleidete sich an, wobei seine Gedanken zu Athos zurückkehrten.
Wie auch immer: Hier war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, diesen Aspekt ihrer Beziehung zu hinterfragen. Denn Athos war nicht nur sein Geliebter und sein Waffenbruder – auf dieser Mission war er auch sein Kommandant, und als solchen würde d’Artagnan ihn nun auch behandeln.
Und mehr hatte Athos schließlich auch nicht verlangt. Eine legitime Forderung, der d’Artagnan von nun an nachkommen würde, wie er sich fest vornahm.
Alles andere würden sie in Paris klären.
tbc...
Furet = Frettchen
Nun, d’Artagnans Plan klingt doch ganz vernünftig, oder?
Und Athos... Nun – ich lade herzlich zum Spekulieren auf, was ihn umtreibt, warum er sich derart grob d’Artagnan gegenüber verhält.
Nun wünsche ich ein schönes Wochenende und eine ruhige Woche,
Ann