Annie Amseltod
von Bartifer
Kurzbeschreibung
Die kleine Annie tötet aus Versehen eine Amsel. Bevor die wütenden Gartenvögel sie dafür zur Rechenschaft ziehen können, taucht ein Mann mit Vogelkopf bei ihr auf. Er nennt sich „der Wanderfalke“ und nimmt Annie auf seinem fliegenden Fahrrad mit in die Welt der Vogelmenschen, wo er ihr offenbart, dass er hinter dem Amseltod ein großes Verbrechen vermutet. Und Annie soll ihm dabei helfen, es aufzudecken.
GeschichteKrimi, Fantasy / P12 / Gen
Fabeltiere & mythologische Geschöpfe
23.04.2021
26.11.2021
21
62.040
5
30.04.2021
1.637
Annie kann nicht schlafen.
Sie glaubt, dass ihr Papa ihr einmal erzählt hat, dass manche Menschen eine Stimme in ihrem Kopf hören, wenn sie denken, und andere nicht. Annie hat sich dann einen ganzen Samstag lang auf ihr Bett gelegt und versucht, darauf zu achten. An diesem Tag hat Annie herausgefunden, dass es unmöglich ist, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Denn um das zu tun, braucht man ja schon den nächsten. Annie findet das in etwa so unmöglich, wie eine Farbe dadurch zu beschreiben, dass sie sie aufmalt. Irgendwann hat Annie dann den Schluss ziehen müssen, dass sie zwar eine Stimme hören kann, wenn sie sich darauf konzentriert, aber dass sie beim besten Willen nicht sagen kann, ob sie das auch tut, wenn sie nicht darauf achtet.
Jetzt aber ist diese Stimme in ihrem Kopf da und sehr laut. Sie spricht von “Fehlverhalten” und “Erziehungsunfall” und Annie ist sich nicht sicher, was das zweite Wort bedeutet. Sie will auch nicht darüber nachdenken, denn sie will einschlafen, aber kann nicht. Dabei ist sie sehr müde. Weil ihre Lider schwer sind, muss sie oft blinzeln, sogar, wenn ihre Augen geschlossen sind. Draußen schreit ein Vogel, und Annie weiß nicht, welcher. Es ist kein Rabe, denn sie weiß, wie Raben klingen. Es ist auch keine Krähe, die kennt sie auch. Aber welcher Vogel ist denn sonst noch wach?
Jetzt kommen weitere, lautere, bösere Rufe dazu.
Schnell zieht Annie sich die Decke ganz über den Kopf. Dann schließt sie die Augen und lauscht. Zwei Mal klopft etwas Hartes an ihr Fenster. Zwei Mal schreien die Vögel. Dann hört Annie nichts mehr. Sie bleibt noch einen Moment ganz still. Dann öffnet sie die Augen und starrt in das Dunkel der Deckenhöhle. Sie traut sich noch nicht, darunter hervorzukommen.
Sie suchen bestimmt nach mir, schießt es ihr durch den Kopf, um mich zu bestrafen.
Annie spürt ihr Herz in ihrer Brust pochen. Bestimmt sitzen ganz viele Amseln auf ihrem Fenstersims und warten nur darauf, dass sie sich zeigt. Und dann klopfen sie mit ihren spitzen Schnäbeln so lange gegen die Scheibe, bis sie zerbricht.
Da!
Etwas quietscht vor ihrem Fenster. Dann rumst und knattert es. Das muss eine besonders große Amsel sein. Annie stellt sie sich mit leuchtend roten Augen und langen, scharfen Krallen vor. Ihr wird ganz heiß im Magen und in ihrem Kopf, direkt hinter der Stirn. Sie hört, wie ihr Fensterrahmen knarrt. Dabei schließt Papa das Fenster abends immer, damit kein Einbrecher herein kann, sagt er. An Amseln hat er dabei nicht gedacht.
