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Ausnahmezustand

von Bibi77
Kurzbeschreibung
GeschichteAngst, Familie / P12 / Het
Ernst "Stocki" Stockinger OC (Own Character) Peter Höllerer Rex Richard "Richie" Moser
10.08.2021
26.08.2021
6
11.155
5
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13.08.2021 1.862
 
Stockinger steht mit seinem Notizheft bewaffnet mitten im lichtdurchfluteten Wohnbereich einer modernen Bauhaus-Villa und notiert: „Maria Bachtin, 37, verheiratet, erschossen mit automatischer Waffe“, wobei das Wort „hingerichtet“ es tatsächlich besser getroffen hätte. Der weiße Morgenmantel der schlanken, blonden Frau ist von roten Flecken regelrecht übersät. Dr. Graf zählt auf Anhieb mindestens zwölf Einschüsse. Welcher davon der tödliche gewesen ist, spielt da nur noch eine untergeordnete Rolle.
„Der Tod dürfte vor etwa drei bis vier Stunden eingetreten sein, also zwischen 9.00 Uhr und 10.00 Uhr“, meint Dr. Graf.
„Gibt’s Einbruchspuren?“, will Stockinger vom vorbeieilenden Chef der Spurensicherung, Josef Eckmeier, wissen.
„Bis jetzt nicht. Vermutlich hat der Täter sie nach dem Öffnen der Tür mit vorgehaltener Waffe ins Wohnzimmer gedrängt und dann geschossen.“
„Kampf- oder Abwehrspuren gibt’s ebenfalls keine“, ergänzt der Gerichtsmediziner.
Stockinger macht dicke Backen und kratzt sich mit dem Stift hinter dem Ohr.
Dr. Graf grinst. „Schon was Neues vom Richard?“, fragt er.
„Bis jetz net“, sagt Stockinger und fragt sich, wie oft man ihm diese Frage in den nächsten Tagen wohl noch stellen wird.

Währenddessen sitzt Höllerer mit der aufgelösten Haushälterin am Küchentisch nebenan. Sie ist diejenige, die die Tote gefunden hat.
„Sie sagen, die Frau Bachtin is verheiratet und hat bei ihrem Mann als Buchhalterin g’arbeitet?“, fasst er zusammen. „Wo is’n der Herr Bachtin zurzeit, Frau Sternberger?“
„Der fährt freitags immer zum Großmarkt nach Tschechien und kauft da günstig ein“, erzählt die ältere Dame und schnäuzt sich die Nase. „Er hat vor an paar Monaten einen kleinen Baumarkt von seinem Vater übernommen: Heimwerkerbedarf Bachtin. Er wird sicher net vor heut Abend zurück sein.“
„Kinder gibt’s kane?“
„Na, der Robert, also der Herr Bachtin, kann Kinder net besonders gut leiden, wissen’S.“
„Und gab’s vielleicht Probleme mit jemandem in letzter Zeit? Haben’S da irgendwas bemerkt?“
Frau Sternberger wiegt etwas unsicher den Kopf hin und her. „So oft haben wir ja net miteinander g‘sprochen. Die beiden san ja meistens im Urlaub oder im Büro, wenn ich hier vormittags zum Putzen komme. Und der Herr Bachtin is eh was Bessres, wenn’S verstehn, was ich meine?“
Höllerer versteht sie. „Da macht mer sich ja schnell amal unbeliebt. Haben er und Frau Bachtin vielleicht irgendwelche Feinde g’habt? Is Ihnen da was bekannt?“
„I waß nur, dass der Herr Bachtin nach dem Tod von seim Vater einige langjährige Mitarbeiter entlassen hat und es da Streit wegen der Abfindung geben hat.“
„Wissen’S da vielleicht auch irgendwelche Namen?“
„Na, leider net. I hab nur amal ein Schreiben von eim Anwalt oben auf seinem Schreibtisch liegen sehn. Sie können ja amal nachschaun?“

