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25. Dezember 1939 - The Speech of His Majesty

Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Historisch / P16 / Gen
Collins Farrier Fortis Leader
02.01.2021
02.01.2021
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Es heißt: „Je schlechter das Essen, desto besser die Armee.“ Wenn das stimmt, dann würde die Royal Air Force ganz offiziell und unangefochten zur Elite aller existierenden britischen Truppenverbände gehören – so scherzen zumindest einige Kameraden. Und wahrscheinlich scherzen in diesen Tagen sämtliche Armeen dieser Welt auf diese Weise über sich selbst. Vielleicht ist die Menschheit doch noch nicht ganz verloren.

Farrier verlässt verbissen schweigend und durchaus energischer als üblich die Kantine. Er tritt hinaus in die eisige Kälte und tastet in seiner Hosentasche nach dem dort stets vorrätigen Päckchen mit Zigaretten. Sekunden später glimmt ein leuchtender Punkt in der Dämmerung auf und Farrier atmet tief und lange den Rauch des ersten Zugs aus. Mit der Zigarette kehrt allmählich die kurzzeitig ins Wanken geratene innere Haltung wieder zurück.
Er ist beileibe nicht satt geworden, zumal das Essen heute, dem weihnachtlichen Anlass angemessen, sogar deutlich genießbarer gewesen ist als üblich. An den Weihnachtsfeiertagen darf es gern auch mal ein bisschen mehr sein. Entsprechend sind die Kameraden gut aufgelegt, redselig und ausgelassen. Für manch einen ist das zuviel des Guten. Auch jemand wie Farrier erreicht dann schnell seine Grenzen. Und er kommuniziert sie auf seine Weise. In diesem Fall entzieht er sich den Kommentaren seiner Kameraden einfach durch bewusst herbeigeführte Abwesenheit. Andere würden es Rückzug  nennen.
Üblicherweise beobachtet Farrier zwar zunächst ruhig und stoisch Gespräche und Situationen um sich herum, und er mischt sich erst dann ein, wenn er es für geboten hält – meistens wenn dumme oder unüberlegte Aussagen nicht ohne Kommentar stehen gelassen werden sollten. Mangel an Disziplin verurteilt er nur im unmittelbaren Einsatz scharf.
Einen scharfen Disput, dem er sonst nicht abgeneigt ist, ist ihm der Meinungsaustausch soeben in der überfüllten Kantine dann doch nicht wert gewesen. Andererseits aber war die Debatte auch nicht zu gering genug, um sie zu erdulden und  über sich ergehen zu lassen. Manche bezeichnen das fälschlicherweise als Größe,  findet Farrier. Er duldet generell wenig, was außerhalb seiner Komfortzone liegt oder seinem persönlichen Ehrgefühl zu nahe kommt.

