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Crimson Silk And Vanity

von Ari Fey
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance / P18 / MaleSlash
Ann Takamaki Goro Akechi Protagonist Ryuji Sakamoto
14.04.2021
27.06.2021
5
23.080
3
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14.04.2021 5.942
 
“Wenn euer Gemälde realistisch wirken soll —” Madarame platzierte seinen Pinsel zielsicher in der Mitte der weißen Leinwand, “— geht es darum, eine Illusion auf der Leinwand zu erschaffen.” Mit einer geübten Bewegung des Handgelenks führte er die schwarze Farbe zu einem perfekten Kreis zusammen. “Die Form selbst ist zweidimensional; aber durch Licht und Schatten —” der Pinsel wurde in einen glasklaren Behälter voller Wasser getaucht. Die Farbpigmente, die sich von den Borsten lösten, verwandeln die durchsichtige Flüssigkeit in grauen Nebel. “— erzeugt ihr die Illusion von dreidimensionaler Tiefe beim Betrachter.”

Er trocknete den feuchten Pinsel an einem Lappen, der einmal weiß oder grau gewesen war, dann tunkte er die feinen Borsten in einen satten Grauton und setzte ihn am inneren Rand des Kreises an. “Ihr müsst genau beobachten, wo das Licht hinfällt —” mit kurzen, raschen Bewegungen vermischte er den dunklen Rand mit dem Grau im Inneren, bis der ganze Kreis ausgefüllt war. “— und wo es Schatten wirft.” Der Pinsel wird erneut in Schwarz getaucht, bevor Madarame den Schatten am unteren Rand des Kreises durch weitere, geübte Pinselstriche imitierte. “Für den Realismus ist es wichtig, dass ihr die Formen studiert. Ihr müsst ganz genau beobachten —” der Pinsel fand den Weg zurück in das Wasser, zum Tuch und anschließend in ein reines, pures Weiß. “— damit ihr die reale Welt perfekt abbilden könnt.” Mit ein paar letzten, gezielten Platzierungen des Pinsels auf der Leinwand; auf dem oberen Rand des Kreises, fügte Madarame den Lichteinfall hinzu und beendete die Demonstration.

Akira warf Yusuke einen gelangweilten Blick zu, den der Andere nicht erwiderte. Gespannt starrte Yusuke auf die Illusion einer Kugel, als wäre es etwas besonderes, etwas, dass er nicht bereits tausendmal gezeichnet hatte. Seufzend wendete Akira sich wieder dem Professor zu, welcher gerade seinen Pinsel trocknete und sorgsam zurück in ein hölzernes Etui legte.

“Ich weiß, dass ihr bereits die Grundlagen beherrscht. Einfache Formen umzusetzen ist ein Kinderspiel, aber wenn ihr dieses Prinzip auf den menschlichen Körper übertragt —” er gestikulierte auf eine Kohlezeichnung an der Wand hinter sich, welches ein weibliches Aktmodell zeigte; den Kopf schüchtern zur Seite geneigt und den mittleren Part ihres Körpers durch eine fließende, weiße Decke umhüllt. “— dann wird das Ganze schon schwieriger. Aus diesem Grund möchte ich, dass ihr bis zur nächsten Woche versucht, erste Skizzen anzufertigen. Jeder von euch benötigt ein Modell, dass sich für Aktzeichnungen bereit erklärt.” Er faltete beide Hände ineinander, versteckt in den langen Ärmeln seines khaki-farbenen Kimonos. “Noch Fragen?”

“Die Modelle — gibt es bestimmte Voraussetzungen?” fragte Makoto, links von Akira. Sie hatte die Beine überschlagen und ein offenes Notizbuch auf ihren Schoß gebettet, den Bleistift — er hatte einen Radiergummi in Form eines Pandas auf der Spitze, wie Akira bemerkte — hielt sie in der rechten Hand.

“Ausgezeichnete Frage,” begann Madarame und nickte ihr wohlwollend zu. “Bitte sucht euch jeweils ein Modell, dass ihr für passend haltet. Direkte Voraussetzungen gibt es nicht — Erfahrung ist natürlich immer angebracht; aber lasst euch davon nicht die Auswahl einschränken. Je mehr Vielfalt, desto besser.”

Makoto notierte seine Worte aufmerksam, während Madarame fort führte: “Ich empfehle euch, vorher ein Gespräch zu führen. Achtet darauf, dass sich euer Modell wohl fühlt — je verspannter die Posen sind, desto unnatürlicher wirkt die Zeichnung.”

“Werden die Zeichnungen Teil der Ausstellung sein?” warf Yusuke ein, einen Finger nachdenklich an das Kinn gelegt. Mit den Fingern der anderen Hand trommelte er nervös auf seinem Knie herum.

“Die Ausstellung am Ende des Semesters wird, wie jedes Jahr, einen Raum mit den besten Gemälden aus diesem Kurs haben,” erklärte Madarame ruhig, “Wir stehen allerdings noch ganz am Anfang des Semesters — setzt euch nicht unter Druck und versucht euch gemeinsam mit eurem Modell an verschiedenen Posen. Wir besprechen eure Skizzen dann in der nächsten Woche.”

Der Professor beendete mit diesen Worten das Seminar und verabschiedete die Teilnehmer in einer höflichen Verbeugung. Akira unterdrückte ein Gähnen und vermied es, dem Wunsch seiner müden Glieder nachzugeben, sich ausgiebig zu strecken, bevor er seine Tasche schnappte und gemeinsam mit den anderen den Raum verließ. Yusuke verabschiedete sich gemeinsam mit Makoto, was Akira mit Ann zurückließ.

