Leseprobe: Halbeinsamkeit
von HellowImMellow
Kurzbeschreibung
(Der Autor hat keine Kurzbeschreibung zu dieser Geschichte verfasst.)
LeseprobeFamilie, Liebesgeschichte / P18 / Het
23.05.2021
23.04.2022
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2.390
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Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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23.05.2021
2.390
Was mit dieser Geschichte passiert, weiß ich derzeit noch nicht genau.
Sobald es Infos gibt, sage ich euch Bescheid. <3
Rehabilitation mit Kompetenz und Herz - wer hierher kommt, der soll sich rundum angenommen fühlen! - Ihre Recuperatio Klinik.
Die geschwungene, weiße Schrift nimmt fast so viel Platz auf der Leinwand ein wie die Dame, die daneben abgebildet ist. Ihrer Bauchbinde zufolge ist sie die Klinikleiterin, heißt Frau Schneidig und macht ihrem Namen alle Ehre. Ihr Lächeln strahlt heller als der Slogan, und ihr Blazer vermittelt eine einschüchternde Kompetenz.
Grummelnd senke ich den Blick. Rundum angenommen soll ich mich also fühlen, ja? Aktuell fallen mir kaum Orte ein, die ich schlimmer finde als diesen hier.
„So … Jetzt bin ich wieder bei Ihnen.“ Der glatzköpfige Mann mit dem Kinnbart reißt mich aus den Gedanken, indem er seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch zwischen uns stellt. Lächelnd setzt er sich mir gegenüber. Die obersten Knöpfe seines karierten Hemds sind geöffnet und seine Wangen glänzen. Dass es draußen fünfundzwanzig Grad heiß ist, hält ihn nicht davon ab, am späten Nachmittag einen Kaffee zu trinken.
Ich nicke kaum merklich und hefte den Blick auf meine Finger. Sie spielen mit einem zusammengefalteten Zettel, den sie in der Hosentasche gefunden haben. Es ist der Abholschein der Koffer, die ich vor einigen Stunden an der Rezeption abgeholt habe. Da ich ihn nicht mehr benötige, dürfen sie ihn getrost zerknüllen.
Der Mann zieht einen Stapel Papiere vor sich. „Sie sind Frau … Charlotte Fischer.“
„Lotte“, entweicht es mir. Ich ernte einen fragenden Blick und füge leise hinzu: „Ich kann meinen Vornamen nicht ausstehen.“
„Gut, wenn Ihnen das lieber ist: Lotte Fischer.“ Er schenkt mir ein breites Lächeln, schlägt meine Akte auf und durchblättert sie mit routinierten Handgriffen.
Ich nicke wieder und lasse den Blick durch den Raum schweifen. Das Büro verfügt, wie etwa drei Viertel aller Zimmer, über einen Balkon. Von manchen Fenstern aus kann man sogar den See überblicken. Meine Bleibe bildet eine Ausnahme. Ich wurde in einem besenkammergroßen Raum im Erdgeschoss untergebracht, vor dem sich der Parkplatz erstreckt. Als sei er nicht winzig genug, ist er seit kurzem mit vier riesigen unausgepackten Koffern zugestellt.
„Sie sind gestern hier angekommen, richtig?“, fragt der Mann und durchblättert meine Akte.
Wieder nicke ich.
„Lotte Fischer … Achtundzwanzig Jahre alt. Depressionen. Seit Oktober letzten Jahres arbeitsunfähig.“
„Das stimmt so.“ Ich sinke tiefer in den Stuhl.
Er räuspert sich. „Als Erstes möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Martin Passmann. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und schon das zwölfte Jahr in dieser Klinik tätig. Für die kommenden fünf Wochen bin ich ihr Ansprechpartner und Therapeut.“ Er trägt das in so einem professionellen Ton vor, dass ich mich frage, ob die Anzahl der Patienten, denen er das schon gesagt hat, drei- oder gar vierstellig ist.
„Klingt toll“, antworte ich tonlos. Mir fällt es schwer, meine Abneigung zu verbergen.
Er runzelt die Stirn.
„Nett sie kennenzulernen“, füge ich hastig hinzu und unternehme wenigstens den Versuch, höflich zu klingen.
Der Therapeut schlürft von seinem Kaffee und fährt fort. „Ich habe in Berlin studiert und war eine Weile in einer psychiatrischen Einrichtung in Düsseldorf tätig. Seit ich hier arbeite, wohne ich im Umland von Potsdam.“
Mit vor der Brust verschränkten Armen starre ich nach draußen. Welcher Teil meiner Körpersprache vermittelt ihm, dass mich das interessiert? Ich finde diesen Mann nicht unsympathisch. Aber das ändert nichts daran, dass ich nicht hier sein möchte.
