Waffenbrüder 19. Staffel 2 - Alte Feindschaft
von Ann Morgan
Kurzbeschreibung
Eine unbequemer, aber harmloser Auftrag wird zu einer Reise, in der die Vergangenheit sich trotz aller Vorsicht mit der Gegenwart mischt und so die Liebe von Athos und d'Artagnan auf eine harte Probe stellt- --- Eine Waffenbrüder-Geschichte, die zwischen den Folgen 2x08 und 2x09 spielt, aber frei erfunden ist; Triggerwarnung im Vorwort des Prologs
GeschichteDrama, Angst / P18 / MaleSlash
Aramis
Athos
D'Artagnan
Graf Rochefort
Porthos
17.09.2021
11.02.2022
19
80.436
9
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Dieses Kapitel
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28.01.2022
4.615
Hallo, meine Lieben!
Endlich geht es hier weiter!
Vor zwei Wochen war ich einfach noch nicht zufrieden mit diesem und dem nächsten Kapitel, hab die noch zu erzählenden Puzzleteile immer wieder hin und her geschoben und war etwas verzweifelt, wie ich es in einen sinnvollen Lesefluss kriege. Inzwischen habe ich es halbwegs zufriedenstellend gelöst.
Letzte Woche dann habe ich die noch fehlende Kurzgeschichte zu 2x08 „Der verlorene Vater“ nachgeschoben. Herzlichen Dank für die bereits 99 Aufrufe, die drei Empfehlungssterne und die lieben Reviews!
Falls Ihr sie noch nicht entdeckt habt, findet Ihr sie hier:
https://www.fanfiktion.de/s/61ea9f160001959228c18d33/1/Waffenbrueder-Staffel-2-18-An-deiner-Seite-P-amp-A-
Nun aber zurück zu dieser Geschichte. Weil das letzte Kapitel so lange her ist, habe ich heute einen etwas größeren Absatz zum Wieder-Reinkommen gewählt. Setzt euch bequem hin, bedient euch an frischem Steinofenbrot mit Schinken oder Käse oder Marmelade zu einer guten Tasse Kaffee oder Tee und viel Freude beim Lesen!
Ann
(...) Nach einer Weile trat Aramis in den Raum. Er hatte inzwischen trockene Kleidung an und fragte nun Athos: „Kann ich nach dir sehen?“
Dieser hatte die Augen geschlossen und nickte nur. D’Artagnan und Aramis tauschten über dessen Kopf hinweg einen besorgten Blick, den er zu spüren schien, denn er gestand unumwunden: „Ich bin todmüde und habe Schmerzen – aber es geht mir gut, in Ordnung?“
Einen Moment stutzten die beiden, dann begann Aramis leise zu lachen, schüttelte ungläubig den Kopf und erwiderte nonchalant: „Solch ein Satz kann auch wirklich nur von dir kommen!“
Nun öffnete Athos doch die Augen, und neben der Müdigkeit konnten beiden Freunde ganz klar ein humorvolles Funkeln in ihnen ausmachen, als er trocken erwiderte: „Oder von d’Artagnan!“
Porthos, der offenbar alles vom Nebenraum aus mitbekommen hatte und nun an den Türrahmen gelehnt stand, fügte grinsend hinzu: „Unser werter Aramis ist auch gut darin, seinen wahren Zustand in einer solchen Situation kleinzureden!“
Aramis kniete inzwischen vor Athos und half ihm, das Hemd auszuziehen, so dass er besser an den Verband kam, sah aber nun auf, musterte Porthos und erwiderte mit blitzenden Augen: „Bei Porthos dagegen weiß man stets genau, woran man ist: Jammert und zetert er lauthals, wenn ich seine Wunden versorge – dann geht es ihm gut!“
Die anderen lachten. Offen und entspannt, bis Athos sich die Seite hielt und empört jappste: „Das tut weh!“ Doch gleichzeitig zwinkerte er d’Artagnan zu, so dass dieser erleichtert grinste.
Herrgott – nach diesen unsäglichen Tagen tat es so verdammt gut, mit seinen Brüdern zu scherzen und zu lachen. D’Artagnan war in diesem Augenblick unendlich dankbar für alle drei: Für Aramis’ nie versiegende Zuversicht und Sicherheit im Umgang mit Athos’ Verletzung, für Porthos’ mitreißenden Humor und seinen bedingungslosen Rückhalt, und für Athos’ Gelassenheit - und seine Liebe.
Irgendetwas von seinen Gefühlen schienen in seinem Blick zu liegen, denn mit einem Mal war Porthos neben ihm und legte ihm den Arm um die Schulter, und sein Grinsen war einem warmen Lächeln gewichen, als er erklärte: „Alle für einen, d’Artagnan...“
Aramis und Athos sahen überrascht auf, und beiden wurde die Kehle eng und das Herz weit, als Porthos und d’Artagnan ihre Blicke kreuzten, und d’Artagnan ließ sein Herz sprechen, als er leise bekannte: „Es ist gut, euch alle drei in meinem Leben zu haben...“
Am ersten Abend im Gasthaus waren sie nach einem einfachen Mahl früh zu Bett gegangen. Die Anstrengungen der letzten Tage machten sich bei allen vieren bemerkbar. Als d’Artagnan sich behutsam neben seinen Gefährten schob, gab die weiche Daunenmatratze angenehm unter ihm nach. „Wahrlich ein Bett für Adelige!“, merkte er schmunzelnd an, als auch schon Athos’ rechter Arm nach ihm angelte, ihn dicht vor seine Brust zog und einen Seufzer tiefer Zufriedenheit ausstieß. „So erst ist es gut“, murmelte er an d’Artagnans Nacken, der lächelte und zustimmend brummte, Athos’ Hand an seiner Brust griff und ihre Finger miteinander verschränkte. Nur wenige Augenblicke später verrieten tiefe Atemzüge, dass der Ältere fest eingeschlafen war. Der Tag war kräftezehrend für ihn gewesen, und seine Verletzung forderte nun ihren Tribut.
D’Artagnan dagegen fand keinen Schlaf. Er war todmüde, an Körper und Geist erschöpft – und doch fuhren seine Gedanken im Kreis. Zum ersten Mal seit dem Beginn all der unseligen Ereignisse gab es keine akuten Geschehnisse, die seine Wachsamkeit erforderten, keine Aufgabe, die zu bewältigen wäre. Um ihn her herrschte Stille, die ihn nach all den Sorgen und Schrecken der letzten Tage beruhigen sollte, und doch kribbelte alles in ihm voller Unruhe. Es fiel ihm immer schwerer, regungslos liegenzubleiben, um Athos nicht zu stören.
Schließlich schob er sich behutsam unter dem Arm seines Gefährten hervor, schlüpfte aus dem Bett und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, um in den Salon zu gehen. Die Tür zog er jedoch nicht ganz zu, um zu hören, falls Athos ihn brauchte.
Einen Moment lang stand er in dem nachtdunklen Raum, der nur von dem Feuer aus dem Kamin beleuchtet wurde und sah sich um. Kurz überlegte er, sich auf die satinbespannte Chaiselongue zu setzen, doch das Möbelstück lockte ihn nicht, wirkte zu elegant, zu zierlich für ihn als Soldaten und Musketier. Und so nahm er kurzentschlossen die Weinflasche und einen Becher vom Tisch und ließ sich damit auf dem Bärenfell nieder, das zwischen Chaiselongue und Kamin auf dem blanken Dielenboden ausgebreitet lag. Mit einem Seufzen lehnte er sich gegen das Möbel in seinem Rücken, schenkte sich einen Becher des wirklich guten Weins ein und trank ihn in kleinen Schlucken, während er gedankenverloren in die Flammen starrte.
Für den Moment hatte der Regen etwas nachgelassen, prasselte nur leise gegen das Fenster. Zusammen mit dem Knistern und Knacken des Feuers hatten diese alltäglichen Geräusche in dem ansonsten nachtstillen Raum etwas Beruhigendes, genau wie das vertraute leise Raunen und verhaltene Seufzen, das dann und wann aus dem zweiten Schlafzimmer zu ihm drang, und er lächelte unwillkürlich. Seinen Freunden ging es gut. Und endlich spürte d’Artagnan, wie er allmählich zur Ruhe kam, seine Gedanken zulassen konnte. Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Tage, aber auch Gefühle, die er hatte unterdrücken müssen, als die Ereignisse ihn überrollt hatten. Furcht, Wut, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Trauer und Erleichterung, all das strömte nun auf ihn ein und ließ ihn leise erzittern. Völlig versunken bemerkte er nicht, dass auch im zweiten Schlafzimmer Ruhe eingekehrt war.
Da spürte er mit einem Mal eine Präsenz neben sich und blickte hastig auf.
