Carnot
von papirossy
Kurzbeschreibung
1991. Guy-Man braucht Nachhilfe in Chemie und Thomas jemanden, der sein Leben umkrempelt. In den Wirren des Schulalltags begeben sie sich auf die Suche nach Liebe und Identität.
GeschichteRomance, Freundschaft / P16 / MaleSlash
Guy-Manuel de Homem-Christo
Laurent Brancowitz
Play Paul
Thomas Bangalter
13.02.2021
13.02.2021
13
62.250
3
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13.02.2021
3.457
Now it's time to leave the capsule if you dare...
1.
Er raucht, trägt ein Fred-Perry-Shirt und hat als erstes aus ihrer Stufe ein Moped. Thomas, der bei seiner Clique auf dem Schulhof steht, gafft ihn mit einer Mischung aus Neid, Neugier und Faszination an, während sich die anderen das Maul über ihn zerreißen.
„Der Typ bedeutet Ärger“, sagt Fleur und alle stimmen ihr zu, als der Typ in seiner engen Jeans und seinem noch engeren Poloshirt seine Kippe in den Dreck wirft und auf sein ziegelsteinrotes Moped steigt. Statt eines Schulrucksacks trägt er eine Gitarrentasche auf dem Rücken.
„Der ist komisch, er spricht mit keinem“, sagt Benoît. „Hält sich wohl für was Besseres.“
„Vielleicht ist er schüchtern“, wirft Clémence ein. Guy-Man, so heißt er, wirft seine langen schwarzen Haare nach hinten und setzt sich jetzt seinen Helm auf. Einen von denen, die man unter dem Kinn festzurrt. Dann tritt er in den Kickstarterthebel und löst ein Knattergeräusch aus, das wie ein Donner über den Schulhof hereinbricht.
Es ist ihr erster Tag nach den Sommerferien. Guy-Man ist sitzengeblieben und heute neu in ihre Klasse gekommen.
Ob er sich nicht vorstellen wollte...
Keine Reaktion. Gekicher bei den drei Blumenmädchen – Flora, Florence und Fleur.
Monsieur Levi neigte seinen Kopf – der Blick wie üblich irgendwo zwischen Gutmütigkeit und blasierter Ennui.
„Guillaume?“
Er ist einer von den sanftmütigen Lehrern, die ihre Schüler noch beim Vornamen nennen.
Stuhlbeine kratzten über das abgewetzte Linoleum, als Guy sich träge erhob und ein paar Worte knurrte. Ein dünnes Buch klemmte in seiner Gesäßtasche. Jean Genet, las Thomas, der von schräg hinter ihm auf den Titel schielte. Querelle de Brest. Thomas, der sich für belesen hielt, hatte noch nie davon gehört. Sein Steckenpferd waren eher so die Dystopen. 1984, Die Zeitmaschine, Uhrwerk Orange. Sowas.
„Ich, äh, bin Guy-Manuel. Ich mag Musik und, keine Ahnung…“
Sein Gesicht war kaum sichtbar hinter dem Vorhang langer schwarzer Haare. Eine spitze Nase und ein trüber Blick blitzten hin und wieder hervor. Benoît mimte, an einem imaginären Joint zu ziehen, und die Blumenmädchen kicherten wieder.
„Der Typ ist gruselig, wenn ihr mich fragt“, sagt Florence jetzt auf dem Schulhof und holt sich Zustimmung bei Flora.
„Ja, und er könnte mal einen Haarschnitt vertragen.“
„Oder wenigstens eine Haarwäsche“, tritt Fleur nach.
Thomas, der jetzt genug hat, verabschiedet sich aus der Schulhofrunde und geht zur Klassensprecherversammlung.
2.
Die Neulinge werden mit den Aufgaben des Klassensprechers vertraut gemacht – Streitschlichter, Vertrauensperson, Mittelsmann zwischen Schüler und Lehrer, Mitorganisator von Exkursionen und Klassenfahrten, sowas – Thomas schaltet auf Durchzug und lässt seinen Blick zum Fenster hinaus schweifen, wo die beiden Tennisfelder liegen wie vergessen – netzlos und begraben unter Schmutz und Staub.
Als erfahrener Klassensprecher bittet ihre Vertrauenslehrerin, Madame Zibra, ihn, die Fragen der anderen zu beantworten, was er pflichtbewusst tut.
Als nächstes wird die Schülersprecherwahl für die kommende Woche angekündigt und Thomas mit seiner Erfahrung, seinem Standing und seinem Alter – er ist jetzt in der Oberstufe – ist ein heißer Kandidat.
„Als nächstes steht für die Oberstufe die Wahl der Prüfungsfächer an.“ Monsieur Brouillard erklärt das System mit der üblichen nüchternen Distanziertheit, mit der er seinen Lehrstoff für Physik runterleiert.
„Für die Elftklässler mag sich das Bac zwar noch in weiter Ferne befinden, aber bitte bedenkt, dass die ersten Abschlussprüfungen in ein bis drei Fächern schon am Ende der Première stattfinden. Die Übersicht haben Sie vor sich. Ich bitte Sie diese genau zu studieren, um auf eventuelle Fragen Ihrer Mitschüler vorbereitet zu sein und diese kompetent beraten zu können.“
Thomas studiert das Blatt mit der Übersicht. Natürlich ist er Klassensprecher, weil er beliebt ist und alle ihn mögen und all das. Aber vor allem ist er Klassensprecher, weil kein anderer Lust hat an sonnigen Nachmittagen in nach staubiger Kreide riechenden Schulräumen abzuhängen und sich mit Übersichtsblättern und Beratungskram zu beschäftigen.
„Bitte unterstützen Sie Ihre Mitschüler bei der Wahl ihrer Prüfungsfächer. Bei Unklarheiten sind Sie ihr Ansprechpartner.“
Und damit ist Thomas entlassen. Er wirft sich seinen orangefarbenen JanSport-Rucksack um und schlurft Richtung Métrostation Monceau. Die warme Septembersonne lädt ihn dazu ein, noch einen Abstecher in den Park zu machen. Vielleicht hängen die anderen ja noch an ihrem üblichen Ort am Teich ab. Aber scheinbar ist er zu spät. Als er bei der zerfallenen Kolonnadenruine ankommt, sieht er kein bekanntes Gesicht weit und breit. Kein bekanntes Gesicht bis auf eins. Zwischen zwei Säulen der alten Ruine sieht er lange dunkle Haare im Gleichklang mit der Trauerweide, die ihre lange grüne Mähne ins trübe Wasser hängen lässt, über ein Buch gebeugt. Die Hosenbeine sind hochgekrempelt, die nackten Füße schweben über der Wasseroberfläche. Eine brennende Zigarette klemmt wie vergessen zwischen zwei Fingern.