An mangelnde Kooperation scheint Herr Passmann gewöhnt zu sein. Er redet weiter, ohne auf meine abwehrende Körperhaltung einzugehen. „Sie arbeiten in einem Callcenter, richtig? Inbound oder Outbound?“
„Inbound.“
„Sie verkaufen Reisen?“
„Ja. Auf Provisionsbasis.“
„Aha!“ Der Therapeut lehnt sich zurück und nimmt einen kräftigen Schluck Kaffee. „Das ist bestimmt nicht immer leicht, oder?“ Er hört sich so an, als sei er davon überzeugt, den Auslöser meines Zusammenbruchs im Oktober gefunden zu haben.
„Leicht ist es nicht. Aber es ist nun mal mein Job.“ Nervös befeuchte ich die Lippen mit der Zunge. Dass das Callcenter für meine über monatelang andauernde Antriebslosigkeit verantwortlich sein soll, bezweifele ich. Schon einige Jahre lang bin ich dort angestellt.
Glücklicherweise geht Herr Passmann nicht weiter auf das Thema ein und heftet den Blick auf die Akte. „In den Unterlagen ist nicht vermerkt, ob Sie alleine wohnen.“
Autsch. Ganz dünnes Eis. „Mir fiel es schwer, die Frage zum Familienstand auszufüllen“, bringe ich nach kurzem Zögern über die Lippen.
„Ja? Warum?“
„Ich wohne noch mit meinem Partner zusammen, aber wir sind seit einigen Wochen getrennt. Er ist jetzt also … mein Ex-Partner.“
Überrascht hebt er die Brauen und tastet nach einem Kugelschreiber. „Ach ja? Wie lange waren Sie ein Paar?“
„Vier Jahre.“ Ich schlucke und wende den Blick ab.
„Das ist eine lange Zeit.“ Sein Finger fährt über die Klammer des Klemmbretts. Ich erwarte, dass er mich nach Details fragt; dem Auslöser, irgendwas - doch er schweigt. Scheinbar versteht dieser Mann tatsächlich etwas von seinem Fach, denn ein zu direktes Nachhaken hätte unsere Zusammenarbeit unter keinen guten Stern gestellt.
Herr Passmann atmet tief durch und lässt den Kugelschreiber sinken. „Dann stoßen Sie ja in einer ziemlich turbulenten Zeit zu uns, was?“
Schweigend zucke ich die Achseln.
„Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Familie?“
„Gut.“ Weil meine Stimme kratzig ist, räuspere ich mich. „Meine Eltern sind getrennt lebend. Meine Schwester wohnt bei meiner Mutter.“
„Wie würden Sie ihre Kindheit beschreiben?“
Ich seufze. Dieses Gespräch nimmt schneller eine klischeehafte Wendung an als vermutet. „Schön. Mit meiner Schwester komme ich gut klar. Meine Eltern sind ganz okay. Als ich siebzehn war, haben sie sich scheiden lassen.“
Der Therapeut macht sich eifrig Notizen.
„Passiert“, füge ich hinzu. „Scheidung kommen in den besten Familien vor.“ Ich will direkt klarstellen, dass dieses Ereignis mich heute nicht mehr tangiert.
Sein Kugelschreiber saust über das Klemmbrett. „Ist ihre Schwester älter oder jünger als Sie?“
„Älter.“
Er nickt und schreibt weiter.
So ganz möchte ich das nicht stehen lassen. Zwar ist Mara die ältere von uns beiden, die Funktion der großen Schwester übernehme aber meistens ich. „Sie hat eine leichte Lernbehinderung und eine Muskelschwunderkrankung. Seit einigen Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Meine Mutter pflegt sie.“
„Ach ja?“ Herr Passmann hebt den Kopf.
„Ja“, antworte ich mit fester Stimme. „Und das ist okay.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen wende ich mich ab. Als Allerletztes kann ich einen Therapeuten gebrauchen, der mir erklärt, dass Maras Erkrankung die Ursache meiner Depression ist.
Herr Passmann bemerkt, wie angespannt ich bin. Er legt den Stift beiseite, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und mustert mich eingehend.
Meine Lunge ist wie zugeschnürt. Mir wird bewusst, dass das hier erst der Anfang ist. In den kommenden fünf Wochen werde am laufenden Band mit Themen konfrontiert, die mich bedrücken. Sicherlich werde ich von einer Therapie zur nächsten gejagt. Wassergymnastik und Walken stehen auf dem Programm. Wenn ich Pech habe, werde ich zum krönenden Abschluss in eine Wiedereingliederung gesteckt.