„Ich wollte dich nicht stören“, raunte Porthos und sah ihn forschend an. „Möchtest du lieber alleine sein?“ Der große Musketier trug lediglich seine leinene Unterhose, ein Zugeständnis an d’Artagnan, denn bestimmt war er vor einer kurzen Weile noch nackt gewesen. D’Artagnan wusste, dass Porthos und Aramis ab und an mehr miteinander teilten als brüderliche Freundschaft, und er vermutete, dass die beiden nach den durchgestandenen Schrecken Trost und Sicherheit in der vertrauten Nähe zueinander gesucht hatten. Und so bedachte D’Artagnan seinen Bruder mit einem kleinen Lächeln, bevor er die Weinflasche hob und erwiderte: „Hol dir einen Becher...“
Porthos lächelte zurück, trat kurz zum Esstisch und ließ sich dann mit leisem Ächzen links neben dem Jüngeren nieder. D’Artagnan füllte den Becher des Freundes schweigend, stieß mit ihm an, und nachdem sie einen ordentlichen Zug genommen hatten, lehnte sich d’Artagnan an dessen Schulter.
Porthos’ nackter Oberkörper strahlte kaum weniger Wärme aus als die nach und nach ersterbenden Flammen im Kamin, und d’Artagnan atmete einmal tief durch, sog den Geruch des Freundes ein – nach Pferd und Schießpulver und ein wenig nach Aramis. Ein Geruch, der ihm fast so vertraut war wie der von Athos und beruhigend auf seine Seele wirkte.
„Du kannst nicht schlafen?“, begann Porthos schließlich leise das Gespräch, und d’Artagnan nickte.
„Athos?“
„Ihm geht es gut, er schläft – ich wollte ihn nicht stören“, erklärte d’Artagnan.
„Mhm“, brummte Porthos verständnisvoll.
„Aramis?“ In der Frage des Jüngeren schwang hörbar ein Lächeln mit, das sich in Porthos’ Miene wiederfand, als er entgegnete: „Auch er schläft. Ich hab ihm versprochen, ein Auge auf euch zu haben.“
D’Artagnan drehte ihm den Kopf zu und zog eine Augenbraue hoch, und Porthos zuckte die Schulter, an der d’Artagnan nicht lehnte. „Ihr seid immerhin beide verletzt“, erklärte er schließlich gelassen. D’Artagnan erwiderte nichts, wendete den Kopf wieder dem Feuer zu, doch seine Lippen umspielte ein warmes Lächeln.
Eine Weile saßen sie so in einvernehmlichen Schweigen beisammen, und d’Artagnan war Porthos dankbar, dass er nicht auf einem Gespräch drängte, sondern ihn weiter seinen Gedanken nachhängen ließ. Und aus diesen Gedanken heraus erklärte der Jüngere schließlich: „Furet wird einmal ein ausgezeichneter Musketier.“
Porthos brummte interessiert, und so fuhr d’Artagnan fort: „Ich habe die drei vom ersten Tag an trainiert...“ Als ihm einfiel, dass Porthos nicht wissen konnte, wen er damit meinte, ergänzte er: „Furet, Lupien und Jean-Claude.“ Wieder schwieg er, doch diesmal hakte Porthos nach einem geduldigen Augenblick behutsam nach: „Und wie haben sich Lupien und Jean-Claude gemacht?“
D’Artagnan nahm einen Schluck und begann nach kurzem Nachsinnen trocken: „Lupien... Nun, er wird sicher niemals ein guter Kämpfer.“ Porthos hörte die Wärme und den Stolz in der Stimme seines Freundes, als er fortfuhr: „Aber er ist ein besonderer junger Mann. Athos hat Tréville gebeten, ihn in Paris zu Lemay zu schicken, damit er von dem Doktor alles lernt, was ein guter Feldarzt wissen muss. Wir können froh sein, ihn in unseren Reihen zu haben.“
„Ganz bestimmt!“, erwiderte Porthos nachdrücklich und dachte an das vorausschauende und besonnene Handeln des Jungen, als Athos‘ Leben am seidenen Faden hing. „Aramis hält große Stücke auf ihn!“
D’Artagnan nickte lächelnd. Doch dann wurde seine Miene düster, als er tief Luft holte und tonlos erklärte: „Jean-Claude... Er war noch so verdammt jung, Porthos... Eigentlich noch ein Kind! Er hatte nie eine Chance, herauszufinden, was aus ihm hätte werden können... Hätte ich de Grasse früher durchschaut, oder wäre ich doch nur...“
„Tu das nicht, mein Freund!“, unterbrach ihn da leise, aber voller Eindringlichkeit eine Stimme hinter ihnen. Die beiden fuhren herum.
„‘Mis!“, stellte Porthos mit leisem Erstaunen fest. „Ich dachte, du schläfst?“
Der Angesprochene zuckte die Schultern. „Der Sturm, nehme ich an...“
Tatsächlich fiel den anderen beiden jetzt erst auf, dass der Regen erneut an Stärke gewonnen hatte und zugleich der Sturm vom Nachmittag wieder aufgekommen war. Er heulte ums Haus und fegte den Regen in Böen gegen das Fenster, und d’Artagnan dachte mit einem kurzen Schaudern, dass das Wetter seine düstere Stimmung spiegelte.
Derweil kam Aramis zu ihnen herüber und ließ sich an d’Artagnans rechter Seite auf dem Bärenfell nieder. Behutsam stieß er den Jüngeren mit der Schulter an, der seinen Kopf jedoch gesenkt hielt, so dass Aramis mitfühlend hinzusetzte: „Ich weiß, wie es ist, Kameraden auf eine derart... sinnlose Weise zu verlieren, d’Artagnan. Und ich weiß, wie selbstzerstörerisch es sein kann, dafür beharrlich die Schuld bei sich zu suchen.“ Über den Kopf ihres Jüngsten hinweg wechselten die beiden älteren Musketiere einen eindringlichen Blick, und Porthos ergänzte leise: „Aramis und ich waren nicht dort – aber glaube mir: Dass de Grasse so weit geht, das konnte niemand ahnen, weder du noch Athos, in Ordnung?“
D’Artagnan nickte schwach, mied aber weiter den Blick seiner Brüder, als er leise, mit einer ungewöhnlichen Verletzlichkeit fragte: „Warum, Porthos...? Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun? Ein Mann von Adel, ein Comte...?“
Porthos schluckte hart, senkte den Kopf und erwiderte dunkel: „Ich weiß es nicht, Kleiner. Ich weiß es wirklich nicht!“
Er schwieg, und d’Artagnan erwartete keine weitere Antwort mehr. Doch da räusperte sich Porthos und erklärte ruhig: „Du weißt, wo ich aufgewachsen bin.“ Er wartete kaum d‘Artagnans knappes Nicken ab, bevor er fortfuhr: „Zwischen Dieben und Bettlern und Huren und Halsabschneidern. Doch auch dort gab es eine gewisse Art von Ehre, von Anständigkeit und Menschlichkeit: Eine abgewetzte Dirne, die einem halb verhungerten Jungen immer wieder etwas von ihrer kärglichen Kost abgab, so dass er überlebte. Ein Mädchen, dass ihn mit ihren bloßen Fäusten vor einem struppigen, wütenden Straßenköter rettete. Ein alter Taschendieb, fast ohne Zähne im Mund, der ein paar Kindern durch seine harmlosen Späße und Taschenspielertricks das allzu schwere Leben ein wenig erträglicher machte.“
Wie immer bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Porthos von seiner harten Kindheit und Jugend im Hof der Wunder sprach, hatte Aramis einen Kloß in der Kehle. Ohne Nachdenken legte er über d’Artagnans Schulter hinweg für einen kurzen Moment seine Hand auf Porthos‘ Arm, und sein Freund wandte sich ihm zu. Seine Augen strahlten voll warmer Zuneigung und Dank für den stummen Rückhalt. Auch d’Artagnan sah ihn endlich wieder an, und so fuhr er für den Jüngeren fort: „Ich habe dort auch vornehme Männer getroffen; Männer, die Vergnügungen und Befriedigung gewisser Lüste suchten, die sie sonst nirgendwo in Paris ausleben konnten. Es gab unter ihnen Stille, Laute, Herrische und Freundliche, Geizige und Freigiebige, Selbstherrliche und Mitfühlende. Und im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es überall so ist, d’Artagnan. In Armenhäusern wie bei Hofe. In vornehmen Familien genau wie bei einfachen Arbeitern. Unter Soldaten wie Zivilisten. Es kommt nicht darauf an, woher ein Mensch stammt, welche Hautfarbe er hat oder wie gut gefüllt seine Geldbörse ist. Du musst in sein Herz schauen, um zu entscheiden, ob er ein guter Mensch ist, ein Idiot – oder ein Monster.“
Wieder wechselte er einen Blick mit Aramis. Beide sahen d’Artagnan deutlich an, wie ihr junger Freund das Gehörte durchdachte. Und so setzte Aramis leise hinzu: „Du hast ein Monster der allerübelsten Sorte getroffen, d’Art. Ein Comte, der überzeugt war, dass sein Titel ihn über alle niederen Stände erhaben mache, ihm das Recht gäbe, sie schlimmer als Vieh zu behandeln. Aber du kennst auch einen anderen Comte; einen Mann von echtem Adel, voller Ehre und Güte und Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein.“ Mit einem verhaltenen Lächeln erkannte er, wie sich ein warmes Leuchten in d’Artagnans Miene ausbreitete.