Aus irgendeinem Grund will es die Tradition so, dass an diesem besonderen Tag quasi alle anwesenden Ränge des Stützpunktes das Essen gemeinsam in der großräumigen Kantine einnehmen. Und aus irgendeinem Grund ist Farriers Bruchlandung von vergangener Woche zum Thema beim heutigen Weihnachtsessen geworden:  
Die Stimmung ist gelöst, entsprechend auch die Gespräche und die Wortwahl. Mancher Squadron Leader hört gewohnheitsmäßig bei diesem Essen mit Absicht nicht so genau hin.
„Mit nem Fallschirm wäre das besser ausgegangen“, meint irgendwann Pilot Officer Cassidy einen Tisch hinter Farrier und Collins absichtlich laut und ziemlich großspurig.
Farrier wartet gar nicht erst ab, bis sich daraus eine Diskussion entwickelt. Sofort dreht er sich zu Cassidy um und stellt klar: „Die Anzeige wäre selbst mit nem verdammten Falllappen und fünf Sicherheitsschirmchen an Bord defekt gewesen, Klugscheißer. Absolut nichts wäre dann besser ausgegangen!"
„Ihre Spitfire ist ja nicht nur wegen der durchgedrehten Anzeige abgetaucht“, widerspricht Cassidy mit einem gewissen Wagemut und hält anschließend Farriers Blick stand. Ziemlich lange sogar, denn Farrier wird ungern belehrt und entsprechend intensiv behält er Cassidy fixiert. Cassidy räuspert sich vernehmlich Mut zu und beendet dann laut seinen Gedankengang: „Am Motor hat's gelegen. Da war nichts mehr zu gewinnen. Und spätestens dann sollte man die sinkende –“
„Das Cockpit im Flug verlassen?" Drei Plätze weiter mischt sich nun Pilot Officer Gordon mit ein und pflichtet damit Farrier bei: "Das hat wenig Ehre!"
Flight Lieutenant Higgins, der Sitznachbar des benannten Klugscheißers, legt jedoch amüsiert nach: „Aber Farrier hätte sich dann das Feuerwerk schön entspannt von oben anschauen können.“ Mit einer Hand und der Handfläche nach unten gerichtet macht er hoch über seinem Teller eine hin und her gleitende Bewegung, wie der Sinkflug einer Feder oder eben eines Fallschirms, die schließlich auf der Tischplatte endet.
„Und die Spitfire wäre stattdessen führungslos in die Kantine gerauscht, oder wie?“, hält Collins mit einer seiner recht seltenen Wortmeldungen dagegen, während er sich noch eine weitere Portion Kartoffeln auf den Teller schaufelt. Farrier deutet zustimmend mit dem Finger erst auf seinen Kameraden und dann in Richtung Cassidy: „Im Grunde hab ich euch das Weihnachtsessen gerettet.“
„Oha, bin ich Ihnen jetzt was schuldig?“ kommt es nur lachend von Cassidy zurück. Er fühlt sich offenbar ziemlich sicher mit Flight Lieutenant Higgins an seiner Seite.
„Gewöhnen Sie sich dran“, erwidert Farrier nur knapp und Cassidy kann sich aussuchen, ob der leicht drohende Unterton gewollt ist oder nicht. Dann wendet Farrier sich wieder seinem Essen zu. Doch man gönnt ihm keine Ruhe. „Aber Lieutenant, Sie wären beinahe selbst gegrillt worden!“, ruft Flying Officer Holten, auf zwei Uhr sitzend, in die Runde.
Collins verschluckt sich in diesem Moment, zufällig oder nicht, an seinem Essen und spuckt, nicht gerade nach der Art eines Gentlemans, laut hustend und keuchend einen Teil davon neben seinen Teller.
„Barbecue alà Farrier schmeckt wohl nicht jedem!“ Das ist nochmal Holten. Neben ihm prustet Pilot Officer Layton in seinen Becher.
Ringsum lachen alle.

Collins hat sich inzwischen wieder beruhigt und stochert zunehmend ungehalten in seinem Essen herum. Er überlegt, wie er Farrier weiter aus dieser Situation raushelfen könnte – doch die richtigen Worte wollen ihm nicht so schnell einfallen. Bisweilen ist es wirklich erstaunlich, wie sicher und reaktionsschnell Collins im Cockpit ist, während er manchmal etwas mehr Zeit braucht, um auch verbal seine Position zu beziehen – obwohl er sie innerlich längst gefunden hat. Ist der Kurs dann jedoch eingeschlagen, dann kann Collins seinen Gegenüber in Grund und Boden reden. Aus selbst angezettelten hitzigen Diskussionen ist Collins bisher noch immer als Sieger hervorgegangen.
Doch all das zählt gerade nichts.
Und außerdem kommt Farrier ihm ohnehin zuvor, denn er erhebt sich und erklärt in das allgemeine Gelächter hinein: „Man wird mich niemals dazu bringen aus einem funktionstüchtigen Flugzeug zu springen!“ *  Und funktionstüchtig sind seiner Auffassung nach alle Flugzeuge die noch lenkbar und selbst bei versagendem Motor noch zum Gleitflug fähig sind, wenn sie nicht gerade kurz davor stehen in tausend Einzelteile zu explodieren.
Dann schnappt er sich seine Fliegerjacke, dreht sich um und verlässt die Kantine.
Higgins erhebt mit mühsam beherrschter Ernsthaftigkeit sein Glas und ruft melodramatisch: „Seine Majestät hat gesprochen!“ Erneut bricht schallendes Gelächter aus und begleitet Farrier bis nach draußen. In einer Ecke der Kantine wird mit Inbrunst God save the King  angestimmt. Die von allen allgemein erwartete Rede des Königs ist zwar zeitlich erst auf fünf Uhr festgelegt, aber Higgins lässt ungern Vorlagen wie diese aus.
Die Stimmung bleibt ausgelassen.

