Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Tausendmal Berührt [Teil I]

von ninarina
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / MaleSlash
Joachim "Joko" Winterscheidt Klaas Heufer-Umlauf
14.06.2021
29.01.2022
20
134.433
126
Alle Kapitel
146 Reviews
Dieses Kapitel
7 Reviews
 
14.01.2022 7.054
 
Geschafft. Wie geplant am Freitag, der hoffentlich der neue, regelmäßige (alle zwei Wochen) Uploadtag wird. Jokos Sicht hat eigentlich in diesem Kapitel nichts verloren, aber er hat sich förmlich aufgezwängt, also hab‘ ich ihn gelassen. Bin heillos überfordert mit dem und seinen ganzen Gefühlen.

Ich lege euch ans Herz, das Lied zum Kapitel mal in einer der vielen Live-Versionen zu hören. Ich habe es früher überhaupt nicht gemocht, bis ich gesehen habe, wie viel echtes Gefühl hinter jeder Zeile steckt. Seitdem kann ich es nicht mehr ohne Kloß im Hals hören und fand das sehr passend, da ich das ganze Kapitel auch mit einem Kloß im Hals geschrieben habe…

Wie immer freue ich mich über jeden, der liest, jeden, der reviewed, jeden, der mir anderweitig Feedback gibt. Danke für eure Liebe und Begeisterung für die FF. Ein Kapitel wird noch folgen, bevor ich mich für Teil II neu sortieren muss.

„I took what’s mine by eternal right” Ich habe 18 Kapitel auf diesen Klaas gewartet und bin froh, dass er mich nicht im Stich gelassen hat. Ich hoffe, es gefällt euch.




Part 19: Cause I Saw The End Before We'd Begun




So, I took what's mine by eternal right

Took your soul out into the night

It may be over, but it won't stop there

I am here for you if you'd only care

(Goodbye My Lover by James Blunt)



Circus Halligalli, Dezember 2016


Es passierte, weil sie es brauchten. Es passierte, damit sie nicht untergingen.

Sie waren mitten in einem Dreh, als Klaas zum ersten Mal das Gefühl benennen konnte, welches sich seit einiger Zeit immer hartnäckiger bei ihm einnistete.

Unzufriedenheit.

Es war zu schwach, um ihn auszufüllen, aber gleichzeitig zu stark, um es auf Dauer zu ignorieren. Er war unzufrieden. Die Sendung machte ihn unzufrieden. Klaas‘ Herz sank bei dem Gedanken, da die volle Schwere der Bedeutung hinter diesem kleinen Wort wuchtig bei ihm einschlug. Er wollte nicht unzufrieden sein. Er und Joko, Halligalli, die große Bühne auf dem großen Sender, das war alles, was er je gewollt hatte. Das war alles, worauf sie je hingearbeitet hatten. Sie waren auf dem Zenit ihres Schaffens angelangt und eigentlich konnte es jetzt nur noch bergab gehen.

Er sah Joko von der Seite an, der gerade wild fuchtelnd irgendetwas Belangloses erzählte, und die Wahrheit brannte unangenehm heiß in seinem Magen. Sie würden nicht mehr so weitermachen können. Irgendwann im Verlauf ihrer Sendungen, irgendwo zwischen dem Rausschmiss bei MTV, der Entscheidung, ZDF Neo für etwas Größeres zu verlassen und dem alltäglichen Wahnsinn bei ProSieben war Joko ihm zu wichtig geworden. Viel zu wichtig. Viel zu essenziell. Viel mehr als nur Joko von Joko & Klaas. Irgendwann hatte sich ihre Partnerschaft so weit von einem professionellen, kollegialen Verhältnis entfernt, dass ihr Konzept nicht mehr aufging, genauso wie Thomas es ihm im Sommer prophezeit hatte. Joko nerven, Joko quälen, Joko besiegen, das war’s einfach nicht mehr. Stattdessen wollte er mit Joko arbeiten, mit ihm auf Reisen gehen, mit ihm gewinnen, so wie sie es eigentlich schon immer getan hatten, hinter den Kulissen zumindest. Aber das Verhältnis zwischen Harmonie- und Konfliktbedürfnis hatte sich für Klaas völlig auf den Kopf gestellt.

Halligalli war zum Scheitern verdammt, weil Joko ihm zu viel bedeutete.

Und die ganze Staffel lang hatten sie das Problem nur aufgeschoben.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, brummte Joko lachend, strich mit seinem Finger sanft über Klaas‘ Schulter und holte ihn damit in die Gegenwart zurück.

„Nee“, gab Klaas schroff zurück; spürte, wie es ihm selbst wehtat und er es doch nicht lassen konnte, Joko verbal in diesem Moment so weit wie möglich von sich zu schubsen. Weil er sie beide plötzlich dafür hasste, dass sie sich selbst alles versaut hatten. Sie standen mit dem Rücken zur Wand und hatten sich selbst dorthin befördert. „Ist ja nicht so, dass ich was Weltbewegendes verpasse, ne.“

Jokos Augen wurden für einen Moment ganz schmal, als er ihn musterte. Anstatt sich beleidigt zu verziehen, trat er noch einen Schritt näher. „Alles okay?“

„Sicher“, erwiderte Klaas. „Und es wäre noch besser, wenn du mir nicht zu sehr auf die Pelle rücken würdest.“

Joko legte verwirrt den Kopf schief. „Klaasi…“

„Lass mich doch zur Abwechslung mal in Ruhe, Joko. Ich halt’s nicht mehr aus, den ganzen Tag nur aneinanderzukleben. Es nervt einfach nur noch.“

„Sach mal“, stieß Joko jetzt empört aus. „Was machst du denn jetzt für ein Theater? Bis grade war noch alles gut und dann bist du wieder so—“

„Vielleicht bin ich die ganze Scheiße hier leid. Hast du da mal drüber nachgedacht, Winterscheidt? Vielleicht hab‘ ich manchmal keinen Bock mehr auf dich und dein Generve.“

Wütend funkelten sie sich an, solange, bis Jakob geschäftig auf sie zukam und ihnen mitteilte, dass es jetzt weiterginge.

„Ich brauch‘ noch ‘ne Minute“, fauchte Klaas und wandte Joko frustriert den Rücken zu. „Ich geh‘ eine rauchen.“

„Klaas, bitte“, hörte er Jokos Stimme hinter sich. „Wir müssen…“

Er rauschte aus dem Studio, bevor Joko den Satz beenden konnte. Er war wütend auf sich selbst und auf Joko und darauf, dass es alles so viel einfacher wäre, wenn sie sich wirklich nicht ausstehen könnten.