“Weißt du schon, wen du als Modell nimmst?” fragte Ann neben ihm; ihr Ton fröhlich und voller Motivation. Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern zog sofort ihr Smartphone heraus und begann darauf herumzutippen. “Ich frage Ryuji — wir sind erst seit kurzem zusammen, aber er wird wohl nicht ‘Nein’ sagen, oder?”
Akira bemerkte erst, dass sie noch immer mit ihm redete, als sie erneut fragte: “Hey, Akira? Hörst du mir zu?”

Müde blinzelte er ihr entgegen, versuchte die letzten Worte, die er von ihr aufgeschnappt hatte, zu seinem Satz zu verbinden. “J-ja, sicher. Ryuji wird sich bestimmt freuen —”

Ann rollte kichernd mit den Augen. “Natürlich! Das war nicht meine Frage — na ja, nicht ganz — ich wollte wissen, ob du auch deine Freundin fragst, ob sie dein Modell sein möchte.”

“Nein, ich —” Akira suchte nach einer passenden Ausrede, die nicht nach ‘Ich möchte meine Freundin nicht fragen, weil wir uns bisher nur einmal geküsst haben’ klang. “Ich suche jemanden. Vielleicht jemand, der schon Erfahrung hat.”

“Du willst sie nicht fragen, ob du sie nackt zeichnen darfst? Wow, und du schimpfst dich Romantiker?” Ann schnalzte spielerisch-abwertend mit der Zunge. “Wozu sonst hat sie einen Freund, der Kunst-Student ist, wenn du sie nicht zeichnest?”

“Ryuji ist also mit dir zusammen, weil du ihn ständig zeichnest —” konterte Akira und hob fragend eine Augenbraue an. Anns Gesicht färbte sich augenblicklich purpurrot; dann stieß sie ein lautes, schrilles Lachen aus.

“Schon gut, schon gut,” kicherte sie und winkte ab. “Ich helfe dir, jemanden zu finden. Lass uns einen Aushang am schwarzen Brett anbringen, hm? In ein paar Stunden ist Mittagspause, dann werden es schon die ersten sehen.”

Akira warf ihr ein dankbares Lächeln zu, bevor Ann sich unter seinem Arm einhakte und ihn zur Mensa schleifte.


***


“Wie oft denn noch? Du stehst unter meinem Vertrag. Du tust, was ich sage, du nimmst die Rollen an, die ich dir gebe!” Shido war rasend; er schrie so laut, dass Goro den Hörer von seinem Ohr nehmen musste, um sein Trommelfell zu schonen. “Deine Karriere ist alles, was du hast, klar? Ohne mich bist du nichts,” spuckte er durch das Telefon, “Also reiß dich zusammen und tu was man dir sagt!”

Goro verdrehte die Augen und unterdrückte ein Seufzen. “Ich verstehe nur nicht, weshalb es unbedingt Schauspiel sein muss —” er schüttelte den Kopf und hielt den Hörer wieder näher an sein Ohr, bevor er weiter den Gang des ersten Stocks der Universität entlang lief, auf der Suche nach dem Seminar-Raum.

“Nimm es mir nicht übel; aber deine Zeit als Modell wird früher oder später den Bach runter gehen. Schauspiel könnte dich über Wasser halten, aber viel wichtiger ist —” Goro hörte das Knarren von Shidos Schreibtischstuhl, als er sich am Ende der anderen Leitung darauf zurücklehnte. “— meine Kampagne für dieses Jahr fokussiert sich auf die Erhaltung der Kultur in dieser Stadt; darunter auch das Theater —” Goro blieb abrupt stehen, während Shido unbeirrt weiter sprach. “— der Vorsitzende des Vereins für Theater und Schauspiel ist ein angesehener Sponsor, der mir noch ein paar Gefallen schuldet. Du wirst also keine Probleme haben, die Rolle überhaupt zu bekommen. Alles, was du tun musst, ist das Gesicht der Kampagne zu sein; ich organisiere dir noch ein paar Auftritte in dieser elenden Talk-Show. Die Jugend liebt dich; und du wirst sie dazu überreden, dieses Jahr ihre Stimme bei der Wahl abzugeben — natürlich für mich.”

Goro schnaubte. “Das ist dein Plan? Und dafür brauchst du mich als Schauspieler? Bitte, das ist absurd.”

“Wer glaubt schon einem dummen Modell?” spuckte Shido verächtlich. “Als Schauspieler würdest du wenigstens den Anschein von Würde tragen.” Er betonte die Worte mit einem dunklen Unterton, als würde er selbst kaum Glauben, dass Goro so etwas wie Würde oder Anstand besitzen könnte. “Und solange es deine Fans glauben, ist mir der Rest egal.”

“Aber, ich —” begann er hilflos.

“Ich habe keine Zeit mehr für diesen Quatsch!” unterbrach ihn Shido harsch. “Du bekommst das Skript per Post. Der Leiter des Stücks wird den Rest mit dir besprechen — ich bin hier fertig.” Der Anruf endete, bevor Goro etwas erwidern konnte, mit einem leisen Piepton. Er nahm einen tiefen Atemzug, versuchte, die aufkochende Wut zu unterdrücken; aber es brachte nichts — sein Innerstes zog sich zusammen, während er das Gefühl hatte, zu ersticken. Das Ganze war so absurd, dass es ihm den Atem raubte.

Goro starrte auf den Bildschirm seines Smartphones, als könnte er dort die Antwort darauf finden, wie er sich von diesem Mann lösen könnte. Die Uhrzeit sagte ihm allerdings, dass er keine Zeit hatte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen — das Seminar hatte bereits begonnen, und er war zu spät. Am ersten Tag des neuen Semesters. Es war bereits spät am Nachmittag und eigentlich würde er den Rest des Tages lieber zuhause verbringen; allein, weit weg von der Universität, der Verantwortung —

Aber so leicht war es leider nicht. Er zwang sich, weiter zu gehen, irgendwann würde er den Raum schon finden, irgendeine Ausrede würde er sich ebenfalls einfallen lassen, falls er überhaupt eine benötigte, als er vor einem großen Schaukasten am Ende des Flurs zum Stehen kam.