Die Decke über Annie flattert im Wind. Annie kann sich nicht bewegen oder schreien. Und das will sie auch nicht, die Amsel würde sie ja doch fressen. Annie lauscht. Schritte kommen näher und sie klingen nicht nach spitzen Amselkrallen. Amselkrallen rattern nämlich nicht, und sie pochen auch nicht wie Papas Anzugschuhe auf den Fliesen im Flur. Annie gräbt sich ein Loch zwischen Decke und Matratze und lugt hindurch. Sie sieht ein trübes, grünes Licht, so eines, das große Monsteraugen haben. Aber von Herrn Grimm hat Annie gelernt, dass Grün keine böse Farbe ist, also schreit sie nicht.
“Keine Sorge, sie sind weg”, sagt der Einbrecher mit Schuhen wie ihr Papa.
Annie schließt schnell ihr Guckloch und hält den Atem an.
“Sie sind weg, aber sie werden zurückkommen. Und dann sind sie sicher nicht allein. Wir müssen gehen, Annie.”
Auf einmal kann die kleine Annie ihre Glieder wieder bewegen, und sie schüttelt heftig den Kopf. Als sich eine große Hand auf ihre Schulter legt, japst sie erschrocken in ihr Kissen.
“Geh weg!”, ruft sie, doch unter der dicken Decke klingt ihre Stimme kraftlos und dumpf.
“Ich möchte dir helfen”, antwortet der Einbrecher.
Er zieht seine Hand zurück. Annie glaubt ihm kein Wort. Jetzt möchte sie doch nach ihrem Papa rufen, aber hier unter den Daunen wird er sie nicht hören. Vorsichtig schiebt sie ihre Hände nach draußen und zieht die Decke dann mit einem Ruck von ihrem Kopf. Annie will gerade schreien, als sie den Einbrecher sieht, aber ihr bleibt die Stimme im Hals stecken. Er trägt wirklich Schuhe wie ihr Papa, und um den Hals hat er einen ganz langen Schal gewickelt. Das grüne Licht kommt von einer Lampe, die vorne an seinem Fahrrad brennt. Annie kann seinen Kopf gerade so erkennen, und sie traut ihren Augen nicht: Statt einer Nase und einem Mund hatte der Einbrecher einen Schnabel! Er hat auch keine Augen wie ein Mensch, sondern zwei große, dunkle Murmeln, und anstatt Haaren trägt er viele helle und dunkle Federn auf dem ganzen Kopf.
“Du musst leise sein, sonst hören sie dich.”
Der Einbrecher bewegt seinen Schnabel, während er mit einer Menschenstimme spricht. Und weil Annies Kopf das nicht verstehen kann und er dabei so sanft klingt, beruhigt sich Annie ein bisschen.
“Ich habe noch nie einen Vogelmann mit einem Fahrrad gesehen”, sagt sie.
“Das kannst du auch gar nicht”, antwortet er. “Ich bin nämlich der einzige, der ein Fahrrad besitzt.”
Er streckt seine Hand nach ihr aus. Erst bekommt Annie Angst, weil sie glaubt, er möchte ihr wehtun, aber er streckt sie nur nach ihr aus. Annie zögert, aber dann nimmt sie seine Hand an. Er trägt einen dünnen Handschuh aus weichem Stoff, und darunter ist seine Haut ganz warm.
“Wollen die Amseln mir weh tun?”, fragt Annie und sieht besorgt zu ihrem offenen Fenster. Keine Vögel sitzen davor.
Der Einbrecher schüttelt den Kopf. “Das kann die Amsel jetzt nicht mehr. Deshalb suchen dich nun die Späher, und wenn sie dich finden, werden sie dir weh tun, fürchte ich."
“Aber ich wollte der Amsel doch nur... weil sie gegen mein...”
Der Vogelmann streicht Annie mit dem Daumen über den Handrücken und lässt dann los. “Ich weiß. Aber sie nicht, und Häher fällen ihr Urteil sehr schnell. Ihr Strafrecht ist mehr eine...Richtlinie, na, davon wann anders. Wir müssen dich vor ihnen verstecken. Komm zu mir."