Die Unzufriedenheit blieb, wurde jetzt, da er ihr einen Namen gegeben hatte, immer drückender.

Er fühlte sich, als ob er nicht atmen könnte. Joko und er verschwammen immer mehr zu einem großen Komplex und das wollte er nicht. Das konnte nicht gesund sein. Es konnte ihnen nicht guttun, sich so sehr ineinander zu verlieren, dass sie individuell nicht mehr glücklich wurden. Er hatte sich geschworen, ihm das nicht mehr anzutun. In dieser Nacht nach Rock am Ring, als er geblieben war, da hatte er sich bewusst gemacht, unter welchen Umständen er es sich erlauben würde, es noch einmal zu versuchen. Und sein wichtigster Punkt war Jokos Unversehrtheit gewesen. Kein Joko mehr, der sich für ihn in sein Unglück stürzte, weil er sich selbst für irrelevant ansah. Und doch kamen sie diesem Abgrund ein weiteres Mal bedrohlich schnell näher. Er hatte versagt, was das anging. Schon wieder.

Ein paar Tage noch. Eine knappe Woche bis zur Winterpause.

Verdammt. Er musste durchhalten.

Tief sog Klaas die klirrend kalte Luft ein. Hielt den Atem an, bis sein Brustkorb sich anfühlte, als würde er jeden Moment platzen.

Wollte nicht loslassen und wusste doch, dass er keine andere Wahl haben würde.




x




You touched my heart, you touched my soul

You changed my life and all my goals



Ziellos schlenderte Joko durch Berlin. Er war einen Tag früher als gewöhnlich von München aus aufgebrochen, obwohl nichts anstand. Kein Dreh, kein Notfall, kein Meeting. Er tingelte an einem Sonntagabend durch die Straßen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, damit man ihn nicht erkannte, und wusste, was er eigentlich wollte.

Er wollte rennen.

Automatisch griff seine Hand in die Manteltasche, um sein Handy hervorzuziehen, als er mitten in der Bewegung stockte.

Was brachte es ihm jetzt, Klaas anzurufen? Er wusste schon, was dieser sagen würde.

„Geh nach Hause, Joko.“

Er konnte es förmlich in seiner Stimme hören. Wusste, wie sehr es ihm normalerweise half, das zu hören. Zuhause, das war München. Das war Lisa. Das war alles, was momentan für Joko unerreichbar war.

Überfordert kniff Joko die Augen zu, rieb sich übers Kinn. In Wahrheit war er schon gerannt. Nach Berlin. Klaas war der Grund, warum er rannte. Klaas würde ihm nicht helfen können, weil er Teil des Problems war.

Joko schluckte.

Morgen war Sendung.

Er würde Klaas sowieso morgen sehen.

Er sah Klaas so gut wie jeden Tag.

Sein Handy piepste, riss ihn aus seinen Gedanken. Mechanisch zog Joko es aus den Untiefen seiner Tasche hervor und starrte auf das Display. Eine Nachricht von Thomas. Ob er denn wirklich keinen lustigen Pulli zur Weihnachtsfolge tragen wolle, so wie Klaas es tun würde.

Richtig, morgen war die letzte Sendung des Jahres. Staffelfinale. Weihnachtsspezial.

Joko war so müde. Er ignorierte Thomas‘ Nachricht und machte sich auf den Weg.

Geh nach Hause, Joko.

Joko ging.

Wollte nach Hause und landete vor Klaas‘ Haustür.




x




And love is blind, and that I knew when

My heart was blinded by you



Als Joko an einem Sonntagabend ohne Ankündigung vor Klaas‘ Haustür stand, traute der seinen Augen kaum. Er war so verdutzt, dass er Joko automatisch rein ließ. In seine private Wohnung, in seinen privaten Flur, in dem nicht nur seine Schuhe, sondern auch die seiner Frau und seines Kindes standen.

„Was willst du denn hier?“

Eigentlich wusste er, was Joko hier wollte. Warum Joko diese Grenze bewusst übertrat und damit tief in sein persönliches Umfeld einschnitt.

Aber Klaas hatte sich ein Ziel genommen. Erst diese Staffel beenden und dann konnte man in die Zukunft schauen. Dann konnte er sich unbequeme Fragen stellen, alles in Frage stellen. Aber erst wollte er die Staffel beenden. Erst wollte er das aus dem Weg haben, also hatte er sich darin verbissen. Er hatte sie dadurch bringen wollen, ihn und Joko.

Doch jetzt stand Joko hier, in seiner Wohnung. In seinem Privatleben. Riss auch die letzte Mauer ein, Klaas‘ letzten und einzigen Rückzugsort. Joko trampelte es nieder als wäre es nichts, als wäre es normal, in Klaas‘ Wohnung zu stehen und mit ernsten Augen seinen Blick zu suchen.

„Können wir reden?“

Klaas‘ Widerstand zerschellte wie eine Welle am Felsen. Nicht einmal er konnte Joko aufhalten, wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und es ihm keine Ruhe mehr ließ. Stumm und überfordert lotste er Joko in Richtung des großen Esstisches. Aus dem Augenwinkel sah er Doris‘ erstaunten Gesichtsausdruck, als sie den Raum betrat und Joko zur Begrüßung umarmte und zuckte nur mit den Schultern. Er floh in die Küche, um ihnen ein Bier zu holen, während Joko und Doris sich über Belanglosigkeiten austauschen. Fast so, als wäre es normal, Joko hier zu sehen.

Aber es war nicht normal. Es war eine Ausnahmesituation. Klaas befand sich im Ausnahmezustand. Joko gehörte hier nicht hin. Er gehörte hier nicht rein. Nicht auch noch hier.

Ein wenig zu heftig stellte er das Bier für Joko auf den Tisch und bedeutete ihm wortlos, sich hinzusetzen. Er selbst ließ sich auf dem Stuhl direkt gegenüber nieder.

Er spürte Doris hinter ihn treten. „Ich bringe den kleinen Mann mal ins Bett“, murmelte sie gegen seine Schläfe. Klaas nickte und schloss kurz die Augen, als sie ihn auf den Kopf küsste, Joko noch einmal zulächelte und im hinteren Teil der Wohnung verschwand.

Die Stille war sofort unerträglich.

Klaas prostete Joko flüchtig zu und nahm einen großen Schluck von seinem Bier, um etwas zu tun zu haben. Jokos Blick ruhte unverwandt auf ihm. Er schien in einem inneren Kampf gefangen, sekundenlang, bevor er endlich sprach.