„Athos...“, murmelte der Jüngere, und Aramis nickte, während Porthos hinzufügte: „Er ist es, der mich gelehrt hat, was Ehre und Loyalität und wirklicher Adel bedeuten...“
Ein leises Räuspern ließ alle drei die Köpfe in Richtung des ersten Schlafzimmers herumfahren.
Athos hatte eine Weile im Türrahmen gestanden und der Unterhaltung seiner Brüder gelauscht. Das Bild, wie sie einträchtig vor der Glut des Kamins am Boden saßen, wie die beiden Älteren seinem Gascogner Trost und Beistand boten, wärmte sein Herz zutiefst.
„Olivier!“ Eine Mischung aus Überraschung und leiser Besorgnis lag in d’Artagnans Stimme und er war im Begriff, aufzuspringen, um zu ihm zu kommen, während Porthos und Aramis ihn aufmerksam musterten. Athos winkte mit einer Hand ab und lächelte d’Artagnan beruhigend zu. Der Blick, den ihm der Jüngere daraufhin schenkte, die innige Wärme und bedingungslose Liebe, die in den Augen des jungen Mannes standen, ließen ihn hart schlucken und erweckten zugleich den überwältigenden Wunsch, ihn in die Arme zu schließen, nie wieder loszulassen. Noch immer wirkte der Schock in ihm nach, den Gefährten in mehr als einer Hinsicht beinahe verloren zu haben. Doch er wollte sich diese Gefühle nicht anmerken lassen; deshalb lächelte er stattdessen nur verhalten und erklärte trocken: „Ich danke für eure hohe Meinung von mir. Unverdient zwar, aber durchaus schmeichelhaft.“
„Wie bescheiden...“ Aramis lachte leise auf, und auch die anderen beiden schienen beruhigt. Porthos wies Aramis mit einem Kopfnicken an, etwas von d’Artagnan abzurücken und beschied Athos: „Nun komm schon her, oder willst du da in der Tür stehenbleiben?“
Er grinste lediglich zur Antwort, kam um die Chaiselongue herum und ließ sich etwas steif zwischen d’Artagnan und Aramis nieder, wobei er ein leises Zischen nicht unterdrücken konnte.
„Alles in Ordnung? Haben wir dich geweckt?“, wollte d’Artagnan wissen und sah von seinem Gesicht zu der von seinem Hemd verdeckten, bandagierten Verletzung, während seine Hand schon beruhigend über Athos‘ Oberschenkel glitt.
„Alles gut!“, beschwichtigte er den Jüngeren, legte seinen Arm um ihn und erklärte weiter: „Ich bin wach geworden, weil das Bett so kalt und leer war.“ Die für Athos so ungewöhnlich freimütigen Worte waren von derart schlichter Aufrichtigkeit, dass keiner der anderen darüber spottete. Stattdessen rückte Aramis von der anderen Seite näher an ihn und erklärte: „Nun, dann wärmen wir dich ein wenig auf, bevor d’Artagnan dich zurückbegleitet.“
„Und da hilft sicher auch ein Schluck Wein“, entschied Porthos und reichte Athos kurzerhand die Flasche, die dieser mit einem dankenden Nicken entgegennahm. Geduldig ließ er über sich ergehen, dass Aramis derweil seine Stirn befühlte und seinen Puls nahm; er wusste, dass sein Bruder nicht aus seiner Haut konnte, und auch d’Artagnan war deutlich beruhigter, als Aramis das Ergebnis seiner kurzen Untersuchung kundtat: „Kein Fieber, kräftiger Puls - es scheint ihm wirklich so weit gut zu gehen.“
„Besser als de Grasse und Gustave“, rutschte es ihm trocken heraus. Als er spürte, wie d’Artagnan sich unter seinem Arm anspannte, verfluchte er seine Unbedachtheit im Stillen und drückte seinen Gefährten ein klein wenig fester an seine unverletzte linke Seite. Doch bevor er etwas zur Entschuldigung sagen konnte, äußerte sich Porthos mit nachdenklicher Miene: „De Grasse war ein Bastard, der ohne Zweifel den Tod verdient hat. Aber Gustave...“
„Er wollte Athos töten – und hätte es beinahe geschafft!“, fuhr d’Artagnan hitzig auf. Porthos ließ sich jedoch davon nicht aus der Ruhe bringen, sondern erwiderte bedächtig: „Er hat Athos verletzt, das ist richtig, d’Art. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich ihn mit dem Dolch treffen wollte...“
„Was meinst du damit?“, fragte Athos, für d’Artagnans Geschmack viel zu gelassen.
Porthos zuckte die Schultern, nahm einen Schluck aus seinem Glas und entgegnete dann bedächtig: „Nun, als er sich in Bewegung setzte, das Messer in der Hand – da stand de Grasse mit dem Rücken zu ihm, nicht du.“
„Du meinst, er hatte es eigentlich auf Robert abgesehen, nicht auf mich?“ Immer noch klang Athos keine Spur verärgert, sondern eher nachdenklich.
„De Grasse ist überraschend unter deinem Schwertarm weggetaucht, so dass du dich mit ihm gedreht hast, genau vor Gustaves Klinge...“, rekapitulierte Aramis halblaut, und Porthos nickte, weil Aramis seine Gedanken laut aussprach. D’Artagnan hatte die Augenbrauen unwillig zusammengezogen und fragte ungläubig: „Und weshalb sollte Gustave das tun? Er war fast so schlimm wie de Grasse selbst – und ihm darüber hinaus absolut ergeben.“
„Nun“, erwiderte Porthos behutsam, „ich weiß es natürlich nicht, d’Art. Aber letztlich war er ein armer Hund. Wer weiß, wie lange er schon in den Fängen dieses Schweins war. Wie lange de Grasse ihn schon manipuliert und verdreht und... abgerichtet hat. Und vielleicht sah er mit einem Mal eine Chance, seinen Peiniger aus eigener Kraft loszuwerden.“
„Als ich Robert im Wald aufgespürt hatte und ihm die Klinge an die Kehle hielt, floss etwas Blut“, ergänzte Athos langsam. „Und Gustave sah es. Irgendetwas ist in dem Moment mit dem Jungen passiert...“
D’Artagnan seufzte, und Athos spürte, wie ein Stück der Anspannung von ihm wich.
„Ich habe es auch gesehen“, gab er zu. „Es sah aus, als... Ich weiß nicht. Als habe er zum ersten Mal erkannt, dass auch de Grasse nur aus Fleisch und Blut besteht.“
„Dass er verwundbar ist“, setzte Porthos hinzu.
D’Artagnan schloss die Augen und lehnte sich fester in die Umarmung seines Gefährten.
„Wie auch immer“, bekannte er dann leise, „er hat Athos beinahe das Leben genommen, und deshalb kann ich seinen Tod nicht bedauern. Ich bin froh, dass du geschossen hast, Aramis, bevor er noch Schlimmeres hätte anrichten können...“
„Natürlich hast du recht, d’Art“, gab Porthos zu. „Und wahrscheinlich war Gustave nicht mehr zu retten. Vielleicht war der Tod das Gnädigste für ihn...“
„Aber ich weiß, was du meinst, mein Freund“, erwiderte Athos leise. „Unter den falschen Umständen könnte jeder so enden wie Gustave, nicht?“
„Wenn mein Vater mich nicht aus dem Freudenhaus geholt hätte, in dem ich mit meiner Mutter lebte...“, bestätigte Aramis, und Porthos fügte hinzu: „Oder wenn ich im Hof der Wunder nicht Charon und Flea gehabt hätte... Wer weiß...“
D’Artagnan sah seine Brüder betroffen an, die ihm jedoch nur beruhigend zulächelten. „Das Schicksal hat einen anderen Weg für uns vorgesehen...“, erklärte Porthos leichthin, und Aramis setzte hinzu: „Wofür wir Gott danken sollten.“
„Genau wie für unsere Freunde, ein warmes Feuer und einen guten Wein“, fügte Athos trocken hinzu, und zu seiner Erleichterung spürte er, wie d’Artagnan entschieden nickte, damit offenbar bereit war, das unselige Thema ruhen zu lassen.