Dieser Therapeut wird seine wahre Freude daran haben, eine emotionale Wurzelbehandlung meines Herzens durchzuführen. Doch ich habe keine Wahl. Die Krankenkasse könnte mir das Krankengeld streichen, wenn ich mich verweigere.
Ich kämpfe mit den Tränen. Obwohl ich den Eindruck vermitteln wollte, diese Reha nicht zu brauchen, kann ich es nicht kaschieren. Mir geht es nicht gut. Schon seit Monaten. Und ich kann mir schwer vorstellen, dass sich das an diesem Ort ändern wird.
Wir beide schweigen, während ich all meine Willenskraft aufwenden muss, um nicht zu weinen.
„Was versprechen Sie sich von der Reha?“ Plötzlich klingt der Therapeut nicht mehr freundlich, sondern fordernd.
„Gar nichts. Ich bin hier, weil die Krankenkasse es möchte.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
Herr Passmann seufzt. Er lässt das Klemmbrett auf den Tisch sinken, legt den Kugelschreiber weg und krault seinen Bart. Die professionelle Freundlichkeit ist aus seinem Blick gewichen. Er wirkt nicht verärgert, sondern verständnislos. „Wissen Sie, Frau Fischer. Eine psychosomatische Reha ist bestimmt nicht immer ein Zuckerschlecken. Sie kann jedoch von Erfolg gekrönt sein. Es hängt davon ab, was man draus macht. Natürlich können Sie sich hier verschließen. Vor Ihren Problemen. Vor Ihren Mitpatienten. Vor mir. Aber das bringt sie nach acht Monaten auch nicht weiter, die sie krankgeschrieben sind.“ Seine Worte sind leise, aber deutlich. Mir kommt es vor, als habe er nicht aus der Sicht eines Therapeuten mit mir gesprochen, sondern als knalle mir ein Außenstehender seine Meinung um die Ohren. Unverblümt und ehrlich.
Ratsch. Meine nervösen Finger haben den Papierfetzen auseinandergerissen.
„Wenn sie also schlau sind, Frau Fischer, und als genau das schätze ich Sie ein … Dann nutzen Sie diese Gelegenheit und sehen diese Reha als Chance.“
Wir starren einander an.
Mein Mund ist trocken. So schonungslos ehrlich hatte mir lange niemand mehr die Meinung gesagt. Hektisch sehe ich mich im Zimmer um. Und dann platzt aus mir heraus: „Wieso haben Sie hier überhaupt ein Bett?“ Mit zittrigen Fingern deute ich in die Ecke des Raumes.
Der Therapeut ist verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel. Als er antwortet, hat seine Stimme wieder den warmen Ton des Zuhörers angenommen. „Etwa einmal in der Woche übernachte ich zur Bereitschaft in der Klinik.“
„Sie haben sogar einen Balkon“, füge ich mit dünner Stimme hinzu. „Ich habe keinen in meinem Zimmer.“
„Das ist schade.“
„Ja. Dabei hätte ich so gerne einen gehabt.“
Für einen Augenblick ist es still. Dann bricht es aus mir heraus. Ich weine los.
Der Therapeut ist überrascht, schiebt dann aber eine Tempobox über den Tisch. „Na sehen Sie“, sagt er mit einem sanften Lächeln.
Schniefend vergrabe ich das Gesicht in einem Taschentuch. Wenn meine Reha schon mit so viel verdrängtem Schmerz beginnt, wie soll sie dann erst enden?
Ich weine noch immer, als Herr Passmann mich verabschiedet hat und ich in den dunklen Flur tapse.
Schniefend lasse ich mich mit dem Rücken an die Wand gegenüber der Tür des Therapeuten fallen. Wegen eines Balkons oder Nichtbalkons zu heulen, war wohl das Peinlichste, das ich mir in den letzten Monaten geleistet hatte. Was wird der Grund für meinen nächsten Zusammenbruch? Eine Spinne im Waschbecken? Ein Steinchen im Schuh?
Der Papierstapel in meiner Hand bebt. Auf ihnen ist die Empfehlung an die Klinikärztin vermerkt, mich baldmöglichst medikamentös einzustellen. Dicke Tränen tropfen auf die Zettel. Ich will die Namen des Psychopharmakons lesen, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen.