Collins indes säubert sorgfältig sein Besteck am Tellerrand und legt es dort ab, dann sortiert er auf gleiche Weise Farriers Besteck. Mit einem kurzen prüfenden Blick auf Farriers Teller schaufelt er dort schließlich noch eine Kelle gebackene Kartoffeln auf. Dann richtet er seine Uniform, zieht sich die Jacke über und ohne ein weiteres Wort, in jeder Hand einen Teller balancierend, verlässt er einige Minuten später ebenfalls die Kantine.

. . .

Der gefrorene Boden knirscht unter Farriers Stiefeln, als er sich einige Schritte von der Kantine entfernt. Obwohl es erst Nachmittag ist wird es bereits dunkel. Es ist seit Tagen nicht wirklich hell geworden. Was den als Kerzenhalter umfunktionierten leeren Gläsern und Flaschen und der festlichen Glühbirnenbeleuchtung in der Mess Hall und in der Kantine noch mehr Wirkung gibt. Weihnachten ist das Fest des Lichts. Auch in diesen dunklen Zeiten.

Farrier blickt hinüber, wo im letzten schwachen Schein der Dämmerung der Hangar und das nahe Rollfeld zu sehen sind. Heute und morgen werden von dort aus nur bei Alarm das Brummen der Motoren und das so vertraut ansteigende und hackende Geräusch der Rotorblätter zu hören sein.

Im Moment begrüßt Farrier die Ruhe um sich herum. Die frische Luft kühlt sein erhitztes Gemüt schnell und zuverlässig ab. Er wird hier draußen in der Kälte ohnehin nicht lange allein bleiben. Dafür kennt er Flying Officer Collins und Fortis Leader Avery inzwischen schon zu gut. Avery hat sich zwar absolut nichts anmerken lassen, als der wohlgemeinte Spott der Kameraden vorhin ausgerechnet Farrier getroffen hat, aber Farrier kennt Averys Meinung auch so.
Zudem meint Farrier zu wissen, dass es Cassidy und Higgins und den anderen nicht nur um die Fallschirme gegangen sein mag: Vielmehr hätte er neulich das erleichterte und respektvolle Schulterklopfen der Kameraden nach überstandener Bruchlandung ertragen sollen, anstatt sich ihnen und der medizinischen Hilfe energisch zu entziehen und seine Ruhe zu suchen. So etwas rächt sich bisweilen. Manch einer empfindet das als unkameradschaftlich, auch wenn es nicht so gemeint ist.