Er macht zwei große Schritte um sein Fahrrad herum. Annie folgt ihm. Von ihrem Bett aus hat sie schon gesehen, dass das Gepäck auf dem Fahrrad so groß ist, dass es zu beiden Seiten übersteht. Jetzt, wo sie direkt davor steht, kann sie auch erkennen, was es ist. So etwas hat sie noch nie gesehen! An Schnüren und Stäben, auf Stöcken und Spießen, auf Haken und Stapeln türmen sich Masken auf dem Fahrrad des Vogelmannes. Annie erkennt einen Fuchs und ein Wildschwein. Oben auf hängt das Gesicht einer alten Oma neben einem schönen Menschen mit ganz langen Ohren. Viele Masken sehen aus wie Monster oder Fabeltiere.
“Wo hab ich denn…”, murmelt der Vogelmann und steckt seinen Arm tief in den Maskenberg. “Ah!”
Er zieht seine Hand wieder heraus. Darin hält er jetzt etwas, das für Annie aussieht wie ein aufgeplatztes Kissen.
“Die hat lange keiner mehr getragen, darum ist sie ein bisschen verstaubt. Aber sie sollte genau deine Größe haben. Probier mal!”
Er reicht sie Annie. Dabei verliert die Maske ein paar von den zerrupften Federn. Sie ist dunkel, hat einen Schnabel aus Holz und zwei sehr ausgefranste Löcher für die Augen.
“Die sieht doch gar nicht echt aus”, sagt Annie und steckt zwei Finger durch die Augenlöcher.
“Du wirst sie täuschen, vertrau mir”, antwortet der Vogelmann. Dann schaut er ganz plötzlich zum Fenster und lauscht.
Annie hört nichts.
“Schnell, sie sind wieder auf dem Weg hierher.”
Annie möchte etwas fragen. Aber der Vogelmann klappt schon mit dem Fuß den Ständer hoch und dreht das Fahrrad so herum, dass der Lenker zum Fenster zeigt. Auf einmal hat Annie panische Angst. Sie möchte ihren Papa zur Hilfe rufen, aber wenn die Späher ihn sehen, tun sie ihm bestimmt auch weh! Das darf nicht passieren. Also setzt Annie sich schnell die Vogelmaske auf. Sofort fühlt es sich an, als würde sich der Stoff ganz dicht an ihr Gesicht anschmiegen. Ob sie einen Mantel mitnehmen sollte?
Der Vogelmann ist schon halb aufgestiegen und streckt eine Hand nach Annie aus. Schnell läuft sie zu ihm.
“Aufgesessen!”, sagt er vergnügt und hebt Annie mit einem festen Ruck mitten auf den Maskenberg. Dann setzt er sich vor sie in den Sattel. Annie fragt sich, was nun passiert. In ihrem kleinen Zimmer können sie kaum eine Runde fahren. Außerdem darf Annie ihre Inliner auch nur draußen tragen.
“Gut festhalten!”
Annie hält sich gut fest. Sie gräbt ihre Finger tief in die Masken, bis sie dicke Schnüre gefunden hat, an denen sie sich festhalten kann. Dann tritt der Vogelmann in die Pedale. Annie merkt erst nicht, dass sich etwas bewegt. Dann geht ein kurzer Ruck durch das Rad, bis in die klappernde Klingel, und es hebt sich langsam vom Boden.
“Wir schweben!”, ruft Annie.
Das Fahrrad schwebt immer höher. Dann bewegt es sich auf das offene Fenster zu. Der Vogelmann schaut sich über die Schulter zu ihr um.
“Oh nein, kleine Annie. Wir schweben nicht. Wir fliegen.”
Mit einem letzten Stoß hievt sich das Fahrrad über den Fenstersims ins Freie. Annie traut sich nicht nach unten zu sehen und verkrampft ihre Hände so sehr, dass die Schnüre in ihre Haut schneiden. Aber das Fahrrad fällt nicht runter. Es steigt höher und höher und wird dabei schneller und schneller. Annie muss an einen alten Film denken, den ihr Papa sehr gerne mag.
Ihr Papa!
Sie hat ihm ja noch gar nicht Bescheid gesagt. Sie traut sich, sich umzusehen, aber da ist nur ihr offenes Fenster, das immer kleiner wird. Ihr Papa wird sich schreckliche Sorgen machen, wenn Annie morgen früh nicht in ihrem Bett liegt. Das muss sie dem Vogelmann sagen, sobald sie gelandet sind. Annie mag es nicht, jetzt von zu Hause wegzugehen. Aber die Späher dürfen ihren Papa auch nicht finden. Also senkt sie geduldig den Kopf, zieht die Beine an und wundert sich, was das für ein Ort zwischen Erdboden und Mond sein mag, an den der Vogelmann sie bringen will.