Ich presse die Papiere an meine Brust und lasse den Kopf an die Tapete sinkend. Dramatisch schluchzend vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und rufe: „Ich hasse einfach alles hier!“
Im nächsten Augenblick wird mir bewusst, dass ich in dem Flur gar nicht alleine bin. Ein paar Türen weiter lehnt eine große Gestalt an der Wand und sieht zu mir herüber. Der Mann hat schwarze Haare, die an den Seiten kurz geschnitten sind, und Tätowierungen an den Armen. Er trägt eine dunkle Hose, einen Nietengürtel und ein schwarzes Shirt mit buntem Aufdruck. Optisch macht er den Eindruck eines alternativen Draufgängers. Typen wie er laufen einem auf einem Festival über den Weg. Nicht aber in einer psychosomatischen Klinik.
Sein Blick ist direkt auf mich gerichtet. Fuck. Wie lange steht er da schon und sieht mich an?
Hektisch wische ich mir die Tränen von der Wange. Da treffe ich endlich eine Person in meinem Alter, doch ehe ich mich vorzustellen kann, beweise ich, wie labil ich bin. Typisch ich.
Der Mann starrt ausdruckslos in mein verheultes Gesicht. Dann entfährt ihm ein knappes: „Wow.“ Aus diesem Wort spricht nicht die Spur von Verständnis oder Trost, sondern nur genervte Resignation. Er wirkt geradezu angewidert von meinem Gefühlsausbruch.
Verwirrt ziehe ich die Nase hoch. Über seinen abfälligen Kommentar bin ich so überrascht wie überrumpelt und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Er seufzt, steckt die Hände in die Hosentaschen und heftet den Blick auf die Zimmertür ihm gegenüber. Anscheinend wartet auch er auf sein therapeutisches Erstgespräch.
Angespannt fahre ich mir mit der Zunge über die Lippen. Ich habe das Bedürfnis, mich zu erklären. Ich hatte schließlich einen handfesten Grund zum Heulen. Und so plappere ich los, ohne darüber nachzudenken. „Ich habe keinen Balkon, okay?“
Er dreht den Kopf und schaut mich verständnislos an.
„Fast alle hier haben einen. Aber ich habe ein Erdgeschosszimmer im Neubau gekriegt. Mit Blick auf den Parkplatz. Ich habe bei der Rezeption gefragt, ob ich das Zimmer wechseln kann. Aber … nein.“ Meine Stimme sackt ab. Erneut laufen mir Tränen die Wangen hinunter.
Für wenige Augenblicke sieht er mich schweigend an. Dann wiederholt er: „Du heulst, weil du keinen Balkon hast.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich zucke die Achseln. „Ja?“
Fassungslos schüttelt er den Kopf. „Es gibt Leute hier, die wegen echter Problemen hier sind. Hast du mal darüber nachgedacht, wie du auf die wirken könntest?“, fragt er unvermittelt und sieht mir scharf in die Augen. Sie sind hell und tief und schauen mit stechender Präzision direkt in meine Seele.
Mit bebender Unterlippe erwidere ich seinen Blick. Eine Träne perlt von meinem Kinn. Ich bekomme keinen Ton über die Lippen. Echte Probleme?
Plötzlich öffnet sich die Tür und eine weibliche Stimme ertönt. „Herr Crawford?“
Ein letztes Mal mustert er mich. Für den Bruchteil einer Sekunde gleitet sein Blick meinen Körper hinunter bis zu den Schuhen und wieder hinauf zu meinem Gesicht. Dann drückt er sich von der Wand ab und tritt mit einem halbwegs freundlichen: „Der bin ich, hallo“, in den Therapieraum. Die Tür schließt sich hinter ihm.
Alleine bleibe ich im Flur zurück. Seine Worte lassen mich nicht los. Denkt er, ich habe keine echten Probleme? Weil ich geweint hatte, weil ich keinen Balkon habe?
Mit flachem Atem versuche ich, mich zu sammeln. Wieso war er so gemein? Und warum habe ich nicht etwas Schlagfertiges gekontert? Fünf Wochen lang in einer Besenkammer wohnen zu müssen, ist ja wohl ein handfester Grund zum Heulen. So wie er reagiert jemand, der einen traumhaften Ausblick hat.
Zerknirscht gebe ich mir einen Ruck und setze mich in Bewegung. Ich komme an dem Raum vorbei, den er betreten hat, und ich höre die Stimme der Therapeutin von drinnen. Der schwache Geruch eines Männerdeos dringt mir in die Nase. Ich kenne es, denn Jan hat das gleiche. Ich rieche es gerne. Es erinnert mich an innige Umarmungen; Geborgenheit. Etwas, das ich nicht mit diesem griesgrämigen Menschen in Verbindung bringen möchte.