„Auf Freunde und guten Wein“, erklärte der Gascogner fest, sah die drei Älteren der Reihe nach an und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
„Der Wein ist tatsächlich gut!“, beschied Porthos grinsend, und Aramis erklärte gespielt düster: „Ich habe seit dem Abendessen nichts mehr davon bekommen.“
„Hier“, damit reichte Athos ihm die Flasche und erklärte: „Der Rest ist für dich.“
Aramis verkniff sich sowohl ein erstauntes Grinsen als auch die Mutmaßung, was, oder besser, wer Athos statt des Weins zu gutem Schlaf verhelfen würde, und erwiderte stattdessen liebenswürdig: „Wenigstens einer, der an mein Wohlergehen denkt!“
Zufrieden lehnte Athos sich zurück und lauschte dem freundschaftlichen Geplänkel der anderen drei, das auf diese Worte folgte, während seine Augen langsam zufielen.
„Ich glaube, hier schläft jemand gleich ein!“, riss ihn Porthos gutmütige Erheiterung aus seinem Halbdämmer. Unbedacht atmete er tief durch und knurrte dann gequält. Offenbar hatte er für einen Moment vergessen, dass er verletzt war.
„Hey, langsam“, beschwichtigte Aramis. „Keine Anstrengung, kein allzu tiefes Einatmen, mein Freund. Lass der Wunde ein paar Tage Zeit, um zu heilen.“
„Schon gut, schon gut!“, erwiderte Athos nur defensiv, doch er sah ein, dass sein Waffenbruder recht hatte.
Aramis warf d’Artagnan einen vielsagenden Blick zu, und sofort gähnte der Jüngere löwengleich und meinte viel zu unschuldig: „Ich glaube, ich muss zurück ins Bett.“
Athos sah ihn an, zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte hintergründig, doch er sagte keinen Ton dazu, sondern bat lediglich: „Dann hilf mir doch auf, damit ich mitkommen kann.“
„Guter Gedanke“, gab d’Artagnan freimütig zu, erhob sich und hielt seinem Gefährten die Hand hin, um ihn auf die Beine zu ziehen.
Porthos und Aramis hielten sich zurück; aus langjähriger Erfahrung wussten sie, wie wenig Athos es schätzte, zu sehr bemuttert zu werden. Und sie wussten, dass sein Wohlergehen bei d’Artagnan in den besten Händen lag. So entboten sie einander nur noch eine gute Nacht, und als die beiden in ihr Schlafzimmer verschwanden, rutschte Aramis nahe an Porthos. Der große Musketier legte den Arm um seinen Freund und Aramis lehnte sich an ihn, beide dankbar für die Wärme und die Gesellschaft in dieser ungemütlichen Nacht.
Athos war klug genug, d’Artagnans Hilfe anzunehmen, als er sich auf dem Bett niederließ, und bald darauf lagen sie erneut eng umschlungen beieinander. Die vertraute Nähe seines Gefährten wirkte dieses Mal beruhigend auf den Jüngeren, und das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens auf das Vordach und gegen das Fenster ließen ihre Zuflucht nur noch behaglicher wirken.
Wie häufig kurz vor dem Einschlafen drifteten d’Artagnans Gedanken ab, zu den Geschehnissen der letzten Stunden, und während er sanft über Athos‘ Arm strich, der ihn umfing, murmelte er schließlich aus seinen lose wandernden Gedanken heraus mit fragendem Unterton: „Du hast heute zweimal deinen Titel benutzt. Des Essarts gegenüber, und vorhin bei dem Wirt.“
Athos, der bis dahin entspannt und ebenfalls dem Schlaf nahe hinter ihm gelegen hatte, erstarrte und hakte schließlich in einem Tonfall, den d’Artagnan nicht zu deuten wusste, nach: „Findet es... dein Missfallen?“
„Was?“ D’Artagnan hielt in seiner streichelnden Bewegung inne und versicherte schnell: „Nein, darum geht es nicht. Ich war nur erstaunt!“
Zu seiner Erleichterung hörte er Athos leise lachen. Er drehte sich in der Umarmung und stützte sich zugleich auf einem Ellbogen auf, so dass er Athos’ Gesicht sehen konnte, als er erklärend hinzufügte: „In Pinon – nein, eigentlich solange wir uns kennen, hast du allergrößten Wert darauf gelegt, dich von deinem Titel als Comte zu distanzieren. Und de Grasse“, er stockte kaum merklich, fuhr dann jedoch fort: „Du hast es gehasst, wenn er dich mit deinem vollen Namen ansprach. Doch heute hast du damit gebrochen, das fiel mir nur auf.“ Und hastig, um keine falschen Gedanken bei Athos aufkommen zu lassen, setzte er leise hinzu: „Ich weiß, dass du außer dem Titel nichts gemein mit ihm hast! Du hast gehört, was Aramis eben gesagt hat, und er hat recht, Yves! Du bist ein Mann voller Ehre und Güte, jemand, dem man vertrauen kann, der das Wohl anderer über das seine stellt...“
Er schwieg, leise beschämt, weil er ohne Nachdenken wieder einmal sein Herz auf der Zunge getragen hatte. Doch Athos schüttelte lediglich ungläubig den Kopf und erwiderte rau: „In deinen Augen bin ich dieser Mensch, und für dich und unsere Brüder bemühe ich mich... Aber dafür brauche ich nicht diesen Adelstitel, mon Coeur...“
Nein, sicher nicht!“, entgegnete d’Artagnan entschieden. „Mir ist es egal, ob du ein Comte oder ein einfacher Soldat bist...“ Dann runzelte er mit einem Mal die Stirn und fügte grübelnd an: „Naja, zumindest, solange du nicht von mir erwartest, dich von nun an mit Monsieur oder Euer Hochwohlgeboren anzureden oder vor dir zu dienern!“
Zu seiner unendlichen Freude sah er den Schalk in Athos’ Augen aufblitzen, als dieser in der ihm so eigenen Art eine Augenbraue hochzog und genüsslich raunte: „Nun... So ab und an ein wenig mehr Respekt und Demut würde dir durchaus gut anstehen...“ Und bevor d’Artagnan zu Recht empört etwas auf dieses Ansinnen erwidern konnte, zog Athos ihn an sich und küsste ihn kurzerhand, bis dieser nachgab und sich mit einem wohligen Grollen an seinen Lippen entspannte. Erst da ließ er wieder von ihm ab, suchte den Blick seines Gascogners, und jeder Humor war daraus verschwunden, hatte einer allumfassenden Wärme Platz gemacht, die sich in seinem Tonfall widerspiegelte, als er erklärte: „Du kennst mich, d’Artagnan, und du weißt, dass ich dir und unseren Brüdern gegenüber niemals diese Karte ausspielen werde.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der d’Artagnan nickte, wärmte ihm das Herz, so dass er ohne Bedenken fortfuhr: „Dank euch ist mir aber auch wieder bewusst geworden, dass ich meine Herkunft, meine Erbe und die Verantwortung meines Standes nicht einfach abschütteln kann. Dass ich die Pflicht habe, Leuten wie Robert Vichy oder auch Baron Renard de Louvier in Pinon entgegenzutreten. Ich bin, wer ich bin, d’Artagnan. Euer Bruder; dein Gefährte... Ein königlicher Musketier. Und auch Olivier d’Athos, Comte de la Fère. Und wenn das schon so ist – weshalb sollte ich es dann nicht auch hin und wieder einsetzen, wenn ich damit denen, die ich liebe, nützen kann?“
Das verschmitzte Schmunzeln auf d’Artagnans Gesicht ließ ihn selbst lächeln.
„Aha – ich wusste gar nicht, dass du so berechnend sein kannst?“, neckte d’Artagnan ihn liebevoll, und diesmal war er es, der Athos küsste, um eine Erwiderung zu unterbinden. Als sie schließlich mit einem leisen Seufzen voneinander abließen, zog Athos seinen Gefährten wieder in eine liegende Position zu sich herunter und verlangte: „Und nun sollten wir schlafen – der Tag war lang genug!“ Damit gähnte er verhalten, und d’Artagnan strich ihm liebevoll über die Wange und durch die Haare, bevor er zärtlich murmelte: „Mon Comte... Schlaft gut!“
Athos, der bereits die Augen geschlossen hatte, schmunzelte nur und zog d’Artagnan noch etwas näher an sich.
tbc...
So. Zwei der Dinge, die ich noch klären wollte, sind hier angesprochen: Gustaves Rolle und warum Athos mit einem Mal wieder ab und an seinen Titel nutzt. Ich bin sehr gespannt auf eure Gedanken hierzu. Und wenn euch das trübe Januar-Wetter auf die Nerven geht, dann träumt euch einfach zu den vieren an den Kamin :-)!