„Ich will so nicht weitermachen.“

Der Satz verließ seinen Mund schnell und leise, aber in Klaas‘ Kopf hallte er nach wie ein Donnerschlag. Er riss Klaas völlig unerwartet den Boden unter den Füßen weg.

Mit einem Satz sein ganzes Leben ins Wanken bringen, das konnte nur Joko. Das war eines der Dinge, vor denen er immer eine solche Angst gehabt hatte. Deswegen hatte er seine Seele niemals mit einem anderen Menschen verknüpfen wollen, wie ihm das mit Joko passiert war.

Ich will so nicht weitermachen.

Natürlich wollte er das nicht. Klaas wollte es auch nicht. Sie standen an einem Scheideweg, monatelang schon, aber Klaas hatte Joko immer wieder zurückgezogen, ihn davon abgehalten, den nächsten Schritt zu machen. Weil das Einzige, was ihn mehr unter Kontrolle hatte als Joko, die Angst davor war, Joko zu verlieren.

Joko konnte das. Sich einfach umdrehen und gehen, wenn es ihm zu viel wurde. Er braucht lange, um an den Punkt zu kommen, ließ sich auf dem Weg dahin zu viel gefallen. Aber wenn er einmal dort war, gab es keinen Weg zurück mehr. Dann ging er einfach und sah sich nicht mehr um. Nutzte für sich, dass im Allgemeinen sein Eigensinn unterschätzt wurde, weil der von seiner Liebenswürdigkeit überdeckt wurde. Er hatte das bei MTV oft getan. War mit einem „So einen Scheiß muss ich mir nicht gefallen lassen“ aus Meetings gestürmt und hatte auf stur geschaltet, bis sie eine bessere Lösung gefunden hatten. Hatte Klaas kaltgestellt und sich von ihm abgewandt, als er das Auf und Ab ihres Verhältnisses nicht mehr ausgehalten hatte. Und nun saß er hier, direkt vor Klaas und hatte seine Entscheidung schon getroffen. Sie würden Halligalli verlieren und Joko würde gehen. Klaas sah ihn schon vor seinem inneren Auge hinter dem Horizont verschwinden. Wenn Joko sich einmal umgedreht hatte, war es unglaublich schwer, ihn zu erreichen. Und unmöglich, ihn zurückzuholen. Man konnte nur hoffe, dass er einem erlauben würde, den nächsten Teil des Weges gemeinsam zu bestreiten.

Joko beobachtete ihn nervös von seinem Platz aus, gab ihm jedoch diese Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Um zu verstehen, was er ihm hier gerade sagte. Um sich einzugestehen, dass der Satz auch bei ihm schon monatelang im Kopf herumgeschwirrt war, er ihn aber nie über die Lippen gebracht hätte. Er hatte ihn nie in die Welt setzten wollen, weil er alles veränderte. Weil es jetzt kein Zurück mehr gab. Weil sie keine Garantie dafür hatten, dass dies nicht der Anfang vom Ende war.

Klaas schluckte. Starrte auf den Tisch. „Ich weiß“, flüsterte er schließlich, fast schon beschämt.

Joko zögerte. Seine Hände griffen nach der Bierflasche, entschieden sich dann aber doch für die Tischkante. „Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. Aber Halligalli, das geht nicht mehr. Nicht so.“

„Eigentlich ist es klar, was das bedeutet“, erwiderte Klaas und bemühte sich, eine Abgeklärtheit in seine Stimme zu zwingen, die alles andere als echt war. „So wie ich das sehe, haben wir nur zwei Möglichkeiten: Halligalli weiter und danach nichts mehr oder Halligalli nicht mehr und ohne weiter.“

Sein Gegenüber schien schwer getroffen. Wie immer wurde Joko nicht gerne mit der Realität konfrontiert, wollte sich nicht mit den Konsequenzen der Entscheidungen auseinandersetzen, die er emotional als alternativlos einstufte.

Klaas konnte es ihm nicht verübeln. Nur beim Aussprechen dieses Satzes war etwas in ihm abgesplittert und hatte sich scharfkantig in sein Herz gegraben.

„Willst du das so?“ Jokos Blick war auf den Tisch gerichtet. Mit einem Mal schien es ihm unmöglich, Klaas länger anzusehen.

„Was?“

„Willst du noch ein paar Jahre Halligalli machen und dann getrennte Wege gehen?“ Joko sprach immer noch mit dem Tisch. Seine Stimme bebte. „Denn wenn du das willst Klausi, dann musst du mir das sagen und dann machen wir das. Ich bin der Letzte, der dir da—“

„Joko.“ Klaas‘ Hand legte sich auf seinen Arm und das schien Joko endlich den Mut zu geben, wieder hochzuschauen und Klaas‘ Blick zu erwidern.

„Ist das ein Ja?“

Klaas schüttelte leicht den Kopf. „Das ist ein ganz klares Nein. Ich krieg‘ doch nicht vor laufender Kamera graue Haare, ohne, dass du an meiner Seite stehst und mich jünger wirken lässt.“

Jokos Mundwinkel zuckten. „Nein?“

Klaas seufzte tief, ließ von ihm ab und strich sich über den Bart. „Nein.“

Jokos Stimme blieb unsicher und behutsam. „Weißt du noch, als wir darüber gesprochen haben, was wir mit der Show alles erreichen wollten? Damals bei Home?“

Klaas nickte mechanisch.

„Was haben wir damit erreicht? Was können wir mit der Show und dem Konzept noch erreichen?“

Klaas kannte die Antwort. Sie hatten alles erreicht. Sie hatten das Konzept bis ans Limit gebracht, es ausgereizt und den Rahmen davon gesprengt. Er wusste, dass Halligalli das eigentliche Problem für sie geworden war, auch wenn er es monatelang nicht hatte sehen wollen. Denn verdammt, es war ihr Baby, ihr Ein und Alles. Und es hatte immer ein Ablaufdatum gehabt. Die Rivalität zwischen ihnen, auf dessen Schultern ihr gesamtes Showkonzept lastete, war schlichtweg nicht mehr vorhanden. Gesundes, kompetitives Gekabbel vielleicht, aber keine Rivalität. Keine Feindschaft. Joko hatte ebenso wie Thomas Recht mit dem gehabt, was er im Sommer gesagt hatte. Es war zu spät, um die Zeit anzuhalten und zu einem Konzept zurückzukehren, aus dem sie längst herausgewachsen waren. Dazu war das Konzept ihnen zu wichtig gewesen, dafür hatten sie dem Konzept zu viel zu verdanken. Das sollte unberührt in den Schrank gestellt und nicht durch zwanghaften und viel zu bemühten Konkurrenzkampf am Leben gehalten werden.