Ich rümpfe die Nase und schlendere in mein balkonfreies Zimmer. Wenn alle Patienten in dieser Klinik über so ein geringes Maß an Empathie verfügen wie er, kann ich mich ja auf eine tolle Zeit gefasst machen.
Sobald es Infos gibt, sage ich euch Bescheid. <3
Rehabilitation mit Kompetenz und Herz - wer hierher kommt, der soll sich rundum angenommen fühlen! - Ihre Recuperatio Klinik.
Die geschwungene, weiße Schrift nimmt fast so viel Platz auf der Leinwand ein wie die Dame, die daneben abgebildet ist. Ihrer Bauchbinde zufolge ist sie die Klinikleiterin, heißt Frau Schneidig und macht ihrem Namen alle Ehre. Ihr Lächeln strahlt heller als der Slogan, und ihr Blazer vermittelt eine einschüchternde Kompetenz.
Grummelnd senke ich den Blick. Rundum angenommen soll ich mich also fühlen, ja? Aktuell fallen mir kaum Orte ein, die ich schlimmer finde als diesen hier.
„So … Jetzt bin ich wieder bei Ihnen.“ Der glatzköpfige Mann mit dem Kinnbart reißt mich aus den Gedanken, indem er seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch zwischen uns stellt. Lächelnd setzt er sich mir gegenüber. Die obersten Knöpfe seines karierten Hemds sind geöffnet und seine Wangen glänzen. Dass es draußen fünfundzwanzig Grad heiß ist, hält ihn nicht davon ab, am späten Nachmittag einen Kaffee zu trinken.
Ich nicke kaum merklich und hefte den Blick auf meine Finger. Sie spielen mit einem zusammengefalteten Zettel, den sie in der Hosentasche gefunden haben. Es ist der Abholschein der Koffer, die ich vor einigen Stunden an der Rezeption abgeholt habe. Da ich ihn nicht mehr benötige, dürfen sie ihn getrost zerknüllen.
Der Mann zieht einen Stapel Papiere vor sich. „Sie sind Frau … Charlotte Fischer.“
„Lotte“, entweicht es mir. Ich ernte einen fragenden Blick und füge leise hinzu: „Ich kann meinen Vornamen nicht ausstehen.“
„Gut, wenn Ihnen das lieber ist: Lotte Fischer.“ Er schenkt mir ein breites Lächeln, schlägt meine Akte auf und durchblättert sie mit routinierten Handgriffen.
Ich nicke wieder und lasse den Blick durch den Raum schweifen. Das Büro verfügt, wie etwa drei Viertel aller Zimmer, über einen Balkon. Von manchen Fenstern aus kann man sogar den See überblicken. Meine Bleibe bildet eine Ausnahme. Ich wurde in einem besenkammergroßen Raum im Erdgeschoss untergebracht, vor dem sich der Parkplatz erstreckt. Als sei er nicht winzig genug, ist er seit kurzem mit vier riesigen unausgepackten Koffern zugestellt.
„Sie sind gestern hier angekommen, richtig?“, fragt der Mann und durchblättert meine Akte.
Wieder nicke ich.
„Lotte Fischer … Achtundzwanzig Jahre alt. Depressionen. Seit Oktober letzten Jahres arbeitsunfähig.“
„Das stimmt so.“ Ich sinke tiefer in den Stuhl.
Er räuspert sich. „Als Erstes möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Martin Passmann. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und schon das zwölfte Jahr in dieser Klinik tätig. Für die kommenden fünf Wochen bin ich ihr Ansprechpartner und Therapeut.“ Er trägt das in so einem professionellen Ton vor, dass ich mich frage, ob die Anzahl der Patienten, denen er das schon gesagt hat, drei- oder gar vierstellig ist.
„Klingt toll“, antworte ich tonlos. Mir fällt es schwer, meine Abneigung zu verbergen.
Er runzelt die Stirn.
„Nett sie kennenzulernen“, füge ich hastig hinzu und unternehme wenigstens den Versuch, höflich zu klingen.
Der Therapeut schlürft von seinem Kaffee und fährt fort. „Ich habe in Berlin studiert und war eine Weile in einer psychiatrischen Einrichtung in Düsseldorf tätig. Seit ich hier arbeite, wohne ich im Umland von Potsdam.“
Mit vor der Brust verschränkten Armen starre ich nach draußen. Welcher Teil meiner Körpersprache vermittelt ihm, dass mich das interessiert? Ich finde diesen Mann nicht unsympathisch. Aber das ändert nichts daran, dass ich nicht hier sein möchte.