Vor einigen Tagen war aus bisher ungeklärten Gründen mitten im routinierten Übungsmanöver, bei zunehmend schwieriger Sicht, die Vakuumsverdichtung für das Blind Flying Panel ausgefallen und Farrier hatte im wahrsten Sinne nicht mehr gewusst wo oben und unten gewesen war. Ohne die korrekte Anzeige war es kaum möglich gewesen die tatsächliche Lage der Spitfire im Luftraum zu beurteilen. Lediglich die Horizontlinie bot zwar Hilfe, verschwand aber immer wieder im Dunstkreis der Witterungsverhältnisse. Collins war Farrier sofort per Funk beigesprungen, mit den eigenen Positionswerten als Behelf, während er seine Spitfire parallel auf Höhe von Farriers Maschine gebracht hatte. Auch Avery hatte seinen Kurs und damit die Formation geändert und versucht aus angeglichener und durchaus riskanter Perspektive eine zweite Orientierungsstütze zu sein. Gemeinsam waren sie zum Sinkflug übergegangen. Unter diesen Bedingungen und nur auf Sicht von außen war die Spitfire bei aller Routine dennoch nicht gut zu steuern gewesen. Der Motor hatte begonnen zu stottern, und das war das eigentliche Problem gewesen – deutlich zuviel Fuß über dem Erdboden. Farriers Notlandung, nicht unweit des Stützpunkts, war nicht unbedingt glorreich verlaufen, sie hatte sich sogar ziemlich dramatisch entwickelt. Denn der Mensch hat zwar schon vor Jahrtausenden das Feuer nutzbar gemacht, doch eine gewisse Nähe vermeidet er bis heute. Und auch Farrier hatte instinktiv so schnell wie möglich versucht seiner in Flammen aufgehenden Spitfire am Boden zu entkommen. Er hatte Ruhe bewahrt und sich nicht in seinem Gurt verheddert wie noch bei den Sicherheitsübungen zu Beginn seiner Ausbildung, wenn man sich mit den jungen Rekruten bisweilen den zweifelhaften „Spaß“ erlaubte, die Gurte mit Absicht zu verklemmen oder zu verdrehen. Nerven bewahren will schließlich gelernt sein.
Farrier hatte Abstand zwischen sich und die immer höher schlagenden Flammen gebracht und war auf diesem Weg Collins direkt in die Arme gestolpert, der ihm entgegen gestürmt kam, noch vor den anderen alarmierten Kameraden, die vom Hangar her herüber eilten. Collins hatte ihn so weit von der brennenden Spitfire weggezerrt, bis er die Hitze im Rücken kaum noch wahrnahm. Ein herzhafter Hustenanfall hatte den Rauch aus der Lunge gepresst und Farrier war wieder schnell beisammen gewesen.
Im Nachhinein betrachtet hatte Farrier Collins noch nie so schnell rennen gesehen. Im Gegensatz zu Avery hatte Collins einen halsbrecherischen Sturzflug hingelegt, um nahezu zeitgleich mit Farriers Maschine den Boden zu erreichen und ihm aus dem Cockpit zu helfen, wenn es nötig sein sollte. Sie alle hatten schon genügend Unfälle und Tragödien bei Übungsflügen und -manövern erlebt oder erzählt bekommen und jeder wusste: Ein Pilot war erst dann wirklich sicher, wenn er entweder ein entsprechendes Zeichen gab oder ein zweiter Pilot dies bezeugen konnte. Und Collins wollte absolut sicher gehen, dass Farrier sich entweder aus eigener Kraft befreien konnte oder schnell genug Hilfe erhielt.

. . .

Ein gewisser Beistand kommt für Farrier auch jetzt in Sicht, als sich ein Teller von Steuerbord in sein Blickfeld schiebt. Collins hält ihm mit einem knappen Nicken den Teller hin und Farrier greift schweigend zu. Sie stehen nebeneinander, blicken beide hinüber zum schwach beleuchteten Hangar und nehmen ihre Portionen in Angriff. Kurz darauf gesellt sich auch Avery mit seinem Teller bewaffnet zu ihnen, bleibt links von Farrier stehen, und isst kommentarlos und solidarisch mit ihnen mit.
So vergehen die nächsten Minuten.
Farriers Teller ist zuerst geleert.
Schließlich stellt auch Avery seinen leeren Teller auf dem Boden ab. Er angelt mit klammen Fingern eine leicht ramponierte Zigarette aus der Jackentasche, Farrier tut es ihm nach. Und während der nächsten Minuten rauchen die beiden helle Wolken in den dunklen Himmel. Schließlich reibt sich Avery die kalten Hände warm und murmelt: „Hier draußen vor dem Palast frischt es mehr und mehr auf.“
Collins hält inne, er blickt von seiner mit Kartoffeln beladenen Gabel auf, schaut an Farrier vorbei zu Avery hinüber und meint: „Ein Fallschirm wäre immerhin eine gute Decke, wenn er auch sonst zu absolut nichts  taugt.“
Farrier hebt eine Augenbraue und blickt Collins von der Seite an: „Überlassen Sie das Fachsimpeln mal besser uns. Essen Sie Ihre Kartoffeln. So schnell gibt’s das nicht wieder … sind geräuchert, alà Farrier.“  Er betont das so wie vorhin  Flying Officer Holten und verzieht kurz den Mund dabei.
Avery fängt an zu lachen. Er klopft Farrier herzlich auf den Rücken. Dieser zuckt mit den Schultern, grinst dann jedoch ebenfalls vor sich hin.
Collins neben ihm ist ebenfalls sichtlich amüsiert und isst zufrieden seinen Teller leer.