Halligalli hatte sie gerettet, als sie nichts mehr gehabt hatten außer Schmerz und Verlust, und jetzt mussten sie Halligalli retten. Jetzt mussten sie dafür sorgen, dass niemand ihr Baby beschädigen würde. Halligalli langsam ausbluten zu lassen war keine Option. Dafür hatten sie zu lange zu viel von sich selbst in ihre kleine wunderbare Sendung gesteckt.

„Vielleicht…“ Die Stimme brach ihm weg. Er trank von seinem Bier und sah, wie Joko es ihm gleichtat. „Vielleicht ist es einfach Zeit. Zeit für ‘was Neues.“

„Ohne einander?“, ging Joko noch einen Schritt weiter.

Klaas schluckte.

„Fragst du dich auch, wie das wäre? Nur auf dich allein gestellt?“, fragte Joko und biss sich sofort ertappt auf die Lippe.

Ohne dich, dachte Klaas automatisch, nickte aber, bevor er wusste, was er tat. Natürlich fragte er sich das, in letzter Zeit immer häufiger. Diese Frage, ob er es ohne Joko überhaupt schaffen würde, schaffen wollte. Ob da nicht noch viel mehr war als nur sie beide, tagein, tagaus. Er war sich egoistisch vorgekommen, beinahe schon undankbar, und irgendwie erleichterte ihn, dass es Joko war und nicht er, der es aussprach. Sie hatten es sich in ihrer beruflichen Abhängigkeit zueinander bequem gemacht. Zu bequem. Bis der Reiz nach neuen Erfahrungen fast gänzlich verloren gegangen war.

Sie taten sich nicht gut. Das war die unbeschönigte Wahrheit. Momentan hatte ihre enge Zusammenarbeit mehr Nach- als Vorteile und der Wunsch nach Freiheit und Selbstverwirklichung nach allem, was er mit Joko gemeinsam erreicht hatte, wurde immer größer. Und er hatte sich dafür geschämt, hatte es von sich gestoßen, bis Joko ihm nun offenbarte, dass es ihm genauso ging. Dass auch er an die Oberfläche gelangen wollte, um Luft zu holen.

Das war mehr, als nur Halligalli zu beenden und es durch etwas Anderes zu ersetzen. Das war ein Schritt in die völlige Ungewissheit. Das war das Loslösen ihrer Einheit. Das war Klaas ohne Joko und Joko ohne Klaas. Das wäre noch vor einem Jahr völlig unvorstellbar gewesen.

„Vielleicht ist es Zeit“, wiederholte er rau.

Joko legte den Kopf schief. Nahm sich einen Moment, um Klaas anzusehen. Ihn wirklich zu sehen, wie er da bekümmert und klein am Tisch hockte und seine Emotionen nicht in den Griff bekam. „Wann hast du eigentlich aufgehört, mich zu hassen und damit unsere gesamte Karriere auf‘s Spiel gesetzt?“, versuchte er zu scherzen.

„Ich hab‘ dich nie gehasst“, blaffte Klaas ohne jegliche Hitze zurück. „Aber mittlerweile fühlt sich selbst das so tun einfach falsch an.“

Joko machte ein kaum hörbares, zustimmendes Geräusch.

„Also, Winterscheidt?“, fragte Klaas leise, fast beklommen. Wollte das Pflaster abreißen, es ausgesprochen wissen, wenigstens einmal. „Was wird’s werden?“

Sie sahen sich lange an und wussten die Antwort. Aber Klaas wollte Ehrlichkeit. Er wollte wissen, was Joko antrieb.

„Ich hab‘ immer mehr das Gefühl, wenn es jetzt so bleibt, sich nichts bewegt, dann…“, Joko nahm einen tiefen Atemzug, brach den Augenkontakt jedoch nicht. „Dann stecke ich für immer fest. In einer Rolle, die ich nie war, zumindest nicht so eindimensional. In einem Miteinander, das nicht mehr echt ist. Das sind nicht mehr wir, Klaas. Das sind irgendwelche Abzüge von uns, aber wir sind es nicht. Und wir wollten wir bleiben.“

Und dann verstand Klaas, warum Joko es wirklich tun wollte.

Warum es für ihn keine Alternative mehr gab.

Er wählte Klaas über Joko & Klaas.

Aber er wählte auch Joko über Joko & Klaas.

Er wollte nicht für immer der gutmütige Trottel sein. Und er wollte nicht, dass Klaas für immer der verkopfte Unnahbare war.

„Wenn wir das machen“, warf er dennoch vorsichtig ein, „stellt das alles auf den Kopf. Wenn das schiefgeht, haben wir nichts mehr.“

Joko ruckte schwach mit dem Kopf. „Alles oder nichts.“

Am liebsten hätte Klaas gelacht, weil es so typisch Joko war. Das Greifen nach Extremen, weil jede Situation immer noch besser werden konnte, wenn man nur stur genug daran glaubte. Und er hatte Recht damit. Sie waren sich stets treu geblieben, hatten ihre eigenen Werte nicht verraten und einander schon gar nicht. Sie hatten sich nie für etwas verkauft, hinter dem sie nicht mit Überzeugung standen, und das sollten sie auch jetzt nicht tun.

Im Endeffekt war es eine Wahl zwischen Halligalli und dem Erhalt ihrer Beziehung zueinander.

Sie wählten sich selbst. Sie wählten einander.

Und nie hatte eine Entscheidung mehr wehgetan.

Jokos Augen glänzten im schwachen Licht, aber sie ließen ihr übliches Strahlen vermissen. Er grub seine Zähne in die zitternde Lippe, aber Klaas konnte trotzdem sehen, dass bei ihm jeden Moment alle Dämme brechen würden. Und er wusste auch, dass er das nicht aushalten würde, hier, in seinem Esszimmer, in das Joko nicht reinpasste und die ganze Komplexität ihrer Beziehung schon gar nicht. Vielleicht hätten sie dieses Gespräch lieber an einem anderen Ort führen sollen, an dem nicht die Geister anderer Leute schwebten und die bloße Erinnerung ihrer Präsenz Klaas die Luft abschnürten.

Aber dafür war es zu spät. Und es brachte ihnen beiden nichts, die andere Sache totzuschweigen, die wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen hing.