An mangelnde Kooperation scheint Herr Passmann gewöhnt zu sein. Er redet weiter, ohne auf meine abwehrende Körperhaltung einzugehen. „Sie arbeiten in einem Callcenter, richtig? Inbound oder Outbound?“
„Inbound.“
„Sie verkaufen Reisen?“
„Ja. Auf Provisionsbasis.“
„Aha!“ Der Therapeut lehnt sich zurück und nimmt einen kräftigen Schluck Kaffee. „Das ist bestimmt nicht immer leicht, oder?“ Er hört sich so an, als sei er davon überzeugt, den Auslöser meines Zusammenbruchs im Oktober gefunden zu haben.
„Leicht ist es nicht. Aber es ist nun mal mein Job.“ Nervös befeuchte ich die Lippen mit der Zunge. Dass das Callcenter für meine über monatelang andauernde Antriebslosigkeit verantwortlich sein soll, bezweifele ich. Schon einige Jahre lang bin ich dort angestellt.
Glücklicherweise geht Herr Passmann nicht weiter auf das Thema ein und heftet den Blick auf die Akte. „In den Unterlagen ist nicht vermerkt, ob Sie alleine wohnen.“
Autsch. Ganz dünnes Eis. „Mir fiel es schwer, die Frage zum Familienstand auszufüllen“, bringe ich nach kurzem Zögern über die Lippen.
„Ja? Warum?“
„Ich wohne noch mit meinem Partner zusammen, aber wir sind seit einigen Wochen getrennt. Er ist jetzt also … mein Ex-Partner.“
Überrascht hebt er die Brauen und tastet nach einem Kugelschreiber. „Ach ja? Wie lange waren Sie ein Paar?“
„Vier Jahre.“ Ich schlucke und wende den Blick ab.
„Das ist eine lange Zeit.“ Sein Finger fährt über die Klammer des Klemmbretts. Ich erwarte, dass er mich nach Details fragt; dem Auslöser, irgendwas - doch er schweigt. Scheinbar versteht dieser Mann tatsächlich etwas von seinem Fach, denn ein zu direktes Nachhaken hätte unsere Zusammenarbeit unter keinen guten Stern gestellt.
Herr Passmann atmet tief durch und lässt den Kugelschreiber sinken. „Dann stoßen Sie ja in einer ziemlich turbulenten Zeit zu uns, was?“
Schweigend zucke ich die Achseln.
„Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Familie?“
„Gut.“ Weil meine Stimme kratzig ist, räuspere ich mich. „Meine Eltern sind getrennt lebend. Meine Schwester wohnt bei meiner Mutter.“
„Wie würden Sie ihre Kindheit beschreiben?“
Ich seufze. Dieses Gespräch nimmt schneller eine klischeehafte Wendung an als vermutet. „Schön. Mit meiner Schwester komme ich gut klar. Meine Eltern sind ganz okay. Als ich siebzehn war, haben sie sich scheiden lassen.“
Der Therapeut macht sich eifrig Notizen.
„Passiert“, füge ich hinzu. „Scheidung kommen in den besten Familien vor.“ Ich will direkt klarstellen, dass dieses Ereignis mich heute nicht mehr tangiert.
Sein Kugelschreiber saust über das Klemmbrett. „Ist ihre Schwester älter oder jünger als Sie?“
„Älter.“
Er nickt und schreibt weiter.
So ganz möchte ich das nicht stehen lassen. Zwar ist Mara die ältere von uns beiden, die Funktion der großen Schwester übernehme aber meistens ich. „Sie hat eine leichte Lernbehinderung und eine Muskelschwunderkrankung. Seit einigen Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Meine Mutter pflegt sie.“
„Ach ja?“ Herr Passmann hebt den Kopf.
„Ja“, antworte ich mit fester Stimme. „Und das ist okay.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen wende ich mich ab. Als Allerletztes kann ich einen Therapeuten gebrauchen, der mir erklärt, dass Maras Erkrankung die Ursache meiner Depression ist.
Herr Passmann bemerkt, wie angespannt ich bin. Er legt den Stift beiseite, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und mustert mich eingehend.
Meine Lunge ist wie zugeschnürt. Mir wird bewusst, dass das hier erst der Anfang ist. In den kommenden fünf Wochen werde am laufenden Band mit Themen konfrontiert, die mich bedrücken. Sicherlich werde ich von einer Therapie zur nächsten gejagt. Wassergymnastik und Walken stehen auf dem Programm. Wenn ich Pech habe, werde ich zum krönenden Abschluss in eine Wiedereingliederung gesteckt.