In der Hoffnung, dort einen Hinweis darüber zu finden, wo er war, oder wo genau er hin musste, einen Plan der Räumlichkeiten oder etwas in der Art, fand er allerdings etwas anderes, dass seine Aufmerksamkeit weckte.

“Aktmodell gesucht!

Als Teilnehmer des Kurses für Freies Anatomisches Zeichnen suche ich ein Modell. Die Zeichnungen werden für mein Portfolio verwendet und gegebenenfalls ausgestellt. Die Rahmenbedingungen sind wöchentliche Sitzungen über mehrere Stunden. Ich bin zeitlich flexibel! Erfahrung ist gewünscht, aber nicht nötig.

- Akira Kurusu, XXX-XXXX-XXXX”


“Aktmodell, huh?” Goro hob nachdenklich eine Augenbraue an. Erfahrung hatte er, mehr als das — er war ein professionelles Modell für eine bekannte und erfolgreiche Modemarke. Wie wäre es wohl, wenn sein Gesicht auf diesen obszönen Zeichnungen zu sehen wäre, inmitten einer Austellung? Der Gedanke reizte ihn; mehr als das. Er speicherte die Nummer des Künstlers ein, bevor er seine Suche zum Seminar-Raum fortsetzte.

***


“Kasumi-chan, du hast bestanden? Wie schön!” zwitscherte Ann fröhlich und umarmte die kleine Rothaarige, welche Akira einen hilflosen Blick zuwarf. Akira lächelte ihr aufmunternd zu. “Dann studierst du ab nächstem Semester also auch! Wir sollten das Feiern, wie wäre es mit einer Party?”

“Du suchst wirklich nach jeder Gelegenheit zum Feiern, hm?” sagte Akira mit gespieltem Vorwurf. Kasumi löste sich von Ann und ließ sich stattdessen neben Akira auf die Bank in einer der Kabinen des Leblanc sinken. Er legte einen Arm um ihre Schultern, während sie ihren Kopf an ihn lehnte. Ihr Haar duftete angenehm nach Vanille, so süß, dass Akira einen sanften Kuss auf ihren Haaransatz hauchte.

“Und wenn schon? Außerdem ist das nicht für mich —” entgegnete Ann und zwirbelte eine weißblonde Haarsträhne zwischen zwei Fingern. “— es ist für deine Freundin! Den Eignungstest für ein Sport-Stipendium besteht man immerhin nicht einfach so.”

“Es ist wirklich nichts besonderes,” sagte Kasumi und winkte ab, ihre Wangen pink und warm von Anns Kompliment. “Aber ich hätte nichts gegen eine Feier, der Anlass ist doch egal.”

“Du hast einen schlechten Einfluss auf sie!” Akira warf Ann einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin sie ihm frech die Zunge heraussteckte.

“Du bist ein Idiot,” entgegnete sie, “Also, eine Party. Hier? Ich glaube, meine Mitbewohnerin findet es nicht so toll, wenn wir zu mir gehen —” überlegte sie laut, dann wendete sie sich ohne Umschweife an Sojiro, welcher hinter dem Tresen stand; eine Zigarette zwischen Zeige - und Mittelfinger eingeklemmt. “Hey Boss, hättest du etwas dagegen, wenn wir hier feiern?”

Sojiro hob fragend eine Augenbraue an, dann stieß er den Rauch in seinen Lungen aus und schüttelte den Kopf. “Schon gut, macht nur nichts kaputt,” war alles was er sagte, bevor Ann sich wieder Akira und Kasumi zuwendete und triumphierend lächelte.

Akira rollte mit den Augen, während Ann in einen Monolog darüber verfiel, wen sie einladen würde, wann das Ganze stattfinden sollte, und wer die Getränke und Snacks besorgen müsste. Er hörte ihr nur mit halbem Ohr zu und konzentrierte sich stattdessen darauf, den Arm seiner Freundin mit sanften, zärtlichen Bewegungen zu streicheln. Die Gänsehaut, die sich auf ihrer weichen Haut bildete, ließ ihn leicht grinsen. Kasumi rückte näher zu ihm, während sie Ann hin und wieder ein zustimmendes Summen entgegnete. Ihr Gezwitscher wurde immer leiser in Akiras Ohren, als seine Lider schwer wurden und er seine Wange an Kausmis Schopf lehnte, die Augen schloss und für einen Moment ausruhte.

“— außerdem sollten wir bald auf ein Doppel-Date gehen! Vielleicht nach Destinyland?” sagte Ann nach einer Weile. Akira erwachte aus seinem Halbschlaf, als Kasumi ihn sanft mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.

“Doppel-Date?” fragte sie neugierig. “Mit dir und —?”

“Ryuji,” beantwortete Ann ihre Frage breit grinsend. “Ihr seid doch dabei oder?”

Kasumi warf Akira ein süßes Lächeln zu und nickte Ann zustimmend zu. “Das wäre wundervoll!” sagte sie, ihre Stimme so süß wie Honig. “Wenn du nichts dagegen hast, Senpai? Ich war ewig nicht in Destinyland, das letzte Mal war zu Sumires Geburtstag —”

“Dann ist es ein Date!” entschied Ann und klatschte einmal ihre Hände zusammen. Akira rollte innerlich mit den Augen, ließ sich allerdings nichts anmerken. Kasumi schien von der Idee begeistert zu sein; sie faltete ebenfalls die Hände ineinander und unterhielt sich aufgeregt mit Ann über die Achterbahnen, bevor sie in eine Diskussion über Desserts abdrifteten; Akira registrierte die Worte “Crepês” und “Churros” und “Zuckerwatte”, hörte allerdings nicht weiter zu. Stattdessen checkte er sein Smartphone nach neuen Nachrichten — nichts. Keiner hatte sich bisher auf den Aushang gemeldet. Akira verzog das Gesicht, schloss die Chat-App und ließ seinen Daumen einen Moment über den Bildschirm verharren, bevor er sich dazu entschied, Instagram zu öffnen.