„Du weißt, was das bedeutet, wenn…“, Nun biss Klaas sich selbst auf die Lippe. „Wenn wir uns nicht mehr jede Woche sehen. Wenn es unregelmäßig wird und wir unabhängige Sachen machen, kaum noch zusammen drehen.“

Joko nickte. Ein Schatten lag auf seinen Augen, der nicht mehr weichen wollte. „Es ist der perfekte Moment, um einen Cut zu machen.“

Klaas atmete tief durch. „Einen richtigen Cut. Nicht so wie der beim letzten Mal. Einen, der wirklich etwas verändert.“

Jokos Blick wanderte auf Klaas‘ Hand. Stumm betrachtete er den dicken, goldenen Ring, der seit nicht allzu langer Zeit an seinem Ringfinger schimmerte. „Ich glaube, es ist besser so.“

Klaas konnte den Blick nicht deuten. Es war keine Eifersucht, keine Verzweiflung, sondern eher irgendetwas zwischen Sehnsucht und Resignation. Und das Gefühl kannte er, das Dilemma hatte er jedes verdammte Mal, wenn er Joko ansah und ihn haben wollte, ohne dafür etwas aufgeben zu müssen, was er nie aufgeben würde.

Sein Herz wollte beides, hatte immer schon beides gewollt, obwohl das nie möglich sein würde. Es war Zeit, den Wunsch danach loszulassen, egal wie schwer es fallen würde.

Joko atmete geräuschvoll aus. „Wen ruf‘ ich nachts an?“, presste er plötzlich hervor. „Wenn nichts einen Sinn macht, wenn alles…“

„Mich“, unterbrach ihn Klaas bestimmt. Spürte seine Augen feucht werden und zwang sich zur Raison. Er nahm Jokos Hand, der sich derweil über die Augen wischte und schluckte. „Mich. Immer.“

Ein vorsichtiges Lächeln stahl sich auf die schmalen Lippen. Jokos Hand drückte seine und für einen Moment sah es so aus, als wolle Joko etwas sagen, was er krampfhaft zurückhielt. Solange, bis er sich umentschied und nur ein „Okay“ flüsterte.

Die Uhr an der Wand tickte leise im Hintergrund. Unaufhaltsam lief ihnen die Zeit davon.

„Hör zu, ich will nicht, dass du wieder in irgendwas abrutschst, oder so“, murmelte Klaas unruhig, an kleine runde Pillen und Jokos fahrlässige Unbekümmertheit im Umgang damit denkend.

Joko sagte seinen Namen, war sofort ungewohnt ernst und bestimmt. „Ich war da nie heiß drauf. Das war alles nur Ablenkung.“

„Trotzdem. Suchst du dir bitte in Zukunft eine bessere Ablenkung?“

Wieder drückte Joko seine Hand. „Versprochen.“

„Also machen wir’s?“

Das Nicken von der anderen Seite des Tisches wog schwer. „Ja.“

Schweigend griffen sie nach dem Bier. Die Flaschen klirrten leise aneinander, als sie sich zuprosteten. Die Trockenheit in seiner Kehle konnte Klaas damit nicht beseitigen. Der Moment schien zu banal für die Entscheidung, die sie gerade getroffen hatten.

„Scheiße“, brach es dann aus ihm hervor und er senkte schwer atmend seinen Kopf. Klammerte sich an Jokos Hand. Eigentlich war alles gesagt, aber er wollte Joko nicht gehen lassen. „Warum ist das so schwer?“

Noch ein Lächeln von Joko. Er war so schön, wenn er lächelte, dachte Klaas. Nie wirkte er mehr wie er selbst, als wenn er lächelte. „Weil’s so schön war.“

„Aufhören, wenn es am schönsten ist“, sinnierte Klaas und erwiderte sein Lächeln. Traurig, aber auch voller Stolz.

„Das mag ich.“

Sie tauschten einen Blick, wie nur sie ihn tauschen konnten. Einen Blick voller Verständnis und Vertrauen. Einen Blick, der von einem ganzen Leben zeugte, das sie geteilt hatten. Ein gemeinsames Leben, jahrelang. Niemand konnte das verstehen. Niemand hatte erlebt, was sie erlebt hatten.

Niemand hatte ihn kennengelernt wie Joko.

Niemand würde ihn je wieder so kennenlernen.

Klaas war an seiner Seite erwachsen geworden. Er hatte geliebt und getrauert und Joko war sein Fels in der Brandung gewesen, immer. Er war Vater geworden und Joko hatte ihm den Rücken freigehalten. Er hatte Fehler gemacht, die Joko wieder ausgebügelt hatte. Er hatte für Dinge geradegestanden, die auf Jokos Mist gewachsen waren.

Und nun saß er hier, in seiner Privatsphäre, in die Joko nicht reingehörte und sich trotzdem nicht mehr fremd anfühlte. Er blickte in das vertraute Gesicht vor ihm und konnte ihm jeden Gedanken daran ablesen, genauso wie Joko das bei ihm konnte. Er wusste, wie Joko sich fühlte. Er wusste, was Joko als nächstes sagen würde.

„Ich geh‘ dann mal besser“, murmelte Joko da schon, riss seine Augen nach einem letzten, intensiven Blick von Klaas und sah zu Boden.

Alles in Klaas schrie danach, ihn nicht gehen zu lassen. Sie konnten sich jetzt nicht trennen. Sie brauchten einander doch. Aber die Umgebung, Klaas‘ Wohnung, schob sich wie ein Fremdkörper zwischen sie. Joko würde sich hier nicht fallen lassen. Sie waren nicht allein, auch wenn es sich manchmal so anfühlte, wenn sie so tief in ihre Welt abtauchten.

„Wir sehen uns morgen“, sagte Joko. Es klang wie ein Trost. Wen von ihnen er damit trösten wollte, wusste Klaas nicht. Er wusste nur, ihm reichte es nicht.

Er ließ ihn trotzdem gehen, umarmte ihn nur flüchtig und abgehakt, hatte zu viel Angst, ihn sonst nie wieder loslassen zu können.

Joko sah ihn nicht an, als er durch die Tür in die Nacht verschwand.

Alles in Klaas war wie leergefegt, während er sich zurück auf den Stuhl sinken ließ und das Bier in einem Zug leerte, dabei die Uhr immer im Blick behielt.

Er hielt es ganze zwanzig Minuten aus, bevor er Joko folgte. Doris war auf dem Sofa eingenickt, also strich er ihr nur behutsam über den Kopf und beschloss, sie nicht zu wecken. Er hinterließ ihr eine kurze Nachricht und wagte sich hinaus in die eisige, nasse Kälte. Kurz fragte er sich, ob es wirklich so klug war, jetzt Auto zu fahren. Aber alles in ihm trieb ihn zu Joko.