Dieser Therapeut wird seine wahre Freude daran haben, eine emotionale Wurzelbehandlung meines Herzens durchzuführen. Doch ich habe keine Wahl. Die Krankenkasse könnte mir das Krankengeld streichen, wenn ich mich verweigere.
Ich kämpfe mit den Tränen. Obwohl ich den Eindruck vermitteln wollte, diese Reha nicht zu brauchen, kann ich es nicht kaschieren. Mir geht es nicht gut. Schon seit Monaten. Und ich kann mir schwer vorstellen, dass sich das an diesem Ort ändern wird.
Wir beide schweigen, während ich all meine Willenskraft aufwenden muss, um nicht zu weinen.
„Was versprechen Sie sich von der Reha?“ Plötzlich klingt der Therapeut nicht mehr freundlich, sondern fordernd.
„Gar nichts. Ich bin hier, weil die Krankenkasse es möchte.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
Herr Passmann seufzt. Er lässt das Klemmbrett auf den Tisch sinken, legt den Kugelschreiber weg und krault seinen Bart. Die professionelle Freundlichkeit ist aus seinem Blick gewichen. Er wirkt nicht verärgert, sondern verständnislos. „Wissen Sie, Frau Fischer. Eine psychosomatische Reha ist bestimmt nicht immer ein Zuckerschlecken. Sie kann jedoch von Erfolg gekrönt sein. Es hängt davon ab, was man draus macht. Natürlich können Sie sich hier verschließen. Vor Ihren Problemen. Vor Ihren Mitpatienten. Vor mir. Aber das bringt sie nach acht Monaten auch nicht weiter, die sie krankgeschrieben sind.“ Seine Worte sind leise, aber deutlich. Mir kommt es vor, als habe er nicht aus der Sicht eines Therapeuten mit mir gesprochen, sondern als knalle mir ein Außenstehender seine Meinung um die Ohren. Unverblümt und ehrlich.
Ratsch. Meine nervösen Finger haben den Papierfetzen auseinandergerissen.
„Wenn sie also schlau sind, Frau Fischer, und als genau das schätze ich Sie ein … Dann nutzen Sie diese Gelegenheit und sehen diese Reha als Chance.“
Wir starren einander an.
Mein Mund ist trocken. So schonungslos ehrlich hatte mir lange niemand mehr die Meinung gesagt. Hektisch sehe ich mich im Zimmer um. Und dann platzt aus mir heraus: „Wieso haben Sie hier überhaupt ein Bett?“ Mit zittrigen Fingern deute ich in die Ecke des Raumes.
Der Therapeut ist verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel. Als er antwortet, hat seine Stimme wieder den warmen Ton des Zuhörers angenommen. „Etwa einmal in der Woche übernachte ich zur Bereitschaft in der Klinik.“
„Sie haben sogar einen Balkon“, füge ich mit dünner Stimme hinzu. „Ich habe keinen in meinem Zimmer.“
„Das ist schade.“
„Ja. Dabei hätte ich so gerne einen gehabt.“
Für einen Augenblick ist es still. Dann bricht es aus mir heraus. Ich weine los.
Der Therapeut ist überrascht, schiebt dann aber eine Tempobox über den Tisch. „Na sehen Sie“, sagt er mit einem sanften Lächeln.
Schniefend vergrabe ich das Gesicht in einem Taschentuch. Wenn meine Reha schon mit so viel verdrängtem Schmerz beginnt, wie soll sie dann erst enden?
Ich weine noch immer, als Herr Passmann mich verabschiedet hat und ich in den dunklen Flur tapse.
Schniefend lasse ich mich mit dem Rücken an die Wand gegenüber der Tür des Therapeuten fallen. Wegen eines Balkons oder Nichtbalkons zu heulen, war wohl das Peinlichste, das ich mir in den letzten Monaten geleistet hatte. Was wird der Grund für meinen nächsten Zusammenbruch? Eine Spinne im Waschbecken? Ein Steinchen im Schuh?
Der Papierstapel in meiner Hand bebt. Auf ihnen ist die Empfehlung an die Klinikärztin vermerkt, mich baldmöglichst medikamentös einzustellen. Dicke Tränen tropfen auf die Zettel. Ich will die Namen des Psychopharmakons lesen, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen.
Ich presse die Papiere an meine Brust und lasse den Kopf an die Tapete sinkend. Dramatisch schluchzend vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und rufe: „Ich hasse einfach alles hier!“
Im nächsten Augenblick wird mir bewusst, dass ich in dem Flur gar nicht alleine bin. Ein paar Türen weiter lehnt eine große Gestalt an der Wand und sieht zu mir herüber. Der Mann hat schwarze Haare, die an den Seiten kurz geschnitten sind, und Tätowierungen an den Armen. Er trägt eine dunkle Hose, einen Nietengürtel und ein schwarzes Shirt mit buntem Aufdruck. Optisch macht er den Eindruck eines alternativen Draufgängers. Typen wie er laufen einem auf einem Festival über den Weg. Nicht aber in einer psychosomatischen Klinik.