Das erste Bild, dass sein Feed ihm anzeigte, war nichts Geringeres als ein Shooting-Bild von Akechi Goro. Akira schluckte, als er das hübsche Gesicht des Modells betrachtete. Er hatte schon immer bewundert, wie leicht und unkompliziert seine Fotos wirkten — als wäre es in seiner DNA verankert, immer und auf jedem einzelnen Bild nahezu perfekt auszusehen.
Dieses Foto war keine Ausnahme; es war zwar nichts weiter als Werbung für die Modemarke, für die er modelte, aber das Bild hatte etwas Besonderes. Es war eine Portrait-Aufnahme; beworben wurde eine einzelne, leichte, silberne Kette, die lose um seinen schlanken Hals hing. Der Anhänger, ein graziles Ornament, dass sein Sternzeichen — Zwillinge —  zeigte, ruhte auf dem schwarzen Stoff eines Shirts, dass lose um eine Schulter hing. Der Kragen war so weit, dass er die scharfen, hervorstehenden Schlüsselbeine entblößte. Das Licht des Studios hob die Kanten seines Kiefers und der hohen Wangenknochen perfekt hervor. Akira zoomte mit zwei Fingern näher heran; näher, an die weinroten Augen, umrahmt von langen, schwarzen Wimpern und hervorgehoben durch eine dezente, verschmierte Linie von schwarzem Eyeliner.

Zugegeben; das Foto des Modells seiner Teenager-Fantasien anzustarren, während seine Freundin neben ihm saß, war etwas unangebracht, wie es Akira nach einigen Sekunden — oder Minuten, wer zählte schon mit — dämmerte. Er ließ das Bild los und scrollte stattdessen gedankenverloren durch den Rest des Feeds, analysierte die Zeichnungen seiner Kommilitonen, konzentrierte sich hin und wieder auf das Gespräch zwischen Kasumi und Ann. Keine von ihnen schenkte ihm besondere Beachtung, beide waren viel zu vertieft in eine Diskussion über das perfekte Rezept für Pancakes.

“— du könntest auch einfach Bananen verwenden, das ist viel gesünder als brauner Zucker,” sagte Kasumi. Ann schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. “Du bist Athletin, du musst auf deine Ernährung achten, das verstehe ich — aber Bananen? Nur als Topping, nicht im Teig!” erwiderte sie und stieß anschließend ein leises Seufzen aus, als sie auf ihr Smartphone sah. “Entschuldigt, ihr zwei Turteltauben — aber ich muss los. Meine Mitbewohnerin hat mich gebeten noch einzukaufen.”

“Ist sie nicht reich? Wieso lasst ihr euch eure Einkäufe nicht liefern?” fragte Akira, das erste Mal seit einer Weile, dass er sich an ihrem Gespräch beteiligte. Ann zuckte mit den Schultern. “Ihre Eltern sind es — aber sie ist anders. Sie ist ziemlich bodenständig, außerdem —” Ann steckte ihr Smartphone zurück in die Seitentasche ihrer College-Jacke, “— habe ich seit zwei Wochen nicht mehr eingekauft. Also, wir sehen uns morgen!” Sie warf beiden einen Luftkuss zum Abschied zu.

“Was für eine lebhafte Frau —” murmelte Sojiro, als die Tür hinter Ann ins Schloss fiel, dann wendete er sich Akira zu. “Schließ nachher ab, ja? Ich sollte jetzt auch gehen — Futaba wartet bestimmt schon.”

Akira nickte und erwiderte eine Zustimmung, bevor Sojiro sich von Kasumi verabschiedete und ebenfalls das Café verließ.

Als die Glocke über der Tür verstummte, und sie allein waren, warf Kasumi ihm einen schüchternen Blick zu. “S-Senpai,” begann sie leise. “Ich möchte noch einen Moment bleiben, wenn das okay ist?”

“Natürlich,” erwiderte Akira und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Du kannst solange bleiben, wie du willst.”

Kasumi lächelte ihm schief zu, ihre Wangen waren von einem sanften, schimmernden Rot geziert. “Du hast mir noch nicht zu der bestandenen Prüfung gratuliert —” sie legte den Kopf schief und blinzelte schüchtern durch ihre dichten, schwarzen Wimpern zu Akira herauf. “— nicht, dass ich darauf bestehe, aber —” sie stoppte und schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, herunter.

Akira ergriff die Gunst des Moments, um Kasumi mit einem Kuss zu überraschen. Sie schnappte überrascht nach Luft, als sich seine Lippen auf ihre legten, zärtlich und leicht. Kasumi lächelte leicht in den Kuss und erwiderte Akiras Avancen. Ihre Art, die Bewegungen von Akiras Lippen zu imitieren war unschuldig und ungeübt, aber süß, so süß und sanft, dass es Akiras Herz aufgeregt flattern ließ. Sie war es, die sich schließlich aus seiner Umarmung löste und ihn mit glänzenden, karminroten Augen ansah. “Bringst du mich zum Bahnhof?” fragte sie leise. Akira nickte und löste sich von ihr, vermisste ihre Statur an seiner Seite bereits, als er aufstand und Kasumi seine Hand entgegen streckte. Sie ließ ihre Hand in seine gleiten und löste sich nicht, bis sie am Gleis ankamen und der kommende Zug sie schließlich zum Abschied zwang.