Der öffnete ihm wenig später überrascht die Tür, konnte aber weder seine geröteten Augen noch seine nach unten hängenden Mundwinkel vor Klaas verstecken. Klaas warf einen Blick auf Joko, dem die tiefe, alles zersetzende Traurigkeit aus jeder Pore seines Körpers schoss, und war mit zwei langen Schritten bei ihm. Er schmiss sich förmlich in Jokos Arme, nahm irgendwo über ihm ein ersticktes Schluchzen war und hielt sich fest.

„Ich kann dich nicht alleine lassen“, flüsterte er, die Lippen dicht an Jokos Ohr. Und plötzlich ging es ihm nicht mehr darum, sein Gesicht zu wahren und zu überlegen, was das über ihn aussagte. Es ging nicht um Scham oder Überforderung oder Kontrollverlust. Tief in seinem Inneren war es ihm nie darum gegangen, sondern immer nur um Joko.

Er hielt Joko, aber Joko hielt auch ihn. Es half, sich um ihn kümmern zu müssen. Es half, beruhigend über den Rücken des Körpers zu streichen, der sich verzweifelt an ihn klammerte. Es half, für ihn da zu sein, ihm die Sicherheit zu geben, sich von den aufgestauten Emotionen loszusagen. Es machte Joko krank, seine Gefühle nicht ausleben zu können und das wusste Klaas. Das wollte er mit aller Macht verhindern. Joko hatte ihm in all den Jahren so viel von sich gegeben und da tat es gut, das Feld in diesem Moment etwas begleichen zu können. Er wollte für Joko da sein, ohne Hintergedanken, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten.

Er würde alles für Joko tun.

Selbst Halligalli würde er für Joko aufgeben.

Selbst diese fundamentale Notwendigkeit nach Stabilität und Kontrolle war er bereit, für Joko loszulassen. Dieses Risiko hatte er nur für ihn gehen können, immer schon. Seit MTV schon.

Jokos Atem regulierte sich, je länger sie in seinem dunklen Flur standen und sich in den Armen hielten. Klaas hatte ihn mit seinen Armen umschlungen, ihn so nah an sich gezogen, wie es möglich war. Joko hatte die Stirn mittlerweile auf Klaas‘ Schulter gesenkt. Wann Klaas begonnen hatte, ihre Körper kaum merklich hin und her zu wiegen, wusste er nicht mehr. Sie schwiegen sich lange an, aber das war okay.

Niemand schwieg wie Joko.

Mit niemandem konnte er schweigen wie Joko.

Ein lautes Hupen von der Straße riss sie schlussendlich aus ihrer Starre. Klaas stoppte seine Bewegungen und löste ihre fast schon miteinander verschmolzenen Körper ein wenig.

„Musst du nicht nach Hause?“, flüsterte Joko in den stillen Raum.

„Müsstest du nicht in München sein?“

Joko schüttelte den Kopf, richtete sich ein wenig auf und blickte ihn aus aufgewühlten Augen an. „Heute nicht.“

Klaas strich ihm mit dem Daumen einmal über die Wange. „Dann muss ich auch nicht nach Hause.“

Joko sah ihn an und diese endlose Zuneigung brannte tief und ungefiltert in seinem Blick. Klaas konnte ihm nicht standhalten und drehte seinen Kopf weg. Stattdessen glitt seine Hand an Jokos Arm hinunter. Wortlos verschränkte er ihre Hände, starrte hinab. Sah, wie mühelos sie ineinanderpassten, alles von ihnen.

Alles von ihm und alles von Joko.

Er nahm Joko mit sich, der ihm ohne Zögern folgte.

Er zog Joko auf das Bett, fühlte sein Gewicht über ihm, fühlte sich nackt und wohl zugleich unter seinem Blick.

Es hatte nichts mit übereinander herfallen zu tun, und auch nichts mit Gier. Klaas war zu Joko gefahren, weil er seine Nähe brauchte. Und echte, intime Nähe drückten sie nun einmal dadurch aus. Zumindest taten sie es noch. Es war ihr Sicherheitsnetz geworden, vor langer Zeit schon. Aber spätestens seit heute wussten sie beide, dass es dabei nicht bleiben konnte.

Die Gefühle überkamen Klaas so heftig, dass es bis in seine Fingerspitzen kribbelte. Joko schnaufte neben sein Ohr. Arhythmisch. Überfordert. Er sank auf die Seite, griff aber nach Klaas‘ Arm, damit dieser ihm nahe blieb. Klaas entging sein Zittern nicht. Nicht, als er Joko sein T-Shirt auszog. Nicht, als Joko ihn mit hastigen Bewegungen seiner Kleidung entledigte und die Decke über sie ausbreitete.

Klaas küsste Jokos Wange. Er konnte gar nicht aufhören, jeden Zentimeter von Jokos Haut abzutasten, um dafür zu sorgen, dass Joko nicht mehr zitterte. Er wollte Joko nicht weinen sehen. Joko sollte sich keine Vorwürfe machen, nur weil er das ausgesprochen hatte, was Klaas nicht über die Lippen hatte kommen wollen. Er wollte Joko sagen, dass es okay war.

Aber sie hatten genug geredet.

Da waren keine Worte mehr, die ihnen gerecht wurden.

Und deshalb küsste Klaas ihn lieber, auf die Wange, auf die Stirn, auf die Augenlider. Ließ Joko zittern und nach ihm greifen. Hielt zusammen, was in Joko zu zerbrechen drohte.

Der Sturm in seinem Inneren legte sich. Machte Platz für eine Ruhe, die er nur vom Zusammensein mit Joko kannte. Etwas, das sie miteinander verknüpfte. Wenn Klaas den Halt verlor und abrutschte, fing Joko ihn auf. Wenn Jokos Chaos ausbrach, zog Klaas ihn zurück in das Hier und Jetzt.

Er küsste Joko auf den Mund, kurz und sanft. Verharrte einen Moment länger als nötig an seinen Lippen. Der Blick, den Joko ihm daraufhin aus feuchten, glänzenden Augen zuwarf, war für Klaas unbeschreiblich. Tief und voller Sehnsucht.

Etwas flatterte bei dem Anblick in Klaas‘ Brustkorb. Ein längst verloren geglaubtes Gefühl regte sich in ihm und Klaas lächelte bei dem Gedanken, begrüßte es wie einen alten Freund. Ein Freund, der zwar willkommen war, aber nicht bleiben konnte.