Sie glaubt, dass ihr Papa ihr einmal erzählt hat, dass manche Menschen eine Stimme in ihrem Kopf hören, wenn sie denken, und andere nicht. Annie hat sich dann einen ganzen Samstag lang auf ihr Bett gelegt und versucht, darauf zu achten. An diesem Tag hat Annie herausgefunden, dass es unmöglich ist, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Denn um das zu tun, braucht man ja schon den nächsten. Annie findet das in etwa so unmöglich, wie eine Farbe dadurch zu beschreiben, dass sie sie aufmalt. Irgendwann hat Annie dann den Schluss ziehen müssen, dass sie zwar eine Stimme hören kann, wenn sie sich darauf konzentriert, aber dass sie beim besten Willen nicht sagen kann, ob sie das auch tut, wenn sie nicht darauf achtet.
Jetzt aber ist diese Stimme in ihrem Kopf da und sehr laut. Sie spricht von “Fehlverhalten” und “Erziehungsunfall” und Annie ist sich nicht sicher, was das zweite Wort bedeutet. Sie will auch nicht darüber nachdenken, denn sie will einschlafen, aber kann nicht. Dabei ist sie sehr müde. Weil ihre Lider schwer sind, muss sie oft blinzeln, sogar, wenn ihre Augen geschlossen sind. Draußen schreit ein Vogel, und Annie weiß nicht, welcher. Es ist kein Rabe, denn sie weiß, wie Raben klingen. Es ist auch keine Krähe, die kennt sie auch. Aber welcher Vogel ist denn sonst noch wach?
Jetzt kommen weitere, lautere, bösere Rufe dazu.
Schnell zieht Annie sich die Decke ganz über den Kopf. Dann schließt sie die Augen und lauscht. Zwei Mal klopft etwas Hartes an ihr Fenster. Zwei Mal schreien die Vögel. Dann hört Annie nichts mehr. Sie bleibt noch einen Moment ganz still. Dann öffnet sie die Augen und starrt in das Dunkel der Deckenhöhle. Sie traut sich noch nicht, darunter hervorzukommen.
Sie suchen bestimmt nach mir, schießt es ihr durch den Kopf, um mich zu bestrafen.
Annie spürt ihr Herz in ihrer Brust pochen. Bestimmt sitzen ganz viele Amseln auf ihrem Fenstersims und warten nur darauf, dass sie sich zeigt. Und dann klopfen sie mit ihren spitzen Schnäbeln so lange gegen die Scheibe, bis sie zerbricht.
Da!
Etwas quietscht vor ihrem Fenster. Dann rumst und knattert es. Das muss eine besonders große Amsel sein. Annie stellt sie sich mit leuchtend roten Augen und langen, scharfen Krallen vor. Ihr wird ganz heiß im Magen und in ihrem Kopf, direkt hinter der Stirn. Sie hört, wie ihr Fensterrahmen knarrt. Dabei schließt Papa das Fenster abends immer, damit kein Einbrecher herein kann, sagt er. An Amseln hat er dabei nicht gedacht.
Die Decke über Annie flattert im Wind. Annie kann sich nicht bewegen oder schreien. Und das will sie auch nicht, die Amsel würde sie ja doch fressen. Annie lauscht. Schritte kommen näher und sie klingen nicht nach spitzen Amselkrallen. Amselkrallen rattern nämlich nicht, und sie pochen auch nicht wie Papas Anzugschuhe auf den Fliesen im Flur. Annie gräbt sich ein Loch zwischen Decke und Matratze und lugt hindurch. Sie sieht ein trübes, grünes Licht, so eines, das große Monsteraugen haben. Aber von Herrn Grimm hat Annie gelernt, dass Grün keine böse Farbe ist, also schreit sie nicht.
“Keine Sorge, sie sind weg”, sagt der Einbrecher mit Schuhen wie ihr Papa.