In den nächsten zwei Wochen folgen das letzte Kapitel, in dem dann noch zwei weitere Punkte aufgearbeitet werden, um die Geschichte abzurunden, und ein wichtiger Epilog.
Bis dahin wünsche ein erholsames Wochenende und eine stressfreie Woche.
GLG
Ann
Endlich geht es hier weiter!
Vor zwei Wochen war ich einfach noch nicht zufrieden mit diesem und dem nächsten Kapitel, hab die noch zu erzählenden Puzzleteile immer wieder hin und her geschoben und war etwas verzweifelt, wie ich es in einen sinnvollen Lesefluss kriege. Inzwischen habe ich es halbwegs zufriedenstellend gelöst.
Letzte Woche dann habe ich die noch fehlende Kurzgeschichte zu 2x08 „Der verlorene Vater“ nachgeschoben. Herzlichen Dank für die bereits 99 Aufrufe, die drei Empfehlungssterne und die lieben Reviews!
Falls Ihr sie noch nicht entdeckt habt, findet Ihr sie hier:
https://www.fanfiktion.de/s/61ea9f160001959228c18d33/1/Waffenbrueder-Staffel-2-18-An-deiner-Seite-P-amp-A-
Nun aber zurück zu dieser Geschichte. Weil das letzte Kapitel so lange her ist, habe ich heute einen etwas größeren Absatz zum Wieder-Reinkommen gewählt. Setzt euch bequem hin, bedient euch an frischem Steinofenbrot mit Schinken oder Käse oder Marmelade zu einer guten Tasse Kaffee oder Tee und viel Freude beim Lesen!
Ann
(...) Nach einer Weile trat Aramis in den Raum. Er hatte inzwischen trockene Kleidung an und fragte nun Athos: „Kann ich nach dir sehen?“
Dieser hatte die Augen geschlossen und nickte nur. D’Artagnan und Aramis tauschten über dessen Kopf hinweg einen besorgten Blick, den er zu spüren schien, denn er gestand unumwunden: „Ich bin todmüde und habe Schmerzen – aber es geht mir gut, in Ordnung?“
Einen Moment stutzten die beiden, dann begann Aramis leise zu lachen, schüttelte ungläubig den Kopf und erwiderte nonchalant: „Solch ein Satz kann auch wirklich nur von dir kommen!“
Nun öffnete Athos doch die Augen, und neben der Müdigkeit konnten beiden Freunde ganz klar ein humorvolles Funkeln in ihnen ausmachen, als er trocken erwiderte: „Oder von d’Artagnan!“
Porthos, der offenbar alles vom Nebenraum aus mitbekommen hatte und nun an den Türrahmen gelehnt stand, fügte grinsend hinzu: „Unser werter Aramis ist auch gut darin, seinen wahren Zustand in einer solchen Situation kleinzureden!“
Aramis kniete inzwischen vor Athos und half ihm, das Hemd auszuziehen, so dass er besser an den Verband kam, sah aber nun auf, musterte Porthos und erwiderte mit blitzenden Augen: „Bei Porthos dagegen weiß man stets genau, woran man ist: Jammert und zetert er lauthals, wenn ich seine Wunden versorge – dann geht es ihm gut!“
Die anderen lachten. Offen und entspannt, bis Athos sich die Seite hielt und empört jappste: „Das tut weh!“ Doch gleichzeitig zwinkerte er d’Artagnan zu, so dass dieser erleichtert grinste.
Herrgott – nach diesen unsäglichen Tagen tat es so verdammt gut, mit seinen Brüdern zu scherzen und zu lachen. D’Artagnan war in diesem Augenblick unendlich dankbar für alle drei: Für Aramis’ nie versiegende Zuversicht und Sicherheit im Umgang mit Athos’ Verletzung, für Porthos’ mitreißenden Humor und seinen bedingungslosen Rückhalt, und für Athos’ Gelassenheit - und seine Liebe.
Irgendetwas von seinen Gefühlen schienen in seinem Blick zu liegen, denn mit einem Mal war Porthos neben ihm und legte ihm den Arm um die Schulter, und sein Grinsen war einem warmen Lächeln gewichen, als er erklärte: „Alle für einen, d’Artagnan...“
Aramis und Athos sahen überrascht auf, und beiden wurde die Kehle eng und das Herz weit, als Porthos und d’Artagnan ihre Blicke kreuzten, und d’Artagnan ließ sein Herz sprechen, als er leise bekannte: „Es ist gut, euch alle drei in meinem Leben zu haben...“
- Kapitel 16: Vor dem Kamin -
Am ersten Abend im Gasthaus waren sie nach einem einfachen Mahl früh zu Bett gegangen. Die Anstrengungen der letzten Tage machten sich bei allen vieren bemerkbar. Als d’Artagnan sich behutsam neben seinen Gefährten schob, gab die weiche Daunenmatratze angenehm unter ihm nach. „Wahrlich ein Bett für Adelige!“, merkte er schmunzelnd an, als auch schon Athos’ rechter Arm nach ihm angelte, ihn dicht vor seine Brust zog und einen Seufzer tiefer Zufriedenheit ausstieß. „So erst ist es gut“, murmelte er an d’Artagnans Nacken, der lächelte und zustimmend brummte, Athos’ Hand an seiner Brust griff und ihre Finger miteinander verschränkte. Nur wenige Augenblicke später verrieten tiefe Atemzüge, dass der Ältere fest eingeschlafen war. Der Tag war kräftezehrend für ihn gewesen, und seine Verletzung forderte nun ihren Tribut.
D’Artagnan dagegen fand keinen Schlaf. Er war todmüde, an Körper und Geist erschöpft – und doch fuhren seine Gedanken im Kreis. Zum ersten Mal seit dem Beginn all der unseligen Ereignisse gab es keine akuten Geschehnisse, die seine Wachsamkeit erforderten, keine Aufgabe, die zu bewältigen wäre. Um ihn her herrschte Stille, die ihn nach all den Sorgen und Schrecken der letzten Tage beruhigen sollte, und doch kribbelte alles in ihm voller Unruhe. Es fiel ihm immer schwerer, regungslos liegenzubleiben, um Athos nicht zu stören.
Schließlich schob er sich behutsam unter dem Arm seines Gefährten hervor, schlüpfte aus dem Bett und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, um in den Salon zu gehen. Die Tür zog er jedoch nicht ganz zu, um zu hören, falls Athos ihn brauchte.
Einen Moment lang stand er in dem nachtdunklen Raum, der nur von dem Feuer aus dem Kamin beleuchtet wurde und sah sich um. Kurz überlegte er, sich auf die satinbespannte Chaiselongue zu setzen, doch das Möbelstück lockte ihn nicht, wirkte zu elegant, zu zierlich für ihn als Soldaten und Musketier. Und so nahm er kurzentschlossen die Weinflasche und einen Becher vom Tisch und ließ sich damit auf dem Bärenfell nieder, das zwischen Chaiselongue und Kamin auf dem blanken Dielenboden ausgebreitet lag. Mit einem Seufzen lehnte er sich gegen das Möbel in seinem Rücken, schenkte sich einen Becher des wirklich guten Weins ein und trank ihn in kleinen Schlucken, während er gedankenverloren in die Flammen starrte.
Für den Moment hatte der Regen etwas nachgelassen, prasselte nur leise gegen das Fenster. Zusammen mit dem Knistern und Knacken des Feuers hatten diese alltäglichen Geräusche in dem ansonsten nachtstillen Raum etwas Beruhigendes, genau wie das vertraute leise Raunen und verhaltene Seufzen, das dann und wann aus dem zweiten Schlafzimmer zu ihm drang, und er lächelte unwillkürlich. Seinen Freunden ging es gut. Und endlich spürte d’Artagnan, wie er allmählich zur Ruhe kam, seine Gedanken zulassen konnte. Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Tage, aber auch Gefühle, die er hatte unterdrücken müssen, als die Ereignisse ihn überrollt hatten. Furcht, Wut, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Trauer und Erleichterung, all das strömte nun auf ihn ein und ließ ihn leise erzittern. Völlig versunken bemerkte er nicht, dass auch im zweiten Schlafzimmer Ruhe eingekehrt war.
Da spürte er mit einem Mal eine Präsenz neben sich und blickte hastig auf.