***

„Maaamaaaaa!!!“, hallt das Brüllen eines Kindes durch die plötzlich eingetretene Stille im Baumarkt.
„Cello!!!“ Die Frau unter Moser rammt ihm ihren Ellenbogen in die Rippen und will sich befreien.
Wieder knallen Schüsse durch den Laden. Glas splittert. Der Junge kreischt noch lauter.
Es zerreißt Moser fast das Herz, aber er darf die Mutter jetzt nicht loslassen! Mit Gewalt zerrt er sie in geduckter Haltung zwischen die schützenden Regale mit den Farben zurück. Sie will schreien. Blitzschnell presst er ihr die Hand auf den Mund.
„Ssssssscht!“ Warnend sieht er ihr in die großen, panischen Augen und schüttelt den Kopf.
Dann ist es wieder still im Laden. Nur ein Wimmern und leises Stöhnen sind zu hören – und der heftige Atem von Moser und der verzweifelten Mutter.
„Halt die Pappen, dann tu i dir nix!“, raunt eine tiefe, rauchige Männerstimme.
Am liebsten würde Moser direkt auf den Kerl los, aber er weiß, dass das sinnlos ist und sie alle nur noch mehr in Gefahr bringen würde.
„Gaaaanz ruhig, ja?“, redet er flüsternd auf die Frau ein, die ihm gegenüber auf dem Boden kniet und mit den Tränen kämpft. „Mein Name is Richard Moser. Ich bin Polizist. Sieht so aus, als hätt‘ sich der Geiselnehmer mit Ihrem Sohn hinten im Aufenthaltsraum verschanzt. Wir holen ihn da wieder raus, versprochen, aber dazu müssen Sie jetz ganz still sein und dürfen nicht die Nerven verlieren, okay?“ Eindringlich sieht er sie an. Gott sei Dank – sie nickt. Moser atmet tief durch. „Okay, Frau – äh?“ Langsam nimmt er die Hand von ihrem Mund.
„Romina“, flüstert sie atemlos. „Romina Schubert.“
„Sind Sie verletzt?“
Sie schüttelt den Kopf und mustert nun auch ihn. „Und Sie?“
„Alles noch dran“, meint Moser und überlegt derweil schon, wie er weiter vorgehen soll.
„Was sollen wir jetz tun?“, will natürlich auch Frau Schubert wissen. „Kennen Sie den Kerl?“
„Nein, leider nicht“, muss Moser zugeben. „Aber mir fällt schon was ein.“
Dazu muss er sich aber erst einmal einen Überblick über die Lage verschaffen. Langsam schleicht er zum Ende der Regalreihen zurück und riskiert einen Blick.

Feiner Zementstaub und der Geruch nach Lack und anderen chemischen Stoffen hängen in der Luft. Eine Scheibe des Aufenthaltsbereiches für die Mitarbeiter ist inzwischen zersplittert, sowohl Vorder- als auch Hintertür sind verschlossen. Zudem hat der Geiselnehmer von dort hinten den gesamten Laden, einschließlich der automatischen Eingangstür im Blick. Da kommt also niemand unbemerkt herein. Auch der Zugang zum Außenbereich führt direkt an der Aufenthaltslounge vorbei. Außer den Dachfenstern gibt es keine weiteren Zugangsmöglichkeiten.
Links von Moser, hinten bei der Holzabteilung, liegt ein Mann in Arbeitshose mit einem Kopfschuss leblos am Boden. Zu Mosers Rechten, vorn im Kassenbereich, schleppt sich eine ältere Dame mit einem zerschossenen Bein hinter ein Regal. Dazwischen, mitten im Hauptdurchgang, windet sich eine junge Mitarbeiterin mit einem Bauchschuss stöhnend am Boden.

„Und?“, flüstert Frau Schubert.
Moser zieht sich wieder zurück und schildert ihr kurz die Lage. Nun riskiert auch sie einen Blick.
„Wir müssen die Blutung stoppen, sonst steht sie das net mehr lang durch“, sagt Frau Schubert und meint damit wohl die Baumarktmitarbeiterin. Erklärend fügt sie hinzu: „I bin Chirurgin und denk, i kann ihr helfen. Wissen Sie, wo hier die Verbandskästen liegen?“
„Ich glaub, zweite Reihe von vorn, auf unserer Seite. Gehen Sie außen herum. Ich versuch derweil, die Frau aus der Schusslinie zu ziehen.“
„Okay, aber sein Sie bloß vorsichtig!“

Moser ist erleichtert, dass Frau Schubert sich so schnell wieder gefasst hat und durch die Versorgung der Verletzten nun etwas abgelenkt ist von ihrem Sohn. Denn wenn sie ruhig bleibt, wird ihm das einiges erleichtern.
Gerade will er sich vorsichtig auf den Gang schleichen, da dringen von außen die Sirenen der Einsatzfahrzeuge in den Laden. Mosers Herz schlägt schneller. Er weiß genau: wenn das SEK jetzt stürmt, gibt es hier drin eine Katastrophe.
Aufgeregt fummelt er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Gut, dass Sonja darauf bestanden hat, dass er das mitnimmt! Moser holt tief Luft und versucht, bei der Sache zu bleiben. Jetzt bloß nicht an Sonja und das Baby denken!