Annie schließt schnell ihr Guckloch und hält den Atem an.
“Sie sind weg, aber sie werden zurückkommen. Und dann sind sie sicher nicht allein. Wir müssen gehen, Annie.”
Auf einmal kann die kleine Annie ihre Glieder wieder bewegen, und sie schüttelt heftig den Kopf. Als sich eine große Hand auf ihre Schulter legt, japst sie erschrocken in ihr Kissen.
“Geh weg!”, ruft sie, doch unter der dicken Decke klingt ihre Stimme kraftlos und dumpf.
“Ich möchte dir helfen”, antwortet der Einbrecher.
Er zieht seine Hand zurück. Annie glaubt ihm kein Wort. Jetzt möchte sie doch nach ihrem Papa rufen, aber hier unter den Daunen wird er sie nicht hören. Vorsichtig schiebt sie ihre Hände nach draußen und zieht die Decke dann mit einem Ruck von ihrem Kopf. Annie will gerade schreien, als sie den Einbrecher sieht, aber ihr bleibt die Stimme im Hals stecken. Er trägt wirklich Schuhe wie ihr Papa, und um den Hals hat er einen ganz langen Schal gewickelt. Das grüne Licht kommt von einer Lampe, die vorne an seinem Fahrrad brennt. Annie kann seinen Kopf gerade so erkennen, und sie traut ihren Augen nicht: Statt einer Nase und einem Mund hatte der Einbrecher einen Schnabel! Er hat auch keine Augen wie ein Mensch, sondern zwei große, dunkle Murmeln, und anstatt Haaren trägt er viele helle und dunkle Federn auf dem ganzen Kopf.
“Du musst leise sein, sonst hören sie dich.”
Der Einbrecher bewegt seinen Schnabel, während er mit einer Menschenstimme spricht. Und weil Annies Kopf das nicht verstehen kann und er dabei so sanft klingt, beruhigt sich Annie ein bisschen.
“Ich habe noch nie einen Vogelmann mit einem Fahrrad gesehen”, sagt sie.
“Das kannst du auch gar nicht”, antwortet er. “Ich bin nämlich der einzige, der ein Fahrrad besitzt.”
Er streckt seine Hand nach ihr aus. Erst bekommt Annie Angst, weil sie glaubt, er möchte ihr wehtun, aber er streckt sie nur nach ihr aus. Annie zögert, aber dann nimmt sie seine Hand an. Er trägt einen dünnen Handschuh aus weichem Stoff, und darunter ist seine Haut ganz warm.
“Wollen die Amseln mir weh tun?”, fragt Annie und sieht besorgt zu ihrem offenen Fenster. Keine Vögel sitzen davor.
Der Einbrecher schüttelt den Kopf. “Das kann die Amsel jetzt nicht mehr. Deshalb suchen dich nun die Späher, und wenn sie dich finden, werden sie dir weh tun, fürchte ich."
“Aber ich wollte der Amsel doch nur... weil sie gegen mein...”
Der Vogelmann streicht Annie mit dem Daumen über den Handrücken und lässt dann los. “Ich weiß. Aber sie nicht, und Häher fällen ihr Urteil sehr schnell. Ihr Strafrecht ist mehr eine...Richtlinie, na, davon wann anders. Wir müssen dich vor ihnen verstecken. Komm zu mir."
Er macht zwei große Schritte um sein Fahrrad herum. Annie folgt ihm. Von ihrem Bett aus hat sie schon gesehen, dass das Gepäck auf dem Fahrrad so groß ist, dass es zu beiden Seiten übersteht. Jetzt, wo sie direkt davor steht, kann sie auch erkennen, was es ist. So etwas hat sie noch nie gesehen! An Schnüren und Stäben, auf Stöcken und Spießen, auf Haken und Stapeln türmen sich Masken auf dem Fahrrad des Vogelmannes. Annie erkennt einen Fuchs und ein Wildschwein. Oben auf hängt das Gesicht einer alten Oma neben einem schönen Menschen mit ganz langen Ohren. Viele Masken sehen aus wie Monster oder Fabeltiere.