Sie würden lernen müssen, ohne einander klarzukommen.

Sie würden sich freischwimmen müssen, bevor sie sich gänzlich ineinander verloren.

Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Dies war der Zeitpunkt für das Flattern in seiner Brust und die ungefilterte Emotion in Jokos Augen.

Joko zitterte immer noch. Klaas suchte sich seinen Weg an dem Körper entlang, den er nun fast mit seinem eigenen bedeckte. Joko hatte die Augen geschlossen, den Kopf auf dem Kissen gestreckt und den Mund leicht geöffnet. Selten hatte er sich Klaas so verletzlich gezeigt.

Klaas wollte ihn behüten. Vor sich selbst, vor der Welt. Vor allem, was noch vor ihnen lag.

Er tat das, was er konnte. Er überschüttete Joko mit Zärtlichkeiten, die er selbst in sich eher selten fand, auf die er kaum Zugriff hatte. Er übersäte Joko mit Küssen, spürte ihn unter seinen Fingerkuppen und seinem Mund erbeben. Griff nach ihm, nach dem vertrauten Körper, nach der Haut, die nach Heimat roch. Horchte auf Jokos rennendes Herz, das immer ein wenig zu schnell schlug, genauso wie Joko immer ein Ticken zu schnell dachte, zu voreilig handelte. Leckte erste Schweißtropfen von der Brust und lächelte, weil Joko auch viel zu schnell schwitzte. Seine Zähne gruben sich sanft in Jokos Bauch, dem er mehr als einmal den Spitznamen Rentnerplautze verpasst hatte und es kein einziges Mal böse gemeint hatte, sondern liebkosend. Jokos Atem war flach und leise, aber Klaas vernahm das leichte Stocken dennoch mühelos.

Alles an Joko war so echt, so vertraut.

Er tastete sich über den Oberkörper, wie er es selten getan hatte, und doch kannte er jeden Winkel, jede Schwachstelle, jedes Zucken. Wie von selbst glitt er mit dem Daumen über die Narbe an seinem unteren Bauch, küsste den Nabel darüber.

Klaas brauchte eine ganz Weile, um zu begreifen, was sich da steif und hart an seine Hüfte presste. War kaum überrascht, dass Joko emotionale Zärtlichkeiten schneller erregten als der gezielte Drang nach körperlicher Befriedigung. Langsam zog er an Jokos Jogginghose, umfasste seine Erektion eher beiläufig, weil er immer noch mit dem Küssen von Jokos Bauchnabel beschäftigt war. Joko war ihm komplett zugewandt, schabte mit den Nägeln ruhelos über seinen Rücken und wollte Klaas offensichtlich näher. Klaas verwehrte ihm den Wunsch nicht, sondern ließ seinen Kopf neben Jokos ins Kissen fallen und massierte Jokos Schwanz so sanft, dass das Zittern jetzt sogar Jokos Unterlippe erreicht hatte.

Tröstend fuhr Klaas mit seinen Lippen darüber, nahm Jokos Mund in Gewahrsam, wie er es auch mit seinem Körper tat, bis alles von Joko unter seinem Schutz stand. Die Küsse blieben flüchtig, waren kaum zu spüren, hatten aber den gewünschten Effekt und beruhigten Joko, der irgendwann seine Augen öffnete und seinen Blick suchte. Dessen Atem zwar stockend Klaas‘ Lippen streifte, der aber nicht mehr so aufgelöst schien wie noch vor ein paar Sekunden. Klaas legte die rechte Hand an Jokos Hals, behielt sie dort, auch während er erneut an dem Körper hinabglitt. Er wollte Joko wissen lassen, dass er da war, bei ihm, auch wenn sein Kopf tiefer sank. Sein Daumen strich über den Kehlkopf, der sich bei Jokos Schlucken deutlich bewegte.

Klaas tastete sich vor. Hielt die Augen geschlossen, um sich ganz auf Joko konzentrieren zu können, der jetzt im Vordergrund stand. Joko, der in seinem Kopf so lange schon im Vordergrund stand, ob er nun wollte oder nicht.

Seine Lippen vibrierten auf Jokos sensibler Haut direkt unter seinem Bauch. Die Finger seiner linken Hand wanderten, strichen beinahe nachlässig über Jokos Erektion, suchten sich ihren Weg tiefer. Zwei der Finger glitten über seinen Damm, zart und ohne Ziel. Klaas wiederholte die Bewegung, übte keinen Druck aus, umkreiste Jokos Eingang sanft mit seinen Fingerkuppen, während sein Mund sich auf Jokos Mitte hinabsenkte.

Joko kam beinahe augenblicklich. Klaas hatte kaum angefangen, seine Lippen um Jokos Schwanz zu legen, da zuckten dessen Beine schon und sein Becken schnellte aufgeregt in die Höhe. Klaas sank auf ihn hinab, so tief er konnte. Ließ Joko in seinen Mund kommen, schnell und unkontrolliert und doch so wahnsinnig echt.

Es ging nicht darum. Es war irrelevant, ob Joko eine Minute durchgehalten hätte oder zwanzig. Klaas war nicht hier, um ihn hinzuhalten oder zu triezen. Die Luft um sie herum war nicht lustgetränkt und stickig. Es war ihnen nicht um den Sex gegangen, sondern umeinander. Um die Nähe. Um die Verarbeitung dessen, was sie an diesem Abend alles gesagt hatten.

Klaas schluckte, richtete sich auf und fuhr mit dem Zeigefinger langsam über Jokos Schulter. Joko bedeutete ihm so viel und gleichzeitig sah er sich selbst als so unwichtig. Er war Klaas‘ Anker, in vielerlei Hinsicht sein Lebensmittelpunkt, und doch wollte Joko es nicht so sehen. Fast so, als hätte er Angst davor, wirklich essenziell im Leben eines anderen Menschen zu sein.

Joko neigte den Kopf. Er atmete gegen Klaas‘ Hals, fuhr mit den Lippen vorsichtig über die entblößte Haut. Hinterließ kleine Explosionen an den Stellen, die sein Mund berührte.

„Ich…“

Er beendete den Satz nicht. Klaas strich beruhigend über seinen Arm. Joko wirkte selten kleiner als er, aber so, wie er nun vor ihm lag, eingerollt und ausgelaugt, würde Klaas nicht auf die Idee kommen, dass Joko ihn normalerweise um mehr als zehn Zentimeter überragte.