***

Stockinger und Höllerer durchsuchen im Arbeitszimmer von Robert Bachtin gerade einen Ordner mit Anwalts- und Gerichtsunterlagen zur Klage eines ehemaligen Mitarbeiters, als Stockingers Telefon klingelt.
„Der Richard!“ Schnell nimmt Stockinger ab. Vielleicht ist das Baby schon da?
Doch nein, das ist es nicht. Als Stockinger erfährt, dass der werdende Papa gerade mitten in einer Geiselnahme steckt, muss er sich erst einmal setzen. „Woas? Wo steckst du? Bachtins Heimwerkerbedarf?“ Er schnappt nach Luft. „Du, der Höllerer und i, mir stehn hier grad daheim im Büro von dem Chef. Sane Frau is heut Morgen erschossen worden.“
„Dann is der Geiselnehmer wahrscheinlich auch der Täter“, sagt Moser. „Habt ihr schon einen Namen?“
„Möglichweise. Ein ehemaliger Mitarbeiter, an gewisser Wolf Gerber, hat in den letzten Monaten jedenfalls wegen aner Abfindung mit dem Bachtin vor Gericht g’stritten – und verlorn, wie’s ausschaut. Der Bachtin hat wohl nach dem Tod vom Senior-Chef umfangreiche Personalveränderung vorg’nommen, aber – “
„Gut, danke, Stocki. Du, ich hab’s a bisserl eilig. Versuchts ihr bitte so schnell wie möglich rauszufinden, wer hier den Einsatz leitet und sagt denen, sie dürfen auf keinen Fall stürmen, wegen dem Jungen! Und dann kommt sofort hier her! Und beeilts euch! Ich würd‘ die Sache hier gern beenden, ehe die Sonja erfährt, was los is. Ich meld mich wieder!“
Stockinger will ihm noch sagen, dass er auf sich aufpassen und kein Risiko eingehen soll, doch da hat Moser schon aufgelegt.

***

Moser steckt das Telefon weg und atmet noch einmal tief durch. Also los jetzt, die verletzte Frau braucht Hilfe! Lautlos schleicht er zu ihr, packt sie unter den Armen und will sie gerade mit sich fortziehen, da bricht plötzlich ein ohrenbetäubendes Inferno aus mehreren Maschinengewehrsalven los. Farbeimer und Dosen explodieren, Holzsplitter fliegen herum. Aufgeregte Stimmen brüllen durcheinander. Aber Moser lässt die Verletzte nicht los – auch nicht, als ihm plötzlich etwas mit voller Wucht in den Rücken hineinhaut.
„Sofort aufhören!!! Es sind noch Leute hier herinnen!!!“, hört er Frau Schubert noch schreien, dann wird alles schwarz.

***

Sonja unterbricht ihre Sortierarbeiten und lehnt sich tief durchatmend nach vorn. Die Kleine strampelt gerade so heftig, dass es beinahe wehtut. Gut, dass Richard endlich zurück ist! Rex ist schon zur Tür gerannt und kratzt aufgeregt.
Aber er muss sich verhört haben – Richard kommt nicht.
Die einzigen Stimmen im Haus sind die der Radiomoderatoren. Schließlich steht Sonja auf und will selbst nachsehen, da erzählen sie im Radio plötzlich etwas von einem Amoklauf in einem Baumarkt mit mehreren Toten und Verletzten – hier, in ihrem Wohnbezirk! Sonja dreht das Radio lauter und folgt mit klopfendem Herzen der Berichtserstattung.

„SEK und Kriminalpolizei sind bereits vor Ort. Und soeben erreicht uns die Meldung, dass ein erster Versuch, das Gebäude zu stürmen, gescheitert ist. Nach neuesten Erkenntnissen sollen sich noch mehrere, teils schwer verletzte Personen in der Gewalt des Amokläufers befinden, darunter auch ein Kind und ein Polizist. Über den genauen Zustand der Geiseln ist gegenwärtig noch nichts bekannt.“

Sonja muss sofort an Richard denken. Ihr wird schwummrig. Schon hat sie den Telefonhörer in der Hand und betet verzweifelt, dass er an sein Handy geht.
„Bitte, nimm ab!“, fleht sie. Aber er meldet sich nicht.
Sofort hat sie die Toten und Verletzten im Kopf, sieht das SEK mit Maschinengewehren um sich schießen. Und mitten drin der Richard – ohne Waffe und ohne jeden Schutz. Nicht einmal den Rex hat er an seiner Seite! Und sie kennt ihn doch: vor allem, wenn Kinder im Spiel sind, dann sieht er doch nur noch die anderen und denkt nicht mehr an sich und was werden wird, wenn –
Plötzlich spürt sie ein Ziehen im Unterleib. Ihr wird übel und sie muss sich auf der Kommode abstützen.

Rex ist gleich zur Stelle und schmiegt sich an sie. Er spürt natürlich genau, dass etwas nicht stimmt, und auch das Baby tritt wieder kräftig zu. Sonja weiß, dass sich die Kleine erst beruhigen wird, wenn auch sie wieder ruhiger wird, aber das ist gar nicht so einfach, wenn man nicht genau weiß, ob Richard gerade in Schwierigkeiten oder vielleicht doch einfach nur im Stau oder in einem ganz anderen Baumarkt steckt. Da gibt es nur eins: sie muss es herausfinden.
„Komm, Rex!“
Der Vierbeiner zögert und schaut sie ein wenig skeptisch an.
„Komm, wir fahrn zum Richard!“
Kaum hat er den Namen gehört, saust Rex auch schon an Sonja vorbei und wartet ungeduldig bellend an ihrem Geländewagen.
Unterwegs spürt Sonja wieder dieses unangenehme Ziehen. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie beim ersten Mal. Tief durchatmen, sagt sie sich immer wieder. Es wird alles gut!
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