“Wo hab ich denn…”, murmelt der Vogelmann und steckt seinen Arm tief in den Maskenberg. “Ah!”
Er zieht seine Hand wieder heraus. Darin hält er jetzt etwas, das für Annie aussieht wie ein aufgeplatztes Kissen.
“Die hat lange keiner mehr getragen, darum ist sie ein bisschen verstaubt. Aber sie sollte genau deine Größe haben. Probier mal!”
Er reicht sie Annie. Dabei verliert die Maske ein paar von den zerrupften Federn. Sie ist dunkel, hat einen Schnabel aus Holz und zwei sehr ausgefranste Löcher für die Augen.
“Die sieht doch gar nicht echt aus”, sagt Annie und steckt zwei Finger durch die Augenlöcher.
“Du wirst sie täuschen, vertrau mir”, antwortet der Vogelmann. Dann schaut er ganz plötzlich zum Fenster und lauscht.
Annie hört nichts.
“Schnell, sie sind wieder auf dem Weg hierher.”
Annie möchte etwas fragen. Aber der Vogelmann klappt schon mit dem Fuß den Ständer hoch und dreht das Fahrrad so herum, dass der Lenker zum Fenster zeigt. Auf einmal hat Annie panische Angst. Sie möchte ihren Papa zur Hilfe rufen, aber wenn die Späher ihn sehen, tun sie ihm bestimmt auch weh! Das darf nicht passieren. Also setzt Annie sich schnell die Vogelmaske auf. Sofort fühlt es sich an, als würde sich der Stoff ganz dicht an ihr Gesicht anschmiegen. Ob sie einen Mantel mitnehmen sollte?
Der Vogelmann ist schon halb aufgestiegen und streckt eine Hand nach Annie aus. Schnell läuft sie zu ihm.
“Aufgesessen!”, sagt er vergnügt und hebt Annie mit einem festen Ruck mitten auf den Maskenberg. Dann setzt er sich vor sie in den Sattel. Annie fragt sich, was nun passiert. In ihrem kleinen Zimmer können sie kaum eine Runde fahren. Außerdem darf Annie ihre Inliner auch nur draußen tragen.
“Gut festhalten!”
Annie hält sich gut fest. Sie gräbt ihre Finger tief in die Masken, bis sie dicke Schnüre gefunden hat, an denen sie sich festhalten kann. Dann tritt der Vogelmann in die Pedale. Annie merkt erst nicht, dass sich etwas bewegt. Dann geht ein kurzer Ruck durch das Rad, bis in die klappernde Klingel, und es hebt sich langsam vom Boden.
“Wir schweben!”, ruft Annie.
Das Fahrrad schwebt immer höher. Dann bewegt es sich auf das offene Fenster zu. Der Vogelmann schaut sich über die Schulter zu ihr um.
“Oh nein, kleine Annie. Wir schweben nicht. Wir fliegen.”
Mit einem letzten Stoß hievt sich das Fahrrad über den Fenstersims ins Freie. Annie traut sich nicht nach unten zu sehen und verkrampft ihre Hände so sehr, dass die Schnüre in ihre Haut schneiden. Aber das Fahrrad fällt nicht runter. Es steigt höher und höher und wird dabei schneller und schneller. Annie muss an einen alten Film denken, den ihr Papa sehr gerne mag.
Ihr Papa!
Sie hat ihm ja noch gar nicht Bescheid gesagt. Sie traut sich, sich umzusehen, aber da ist nur ihr offenes Fenster, das immer kleiner wird. Ihr Papa wird sich schreckliche Sorgen machen, wenn Annie morgen früh nicht in ihrem Bett liegt. Das muss sie dem Vogelmann sagen, sobald sie gelandet sind. Annie mag es nicht, jetzt von zu Hause wegzugehen. Aber die Späher dürfen ihren Papa auch nicht finden. Also senkt sie geduldig den Kopf, zieht die Beine an und wundert sich, was das für ein Ort zwischen Erdboden und Mond sein mag, an den der Vogelmann sie bringen will.
Dieser Autor möchte Reviews nur von registrierten Nutzern erhalten. Bitte melde dich an, um einen Review für diese Geschichte zu schreiben.