Um sich nicht auffällig zu verhalten und abrupt wieder umzukehren, flaniert Thomas eine Runde um den Teich, kann seine Augen nicht von der seltsamen Gestalt ablassen. Irgendetwas hat dieser Junge. Die Art, wie er sich um keinen schert und sein eigenes Ding durchzieht, wirkt seltsam anziehend auf Thomas. „Augen nach vorn!“, blafft ein Radfahrer ihn an, mit dem er jetzt fast zusammengestoßen wäre, und Thomas ruft eine unelegante Entschuldigung hinterher. Beschämt hastet er mit langen Schritten aus dem Park und flüchtet in die Métrostation.
Aufatmen kann er erst, als die Türen zuschlagen und die Bahn durch die dunklen Tunnel Richtung Montmartre ruckelt.
3.
Guy konnte ihn schon auf dem ersten Blick nicht leiden. Irgendwas hat dieser Kerl. Lang und zu hager, um wirklich gut aussehend zu sein, aber das macht er mit seinem gewinnenden Lächeln wieder wett. Diese wilden ungekämmten Locken, die mit jedem seiner schlaksigen Schritte auf und ab wippten. Guy hat nur einen müden Blick auf ihn geworfen, als er als frisch gewählter Klassensprecher nach vorne ging, um dem Lehrer die Hand zu schütteln, und ihn sofort durchschaut: Einzelkind, kriegt von seinen Eltern alles in den Arsch geschoben, kommt bei den Mädchen gut an und musste sich in seinem süßen arsch-gepuderten Leben noch nie um etwas Sorgen machen. So ungefähr. Guy steckte seine Nase zurück in sein Buch, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Was hat der denn für ne Stimme? War der überhaupt schon im Stimmbruch? Guy musste lachen. Alles Babys, dachte er sich und erinnerte sich dann daran, dass er jetzt eine Stufe tiefer bei den Kindern festsaß, und wurde wieder traurig.
Das alles ändert sich, als Thomas am nächsten Morgen in diesem Fan-Shirt erscheint. Clockwork Orange. Es hängt wie ein Zelt von seinem dürren Körper und seine Arme ragen wie knorrige Äste aus den weißen Ärmeln hervor. Guy wendet seinen Kopf ab und versteckt ein Schmunzeln in seinen langen Haaren. Aber nicht weil er ihn auslacht, sondern weil er plötzlich was für den kleinen Nerd übrig hat.
Am nächsten Tag ist es ein selbstgemachtes Bruce Lee Shirt. Am Tag darauf ein Primal Scream Shirt.
„Selbstgemacht?“, fragt Guy, als sie in Chemie einer Arbeitsgruppe zugeteilt werden. Thomas macht große Augen durch seine Schutzbrille. Dicke sandfarbene Locken kringeln sich darüber. „Dein T-Shirt!“ Guy zeigt auf seine Brust und Thomas sieht an sich herunter. Er lächelt verlegen, fast auch ein bisschen stolz. „Ja.“
„Gefällt mir.“
„Danke.“
„Magst du Musik?“
„Ja natürlich, wer mag denn keine Musik?“
Er strahlt übers ganze Gesicht. Es ist ein offenes, ehrliches, völlig angstfreies Lächeln, das Guy da so unerwartet trifft. Die Augen auf ihn gerichtet wie glühende Scheinwerfer. Guy, der sich unwohl fühlt, wenn er so würdelos im Rampenlicht steht, wendet beschämt seinen Blick ab und kritzelt etwas auf ein kariertes Blatt Papier.
Gleichgewichtsverschiebung
„Also, was benutzen wir?“, knurrt er, beschützt hinter dem schwarzen Vorhang seiner Haare und Thomas, der sich kurz wundert, begutachtet die Instrumente, die vor ihm liegen.
„Hm, Reagenzgläser, Becherglas, Pipette, Eiswasser, Gasbrenner“, Thomas beginnt eine nüchterne Aufzählung, Guy schreibt alles mit. Es hat sich irgendwie völlig natürlich so gefügt, dass er das Protokoll schreibt, während Thomas die Leitung des Experiments übernommen hat. Guy ist es recht so. Er hat noch nie viel für Naturwissenschaft übrig gehabt. Und das Hantieren mit Sachen, für die er kein Interesse hat, fällt ihm unfassbar schwer.
„Chemikalien“, kündigt Thomas an und Guy schreibt gelangweilt mit. „Konzentrierte Salzsäure, Kupfer(II)-sulfat-Pentahydrat, Destilliertes Wasser.“
Guy kratzt sich am Kopf. „Wie schreibt man das noch gleich?“
„Was denn?“
„Pentahy…“
„Pentahydrat?“
„Ja.“
„Einfach wie du sprichst.“
„Ah.“
Guy kritzelt etwas dahin, von dem er hofft, dass es in etwa dem entspricht, wie das Wort tatsächlich geschrieben wird. Manchmal steht er einfach auf dem Schlauch. Und wenn er nervös ist sowieso. Fragt sich nur, wieso er nervös ist.
Die Bunsenbrenner werden angestellt und eine zornige blaue Flamme verbrennt die Luft.
„Monsieur de Homem-Christo?“, ruft Monsieur Bernard über die gekachelten Tische hinweg und Guy hebt seinen Kopf, als wäre er aus Blei.
„Ja?“, fragt er mit einer Stimme, die klingt, als wäre sie ebenfalls aus Blei.
„Können Sie Ihre Haare irgendwie zusammenbinden? Wir wollen doch nicht, dass sie in Flammen aufgehen.“
„Äh…“ Er blickt sich hilflos um.
„Hier.“
Ein schönes Mädchen – Clémence? – mit kühler Haut und großen Augen dreht sich um und reicht ihm ein Haargummi.
„Oh, danke.“
Er nimmt es und bindet sich die langen Haare nachlässig zu einem Knoten nach oben, statt wie die ganzen Metalheads zu einem schluffigen Pferdeschwanz nach hinten.
Thomas konzentriert sich auf ihre Aufgabe und hält das Reagenzglas bereits in die Flamme. „Kannst du mal den Bunsenbrenner etwas runterdrehen?“
„Äh, sicher.“
Guy greift etwas unbeholfen unter Thomas’ Arme hindurch und dreht vorsichtig am Regler, feine Härchen berühren sich dabei und Guy spürt die Hitze seiner Haut. Merkwürdig.
„So?“
„Ja, sollte reichen.“
Guy räuspert sich und braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Mit übertriebenem Eifer stürzt er sich in seine Protokollarbeit, fragt Thomas nach seinen Beobachtungen und schreibt alles mit.
4.
Das ist also Thomas.
Nach der Schule hockt Guy noch auf dem Zaun, an dem den Fahrräder angeschlossen werden, und raucht. Er tut auf cool, während er den Eingang im Auge behält, als würde er auf irgendetwas – oder irgendjemanden – warten.