***


Mit einem erleichterten Seufzen schloss Goro die Tür seines Apartments hinter sich. Müde ließ er sich auf den Futon unter dem Fenster in seiner Ein-Raum-Wohnung fallen, vergrub sein Gesicht im Kissen und unterdrückte einen lautlosen Schrei.

Wie zu erwarten, hatte es niemanden gestört, dass er zu spät war; seine plötzliche Anwesenheit hatte lediglich alle Beteiligten in peinliches Schweigen versetzt. Goro seufzte. Er sah das Gesicht des Dozenten noch vor sich; zunächst voller stillem Vorwurf, welcher sich zu eisiger Teilnahmslosigkeit gewandelt hatte.

Er konnte es ihm nicht übel nehmen; schließlich war er eine Prominenz und direkt am ersten Tag viel zu spät gekommen — selbstverständlich hinterließ das nicht den besten Eindruck. Selbst seine übertriebene Höflichkeit schien den Dozenten nicht überzeugen zu können, ganz zu Schweigen von seinen Kommilitonen. Es war eine kleine Gruppe; das Studium für Schauspielkunst war darauf ausgelegt, nur eine kleine, ausgewählte Anzahl an Studierenden zu betreuen. Goro wusste, dass er diesen Platz nicht verdient hatte.
Er wollte ihn auch nicht, aber er hatte keine Wahl.

Seine Gedanken kreisten den Aushang. Er zog sein Smartphone hervor und verharrte über dem geöffneten Chat mit der Nummer des Künstlers.
“Akira Kurusu, hm?” murmelte er, als er den Chat schloss und den Namen stattdessen in die Google-Suche eingab.

Das erste Ergebnis war ein Instagram-Profil, @jokerwashere.

Neugierig tippte Goro auf das App-Symbol und scrollte durch Akiras Profil. Auf den ersten Blick war es nichts Besonderes; Fotos von Zeichnungen und vereinzelte Selfies, Bilder von Partys und Aufnahmen von Landschaften dazwischen. Es war unordentlich, unprofessionell für einen Künstler, aber irgendwie charmant. Akira schien eher unauffällig zu sein, mit dichtem, schwarzen Haar, dass ihm auf jedem Selfie wirr in die Stirn hing und die schwarzen Ränder einer Brille umrahmte. Hinter den Gläsern verbargen sich dunkle, graue Augen — die Farbe von Regenwolken während eines Gewitters.

Akira war nicht unattraktiv, eher durchschnittlich-anziehend. Seine Zeichnungen hingegen — Goro betrachtete das Foto eines abfotografierten Gemälde von einem Stillleben. Die Stimmung des Bildes war Trist; auf einem Porzellan-Teller war ein einzelnes, altmodisches Weinglas platziert, daneben eine aufgeschnittene Zitrone. Die Stiele und Blätter der Zitrusfrüchte waren kunstvoll an der Seite des Tellers angeordnet, webten sich um den schlanken Hals des Glases.

Goro scrollte weiter, verlor sich ein wenig in Akiras Bildern. Die Stimmung, die er vermittelte, war stets eine Mischung aus trister Einfachheit und rebellischer Freiform, jedenfalls bei seinen experimentelleren Zeichnungen.

Wie er Goro wohl darstellen würde? Würde er die perfekte, pure Scheinheiligkeit einfangen, wie es bei den meisten Foto-Shootings der Fall war? Oder würde er ihn darstellen, wie er sich selbst sah; zerbrochen und zornig, mit selbstzerstörerischem Zynismus zwischen den Scherben?

Aus dem Impuls heraus, das Gefühl von Neugier noch immer in den Fingerspitzen, öffnete er die Chat-App und begann, eine Nachricht an Akira zu tippen.

***


[Chat-Thread started, Montag, 15.04.20XX, 20:59 Uhr]

Unknown Number: Hey, ich melde mich wegen dem Aushang. Entschuldige die späte Nachricht. Du suchst ein Modell? Hast du bereits jemanden gefunden? Ich hätte Interesse.
Akira: Nope :) Bisher hat sich noch niemand außer dir gemeldet.
Akira: Wir können uns für ein Gespräch auf einen Kaffee treffen. Ich würde gerne die Einzelheiten besprechen, außerdem ist es besser, sich vorher etwas besser kennenzulernen.
Unknown Number: Falls es dich beruhigt, ich habe bereits Erfahrung als Modell.
Unknown Number: Morgen Abend?
Akira: Sicher. Kennst du das Leblanc? Ein Café in Yongen-Jaya. Komm einfach vorbei, wenn es dir passt. Ich werde da sein.
Unknown Number: Ein anderer Ort wäre mir lieber. Wie wäre es mit Coffee & Honey in Harajuku?
Akira: Okay, kein Problem. Dann also dort.  
Unknown Number: Ich schreibe dir morgen die genaue Zeit, zu der ich dort sein kann.
Akira: Passt.
Akira: Wie ist dein Name?
Unknown Number: Ich hoffe, das wirkt nicht seltsam — ich würde lieber warten, bis wir uns gesehen haben, bevor ich dir meinen Namen verrate.
Akira: Wenn dir das lieber ist? Du musst es mir auch nicht sagen.
Akira: Wie wäre es mit einem Code-Namen stattdessen?
Unknown Number: Code-Namen? Okay, wieso nicht.
Unknown Number: Dann kannst du mich Crow nennen.
Akira: Okay, Crow
Akira: Ich freue mich auf morgen, bis dann :)

[Chat-Thread closed]

Akira starrte auf den Chat, während er über das weiche Fell der schlafenden, schwarze Katze neben sich streichelte. Morgana hatte sich neben ihm auf seinem alten, klapprigen Sofa zusammengerollt und war nach wenigen Minuten schnurrend eingeschlafen.
Das Profil hatte kein Foto, jedenfalls keines, dass Akira sehen konnte. Sollte er vielleicht nach einem Bild fragen? Wer weiß, wie Crow aussah — andererseits, wenn er Erfahrung als Modell hatte, musste er ja irgendwie gut aussehen, oder nicht? Und — dass er so schnell einem Treffen zugestimmt hatte, musste ja bedeuten, dass er Interesse hatte — es sei denn, das ist keine ernst gemeinte Nachricht, aber — die Antwort würde er wohl erst morgen erhalten.

Gedankenverloren wendete er sich wieder der Skizze vor sich zu; er zeichnete Morganas zusammengerollte, entspannte Form, während im Hintergrund die Stimmen und Geräusche irgendeiner Serie, die gerade im Free-TV lief, die Stille des Dachbodens über dem Leblanc ausfüllten.

***


Crow, huh? Und er — oder sie — will dir den Namen nicht verraten?” fragte Ann ihn ungläubig, als sie am nächsten Tag gemeinsam vor dem Seminar-Raum auf den Beginn des Kurses warteten. “Das klingt seltsam. Soll ich dich begleiten?”

Akira schüttelte den Kopf. “Willst du auf mich aufpassen?” neckte er sie und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, schwarze Haar. “Keine Sorge — ich kann auf mich selbst aufpassen. Außerdem klingt ‘Crow’ ziemlich nett, also — was soll schon passieren?”

Ann legte theatralisch eine Hand auf ihr Herz und die andere an Akiras Schulter, drückte sanft zu. “Du hast keine Ahnung, wer dir da geschrieben hat! Und du bist mein bester Freund, also ist es doch nur logisch, dass ich dich unterstütze, wenn du dich mit jemandem triffst, den du nicht kennst —”

“Du bist nur neugierig,” unterbrach Akira sie. “Ich schreibe dir, wie Crow ist, okay? Aber — nimm es mir nicht übel — verbring deine Zeit heute Abend lieber mit Ryuji.”

“Okay, okay, ich verstehe schon,” sagte Ann und zog ihre Hand weg. “Du willst allein sein — aber schreib mir, sobald du weißt, wer Crow ist! Ich will alles wissen!”

Akira rollte mit den Augen und schnaubte. “Du tust so, als wäre das etwas Besonderes — es geht nur um eine Art… ‘Bewerbungsgespräch’.”

“Ja, duh!” entgegnete Ann, als wäre ihre Aufregung selbstverständlich. “Für Aktzeichnungen! Jemand, der sich freiwillig vor dir auszieht, ohne mit dir Sex haben zu wollen, ist schon etwas Besonderes —”

“Da möchte ich widersprechen,” sagte Yusuke, der neben ihnen aufgetaucht war. “Die Umsetzung des nackten, menschlichen Körpers hat nichts mit reiner Sexualität zutun, viel mehr geht es darum, die Sinnlichkeit und Verletzlichkeit des Modells einzufangen —” er warf Ann einen Blick zu. “— auch wenn ich zugeben muss, dass insbesondere dein Körper einen gewissen Reiz hat. Du würdest ein hervorragendes Modell abgeben. Zu schade, dass du selbst der Profession verfallen bist.”

“Du wirst mich niemals nackt sehen,” konterte Ann und verschränkte die Arme vor der Brust. “Und was auch immer der Rest bedeuten soll —”

“Es bedeutet, dass —” begann Yusuke, aber Ann unterbrach ihn, bevor er seine Erklärung fortsetzen konnte: “Ich will es gar nicht wissen.”

Yusuke schüttelte enttäuscht den Kopf und strich sich eine Strähne glänzenden, glatten schwarzen Haares aus der Stirn. “Es ist eine Schande, deine Bilder sind so gut, aber dein Verständnis dessen, was du abbildest, scheint überhaupt nicht vorhanden zu sein —”

“Wie bitte?” Ann funkelte ihn wütend an, ballte beide Hände zu Fäusten und machte einen Schritt nach vorn. “Hast du mich gerade als dumm bezeichnet?” fauchte sie.

“Okay, das reicht jetzt —” sagte Akira und legte beruhigend eine Hand an Anns Arm. “Yusuke wollte sagen, dass du viel talentierter bist, als du glaubst,” er wendete sich an Yusuke und warf ihm einen eindringlichen Blick zu. “Stimmt doch, oder?”

“J-ja,” sagte Yusuke zustimmend und nickte mehrmals, um seine Antwort zu unterstreichen. “Das ist wahr.”

Ann ließ augenblicklich locker und verzog ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. Eines, dass an den Kanten scharf wurde. “Vielen Dank,” kicherte sie. “Das ist lieb von dir, Yusuke. Weißt du, du bist auch gar nicht so schlimm, auch wenn du gerne den Mund voll nimmst —”

“Also Yusuke, hast du bereits ein Modell, dass nicht aussieht wie Ann?” unterbrach Akira sie, bevor der Streit ausartete. Ann verschloss die Lippen und warf Akira einen wütenden Blick zu, bevor sie ihn unsanft in die Seite stieß.

“Nein, noch nicht —” sagte Yusuke. “Ich werde wohl auf eine ähnliche Methode wie du zurückgreifen müssen; dazu aufrufen, sich bei mir zu melden,” er wendete sich an Akira. “Hattest du bereits Erfolg?”

Akira nickte zustimmend und erzählte ihm von Crow. Das Gespräch wurde beendet, als der Professor für ‘Gemälde aus dem zwanzigsten Jahrhundert’ fünfzehn Minuten nach Beginn des Kurses auftauchte und den Raum aufschloss, die Studierenden nacheinander hinein ließ und die Stunde begann.

Über den Vormittag sah Akira immer wieder auf den Bildschirm seines Smartphones, überprüfte die Chat-App auf neue Nachrichten; vielleicht ein Foto — oder eine Nachricht — von Crow. In seinem Kopf konstruierte er ein Bild zu dem Namen — vielleicht jemand mit schwarzem Haar und dunklen Augen? Jedenfalls müsste er eine schlanke, wenn nicht sogar magere Statur haben — oder einen athletischen Körperbau; mit leichten, definierten Muskeln unter angespannter, heller Haut.

Am Nachmittag kam eine Nachricht von Crow. Er schrieb ihm lediglich eine Uhrzeit; acht Uhr am Abend. Akira fragte nach Crows bevorzugter Kaffeesorte, bekam aber keine weitere Antwort.


***



Crow wurde mit jeder Minute mysteriöser. Obwohl Akira es sich nicht erklären konnte, bereitete es ihm einen gewissen — angenehmen — Nervenkitzel. Als Akira in Harajuku ankam, hatte sein Kopf bereits hunderte verschiedene Versionen von Crow erstellt. Dunkles, helles oder buntes Haar, gepaart mit unterschiedlichen Augenfarben; helle, makellose Haut oder sonnengeküsst, übersäht mit Sommersprossen.

Das Café, dass Crow vorgeschlagen hatte, war selbst zu dieser Zeit noch ziemlich belebt. Das kleine Café inmitten des Viertels war in golden-gelben und braunen Farben gestaltet, ganz nach dem Thema des Namens — Kaffee und Honig. Die Uniformen der Bedienung waren auffällige Kostüme; eine Mischung aus einfachen, schwingenden Kleidern und Hosenanzügen, vermischt mit Akzenten in Form von Streifen oder Insektenflügeln. Akira verzog das Gesicht ein wenig, als er sich auf einen freien Platz im hinteren Teil des Cafés setzte; ein breiter Armstuhl mit braunem Rahmen und gepolsterten, knallgelben Bezügen.

Eine Kellnerin in gestreiftem Kleid nahm seine Bestellung auf; ein kleiner, schwarzer Kaffee und ein Stück Honigkuchen. Akira zog sein Smartphone aus der Hosentasche seiner dunklen Jeans und schrieb Crow den ungefähren Platz, an dem er saß, und eine kurze Beschreibung dessen, was er trug — einen einfachen, grauen Kapuzenpullover und Jeans. Das einzige, auffällige Accessoire an ihm war ein geflochtenes, rotes Armband, dass Ann ihm vor einem Monat geschenkt hatte.

Crow antwortete, in ein paar Minuten da zu sein, beschrieb sich selbst allerdings nicht. Geheimnisvoll bis zur letzten Minute, dachte Akira. Nervös wippte er mit einem Bein auf und ab und ließ sich gleichzeitig auf dem Polster des Stuhls sinken, in dem kläglichen Versuch, seinen nervösen Puls zu beruhigen. Um Himmels Willen, es war nur ein Treffen — ein einfaches Gespräch für eine professionelle Zusammenarbeit, nicht mehr und nicht weniger. Was sollte schon schief gehen?

Sollte die Chemie zwischen ihnen nicht passen, würde er eben absagen und auf eine weitere Anfrage hoffen.

Akira wendete den Blick zu dem bodentiefen Fenster neben sich, beobachtete die Menschen, die vorbei liefen. Er ließ seine Gedanken abdriften; erstellte weitere, imaginäre Versionen von Crow, bis eine fremde, seltsam-freundliche Stimme ihn aus den Gedanken riss.

“Akira Kurusu?”

Die Stimme war höflich, weich, und kam Akira seltsam bekannt vor. Wo hatte er diese Stimme schon einmal gehört? Sein Blick schnellte zu der Person, die sich vor dem Tisch platziert hatte. All die Versionen, die Akira in seinen Gedanken erstellt hatte, hätten ihn niemals auf den realen Crow vorbereiten können. Eine schlanke, männliche Gestalt in schwarzen, eleganten Jeans und einer reinen, weißen Strickjacke. Crow zog die weite Kapuze der Jacke zurück und Akira blieb der Atem im Hals stecken. Zum Vorschein kam das Gesicht des Modells, dass Akira schon so oft gesehen hatte; auf Bildern, Plakaten, in seinen Gedanken, in früheren Nächten. Die karamellfarbenen, schulterlangen Haare waren in einem losen Zopf zusammengebunden, während einige, wirre Strähnen ihm in die Stirn fielen.

Crow — oder, Akechi Goro — stand vor ihm, lächelte höflich und fragte erneut: “Du bist Akira — entschuldige, Kurusu-san, richtig?”

Akira blinzelte ein paar Mal, versuchte, sein Gehirn zu einer Reaktion zu zwingen. Alles, was er zustande brachte, war ein einfaches, leichtes Nicken und ein gezwungenes, halb-herziges Lächeln. Er deutete auf den Platz vor sich; ein ebenso knalliger, gepolsteter Armstuhl. Elegant ließ Crow sich darauf sinken, überschlug die Beine und bettete die Hände gefaltet auf seinen Schoß. Seine Haltung war offen, locker. Anders als Akira, der noch immer vollkommen überwältigt davon war, wer vor ihm saß — wer Crow war.

“Du bist —” begann Akira.

“Crow,” beendete Crow den Satz. “Du siehst aus, als würdest du mich kennen. Ist dem so, Kurusu-san?” fragte er mit einem Lächeln.

“Du —” Akira schluckte, forderte sich auf, sich zusammenzureißen. Er räusperte sich, bevor er weiter sprach: “Du hast mehr als Erfahrung, was Modeln betrifft, hm?” sagte er in einem lockeren Ton.

Crow lachte, ein helles, sanftes Geräusch, dass Akiras Herz flattern ließ. “Das könnte man sagen —” antwortete er. “— aber in deinem Fall wäre das wohl eher von Vorteil, oder nicht?”

“Das könnte man sagen,” wiederholte Akira zustimmend. “Und du bist dir sicher, dass du das möchtest?” Langsam gewann Akira an Selbstvertrauen, bis ihm klar wurde, weshalb sie hier waren — weshalb Crow sich bei ihm gemeldet hatte —

“Ob ich dein Aktmodell sein möchte, willst du wissen?” fragte Crow mit gespielter Ungläubigkeit. “Wenn nicht, hätte ich mich wohl kaum bei dir gemeldet.” Das Lächeln, dass er aufsetzte, war scharf an den Kanten.

“J-ja,” entgegnete Akira. “Du bist — ich weiß nicht —”

“Ich weiß, wer ich bin,” unterbrach ihn Crow. “Ich möchte es trotzdem machen. Ich — ich interessiere mich für Kunst, und —” seine Augen wurden sanfter, “— ich habe deine Bilder gesehen. Ich finde, du hast Talent.” Als Akira nicht antwortete, sondern ihn lediglich voller Überraschung anstarrte, fügte Crow hinzu: “Außer, du hast dich dagegen entschieden? Deshalb wollte ich dir meinen Namen nicht verraten —”

“N-Nein!” sagte Akira schnell, seine Wangen begannen zu glühen. “Ich wäre — du hast ja keine Ahnung, wie sehr —” ich dich gerne nackt zeichnen würde. Er brach ab, bevor er den Satz beenden konnte. Crow hob fragend eine perfekt geschwungene Augenbraue, musterte ihn fragend. “— Du hast keine Ahnung, wie sehr es mich freuen würde, wenn du mir erlaubst, dich zu zeichnen.”

Crows Ausdruck wandelte sich; ein schiefes Grinsen umspielte seine Lippen. “Deswegen bin ich hier,” sagte er. “Wie genau wird das Ganze ablaufen?”

Bevor Akira antworten konnte, brachte ihm die Kellnerin die Bestellung. Sie stellte eine Tasse voll duftendem Kaffee und einen Teller mit dem Kuchen vor ihm ab; die Honig-Glasur tropfte an zerkleinerten Mandeln herunter. Sie warf Crow einen Blick zu, dann weiteten sich ihre Augen, ihr Mund öffnete sich, aber kein Ton kam heraus. Crow warf Akira einen entschuldigenden, peinlich-berührten Blick zu, bevor er der Kellnerin freundlich sagte, dass er nichts bestellen möchte. Sie schloss ihren Mund wieder, nickte und verschwand, warf auf ihrem Weg immer wieder Blicke über ihre Schulter.

Akira räusperte sich und zog Crows Aufmerksamkeit wieder auf sich. “Zu den Räumlichkeiten: Wir können zu mir — ich wohne über einem Café, es ist ziemlich ruhig,” erklärte er und stocherte mit der Kuchengabel in dem Gebäck vor sich herum, um sich von seinem rasenden Herzschlag abzulenken. “Wenn du dich sicherer fühlst, können wir es auch bei dir machen —” er stoppte, überdachte seine Wortwahl und korrigierte sich schnell: “Das Zeichnen. Es ist wichtig, dass du dich wohl fühlst —” wiederholte er Madarames Worte. “— also überlasse ich dir die Entscheidung.”

Crow nickte und summte eine Zustimmung, deutete Akira mit einem Blick, weiter zu sprechen.

“Was die Zeit angeht — ich richte mich nach dir, ich bin mir sicher, du bist viel beschäftigt —”

“Du nicht?” unterbrach ihn Crow.

Akira blinzelte, dann stieß er ein kurzes, nervöses Lachen aus. “Doch, aber — ich bin relativ flexibel — ich arbeite manchmal nach der Uni, aber mein Boss ist gleichzeitig mein Adoptiv-Vater, also kann ich mir die Zeiten frei einteilen — oder spontan absagen.”

“Ist das so,” sagte Crow, dann schnappte er sich die Tasse Kaffee vor Akira mit beiden Händen. “Du hast etwas von wöchentlichen Terminen geschrieben, richtig?”

Akira beobachtete, wie Crows schlanke Finger sich elegant um das gelbe Keramik legten und die Tasse zu seinen Lippen führten. “R-richtig, ich muss die Zeichnungen Montags fertig haben —” erklärte er und zwang sich, den Blick abzuwenden. “Wie gesagt, die Zeiten sind mir egal —”

“Wie wäre es mit jetzt?” unterbrach ihn Crow.

“Jetzt?” widerholte Akira ungläubig.

“Ist jetzt ein schlechter Zeitpunkt?” fragte Crow und nahm einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und stellte die Tasse wieder ab.

“Oh — uhm —” Akira wurde warm und kalt gleichzeitig. Sein Herz flatterte aufgeregt hinter seinen Rippen. “— das wäre in Ordnung, ja — wieso nicht?” sagte er unbeholfen, versuchte, sich selbst von seinen Worten zu überzeugen.

“Zu dir?” fragte Crow, zwinkerte ihm zu. “Wenn das für dich in Ordnung ist —”

“J-ja, natürlich!” sagte Akira schnell. “Es geht viel mehr um dich. Du musst dich wohl fühlen —”

Crow warf ihm ein schiefes Lächeln zu. “Sehen wir doch einfach, wie es läuft?”

Akira nickte zustimmend. “Okay —” sagte er, stützte sich mit den Handflächen auf seinen Oberschenkeln ab. “— dann, gehen wir?”

Ein Funkeln spiegelte sich hinter Crows Augen, als Akira den Kuchen stehen ließ, das Geld zum Bezahlen auf den Tisch legte und aufstand. Crow erhob sich gleichzeitig mit ihm; er war um einige, wenige Centimeter größer als Akira. Das Burgunderrot seiner Iren strahlte mit einer Mischung aus Neugier und etwas Anderem, etwas Dunklem, für das Akira keine Worte fand.
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