Sein Blick ist direkt auf mich gerichtet. Fuck. Wie lange steht er da schon und sieht mich an?
Hektisch wische ich mir die Tränen von der Wange. Da treffe ich endlich eine Person in meinem Alter, doch ehe ich mich vorzustellen kann, beweise ich, wie labil ich bin. Typisch ich.
Der Mann starrt ausdruckslos in mein verheultes Gesicht. Dann entfährt ihm ein knappes: „Wow.“ Aus diesem Wort spricht nicht die Spur von Verständnis oder Trost, sondern nur genervte Resignation. Er wirkt geradezu angewidert von meinem Gefühlsausbruch.
Verwirrt ziehe ich die Nase hoch. Über seinen abfälligen Kommentar bin ich so überrascht wie überrumpelt und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Er seufzt, steckt die Hände in die Hosentaschen und heftet den Blick auf die Zimmertür ihm gegenüber. Anscheinend wartet auch er auf sein therapeutisches Erstgespräch.
Angespannt fahre ich mir mit der Zunge über die Lippen. Ich habe das Bedürfnis, mich zu erklären. Ich hatte schließlich einen handfesten Grund zum Heulen. Und so plappere ich los, ohne darüber nachzudenken. „Ich habe keinen Balkon, okay?“
Er dreht den Kopf und schaut mich verständnislos an.
„Fast alle hier haben einen. Aber ich habe ein Erdgeschosszimmer im Neubau gekriegt. Mit Blick auf den Parkplatz. Ich habe bei der Rezeption gefragt, ob ich das Zimmer wechseln kann. Aber … nein.“ Meine Stimme sackt ab. Erneut laufen mir Tränen die Wangen hinunter.
Für wenige Augenblicke sieht er mich schweigend an. Dann wiederholt er: „Du heulst, weil du keinen Balkon hast.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich zucke die Achseln. „Ja?“
Fassungslos schüttelt er den Kopf. „Es gibt Leute hier, die wegen echter Problemen hier sind. Hast du mal darüber nachgedacht, wie du auf die wirken könntest?“, fragt er unvermittelt und sieht mir scharf in die Augen. Sie sind hell und tief und schauen mit stechender Präzision direkt in meine Seele.
Mit bebender Unterlippe erwidere ich seinen Blick. Eine Träne perlt von meinem Kinn. Ich bekomme keinen Ton über die Lippen. Echte Probleme?
Plötzlich öffnet sich die Tür und eine weibliche Stimme ertönt. „Herr Crawford?“
Ein letztes Mal mustert er mich. Für den Bruchteil einer Sekunde gleitet sein Blick meinen Körper hinunter bis zu den Schuhen und wieder hinauf zu meinem Gesicht. Dann drückt er sich von der Wand ab und tritt mit einem halbwegs freundlichen: „Der bin ich, hallo“, in den Therapieraum. Die Tür schließt sich hinter ihm.
Alleine bleibe ich im Flur zurück. Seine Worte lassen mich nicht los. Denkt er, ich habe keine echten Probleme? Weil ich geweint hatte, weil ich keinen Balkon habe?
Mit flachem Atem versuche ich, mich zu sammeln. Wieso war er so gemein? Und warum habe ich nicht etwas Schlagfertiges gekontert? Fünf Wochen lang in einer Besenkammer wohnen zu müssen, ist ja wohl ein handfester Grund zum Heulen. So wie er reagiert jemand, der einen traumhaften Ausblick hat.
Zerknirscht gebe ich mir einen Ruck und setze mich in Bewegung. Ich komme an dem Raum vorbei, den er betreten hat, und ich höre die Stimme der Therapeutin von drinnen. Der schwache Geruch eines Männerdeos dringt mir in die Nase. Ich kenne es, denn Jan hat das gleiche. Ich rieche es gerne. Es erinnert mich an innige Umarmungen; Geborgenheit. Etwas, das ich nicht mit diesem griesgrämigen Menschen in Verbindung bringen möchte.
Ich rümpfe die Nase und schlendere in mein balkonfreies Zimmer. Wenn alle Patienten in dieser Klinik über so ein geringes Maß an Empathie verfügen wie er, kann ich mich ja auf eine tolle Zeit gefasst machen.