„Monsieur de Homem-Christo! Wollen Sie den nächsten Verweis riskieren?“
Guy verdreht die Augen und wirft die Kippe auf den Boden. Es ist eine alte Fehde zwischen Monsieur Bernard und ihm. Er zieht sein Buch aus der Tasche und liest ein paar Zeilen in seinem Sartre, um beschäftigt zu tun, was dazu führt, dass er ihn beinahe verpasst hätte.
„Hey!“ Er springt aufgeregt vom Zaun und joggt lässig auf ihn zu. Thomas wirkt irritiert, lächelt aber, als würden sie sich seit dem Kindergarten kennen.
„Oh, hey!“
„Ich, ähm, Monsieur Bernard hat mich nach dem Unterricht angesprochen. Meinte, wäre vielleicht ne gute Idee, wenn du mir in Chemie hilfst.“
Guy gibt einen Scheiß auf wohlgemeinte Ratschläge von Lehrern, aber dieser kommt ihm ganz gelegen.
„Oh, wirklich? Ach, deswegen hat er uns einander zugeteilt.“
„Ja, vielleicht können wir uns ja mal zusammensetzen, wenn es dir passt und den Stoff durchgehen?“
„Ja, sicher, warum nicht?“
„Cool.“
„Ja, cool.“
Sie laufen ein paar Meter durch das Schultor auf den viel befahrenen Boulevard Malesherbes. Ratlosigkeit. Umherschweifende Blicke, die immer wieder neugierig aneinander hängen bleiben.
„Wo musst du jetzt lang?“
„Zur Métro.“
„Linie 2 oder 3?“
„2.“ Thomas zögert kurz. „Und du?“
„Ich kann noch ein Stück mitkommen, ich geh in den Park.“
„Cool. Bist du mit deinem Moped da?“
Guy staunt ein bisschen und auch Thomas scheint das nicht zu entgehen und stottert sich ein bisschen verlegen aus der Angelegenheit.
„U-u-uns ist auf aufgefallen, dass-dass-dass… dass du immer mit Moped zur Schule fährst.“
„Ah. Äh, nein, heute bin ich nicht mit Moped da. Ich dachte, es würde regnen, aber bis jetzt war nichts.“
Ein bleierner Himmel hängt über den Pariser Straßen, aber die Luft und die Zeit stehen still, als sie zusammen Richtung Park schlendern. Und während sie etwas belanglos plaudern, macht Guy eine eigenartige Entdeckung.
Er mag diesen Jungen.
„Also du stehst auf Primal Scream?“, wagt er also einen Versuch ihre Gemeinsamkeiten auszuloten.
Thomas lächelt das radioaktive Lächeln von vorhin und Guy geht mit geneigtem Haupt in Deckung.
„Ja, wie man glaub ich unschwer erkennen kann...“
„Warst du denn schon mal auf einem Konzert?“
„Nein, noch nicht. Aber ich würd gern. Du?“
„Nein.“
Guy grübelt. Unterhaltungen fallen ihm schwer, aber diese will er unbedingt am Laufen halten.
„Warst du schonmal auf einem Konzert?“, kommt Thomas ihm zuvor. „Du siehst aus, als würdest du viel auf Konzerte gehen.“
„Ach, wirklich?“
„Ja, vielleicht wegen der langen Haare und der Chucks.“
Guy schaut auf seine Schuhe. Schwarze, durchgewetzte Chucks. Die Gummibänder an den Seiten aufgeplatzt, die einst weiße Gummikappe vom Dreck und verschüttetem Bier gegerbt.
„Ja, ab und zu.“
„Cool.“
„Du etwa nicht?“
„Naja, ich war mal auf einem Bon Jovi Konzert mit meinem Vater.“
Guy krächzt ein Lachen. Er kann nicht anders.
„Echt? Bon Jovi?“
„Ja—Wieso nicht? Hast du etwa was gegen Bon Jovi? Du stehst doch auf Hard Rock! Diese ganzen T-Shirts, die du trägst…“
Er deutet auf Guys Led Zeppelin Shirt, wo Icarus die Flügel auf seiner stolzen Brust ausbreitet und die Arme in den Himmel streckt. Noch fliegend oder schon fallend. Schwer zu sagen.
„Naja, es gibt Hard Rock und es gibt Bon Jovi.“
„Ach, ist das so?“ Thomas lacht ein unglaublich sanftes Lachen, das wie eine kostbare Vase zu Boden fällt und zerspringt. „Welche Bands hörst du denn dann so?“
Guy zuckt mit den Schultern.
„Led Zeppelin, Queen, Black Sabbath… kennst du die?“
„Ja, natürlich kenne ich die.“
„Aber kannst du mir auch eins ihrer Alben nennen?“
„Mal überlegen… Night at the Opera natürlich… und…“ Da hört es auch schon auf, stellt Guy mit Genugtuung fest, als sie vor dem Zaun des Parks zum Stehen kommen. Rechts runter geht es zum Parkeingang und links runter zur Métro.
„Ich seh schon, du könntest auch etwas Nachhilfe gebrauchen.“
Thomas lacht etwas beschämt.
„Ja, sieht ganz so aus.“
Und dann weiß keiner mehr, was er sagen soll.
„Magste nicht noch mitkommen?“
„In den Park?“
„Ja?“
Thomas sieht auf die Uhr und scheint irgendwie mit sich zu hadern, als hätte ihn ein Mädchen nach einem Rendezvous gefragt, obwohl er bereits vergeben war.
„Ich wollt eigentlich noch einkaufen. Aber klar, warum nicht…“
„Cool.“
Sie schlendern über die Kieswege, scheinen sich ohne ein Wort zu sagen, einig zu sein, in welche Richtung es gehen soll. Thomas erzählt von seinen Klavierstunden und dass seine Eltern – insbesondere seine Mutter – ihn schon in der Philharmonie de Paris sehen.
„Und du, siehst du dich da auch schon?“
„Ich weiß nicht.“
„Hm.“
Wenigstens sehen ihn seine Eltern irgendwo, denkt Guy und erzählt ihm davon, dass seine Eltern ihn höchstens irgendwann als Beamten arbeiten sehen. Beamter. Das ist noch nicht mal ein Beruf, das ist einfach nur ein Zustand. Dass Guy es im letzten Jahr im Profil ES für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht geschafft hat, ist ein herber Rückschlag für sie. Auf Anraten der Vertrauenslehrerin, die ihn ständig mit einem Buch in der Gesäßtasche sieht, versucht er es dieses Jahr im Profil L für Literatur, Geschichte und Philosophie, und wird dafür auch mit Eiseskälte bestraft. Die Gartenpartys mit der Familie seines Vaters gleichen auch eher einem Verhör als einer idyllischen Familienzusammenkunft. Besonders der Vater von Papas neuer Freundin nimmt ihn jedes Mal mit unangebrachter Strenge in die Mangel.
„Und wie läuft’s in der Schule?“
„…“
„Weißt du schon, was du danach machen willst?“
Die Fragen kommen wie Kugeln aus dem Gewehr und keine Miene wird verzogen, wenn Guy seine lustlosen Antworten knurrt.
„Naja, ich würd eigentlich gern schreiben oder im Lektorat arbeiten.“
„Im Verlag also, aha. Und womit willst du dann dein Brot verdienen?“
„Guy ist ein unheimlich aufgeweckter Junge. Sein großes Problem ist“, erklärte Madame Zibra jetzt mit kaum zu ertragendem Einfühlungsvermögen seinen Eltern, „dass er nur brillant ist, in dem, was ihn interessiert, und alles andere einfach grob vernachlässigt.“
Es war ein langer Nachmittag. Lange, kräftezehrende Diskussionen zwischen seinen Eltern und seiner Lehrerin. Dass er sich durchbeißen müsste und dass sie hier nicht bei Wünsch dir was wären und dass sie damals schließlich auch hart arbeiten mussten. All sowas. Bevor Madame Zibra die Karten am Ende nüchtern auf den Tisch legte. „Entweder Sie lassen Ihren Sohn machen, was er will, oder er wird die elfte Klasse nicht bestehen.“ Sie blickte in harte, erboste Gesichter, bevor sie am Ende Guy, der bis dahin nicht ein Wort gesagt hatte, ansah. „Klingt das nach einem Plan?“
Und Guy, wie gelähmt, dass es jemanden gab, der scheinbar seine Gedanken lesen konnte und sich für ihn eingesetzt hatte, knurrte ein kraftloses: „Ja. Sicher.“
*
„Was liest du da?“, will Thomas jetzt wissen, als sie beide gegen die Säulen der alten Kolonnaden lehnen und Steine in den Teich werfen.
„Oh.“ Guy hat das Buch aus seiner Tasche gezogen, um bequemer sitzen zu können. „Sartre. Kindheit eines Chefs.“
„Oh, wow.“
„Ja, das ist ein gutes Buch, wenn man Sartre verstehen will. Das Sein und das Nichts – vergiss es! Viel zu theoretisch. Mit seinen Romanen verstehst du sofort, was er von dir will. Der Rest ist nur noch Geschwafel.“
Neben dem rein praktischen Nutzen ist seine kurze Aufmerksamkeitsspanne der Grund, warum er sich auf Bücher beschränkt, die in seine Gesäßtasche passen. Querelle, Last Exit to Brooklyn, Der Mann mit der Ledertasche, Murphy, Der Fremde – keines dieser Bücher ist länger als 200 Seiten.
„Das ist eine ziemlich gewagte These.“
„Ja, naja…“
Guy steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zückt sein Feuerzeug.
„Oh, sorry. Willst du auch?“ Die Zigarette zwischen seinen Lippen hüpft auf und ab beim Sprechen. Thomas sieht aus, als wollte er gewohnheitsmäßig Nein sagen, entscheidet sich dann aber doch anders. „Ja, wieso nicht.“
Etwas ängstlich streckt er seine Hand aus, um die Zigarette zu nehmen, und Guy beugt sich vor, um ihm Feuer zu geben.
Thomas nimmt einen langen Zug und pustet den Rauch geräuschvoll Richtung Teich. Er ist ganz grün vor Entengrütze und Seerosen stauen sich darauf. Monet hätte seine helle Freude gehabt.
„Ich hab gesehen du spielst Gitarre.“
„Oh. Ja. Mit meinem Freund Laurent. Wir treffen uns manchmal nach der Schule. Er ist eine Stufe über uns.“
„Hm.“
Thomas wirkt plötzlich traurig und rupft gedankenverloren Gras aus dem Boden.
„Ich finde Gitarre viel cooler als Klavier.“
„Ich kann dir ein bisschen was beibringen, wenn du magst.“
Guy zieht lässig an seiner Zigarette und genießt den Anblick hoffnungsvoll aufleuchtender Augen.
„Wirklich?“
„Sicher.“
„Ich kann schon ein bisschen was, so ist das nicht. Aber ich spiele meistens heimlich. Jede Stunde, die ich mit der Gitarre verbringe, ist eine Stunde weniger, die ich am Klavier sitze.“
„Und was kannst du schon so?“
„Naja, ich habe versucht einen Beach Boys Song nachzuspielen.“
Guy wird hellhörig.
„Cool, welchen Song?“
Bestimmt Good Vibration, Barbara Ann oder sowas.
„Hm. Darlin‘. Kennst du den? Viele kennen den nicht. Ist eher ein unbekannter…“
„Machst du Witze, natürlich kenn ich den! Wild Honey ist eins ihrer besten Alben. Wenn nicht sogar, das beste!“
Sie schauen sich lachend und staunend in ihre Gesichter und scheinen irgendetwas in dem anderen zu erkennen, auf das sie lange gewartet haben.
„Es fängt an zu regnen“, stellt Thomas fest und Guy streckt seine Hand aus.
„Stimmt.“
Aber keiner von beiden macht Anstalten, aufzustehen und gehen zu wollen. Stattdessen genießen sie ihre Zigaretten im warmen Spätsommerregen. Aus einem zögerlichen Tröpfeln wird jedoch schnell ein rauschender, sturzbachartiger Regenschauer. Erschrocken stellen sie sich auf und drücken sich mit dem Rücken fest an die Säulen. Innerhalb von Sekunden sind sie klatschnass. Dünner T-Shirt-Stoff saugt sich an zuckende Bauch- und Brustmuskeln. Guy starrt ihn verwirrt an. Und dann können sie beide nur noch darüber lachen.
*
Seinen Sartre kann er jetzt auswringen, denkt Guy, als er bibbernd in der Bahn Richtung Neuilly-sur-Seine sitzt. Ein paar Mitreisende haben mitleidige Blicke für ihn übrig und eine ältere Dame will ihm ihren Knirps überlassen.
„Lassen Sie nur, Sie haben ihn nötiger als ich. Bei mir ist es ja schon zu spät, wie Sie sehen können.“
Am nächsten Tag wacht er mit einem Niesen und Schüttelfrost auf. Seine Mutter wirft erbost die Tür zu. Heute keine Schule für ihn. Und es ist das erste Mal, dass er sich nicht darüber freuen kann.
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Huhu, hier noch eine Anmerkung zur Geschichte: Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Story hier zu früh oder zu spät bin, aber ich werde sie jetzt einfach mal im Ganzen posten. Habe sie seit letzten Mai kapitelweise auf AO3 hochgeladen. Es war so eine Art Hass-Liebe. Bin aber mittlerweile recht versönlich gestimmt und würde sie jetzt einfach mal all jenen hier anbieten, die Lust auf eine gepflegte Schul AU an einem verschneiten Lockdown-Wochenende haben. Wobei AU bei Daft Punk auch nur so halb zutrifft, wenn man bedenkt, dass sie sich von der Schule kennen. Habe mir also versucht vorzustellen, wie es in etwa hätte ablaufen können, und dem Ganzen einen fiktiven Rahmen verpasst.
Playlist: https://open.spotify.com/playlist/7wGPz1guoQiqDeA51qtqim?si=VXCCqsB7RTKHz1ykNfISAw&utm_source=copy-link
1.
Er raucht, trägt ein Fred-Perry-Shirt und hat als erstes aus ihrer Stufe ein Moped. Thomas, der bei seiner Clique auf dem Schulhof steht, gafft ihn mit einer Mischung aus Neid, Neugier und Faszination an, während sich die anderen das Maul über ihn zerreißen.
„Der Typ bedeutet Ärger“, sagt Fleur und alle stimmen ihr zu, als der Typ in seiner engen Jeans und seinem noch engeren Poloshirt seine Kippe in den Dreck wirft und auf sein ziegelsteinrotes Moped steigt. Statt eines Schulrucksacks trägt er eine Gitarrentasche auf dem Rücken.
„Der ist komisch, er spricht mit keinem“, sagt Benoît. „Hält sich wohl für was Besseres.“
„Vielleicht ist er schüchtern“, wirft Clémence ein. Guy-Man, so heißt er, wirft seine langen schwarzen Haare nach hinten und setzt sich jetzt seinen Helm auf. Einen von denen, die man unter dem Kinn festzurrt. Dann tritt er in den Kickstarterthebel und löst ein Knattergeräusch aus, das wie ein Donner über den Schulhof hereinbricht.
Es ist ihr erster Tag nach den Sommerferien. Guy-Man ist sitzengeblieben und heute neu in ihre Klasse gekommen.
Ob er sich nicht vorstellen wollte...
Keine Reaktion. Gekicher bei den drei Blumenmädchen – Flora, Florence und Fleur.
Monsieur Levi neigte seinen Kopf – der Blick wie üblich irgendwo zwischen Gutmütigkeit und blasierter Ennui.
„Guillaume?“
Er ist einer von den sanftmütigen Lehrern, die ihre Schüler noch beim Vornamen nennen.
Stuhlbeine kratzten über das abgewetzte Linoleum, als Guy sich träge erhob und ein paar Worte knurrte. Ein dünnes Buch klemmte in seiner Gesäßtasche. Jean Genet, las Thomas, der von schräg hinter ihm auf den Titel schielte. Querelle de Brest. Thomas, der sich für belesen hielt, hatte noch nie davon gehört. Sein Steckenpferd waren eher so die Dystopen. 1984, Die Zeitmaschine, Uhrwerk Orange. Sowas.
„Ich, äh, bin Guy-Manuel. Ich mag Musik und, keine Ahnung…“
Sein Gesicht war kaum sichtbar hinter dem Vorhang langer schwarzer Haare. Eine spitze Nase und ein trüber Blick blitzten hin und wieder hervor. Benoît mimte, an einem imaginären Joint zu ziehen, und die Blumenmädchen kicherten wieder.
„Der Typ ist gruselig, wenn ihr mich fragt“, sagt Florence jetzt auf dem Schulhof und holt sich Zustimmung bei Flora.
„Ja, und er könnte mal einen Haarschnitt vertragen.“
„Oder wenigstens eine Haarwäsche“, tritt Fleur nach.
Thomas, der jetzt genug hat, verabschiedet sich aus der Schulhofrunde und geht zur Klassensprecherversammlung.
2.
Die Neulinge werden mit den Aufgaben des Klassensprechers vertraut gemacht – Streitschlichter, Vertrauensperson, Mittelsmann zwischen Schüler und Lehrer, Mitorganisator von Exkursionen und Klassenfahrten, sowas – Thomas schaltet auf Durchzug und lässt seinen Blick zum Fenster hinaus schweifen, wo die beiden Tennisfelder liegen wie vergessen – netzlos und begraben unter Schmutz und Staub.
Als erfahrener Klassensprecher bittet ihre Vertrauenslehrerin, Madame Zibra, ihn, die Fragen der anderen zu beantworten, was er pflichtbewusst tut.
Als nächstes wird die Schülersprecherwahl für die kommende Woche angekündigt und Thomas mit seiner Erfahrung, seinem Standing und seinem Alter – er ist jetzt in der Oberstufe – ist ein heißer Kandidat.
„Als nächstes steht für die Oberstufe die Wahl der Prüfungsfächer an.“ Monsieur Brouillard erklärt das System mit der üblichen nüchternen Distanziertheit, mit der er seinen Lehrstoff für Physik runterleiert.
„Für die Elftklässler mag sich das Bac zwar noch in weiter Ferne befinden, aber bitte bedenkt, dass die ersten Abschlussprüfungen in ein bis drei Fächern schon am Ende der Première stattfinden. Die Übersicht haben Sie vor sich. Ich bitte Sie diese genau zu studieren, um auf eventuelle Fragen Ihrer Mitschüler vorbereitet zu sein und diese kompetent beraten zu können.“
Thomas studiert das Blatt mit der Übersicht. Natürlich ist er Klassensprecher, weil er beliebt ist und alle ihn mögen und all das. Aber vor allem ist er Klassensprecher, weil kein anderer Lust hat an sonnigen Nachmittagen in nach staubiger Kreide riechenden Schulräumen abzuhängen und sich mit Übersichtsblättern und Beratungskram zu beschäftigen.
„Bitte unterstützen Sie Ihre Mitschüler bei der Wahl ihrer Prüfungsfächer. Bei Unklarheiten sind Sie ihr Ansprechpartner.“
Und damit ist Thomas entlassen. Er wirft sich seinen orangefarbenen JanSport-Rucksack um und schlurft Richtung Métrostation Monceau. Die warme Septembersonne lädt ihn dazu ein, noch einen Abstecher in den Park zu machen. Vielleicht hängen die anderen ja noch an ihrem üblichen Ort am Teich ab. Aber scheinbar ist er zu spät. Als er bei der zerfallenen Kolonnadenruine ankommt, sieht er kein bekanntes Gesicht weit und breit. Kein bekanntes Gesicht bis auf eins. Zwischen zwei Säulen der alten Ruine sieht er lange dunkle Haare im Gleichklang mit der Trauerweide, die ihre lange grüne Mähne ins trübe Wasser hängen lässt, über ein Buch gebeugt. Die Hosenbeine sind hochgekrempelt, die nackten Füße schweben über der Wasseroberfläche. Eine brennende Zigarette klemmt wie vergessen zwischen zwei Fingern.
Um sich nicht auffällig zu verhalten und abrupt wieder umzukehren, flaniert Thomas eine Runde um den Teich, kann seine Augen nicht von der seltsamen Gestalt ablassen. Irgendetwas hat dieser Junge. Die Art, wie er sich um keinen schert und sein eigenes Ding durchzieht, wirkt seltsam anziehend auf Thomas. „Augen nach vorn!“, blafft ein Radfahrer ihn an, mit dem er jetzt fast zusammengestoßen wäre, und Thomas ruft eine unelegante Entschuldigung hinterher. Beschämt hastet er mit langen Schritten aus dem Park und flüchtet in die Métrostation.
Aufatmen kann er erst, als die Türen zuschlagen und die Bahn durch die dunklen Tunnel Richtung Montmartre ruckelt.
3.
Guy konnte ihn schon auf dem ersten Blick nicht leiden. Irgendwas hat dieser Kerl. Lang und zu hager, um wirklich gut aussehend zu sein, aber das macht er mit seinem gewinnenden Lächeln wieder wett. Diese wilden ungekämmten Locken, die mit jedem seiner schlaksigen Schritte auf und ab wippten. Guy hat nur einen müden Blick auf ihn geworfen, als er als frisch gewählter Klassensprecher nach vorne ging, um dem Lehrer die Hand zu schütteln, und ihn sofort durchschaut: Einzelkind, kriegt von seinen Eltern alles in den Arsch geschoben, kommt bei den Mädchen gut an und musste sich in seinem süßen arsch-gepuderten Leben noch nie um etwas Sorgen machen. So ungefähr. Guy steckte seine Nase zurück in sein Buch, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Was hat der denn für ne Stimme? War der überhaupt schon im Stimmbruch? Guy musste lachen. Alles Babys, dachte er sich und erinnerte sich dann daran, dass er jetzt eine Stufe tiefer bei den Kindern festsaß, und wurde wieder traurig.
Das alles ändert sich, als Thomas am nächsten Morgen in diesem Fan-Shirt erscheint. Clockwork Orange. Es hängt wie ein Zelt von seinem dürren Körper und seine Arme ragen wie knorrige Äste aus den weißen Ärmeln hervor. Guy wendet seinen Kopf ab und versteckt ein Schmunzeln in seinen langen Haaren. Aber nicht weil er ihn auslacht, sondern weil er plötzlich was für den kleinen Nerd übrig hat.
Am nächsten Tag ist es ein selbstgemachtes Bruce Lee Shirt. Am Tag darauf ein Primal Scream Shirt.
„Selbstgemacht?“, fragt Guy, als sie in Chemie einer Arbeitsgruppe zugeteilt werden. Thomas macht große Augen durch seine Schutzbrille. Dicke sandfarbene Locken kringeln sich darüber. „Dein T-Shirt!“ Guy zeigt auf seine Brust und Thomas sieht an sich herunter. Er lächelt verlegen, fast auch ein bisschen stolz. „Ja.“
„Gefällt mir.“
„Danke.“
„Magst du Musik?“
„Ja natürlich, wer mag denn keine Musik?“
Er strahlt übers ganze Gesicht. Es ist ein offenes, ehrliches, völlig angstfreies Lächeln, das Guy da so unerwartet trifft. Die Augen auf ihn gerichtet wie glühende Scheinwerfer. Guy, der sich unwohl fühlt, wenn er so würdelos im Rampenlicht steht, wendet beschämt seinen Blick ab und kritzelt etwas auf ein kariertes Blatt Papier.
Gleichgewichtsverschiebung
„Also, was benutzen wir?“, knurrt er, beschützt hinter dem schwarzen Vorhang seiner Haare und Thomas, der sich kurz wundert, begutachtet die Instrumente, die vor ihm liegen.
„Hm, Reagenzgläser, Becherglas, Pipette, Eiswasser, Gasbrenner“, Thomas beginnt eine nüchterne Aufzählung, Guy schreibt alles mit. Es hat sich irgendwie völlig natürlich so gefügt, dass er das Protokoll schreibt, während Thomas die Leitung des Experiments übernommen hat. Guy ist es recht so. Er hat noch nie viel für Naturwissenschaft übrig gehabt. Und das Hantieren mit Sachen, für die er kein Interesse hat, fällt ihm unfassbar schwer.
„Chemikalien“, kündigt Thomas an und Guy schreibt gelangweilt mit. „Konzentrierte Salzsäure, Kupfer(II)-sulfat-Pentahydrat, Destilliertes Wasser.“
Guy kratzt sich am Kopf. „Wie schreibt man das noch gleich?“
„Was denn?“
„Pentahy…“
„Pentahydrat?“
„Ja.“
„Einfach wie du sprichst.“
„Ah.“
Guy kritzelt etwas dahin, von dem er hofft, dass es in etwa dem entspricht, wie das Wort tatsächlich geschrieben wird. Manchmal steht er einfach auf dem Schlauch. Und wenn er nervös ist sowieso. Fragt sich nur, wieso er nervös ist.
Die Bunsenbrenner werden angestellt und eine zornige blaue Flamme verbrennt die Luft.
„Monsieur de Homem-Christo?“, ruft Monsieur Bernard über die gekachelten Tische hinweg und Guy hebt seinen Kopf, als wäre er aus Blei.
„Ja?“, fragt er mit einer Stimme, die klingt, als wäre sie ebenfalls aus Blei.
„Können Sie Ihre Haare irgendwie zusammenbinden? Wir wollen doch nicht, dass sie in Flammen aufgehen.“
„Äh…“ Er blickt sich hilflos um.
„Hier.“
Ein schönes Mädchen – Clémence? – mit kühler Haut und großen Augen dreht sich um und reicht ihm ein Haargummi.
„Oh, danke.“
Er nimmt es und bindet sich die langen Haare nachlässig zu einem Knoten nach oben, statt wie die ganzen Metalheads zu einem schluffigen Pferdeschwanz nach hinten.
Thomas konzentriert sich auf ihre Aufgabe und hält das Reagenzglas bereits in die Flamme. „Kannst du mal den Bunsenbrenner etwas runterdrehen?“
„Äh, sicher.“
Guy greift etwas unbeholfen unter Thomas’ Arme hindurch und dreht vorsichtig am Regler, feine Härchen berühren sich dabei und Guy spürt die Hitze seiner Haut. Merkwürdig.
„So?“
„Ja, sollte reichen.“
Guy räuspert sich und braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Mit übertriebenem Eifer stürzt er sich in seine Protokollarbeit, fragt Thomas nach seinen Beobachtungen und schreibt alles mit.
4.
Das ist also Thomas.
Nach der Schule hockt Guy noch auf dem Zaun, an dem den Fahrräder angeschlossen werden, und raucht. Er tut auf cool, während er den Eingang im Auge behält, als würde er auf irgendetwas – oder irgendjemanden – warten.
„Monsieur de Homem-Christo! Wollen Sie den nächsten Verweis riskieren?“
Guy verdreht die Augen und wirft die Kippe auf den Boden. Es ist eine alte Fehde zwischen Monsieur Bernard und ihm. Er zieht sein Buch aus der Tasche und liest ein paar Zeilen in seinem Sartre, um beschäftigt zu tun, was dazu führt, dass er ihn beinahe verpasst hätte.
„Hey!“ Er springt aufgeregt vom Zaun und joggt lässig auf ihn zu. Thomas wirkt irritiert, lächelt aber, als würden sie sich seit dem Kindergarten kennen.
„Oh, hey!“
„Ich, ähm, Monsieur Bernard hat mich nach dem Unterricht angesprochen. Meinte, wäre vielleicht ne gute Idee, wenn du mir in Chemie hilfst.“
Guy gibt einen Scheiß auf wohlgemeinte Ratschläge von Lehrern, aber dieser kommt ihm ganz gelegen.
„Oh, wirklich? Ach, deswegen hat er uns einander zugeteilt.“
„Ja, vielleicht können wir uns ja mal zusammensetzen, wenn es dir passt und den Stoff durchgehen?“
„Ja, sicher, warum nicht?“
„Cool.“
„Ja, cool.“
Sie laufen ein paar Meter durch das Schultor auf den viel befahrenen Boulevard Malesherbes. Ratlosigkeit. Umherschweifende Blicke, die immer wieder neugierig aneinander hängen bleiben.
„Wo musst du jetzt lang?“
„Zur Métro.“
„Linie 2 oder 3?“
„2.“ Thomas zögert kurz. „Und du?“
„Ich kann noch ein Stück mitkommen, ich geh in den Park.“
„Cool. Bist du mit deinem Moped da?“
Guy staunt ein bisschen und auch Thomas scheint das nicht zu entgehen und stottert sich ein bisschen verlegen aus der Angelegenheit.
„U-u-uns ist auf aufgefallen, dass-dass-dass… dass du immer mit Moped zur Schule fährst.“
„Ah. Äh, nein, heute bin ich nicht mit Moped da. Ich dachte, es würde regnen, aber bis jetzt war nichts.“
Ein bleierner Himmel hängt über den Pariser Straßen, aber die Luft und die Zeit stehen still, als sie zusammen Richtung Park schlendern. Und während sie etwas belanglos plaudern, macht Guy eine eigenartige Entdeckung.
Er mag diesen Jungen.
„Also du stehst auf Primal Scream?“, wagt er also einen Versuch ihre Gemeinsamkeiten auszuloten.
Thomas lächelt das radioaktive Lächeln von vorhin und Guy geht mit geneigtem Haupt in Deckung.
„Ja, wie man glaub ich unschwer erkennen kann...“
„Warst du denn schon mal auf einem Konzert?“
„Nein, noch nicht. Aber ich würd gern. Du?“
„Nein.“
Guy grübelt. Unterhaltungen fallen ihm schwer, aber diese will er unbedingt am Laufen halten.
„Warst du schonmal auf einem Konzert?“, kommt Thomas ihm zuvor. „Du siehst aus, als würdest du viel auf Konzerte gehen.“
„Ach, wirklich?“
„Ja, vielleicht wegen der langen Haare und der Chucks.“
Guy schaut auf seine Schuhe. Schwarze, durchgewetzte Chucks. Die Gummibänder an den Seiten aufgeplatzt, die einst weiße Gummikappe vom Dreck und verschüttetem Bier gegerbt.
„Ja, ab und zu.“
„Cool.“
„Du etwa nicht?“
„Naja, ich war mal auf einem Bon Jovi Konzert mit meinem Vater.“
Guy krächzt ein Lachen. Er kann nicht anders.
„Echt? Bon Jovi?“
„Ja—Wieso nicht? Hast du etwa was gegen Bon Jovi? Du stehst doch auf Hard Rock! Diese ganzen T-Shirts, die du trägst…“
Er deutet auf Guys Led Zeppelin Shirt, wo Icarus die Flügel auf seiner stolzen Brust ausbreitet und die Arme in den Himmel streckt. Noch fliegend oder schon fallend. Schwer zu sagen.
„Naja, es gibt Hard Rock und es gibt Bon Jovi.“
„Ach, ist das so?“ Thomas lacht ein unglaublich sanftes Lachen, das wie eine kostbare Vase zu Boden fällt und zerspringt. „Welche Bands hörst du denn dann so?“
Guy zuckt mit den Schultern.
„Led Zeppelin, Queen, Black Sabbath… kennst du die?“
„Ja, natürlich kenne ich die.“
„Aber kannst du mir auch eins ihrer Alben nennen?“
„Mal überlegen… Night at the Opera natürlich… und…“ Da hört es auch schon auf, stellt Guy mit Genugtuung fest, als sie vor dem Zaun des Parks zum Stehen kommen. Rechts runter geht es zum Parkeingang und links runter zur Métro.
„Ich seh schon, du könntest auch etwas Nachhilfe gebrauchen.“
Thomas lacht etwas beschämt.
„Ja, sieht ganz so aus.“
Und dann weiß keiner mehr, was er sagen soll.
„Magste nicht noch mitkommen?“
„In den Park?“
„Ja?“
Thomas sieht auf die Uhr und scheint irgendwie mit sich zu hadern, als hätte ihn ein Mädchen nach einem Rendezvous gefragt, obwohl er bereits vergeben war.
„Ich wollt eigentlich noch einkaufen. Aber klar, warum nicht…“
„Cool.“
Sie schlendern über die Kieswege, scheinen sich ohne ein Wort zu sagen, einig zu sein, in welche Richtung es gehen soll. Thomas erzählt von seinen Klavierstunden und dass seine Eltern – insbesondere seine Mutter – ihn schon in der Philharmonie de Paris sehen.
„Und du, siehst du dich da auch schon?“
„Ich weiß nicht.“
„Hm.“
Wenigstens sehen ihn seine Eltern irgendwo, denkt Guy und erzählt ihm davon, dass seine Eltern ihn höchstens irgendwann als Beamten arbeiten sehen. Beamter. Das ist noch nicht mal ein Beruf, das ist einfach nur ein Zustand. Dass Guy es im letzten Jahr im Profil ES für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht geschafft hat, ist ein herber Rückschlag für sie. Auf Anraten der Vertrauenslehrerin, die ihn ständig mit einem Buch in der Gesäßtasche sieht, versucht er es dieses Jahr im Profil L für Literatur, Geschichte und Philosophie, und wird dafür auch mit Eiseskälte bestraft. Die Gartenpartys mit der Familie seines Vaters gleichen auch eher einem Verhör als einer idyllischen Familienzusammenkunft. Besonders der Vater von Papas neuer Freundin nimmt ihn jedes Mal mit unangebrachter Strenge in die Mangel.
„Und wie läuft’s in der Schule?“
„…“
„Weißt du schon, was du danach machen willst?“
Die Fragen kommen wie Kugeln aus dem Gewehr und keine Miene wird verzogen, wenn Guy seine lustlosen Antworten knurrt.
„Naja, ich würd eigentlich gern schreiben oder im Lektorat arbeiten.“
„Im Verlag also, aha. Und womit willst du dann dein Brot verdienen?“
„Guy ist ein unheimlich aufgeweckter Junge. Sein großes Problem ist“, erklärte Madame Zibra jetzt mit kaum zu ertragendem Einfühlungsvermögen seinen Eltern, „dass er nur brillant ist, in dem, was ihn interessiert, und alles andere einfach grob vernachlässigt.“
Es war ein langer Nachmittag. Lange, kräftezehrende Diskussionen zwischen seinen Eltern und seiner Lehrerin. Dass er sich durchbeißen müsste und dass sie hier nicht bei Wünsch dir was wären und dass sie damals schließlich auch hart arbeiten mussten. All sowas. Bevor Madame Zibra die Karten am Ende nüchtern auf den Tisch legte. „Entweder Sie lassen Ihren Sohn machen, was er will, oder er wird die elfte Klasse nicht bestehen.“ Sie blickte in harte, erboste Gesichter, bevor sie am Ende Guy, der bis dahin nicht ein Wort gesagt hatte, ansah. „Klingt das nach einem Plan?“
Und Guy, wie gelähmt, dass es jemanden gab, der scheinbar seine Gedanken lesen konnte und sich für ihn eingesetzt hatte, knurrte ein kraftloses: „Ja. Sicher.“
*
„Was liest du da?“, will Thomas jetzt wissen, als sie beide gegen die Säulen der alten Kolonnaden lehnen und Steine in den Teich werfen.
„Oh.“ Guy hat das Buch aus seiner Tasche gezogen, um bequemer sitzen zu können. „Sartre. Kindheit eines Chefs.“
„Oh, wow.“
„Ja, das ist ein gutes Buch, wenn man Sartre verstehen will. Das Sein und das Nichts – vergiss es! Viel zu theoretisch. Mit seinen Romanen verstehst du sofort, was er von dir will. Der Rest ist nur noch Geschwafel.“
Neben dem rein praktischen Nutzen ist seine kurze Aufmerksamkeitsspanne der Grund, warum er sich auf Bücher beschränkt, die in seine Gesäßtasche passen. Querelle, Last Exit to Brooklyn, Der Mann mit der Ledertasche, Murphy, Der Fremde – keines dieser Bücher ist länger als 200 Seiten.
„Das ist eine ziemlich gewagte These.“
„Ja, naja…“
Guy steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zückt sein Feuerzeug.
„Oh, sorry. Willst du auch?“ Die Zigarette zwischen seinen Lippen hüpft auf und ab beim Sprechen. Thomas sieht aus, als wollte er gewohnheitsmäßig Nein sagen, entscheidet sich dann aber doch anders. „Ja, wieso nicht.“
Etwas ängstlich streckt er seine Hand aus, um die Zigarette zu nehmen, und Guy beugt sich vor, um ihm Feuer zu geben.
Thomas nimmt einen langen Zug und pustet den Rauch geräuschvoll Richtung Teich. Er ist ganz grün vor Entengrütze und Seerosen stauen sich darauf. Monet hätte seine helle Freude gehabt.
„Ich hab gesehen du spielst Gitarre.“
„Oh. Ja. Mit meinem Freund Laurent. Wir treffen uns manchmal nach der Schule. Er ist eine Stufe über uns.“
„Hm.“
Thomas wirkt plötzlich traurig und rupft gedankenverloren Gras aus dem Boden.
„Ich finde Gitarre viel cooler als Klavier.“
„Ich kann dir ein bisschen was beibringen, wenn du magst.“
Guy zieht lässig an seiner Zigarette und genießt den Anblick hoffnungsvoll aufleuchtender Augen.
„Wirklich?“
„Sicher.“
„Ich kann schon ein bisschen was, so ist das nicht. Aber ich spiele meistens heimlich. Jede Stunde, die ich mit der Gitarre verbringe, ist eine Stunde weniger, die ich am Klavier sitze.“
„Und was kannst du schon so?“
„Naja, ich habe versucht einen Beach Boys Song nachzuspielen.“
Guy wird hellhörig.
„Cool, welchen Song?“
Bestimmt Good Vibration, Barbara Ann oder sowas.
„Hm. Darlin‘. Kennst du den? Viele kennen den nicht. Ist eher ein unbekannter…“
„Machst du Witze, natürlich kenn ich den! Wild Honey ist eins ihrer besten Alben. Wenn nicht sogar, das beste!“
Sie schauen sich lachend und staunend in ihre Gesichter und scheinen irgendetwas in dem anderen zu erkennen, auf das sie lange gewartet haben.
„Es fängt an zu regnen“, stellt Thomas fest und Guy streckt seine Hand aus.
„Stimmt.“
Aber keiner von beiden macht Anstalten, aufzustehen und gehen zu wollen. Stattdessen genießen sie ihre Zigaretten im warmen Spätsommerregen. Aus einem zögerlichen Tröpfeln wird jedoch schnell ein rauschender, sturzbachartiger Regenschauer. Erschrocken stellen sie sich auf und drücken sich mit dem Rücken fest an die Säulen. Innerhalb von Sekunden sind sie klatschnass. Dünner T-Shirt-Stoff saugt sich an zuckende Bauch- und Brustmuskeln. Guy starrt ihn verwirrt an. Und dann können sie beide nur noch darüber lachen.
*
Seinen Sartre kann er jetzt auswringen, denkt Guy, als er bibbernd in der Bahn Richtung Neuilly-sur-Seine sitzt. Ein paar Mitreisende haben mitleidige Blicke für ihn übrig und eine ältere Dame will ihm ihren Knirps überlassen.
„Lassen Sie nur, Sie haben ihn nötiger als ich. Bei mir ist es ja schon zu spät, wie Sie sehen können.“
Am nächsten Tag wacht er mit einem Niesen und Schüttelfrost auf. Seine Mutter wirft erbost die Tür zu. Heute keine Schule für ihn. Und es ist das erste Mal, dass er sich nicht darüber freuen kann.
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Huhu, hier noch eine Anmerkung zur Geschichte: Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Story hier zu früh oder zu spät bin, aber ich werde sie jetzt einfach mal im Ganzen posten. Habe sie seit letzten Mai kapitelweise auf AO3 hochgeladen. Es war so eine Art Hass-Liebe. Bin aber mittlerweile recht versönlich gestimmt und würde sie jetzt einfach mal all jenen hier anbieten, die Lust auf eine gepflegte Schul AU an einem verschneiten Lockdown-Wochenende haben. Wobei AU bei Daft Punk auch nur so halb zutrifft, wenn man bedenkt, dass sie sich von der Schule kennen. Habe mir also versucht vorzustellen, wie es in etwa hätte ablaufen können, und dem Ganzen einen fiktiven Rahmen verpasst.
Playlist: https://open.spotify.com/playlist/7wGPz1guoQiqDeA51qtqim?si=VXCCqsB7RTKHz1ykNfISAw&utm_source=copy-link