Er schüttelte den Kopf, bedeutete Joko stumm, nicht zu reden und presste ihn stattdessen wieder an sich. Beobachtete minutenlang, wie Jokos Augen schwerer wurden, das Streicheln seiner Finger auf Klaas‘ Haut flüchtiger. Immer tiefer sank er unter Klaas‘ wachsamen Blick in den Schlaf, ließ sich endlich von dessen Ruhe anstecken und entspannte seine verkrampften Muskeln.

Sie lagen einer seltsamen Position. Voreinander, mit Jokos Kopf auf der Höhe von Klaas‘ Brust und mit ihren Knien so eingezogen, dass sie sich berührten. Merkwürdig krumm und schief und gleichzeitig auf die bizarrste Weise perfekt ineinanderpassend.

Klaas schrieb Doris noch, bevor er einschlief.

Klaas: Bleibe bei Joko.

Doris: Alles okay?

Klaas zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde.

K: Nein.

D: Dann pass auf euch auf.

Zuneigung flackerte in Klaas auf. Nichts als reine Zuneigung und Dankbarkeit für die Frau, die er an seiner Seite wusste. Doris‘ Gespür für Klaas und für Situationen, in denen es Ernst wurde, war einmalig. Er musste ihr nicht erklären, was los war. Er musst sie nicht anrufen und sich dafür rechtfertigen, warum er nicht zuhause schlafen würde. Doris war intelligent. Sie wusste, dass Klaas nur in Ausnahmefällen eine andere Herberge seinem eigenen Bett vorzog. Sie hatte bereits gewusst, dass an diesem Abend nichts mehr normal werden würde, als Joko bei ihnen vor der Tür gestanden hatte.

Klaas tat, was sie ihm gesagt hatte. Er schlang seine Arme um Joko und passte auf. Auf Joko. Auf Joko und ihn. Er schlief nur leicht, tauchte immer wieder aus wirren Träumen auf und vergewisserte sich, dass Joko bei ihm war. Und das war er. Das blieb er. Joko schlief tief und fest, das Gesicht an seine Brust gepresst, die Beine mit seinen verwoben. Klaas atmete in sein langes Haar, lauschte Jokos rhythmischen Lauten und döste wieder weg. Er beobachtete den Sonnenaufgang, der das dunkle Schlafzimmer erst in blau-violettes und dann in tiefpinkes Licht tauchte, bevor erste Sonnenstrahlen durch den durchlässigen Vorhang fielen. Und erst dann schlief er erneut für eine Weile ein, bevor Joko sich wieder neben ihm regte.

Der Morgen fühlte sich an wie ein Traum. Als lebte Klaas in dem vergilbten Fotoalbum einer Vergangenheit, die nie existiert hatte. Neben Joko aufwachen, in Jokos Bad duschen, mit Joko ins Büro fahren. Es war wie in einer bizarren Parallelwelt, die schrecklich und schön zugleich war.

Schulter an Schulter betraten sie das Büro.

Niemand sagte ein Wort. Niemand stellte Fragen.

In der Privatsphäre ihres Büros angekommen, schälte sich Klaas aus der Kleidung von gestern, griff wie benommen nach seinen Wechselklamotten, die nicht nach Joko rochen. Die Spur, die Joko auf ihm hinterlassen hatte, blieb allerdings. Sie lag unter jeder Schicht Kleidung, noch unter seiner Haut.

Sie würden mit Schmitti und Thomas reden müssen. Mit den anderen auch, aber mit ihnen beiden zuerst. Niemand außer Joko und Klaas hatte Halligalli und ihrer ganzen Welt über die Jahre so viel von sich selbst gegeben wie Thomas Schmitt und Thomas Martiens. Sie würden es ihnen noch vor der Winterpause sagen müssen. Sie würden deutlich machen müssen, dass sie nicht von einer entfernten Zukunft sprachen, wenn es um das Ende von Halligalli ging, sondern vom nächsten Jahr.

Und Arne. Himmel, Arne würde sie umbringen, wenn er davon erfuhr.

Jener Druck und die Trauer, die Klaas schon am Vorabend in seinem Esszimmer gedroht hatten zu überwältigen, krachten urplötzlich wieder über ihn herein. Er verbarg sein Gesicht hinter zitternden Händen, hörte wenig später die Tür in seinem Rücken aufgehen, bewegte sich jedoch nicht. Nur eine Person würde dieses Zimmer betreten, ohne vorher anzuklopfen.

Jokos Arme schlangen sich um ihn. Blind drehte sich Klaas zu ihm um, versank in der Umarmung, während sie sich anschwiegen und Joko ihm mit sanften Fingern über den Rücken strich.

„Du hast dein T-Shirt falschherum an, Hase“, murmelte er schließlich, das Kinn auf Klaas‘ Kopf abgestützt.

Klaas stieß einen Laut aus, der für ein Lachen zu heiser und für ein Schluchzen zu heiter war. Er musste seinen Gedanken nicht verbalisieren. Das, was ihn so traurig machte. Diese Angst davor, ihre Entscheidung das erste Mal nach außen tragen und damit leben zu müssen, wie echt es sich dadurch anfühlen würde.

Jokos Hand legte sich wie von selbst in seinen Nacken, drückte leicht zu. Selbstverständlich und versichernd. „Wir machen’s zusammen.“

Klaas nickte, bevor die Worte ganz bei ihm angekommen waren.

Zusammen.

Er und Joko.

So, wie sie diese Entscheidung zusammen getroffen hatten.

Aber erst mussten sie die Show hinter sich bringen. Erst mussten sie sich darüber im Klaren sein, was für ein Privileg es war, in diesem Studio zu stehen, das ihnen gehörte.

Und das taten sie.

Stunden später standen sie in ihrem Studio, umringt von Zuschauern, und drehten die Szene für den Countdown-Moment.

Joko griff nach seiner Hand, wieder und wieder.

Klaas musste lachen, wieder und wieder.

Um sie herum herrschte gespenstische Ruhe.

Joko strich ihm über den Handrücken. Wissend, dass Klaas dadurch ein weiteres Mal patzen würde.

Klaas tat es ihm gleich. Nicht, um Joko zu ärgern, sondern weil ihm danach war.

Und irgendwann, da lachten sie nicht mehr. Irgendwann hielt Joko Klaas‘ Hand. Klaas hielt Jokos Hand.

Sie küssten sich nicht.

Sie hielten sich aneinander fest und starrten stur geradeaus, auf ihr Studio. Auf ihre Welt und alles, was sie miteinander aufgebaut hatten.

All das, was immer ihnen gehören würde.




x




And as you move on

Remember me

Remember us

And all we used to be.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast