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Fünf Minuten

Kurzbeschreibung
OneshotDrama / P16 / Gen
Kazuma Kiryu Makoto Makimura
14.02.2021
14.02.2021
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1.938
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Tetsus gesamter Körper tat weh.

In seinen letzten Momenten – er war überzeugt, seine letzten Atemzüge zu tun – war er eine pulsierende Masse aus Schmerz, die ein Bewusstsein hatte. Und dieses Bewusstsein ging langsam dahin. Er schmeckte das Blut in seinem Mund nicht mehr. Die Worte, die Kiryu an ihn richtete, drangen nur gedämpft zu ihm durch und dessen Gesicht war verzerrt und schwankte.  

„Nishiki, bitte! Hol Makoto hierher.“

„Verstanden!“

„Keine Zeit mehr … Es ist zu spät.“ Seine Stimme war dünn. Dünn und kraftlos und ihm schien, als käme sie aus weiter Ferne.

„Tachibana!“ Kiryu schüttelte ihn sanft. Ein Versuch, ihn davon abzuhalten, diese Welt frühzeitig zu verlassen. Das Schütteln verursachte keinen zusätzlichen Schmerz, denn der war bereits groß genug, dominierte jede Faser seines Seins.

„Kiryu-san. Lao Gui …“ Das Sprechen war anstrengend. Aber er musste Kiryu davon in Kenntnis setzen. Ihn davon in Kenntnis setzen, wer die Fäden im Hintergrund zog. Mochte seine Stimme noch so dünn, mochte das Sprechen noch so anstrengend sein, er musste sein Wissen, musste das, was er von Kuze erfahren hatte, an Kiryu weitergeben.

„Deshalb hat er dir den Mord in die Schuhe geschoben“, presste Tetsu abschließend hervor.

Mit gerunzelter Stirn sah Kiryu ihn an. „Ich verstehe. Aber Tachibana, es wäre besser, wenn du nicht mehr sprichst. Du musst deine Kräfte für das Wiedersehen mit deiner Schwester aufsparen.“

Kiryu redete ungewohnt viel und klang genauso bestimmt wie panisch. Das erste Mal, seit er ihn kennen gelernt hatte, war da deutliche Panik in der Stimme des Mannes, der innerhalb kurzer Zeit zu einem guten Freund geworden war.

Plötzlich ertönte die Stimme von Kuze, der sich vom mit Glasscherben, Blut und zerbrochenen Gegenständen übersäten Boden aufrappelte.

„Ich habe nur das gemacht, was ich tun musste. Das unbebaute Gebiet, es ist nicht mehr eine Angelegenheit der Dojima-Familie. Jemand versucht es, an die Omi-Allianz zu verkaufen. Jemand vom Tojo-Clan. Ein Verräter. Wir wissen noch nicht, wer, aber … Es steht außer Frage, dass sie es versuchen. Wenn das Gebiet in die Hände von Omi fällt, werden sie das Revitalisierungsprojekt an sich reißen. Sie werden nach Tokio marschieren. Werden dem Tojo-Clan den Krieg erklären.“

„Es ist mir scheißegal“, gab Kiryu zurück und seine Stimme vibrierte vor Wut und rauem Kummer.

„Kiryu … Gib uns das Mädchen. Willst du dir etwa den ganzen Tojo-Clan zum Feind machen?“, mahnte Kuze und Tetsu wusste, dass Kiryu, wie er war, es niemals tun würde.

„Ich habe keine Zeit für solche Gespräche.“

Tetsu spürte, wie er vorsichtig hochgehoben wurde. Er konnte seine bleiernen Lider gerade noch so offen halten, aber seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich auf Kiryus ernstes Gesicht fokussieren konnten.

„Du wirst deine Schwester sehen“, versicherte er ihm. „Dafür werde ich sorgen.“

Es ist zu spät.

Das spärliche Licht der Deckenlampe brach sich in Kiryus Augen, die verdächtig funkelten. Tränen. Für einen Mann wie ihn. Gerührt schloss Tetsu die Augen. Wirklich, er wünschte, sie hätten die Möglichkeit gehabt, gemeinsam einen trinken zu gehen. Sich zu unterhalten. In anderen, besseren Umständen.

Am Rande bekam er mit, wie Kiryu ihn hinaustrug, ohne dass er mit den Füßen oder seinem künstlichen Arm gegen Tür oder Wände kam. Das Klacken der Schuhabsätze unmittelbar unter ihm erreichte sein Gehörsinn nur gedämpft.

Seine Sinne, sie schwanden, sein Bewusstsein entglitt ihm immer mehr. Stück für Stück. Seine Augen wollten sich nicht mehr öffnen, die Wimpern klebten aneinander wie zugenäht. Es war das Ende. Es war sein Ende.

Kiryu blieb stehen. „Tachibana!“

Da war sie wieder, diese Panik. Er musste bereits wirken wie ein Toter. Tetsu schaffte es, seinen Mund zu öffnen, um Kiryu zu signalisieren, dass er noch lebte. Seinen Zustand konnte man eigentlich nicht mehr leben nennen. Er war nicht tot. Doch am Leben war er genauso wenig. Es war etwas dazwischen, das eine Tendenz zum Tod aufwies.

„Kiryu!“

Schritte. Schritte von zwei Personen, ihr Schuhwerk verursachte ein dezentes Klopfen. Nishiki, den Kiryu nach seiner Schwester geschickt hatte, war wieder da. Hieß das etwa, dass seine Schwester jetzt hier war?

Onii-chan?“, rief eine zarte Frauenstimme.

Zittrig atmete Tetsu durch den Mund ein und wieder aus. War sie es wirklich? War es wirklich Makoto? Xiao Qiao? Ihm wurde schwindelig. Schwindelig von dem Wunsch, die Augen aufzumachen, auf die eigenen Füße zu kommen und sie anzusehen, sie in die Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen. Tetsu keuchte.

„Onii-chan!“

Für einen Moment vernahm er Makotos Stimme klarer als alles, was er in seinem Leben zuvor gehört hatte. Das Wissen, dass sie hier, dass sie nur wenige Meter, vielleicht Zentimeter von ihm entfernt war, wirkte auf ihn wie ein Regenerationstrank. Er wollte sie sehen. Nach allem, was sie beide durchgemacht hatten … Verdienten sie etwa nicht, den anderen zu sehen und zu spüren? Vielleicht verdiente er es ja nicht.

Aber noch war er im Hier und Jetzt und er wollte die letzten Minuten nutzen, um das einzige Familienmitglied zu sehen, das er noch hatte. Das er rastlos gesucht hatte. Genauso, wie Makoto ihn gesucht hatte.

Mit neu gewonnener Kraft, auch wenn sie flüchtig war, stemmte sich Tetsu gegen die Schmerzen, gegen den nahenden Tod und öffnete unter immenser Anstrengung die Augen.

Sie hatten das Gebäude bereits verlassen, befanden sich draußen. Er suchte und fand sie. Eine kleine, braunhaarige Frau mit unsicherer Körperhaltung. In den Händen hielt sie einen Blindenstock. Ja, sie war es. Es bestand kein Zweifel, dass sie es war. Die Gesichtszüge. Die Augen. Aus zehn Jahren wurden Tage und er sah sein zehnjähriges Schwesterchen vor sich.

Unglaube, Freude, Erleichterung und Traurigkeit befielen ihn. Unglaube und Freude, weil er Xiao Qiao nach so langen Jahren sah. Nicht im Fernsehen, sondern in Fleisch und Blut. Erleichterung, weil ihr physisch nichts zu fehlen schien. Tetsu war überzeugt, dass die Blindheit vorübergehender Natur war, und wenn Makoto bei einem fähigen Arzt vorstellig werden würde, könnte sie wieder sehen.

Die Traurigkeit kam daher, weil sie einander nicht mehr alles sagen konnten, was ihnen auf dem Herzen lag. Dass er bald gehen würde, kaum dass sie sich wiedergefunden hatten. Dabei gäbe es so viel zu erzählen.

Makotos Begleiter, Nishiki, führt sie zu ihm. Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Ihre kleinen, zierlichen Hände. Sie war so zart wie eine Pflanze und so zerbrechlich wie Glas. Und jemand wie er, jemand mit seiner Vergangenheit, war ihr Bruder? Er schämte sich. Doch war die Vergangenheit nichts, das man ausradieren konnte wie einen Bleistiftstrich.

Seine eigenen Finger zuckten, als sie diese mit Nishikis Hilfe fand. Selbst wenn Makoto wusste, dass sie blind war, huschten ihre Augen umher, als wollte sie ihn in der Finsternis finden.

„Onii-chan, bist du es wirklich? Li Hua?“ Ein Hauch von Erregung lag in ihrer Stimme. Sie warf ihren Blindenstock fort und zog mit beiden Daumen feine Kreise auf seinem Handrücken.

„Ja …“

Sie begriff sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihre Mimik, eben noch in Vorfreude getränkt, löste sich in Verwirrung auf. „Was ist los? Onii-chan, was ist los? Onii-chan!“ Sie drückte seine Finger, aber er spürte es nicht. Er spürte keine ihrer Berührungen. Es war bitter. Es war ja so bitter. Es genügte Tetsu dennoch, sie zu sehen, zu wissen, dass sie einander berührten.

„Es tut mir leid“, flüsterte er berauscht. „Es tut mir leid, dass ich euch damals zurückgelassen habe.“ Alles verschwamm mit einem Mal und er glaubte, dass ihn der Tod nun holen käme. Doch als er blinzelte, realisierte er, dass er weinte.

„Nein, nein“, murmelte Makoto aufgelöst. „Ich bin einfach nur froh, dass wir einander gefunden haben. Es tut so gut, nach all der Zeit deine Stimme zu hören. Bist du verletzt?“ Ihre Finger fuhren bedacht über seinen Arm und landeten auf seiner aufgeschlitzten Brust. „Ist das Blut? Onii-chan, ist das“, sie schnappte erschrocken nach Luft, „Blut?“

Tetsu antwortete nicht sofort. „Ich bin müde, Makoto“, wich er ihrer Frage aus. Er brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Auch wenn sie wahrscheinlich selbst dahintergekommen war, dass es Blut sein musste. „Es war nicht einfach in all der Zeit.“

Wieder huschten ihre Augen hin und her. „Das glaube ich. Das glaube ich! Wir werden dich ins Krankenhaus bringen!“, rief seine Schwester verzweifelt. Die ersten Tränen kullerten über ihre Wangen. Warum nur konnten es keine Freudentränen über ihre Wiedervereinigung sein? „Wir … Wir werden dich ins Krankenhaus bringen. Dann wird es dir besser gehen. Oder, Kiryu-san? Kiryu-san, du bist doch da, oder?“

„Ich bin da.“

Ihre Blicke trafen sich, als Tachibana seine Augen zu Kiryu rollte. Tetsu deutete ein Kopfschütteln an. Nur keine unnötigen Fahrten ins Krankenhaus oder sonst wohin, um das Unvermeidliche aufhalten zu wollen. „Ich bin froh, dich gesehen und gesprochen zu haben, Xiao Qiao“, sagte er dann an seine Schwester gewandt.

„W-Was sagst du da? Das klingt ja so, als würdest du gehen. Es ist nicht das letzte Mal, dass wir miteinander reden. Wir werden noch ganz viele Gelegenheiten dazu haben. Und eines Tages, wenn ich wieder sehen kann, dann, dann …“

Tetsu lachte. Sein Körper wurde durchgeschüttelt und jetzt erst spürte er wieder diesen höllischen, höllischen Schmerz im ganzen Körper. Ah, zwei defekte Nieren und Folter. Das konnte niemand überleben. Er musste allerdings zugeben: Er hat sich selbst unterschätzt. In seinem Zustand hatte er es mit formidablen Yakuza aufgenommen und die Folter zäh durchgestanden. In beiden Fällen war Makoto der primäre Antrieb gewesen.

„Tachibana!“ Kiryu sank mit seinem Körper in den Armen auf die Knie und Makotos Gesicht rückte in die Ferne, erschien ihm nun wie ein Gestirn am Firmament.  

Im ersten Moment begriff Makoto nicht, was vor sich ging. Dann sank auch sie auf ihre Knie, tastete fahrig über den Boden und fand seine Finger, die schlaff über seine Taille hingen wie ein Kleidungsstück.

„Du bist plötzlich so kalt“, schluchzte Makoto. „Warum bist du so kalt?“

„Danke, Kiryu-san … Nishiki-san.“  

„Tachibana“, kam es erstickt von Kiryu, während sich Nishiki betroffen abwandte. „Ich werde deine Schwester beschützen. Ich verspreche es dir. Ich werde sie beschützen, koste es, was es wolle.“

Es klang, als weinte Kiryu. Tetsu war nicht mehr in der Lage, seinen schweren Kopf zu drehen. Er wünschte, er könnte Kiryu über seinen eigenen Tod trösten. Aber das war nicht möglich. Er bedauerte es, einen so guten Freund zurückzulassen. Aber zurücklassen bedeutete in diesem Fall, dass Kiryu am Leben blieb. Und dass er seine Schwester beschützen würde.

„Onii-chan! Du darfst nicht …“

Sterben?

Er selbst hatte gewollt, dass alles anders gekommen wäre. Wie ironisch es doch war, ausgerechnet an diesem Ort sein Leben zu lassen. Dieses verfluchte unbebaute Gebiet, hinter dem alle her waren wie hinter einem antiken Goldschatz.

Makotos Finger tasteten über sein Gesicht. Fuhren sein Kinn nach, seine Kieferknochen, die aufgeplatzten Lippen und die gebrochene Nase. Ein spitzer Schrei verließ ihre Kehle, als sie gegen die klaffende Wunde seiner zertrümmerten Schläfe kam.

Die Wirkung des Regenerationstranks ließ gänzlich nach.

Tetsu hatte gehört, dass bevor ein Mensch sterbe, er unweigerlich sein Leben Revue passieren lasse. Es war so weit: Er dachte an seine Eltern, an sein trostloses, von Diskriminierung geprägtes Leben in China. An seinen Fortgang und seinen Abstieg in die japanische Unterwelt und an Oda, der sich an ihn geheftet hatte. Nie hätte er gedacht, dass ... Der Gedanke brach ab und er erinnerte sich an sein erstes Treffen mit Kiryu. Er war froh, dass sie sich begegnet waren. Nicht nur wegen der Zusammenarbeit.

In der Gegenwart angekommen, schlossen sich seine Augen endgültig. Wie lange war es gewesen, vielleicht fünf Minuten? Fünf Minuten, für die er so dankbar war wie für nichts anderes. Fünf Minuten, die er auf die andere Seite mitnehmen würde.

Tetsu starb mit der Gewissheit, dass Makoto in guten Händen war.
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