„Ich wollte dich nicht stören“, raunte Porthos und sah ihn forschend an. „Möchtest du lieber alleine sein?“ Der große Musketier trug lediglich seine leinene Unterhose, ein Zugeständnis an d’Artagnan, denn bestimmt war er vor einer kurzen Weile noch nackt gewesen. D’Artagnan wusste, dass Porthos und Aramis ab und an mehr miteinander teilten als brüderliche Freundschaft, und er vermutete, dass die beiden nach den durchgestandenen Schrecken Trost und Sicherheit in der vertrauten Nähe zueinander gesucht hatten. Und so bedachte D’Artagnan seinen Bruder mit einem kleinen Lächeln, bevor er die Weinflasche hob und erwiderte: „Hol dir einen Becher...“
Porthos lächelte zurück, trat kurz zum Esstisch und ließ sich dann mit leisem Ächzen links neben dem Jüngeren nieder. D’Artagnan füllte den Becher des Freundes schweigend, stieß mit ihm an, und nachdem sie einen ordentlichen Zug genommen hatten, lehnte sich d’Artagnan an dessen Schulter.
Porthos’ nackter Oberkörper strahlte kaum weniger Wärme aus als die nach und nach ersterbenden Flammen im Kamin, und d’Artagnan atmete einmal tief durch, sog den Geruch des Freundes ein – nach Pferd und Schießpulver und ein wenig nach Aramis. Ein Geruch, der ihm fast so vertraut war wie der von Athos und beruhigend auf seine Seele wirkte.
„Du kannst nicht schlafen?“, begann Porthos schließlich leise das Gespräch, und d’Artagnan nickte.
„Athos?“
„Ihm geht es gut, er schläft – ich wollte ihn nicht stören“, erklärte d’Artagnan.
„Mhm“, brummte Porthos verständnisvoll.
„Aramis?“ In der Frage des Jüngeren schwang hörbar ein Lächeln mit, das sich in Porthos’ Miene wiederfand, als er entgegnete: „Auch er schläft. Ich hab ihm versprochen, ein Auge auf euch zu haben.“
D’Artagnan drehte ihm den Kopf zu und zog eine Augenbraue hoch, und Porthos zuckte die Schulter, an der d’Artagnan nicht lehnte. „Ihr seid immerhin beide verletzt“, erklärte er schließlich gelassen. D’Artagnan erwiderte nichts, wendete den Kopf wieder dem Feuer zu, doch seine Lippen umspielte ein warmes Lächeln.
Eine Weile saßen sie so in einvernehmlichen Schweigen beisammen, und d’Artagnan war Porthos dankbar, dass er nicht auf einem Gespräch drängte, sondern ihn weiter seinen Gedanken nachhängen ließ. Und aus diesen Gedanken heraus erklärte der Jüngere schließlich: „Furet wird einmal ein ausgezeichneter Musketier.“
Porthos brummte interessiert, und so fuhr d’Artagnan fort: „Ich habe die drei vom ersten Tag an trainiert...“ Als ihm einfiel, dass Porthos nicht wissen konnte, wen er damit meinte, ergänzte er: „Furet, Lupien und Jean-Claude.“ Wieder schwieg er, doch diesmal hakte Porthos nach einem geduldigen Augenblick behutsam nach: „Und wie haben sich Lupien und Jean-Claude gemacht?“
D’Artagnan nahm einen Schluck und begann nach kurzem Nachsinnen trocken: „Lupien... Nun, er wird sicher niemals ein guter Kämpfer.“ Porthos hörte die Wärme und den Stolz in der Stimme seines Freundes, als er fortfuhr: „Aber er ist ein besonderer junger Mann. Athos hat Tréville gebeten, ihn in Paris zu Lemay zu schicken, damit er von dem Doktor alles lernt, was ein guter Feldarzt wissen muss. Wir können froh sein, ihn in unseren Reihen zu haben.“
„Ganz bestimmt!“, erwiderte Porthos nachdrücklich und dachte an das vorausschauende und besonnene Handeln des Jungen, als Athos‘ Leben am seidenen Faden hing. „Aramis hält große Stücke auf ihn!“
D’Artagnan nickte lächelnd. Doch dann wurde seine Miene düster, als er tief Luft holte und tonlos erklärte: „Jean-Claude... Er war noch so verdammt jung, Porthos... Eigentlich noch ein Kind! Er hatte nie eine Chance, herauszufinden, was aus ihm hätte werden können... Hätte ich de Grasse früher durchschaut, oder wäre ich doch nur...“
„Tu das nicht, mein Freund!“, unterbrach ihn da leise, aber voller Eindringlichkeit eine Stimme hinter ihnen. Die beiden fuhren herum.
„‘Mis!“, stellte Porthos mit leisem Erstaunen fest. „Ich dachte, du schläfst?“
Der Angesprochene zuckte die Schultern. „Der Sturm, nehme ich an...“
Tatsächlich fiel den anderen beiden jetzt erst auf, dass der Regen erneut an Stärke gewonnen hatte und zugleich der Sturm vom Nachmittag wieder aufgekommen war. Er heulte ums Haus und fegte den Regen in Böen gegen das Fenster, und d’Artagnan dachte mit einem kurzen Schaudern, dass das Wetter seine düstere Stimmung spiegelte.
Derweil kam Aramis zu ihnen herüber und ließ sich an d’Artagnans rechter Seite auf dem Bärenfell nieder. Behutsam stieß er den Jüngeren mit der Schulter an, der seinen Kopf jedoch gesenkt hielt, so dass Aramis mitfühlend hinzusetzte: „Ich weiß, wie es ist, Kameraden auf eine derart... sinnlose Weise zu verlieren, d’Artagnan. Und ich weiß, wie selbstzerstörerisch es sein kann, dafür beharrlich die Schuld bei sich zu suchen.“ Über den Kopf ihres Jüngsten hinweg wechselten die beiden älteren Musketiere einen eindringlichen Blick, und Porthos ergänzte leise: „Aramis und ich waren nicht dort – aber glaube mir: Dass de Grasse so weit geht, das konnte niemand ahnen, weder du noch Athos, in Ordnung?“
D’Artagnan nickte schwach, mied aber weiter den Blick seiner Brüder, als er leise, mit einer ungewöhnlichen Verletzlichkeit fragte: „Warum, Porthos...? Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun? Ein Mann von Adel, ein Comte...?“
Porthos schluckte hart, senkte den Kopf und erwiderte dunkel: „Ich weiß es nicht, Kleiner. Ich weiß es wirklich nicht!“
Er schwieg, und d’Artagnan erwartete keine weitere Antwort mehr. Doch da räusperte sich Porthos und erklärte ruhig: „Du weißt, wo ich aufgewachsen bin.“ Er wartete kaum d‘Artagnans knappes Nicken ab, bevor er fortfuhr: „Zwischen Dieben und Bettlern und Huren und Halsabschneidern. Doch auch dort gab es eine gewisse Art von Ehre, von Anständigkeit und Menschlichkeit: Eine abgewetzte Dirne, die einem halb verhungerten Jungen immer wieder etwas von ihrer kärglichen Kost abgab, so dass er überlebte. Ein Mädchen, dass ihn mit ihren bloßen Fäusten vor einem struppigen, wütenden Straßenköter rettete. Ein alter Taschendieb, fast ohne Zähne im Mund, der ein paar Kindern durch seine harmlosen Späße und Taschenspielertricks das allzu schwere Leben ein wenig erträglicher machte.“
Wie immer bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Porthos von seiner harten Kindheit und Jugend im Hof der Wunder sprach, hatte Aramis einen Kloß in der Kehle. Ohne Nachdenken legte er über d’Artagnans Schulter hinweg für einen kurzen Moment seine Hand auf Porthos‘ Arm, und sein Freund wandte sich ihm zu. Seine Augen strahlten voll warmer Zuneigung und Dank für den stummen Rückhalt. Auch d’Artagnan sah ihn endlich wieder an, und so fuhr er für den Jüngeren fort: „Ich habe dort auch vornehme Männer getroffen; Männer, die Vergnügungen und Befriedigung gewisser Lüste suchten, die sie sonst nirgendwo in Paris ausleben konnten. Es gab unter ihnen Stille, Laute, Herrische und Freundliche, Geizige und Freigiebige, Selbstherrliche und Mitfühlende. Und im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es überall so ist, d’Artagnan. In Armenhäusern wie bei Hofe. In vornehmen Familien genau wie bei einfachen Arbeitern. Unter Soldaten wie Zivilisten. Es kommt nicht darauf an, woher ein Mensch stammt, welche Hautfarbe er hat oder wie gut gefüllt seine Geldbörse ist. Du musst in sein Herz schauen, um zu entscheiden, ob er ein guter Mensch ist, ein Idiot – oder ein Monster.“
Wieder wechselte er einen Blick mit Aramis. Beide sahen d’Artagnan deutlich an, wie ihr junger Freund das Gehörte durchdachte. Und so setzte Aramis leise hinzu: „Du hast ein Monster der allerübelsten Sorte getroffen, d’Art. Ein Comte, der überzeugt war, dass sein Titel ihn über alle niederen Stände erhaben mache, ihm das Recht gäbe, sie schlimmer als Vieh zu behandeln. Aber du kennst auch einen anderen Comte; einen Mann von echtem Adel, voller Ehre und Güte und Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein.“ Mit einem verhaltenen Lächeln erkannte er, wie sich ein warmes Leuchten in d’Artagnans Miene ausbreitete.
„Athos...“, murmelte der Jüngere, und Aramis nickte, während Porthos hinzufügte: „Er ist es, der mich gelehrt hat, was Ehre und Loyalität und wirklicher Adel bedeuten...“
Ein leises Räuspern ließ alle drei die Köpfe in Richtung des ersten Schlafzimmers herumfahren.
Athos hatte eine Weile im Türrahmen gestanden und der Unterhaltung seiner Brüder gelauscht. Das Bild, wie sie einträchtig vor der Glut des Kamins am Boden saßen, wie die beiden Älteren seinem Gascogner Trost und Beistand boten, wärmte sein Herz zutiefst.
„Olivier!“ Eine Mischung aus Überraschung und leiser Besorgnis lag in d’Artagnans Stimme und er war im Begriff, aufzuspringen, um zu ihm zu kommen, während Porthos und Aramis ihn aufmerksam musterten. Athos winkte mit einer Hand ab und lächelte d’Artagnan beruhigend zu. Der Blick, den ihm der Jüngere daraufhin schenkte, die innige Wärme und bedingungslose Liebe, die in den Augen des jungen Mannes standen, ließen ihn hart schlucken und erweckten zugleich den überwältigenden Wunsch, ihn in die Arme zu schließen, nie wieder loszulassen. Noch immer wirkte der Schock in ihm nach, den Gefährten in mehr als einer Hinsicht beinahe verloren zu haben. Doch er wollte sich diese Gefühle nicht anmerken lassen; deshalb lächelte er stattdessen nur verhalten und erklärte trocken: „Ich danke für eure hohe Meinung von mir. Unverdient zwar, aber durchaus schmeichelhaft.“
„Wie bescheiden...“ Aramis lachte leise auf, und auch die anderen beiden schienen beruhigt. Porthos wies Aramis mit einem Kopfnicken an, etwas von d’Artagnan abzurücken und beschied Athos: „Nun komm schon her, oder willst du da in der Tür stehenbleiben?“
Er grinste lediglich zur Antwort, kam um die Chaiselongue herum und ließ sich etwas steif zwischen d’Artagnan und Aramis nieder, wobei er ein leises Zischen nicht unterdrücken konnte.
„Alles in Ordnung? Haben wir dich geweckt?“, wollte d’Artagnan wissen und sah von seinem Gesicht zu der von seinem Hemd verdeckten, bandagierten Verletzung, während seine Hand schon beruhigend über Athos‘ Oberschenkel glitt.
„Alles gut!“, beschwichtigte er den Jüngeren, legte seinen Arm um ihn und erklärte weiter: „Ich bin wach geworden, weil das Bett so kalt und leer war.“ Die für Athos so ungewöhnlich freimütigen Worte waren von derart schlichter Aufrichtigkeit, dass keiner der anderen darüber spottete. Stattdessen rückte Aramis von der anderen Seite näher an ihn und erklärte: „Nun, dann wärmen wir dich ein wenig auf, bevor d’Artagnan dich zurückbegleitet.“
„Und da hilft sicher auch ein Schluck Wein“, entschied Porthos und reichte Athos kurzerhand die Flasche, die dieser mit einem dankenden Nicken entgegennahm. Geduldig ließ er über sich ergehen, dass Aramis derweil seine Stirn befühlte und seinen Puls nahm; er wusste, dass sein Bruder nicht aus seiner Haut konnte, und auch d’Artagnan war deutlich beruhigter, als Aramis das Ergebnis seiner kurzen Untersuchung kundtat: „Kein Fieber, kräftiger Puls - es scheint ihm wirklich so weit gut zu gehen.“
„Besser als de Grasse und Gustave“, rutschte es ihm trocken heraus. Als er spürte, wie d’Artagnan sich unter seinem Arm anspannte, verfluchte er seine Unbedachtheit im Stillen und drückte seinen Gefährten ein klein wenig fester an seine unverletzte linke Seite. Doch bevor er etwas zur Entschuldigung sagen konnte, äußerte sich Porthos mit nachdenklicher Miene: „De Grasse war ein Bastard, der ohne Zweifel den Tod verdient hat. Aber Gustave...“
„Er wollte Athos töten – und hätte es beinahe geschafft!“, fuhr d’Artagnan hitzig auf. Porthos ließ sich jedoch davon nicht aus der Ruhe bringen, sondern erwiderte bedächtig: „Er hat Athos verletzt, das ist richtig, d’Art. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich ihn mit dem Dolch treffen wollte...“
„Was meinst du damit?“, fragte Athos, für d’Artagnans Geschmack viel zu gelassen.
Porthos zuckte die Schultern, nahm einen Schluck aus seinem Glas und entgegnete dann bedächtig: „Nun, als er sich in Bewegung setzte, das Messer in der Hand – da stand de Grasse mit dem Rücken zu ihm, nicht du.“
„Du meinst, er hatte es eigentlich auf Robert abgesehen, nicht auf mich?“ Immer noch klang Athos keine Spur verärgert, sondern eher nachdenklich.
„De Grasse ist überraschend unter deinem Schwertarm weggetaucht, so dass du dich mit ihm gedreht hast, genau vor Gustaves Klinge...“, rekapitulierte Aramis halblaut, und Porthos nickte, weil Aramis seine Gedanken laut aussprach. D’Artagnan hatte die Augenbrauen unwillig zusammengezogen und fragte ungläubig: „Und weshalb sollte Gustave das tun? Er war fast so schlimm wie de Grasse selbst – und ihm darüber hinaus absolut ergeben.“
„Nun“, erwiderte Porthos behutsam, „ich weiß es natürlich nicht, d’Art. Aber letztlich war er ein armer Hund. Wer weiß, wie lange er schon in den Fängen dieses Schweins war. Wie lange de Grasse ihn schon manipuliert und verdreht und... abgerichtet hat. Und vielleicht sah er mit einem Mal eine Chance, seinen Peiniger aus eigener Kraft loszuwerden.“
„Als ich Robert im Wald aufgespürt hatte und ihm die Klinge an die Kehle hielt, floss etwas Blut“, ergänzte Athos langsam. „Und Gustave sah es. Irgendetwas ist in dem Moment mit dem Jungen passiert...“
D’Artagnan seufzte, und Athos spürte, wie ein Stück der Anspannung von ihm wich.
„Ich habe es auch gesehen“, gab er zu. „Es sah aus, als... Ich weiß nicht. Als habe er zum ersten Mal erkannt, dass auch de Grasse nur aus Fleisch und Blut besteht.“
„Dass er verwundbar ist“, setzte Porthos hinzu.
D’Artagnan schloss die Augen und lehnte sich fester in die Umarmung seines Gefährten.
„Wie auch immer“, bekannte er dann leise, „er hat Athos beinahe das Leben genommen, und deshalb kann ich seinen Tod nicht bedauern. Ich bin froh, dass du geschossen hast, Aramis, bevor er noch Schlimmeres hätte anrichten können...“
„Natürlich hast du recht, d’Art“, gab Porthos zu. „Und wahrscheinlich war Gustave nicht mehr zu retten. Vielleicht war der Tod das Gnädigste für ihn...“
„Aber ich weiß, was du meinst, mein Freund“, erwiderte Athos leise. „Unter den falschen Umständen könnte jeder so enden wie Gustave, nicht?“
„Wenn mein Vater mich nicht aus dem Freudenhaus geholt hätte, in dem ich mit meiner Mutter lebte...“, bestätigte Aramis, und Porthos fügte hinzu: „Oder wenn ich im Hof der Wunder nicht Charon und Flea gehabt hätte... Wer weiß...“
D’Artagnan sah seine Brüder betroffen an, die ihm jedoch nur beruhigend zulächelten. „Das Schicksal hat einen anderen Weg für uns vorgesehen...“, erklärte Porthos leichthin, und Aramis setzte hinzu: „Wofür wir Gott danken sollten.“
„Genau wie für unsere Freunde, ein warmes Feuer und einen guten Wein“, fügte Athos trocken hinzu, und zu seiner Erleichterung spürte er, wie d’Artagnan entschieden nickte, damit offenbar bereit war, das unselige Thema ruhen zu lassen.
„Auf Freunde und guten Wein“, erklärte der Gascogner fest, sah die drei Älteren der Reihe nach an und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
„Der Wein ist tatsächlich gut!“, beschied Porthos grinsend, und Aramis erklärte gespielt düster: „Ich habe seit dem Abendessen nichts mehr davon bekommen.“
„Hier“, damit reichte Athos ihm die Flasche und erklärte: „Der Rest ist für dich.“
Aramis verkniff sich sowohl ein erstauntes Grinsen als auch die Mutmaßung, was, oder besser, wer Athos statt des Weins zu gutem Schlaf verhelfen würde, und erwiderte stattdessen liebenswürdig: „Wenigstens einer, der an mein Wohlergehen denkt!“
Zufrieden lehnte Athos sich zurück und lauschte dem freundschaftlichen Geplänkel der anderen drei, das auf diese Worte folgte, während seine Augen langsam zufielen.
„Ich glaube, hier schläft jemand gleich ein!“, riss ihn Porthos gutmütige Erheiterung aus seinem Halbdämmer. Unbedacht atmete er tief durch und knurrte dann gequält. Offenbar hatte er für einen Moment vergessen, dass er verletzt war.
„Hey, langsam“, beschwichtigte Aramis. „Keine Anstrengung, kein allzu tiefes Einatmen, mein Freund. Lass der Wunde ein paar Tage Zeit, um zu heilen.“
„Schon gut, schon gut!“, erwiderte Athos nur defensiv, doch er sah ein, dass sein Waffenbruder recht hatte.
Aramis warf d’Artagnan einen vielsagenden Blick zu, und sofort gähnte der Jüngere löwengleich und meinte viel zu unschuldig: „Ich glaube, ich muss zurück ins Bett.“
Athos sah ihn an, zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte hintergründig, doch er sagte keinen Ton dazu, sondern bat lediglich: „Dann hilf mir doch auf, damit ich mitkommen kann.“
„Guter Gedanke“, gab d’Artagnan freimütig zu, erhob sich und hielt seinem Gefährten die Hand hin, um ihn auf die Beine zu ziehen.
Porthos und Aramis hielten sich zurück; aus langjähriger Erfahrung wussten sie, wie wenig Athos es schätzte, zu sehr bemuttert zu werden. Und sie wussten, dass sein Wohlergehen bei d’Artagnan in den besten Händen lag. So entboten sie einander nur noch eine gute Nacht, und als die beiden in ihr Schlafzimmer verschwanden, rutschte Aramis nahe an Porthos. Der große Musketier legte den Arm um seinen Freund und Aramis lehnte sich an ihn, beide dankbar für die Wärme und die Gesellschaft in dieser ungemütlichen Nacht.
Athos war klug genug, d’Artagnans Hilfe anzunehmen, als er sich auf dem Bett niederließ, und bald darauf lagen sie erneut eng umschlungen beieinander. Die vertraute Nähe seines Gefährten wirkte dieses Mal beruhigend auf den Jüngeren, und das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens auf das Vordach und gegen das Fenster ließen ihre Zuflucht nur noch behaglicher wirken.
Wie häufig kurz vor dem Einschlafen drifteten d’Artagnans Gedanken ab, zu den Geschehnissen der letzten Stunden, und während er sanft über Athos‘ Arm strich, der ihn umfing, murmelte er schließlich aus seinen lose wandernden Gedanken heraus mit fragendem Unterton: „Du hast heute zweimal deinen Titel benutzt. Des Essarts gegenüber, und vorhin bei dem Wirt.“
Athos, der bis dahin entspannt und ebenfalls dem Schlaf nahe hinter ihm gelegen hatte, erstarrte und hakte schließlich in einem Tonfall, den d’Artagnan nicht zu deuten wusste, nach: „Findet es... dein Missfallen?“
„Was?“ D’Artagnan hielt in seiner streichelnden Bewegung inne und versicherte schnell: „Nein, darum geht es nicht. Ich war nur erstaunt!“
Zu seiner Erleichterung hörte er Athos leise lachen. Er drehte sich in der Umarmung und stützte sich zugleich auf einem Ellbogen auf, so dass er Athos’ Gesicht sehen konnte, als er erklärend hinzufügte: „In Pinon – nein, eigentlich solange wir uns kennen, hast du allergrößten Wert darauf gelegt, dich von deinem Titel als Comte zu distanzieren. Und de Grasse“, er stockte kaum merklich, fuhr dann jedoch fort: „Du hast es gehasst, wenn er dich mit deinem vollen Namen ansprach. Doch heute hast du damit gebrochen, das fiel mir nur auf.“ Und hastig, um keine falschen Gedanken bei Athos aufkommen zu lassen, setzte er leise hinzu: „Ich weiß, dass du außer dem Titel nichts gemein mit ihm hast! Du hast gehört, was Aramis eben gesagt hat, und er hat recht, Yves! Du bist ein Mann voller Ehre und Güte, jemand, dem man vertrauen kann, der das Wohl anderer über das seine stellt...“
Er schwieg, leise beschämt, weil er ohne Nachdenken wieder einmal sein Herz auf der Zunge getragen hatte. Doch Athos schüttelte lediglich ungläubig den Kopf und erwiderte rau: „In deinen Augen bin ich dieser Mensch, und für dich und unsere Brüder bemühe ich mich... Aber dafür brauche ich nicht diesen Adelstitel, mon Coeur...“
Nein, sicher nicht!“, entgegnete d’Artagnan entschieden. „Mir ist es egal, ob du ein Comte oder ein einfacher Soldat bist...“ Dann runzelte er mit einem Mal die Stirn und fügte grübelnd an: „Naja, zumindest, solange du nicht von mir erwartest, dich von nun an mit Monsieur oder Euer Hochwohlgeboren anzureden oder vor dir zu dienern!“
Zu seiner unendlichen Freude sah er den Schalk in Athos’ Augen aufblitzen, als dieser in der ihm so eigenen Art eine Augenbraue hochzog und genüsslich raunte: „Nun... So ab und an ein wenig mehr Respekt und Demut würde dir durchaus gut anstehen...“ Und bevor d’Artagnan zu Recht empört etwas auf dieses Ansinnen erwidern konnte, zog Athos ihn an sich und küsste ihn kurzerhand, bis dieser nachgab und sich mit einem wohligen Grollen an seinen Lippen entspannte. Erst da ließ er wieder von ihm ab, suchte den Blick seines Gascogners, und jeder Humor war daraus verschwunden, hatte einer allumfassenden Wärme Platz gemacht, die sich in seinem Tonfall widerspiegelte, als er erklärte: „Du kennst mich, d’Artagnan, und du weißt, dass ich dir und unseren Brüdern gegenüber niemals diese Karte ausspielen werde.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der d’Artagnan nickte, wärmte ihm das Herz, so dass er ohne Bedenken fortfuhr: „Dank euch ist mir aber auch wieder bewusst geworden, dass ich meine Herkunft, meine Erbe und die Verantwortung meines Standes nicht einfach abschütteln kann. Dass ich die Pflicht habe, Leuten wie Robert Vichy oder auch Baron Renard de Louvier in Pinon entgegenzutreten. Ich bin, wer ich bin, d’Artagnan. Euer Bruder; dein Gefährte... Ein königlicher Musketier. Und auch Olivier d’Athos, Comte de la Fère. Und wenn das schon so ist – weshalb sollte ich es dann nicht auch hin und wieder einsetzen, wenn ich damit denen, die ich liebe, nützen kann?“
Das verschmitzte Schmunzeln auf d’Artagnans Gesicht ließ ihn selbst lächeln.
„Aha – ich wusste gar nicht, dass du so berechnend sein kannst?“, neckte d’Artagnan ihn liebevoll, und diesmal war er es, der Athos küsste, um eine Erwiderung zu unterbinden. Als sie schließlich mit einem leisen Seufzen voneinander abließen, zog Athos seinen Gefährten wieder in eine liegende Position zu sich herunter und verlangte: „Und nun sollten wir schlafen – der Tag war lang genug!“ Damit gähnte er verhalten, und d’Artagnan strich ihm liebevoll über die Wange und durch die Haare, bevor er zärtlich murmelte: „Mon Comte... Schlaft gut!“
Athos, der bereits die Augen geschlossen hatte, schmunzelte nur und zog d’Artagnan noch etwas näher an sich.
tbc...
So. Zwei der Dinge, die ich noch klären wollte, sind hier angesprochen: Gustaves Rolle und warum Athos mit einem Mal wieder ab und an seinen Titel nutzt. Ich bin sehr gespannt auf eure Gedanken hierzu. Und wenn euch das trübe Januar-Wetter auf die Nerven geht, dann träumt euch einfach zu den vieren an den Kamin :-)!
In den nächsten zwei Wochen folgen das letzte Kapitel, in dem dann noch zwei weitere Punkte aufgearbeitet werden, um die Geschichte abzurunden, und ein wichtiger Epilog.
Bis dahin wünsche ein erholsames Wochenende und eine stressfreie Woche.
GLG
Ann