Schließlich zieht Farrier seine Armbanduhr aus der Hosentasche.
„Hören wir uns Seine Majestät an“, meint Avery zustimmend, mit Blick auf die eigene Armbanduhr, und er wendet sich ab. Die Tradition der königlichen Weihnachtsansprache über den Rundfunk im nunmehr siebten Jahr sollte man aus triftigeren Gründen verpassen als lediglich einem Stimmungstief. Zumal dies nun die erste Weihnachtsansprache in der Amtszeit von König Georg VI sein wird. Innerhalb von drei Monaten wird der König zum zweiten Mal zu seinem Volk sprechen. Und auch diese zweite Ansprache wird angesichts der politischen Lage eine Besondere sein und sicherlich nicht nur das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel zelebrieren.

. . .

Es ist kurz vor fünf Uhr.
Sie sitzen dicht zusammengedrängt rund um die  Röhrenempfänger in der Mess Hall und lauschen der Übertragung. Die Ränge sind nicht mehr ganz so gemischt wie noch in der Kantine – automatisch haben sich etwa die Wing Commander um eines der Geräte gesetzt, ebenso wie in einer anderen Ecke sich eine Gruppe von Pilot Officers versammelt hat. Die Squadron Leader nehmen das nicht ganz so genau, sie haben sich mit den Flying Officers und Flight  Lieutenants gemeinsam um einen Empfänger postiert. Da die Mess Hall naturgemäß nicht alle Anwesenden des Stützpunkts mit einem Mal aufnehmen kann haben sich auch außerhalb kleine Gruppen gebildet, je nachdem wie der knappe Vorrat an Röhrenempfängern ein Entzerren zugelassen hat.
Squadron Leader Avery hat sich mit seiner charmanten aber dennoch sehr bestimmten Art als einer der Ersten ein Empfangsgerät sichern können und ist damit sofort in die Schlafbaracke abgezogen. Ein Gefolge von vierzehn Mann hinter sich herziehend.

Das Gerät steht auf dem Boden zwischen zwei Stockbetten. Es rauscht und knistert in den Lautsprechern, doch insgesamt ist der Empfang zumindest verständlich. Ringsum auf den Matratzen haben es sich die Männer dicht an dicht bequem gemacht und verfolgen großteils schweigend die Übertragung. Die Jacken und Mäntel haben sie an die Bettpfosten gehängt oder sie verwenden sie als improvisierte Decken und Kopfkissen. Collins liegt quer und ein wenig zusammengerollt im oberen Bett halb auf dem Bauch, die Beine angewinkelt gegen die Wand gestützt und die Jacke als Kopfkissen auf den verschränkten Unterarmen. Er hat den Kopf leicht zur Seite geneigt, das rechte Ohr in Richtung Boden gerichtet. Abgesehen von einem Alarm würde ihn in diesem Moment absolut nichts aus der Ruhe bringen. Neben ihm sitzt Farrier etwas entspannter mit dem Rücken gegen die gleiche Wand gelehnt und dreht sich langsam zwei oder drei neue Zigaretten aus sorgfältig aufbewahrten und unbrauchbar gewordenen Exemplaren, während er aufmerksam der Rede lauscht. Ebenfalls wie die Kameraden um sie herum. Avery sitzt unten auf dem Boden direkt am Empfänger. Er hat die Unterarme auf die Knie gelegt und starrt auf seine verschmutzten Stiefel.
Neun Minuten lang.
So lange spricht König Georg VI zu seinem Volk.
Er nimmt sich Zeit, er braucht bisweilen lange um ein einen Satz gut und verständlich formuliert auszudrücken. Diese Art zu Reden ist seinem Stottern geschuldet. Sie alle kennen dies bereits aus der September-Rede zum Kriegseintritt. Und sie alle kümmert das Stottern nicht in diesem Moment, es sind neben dem Sprecher allein die Worte, die wichtig sind.

„Dieses Fest, welches wir als Weihnachten kennen, ist in diesen Zeiten einmal mehr ein Fest des Friedens und der Heimat. Bei allen freien Völkern bildet der Frieden das Fundament ihrer Gesellschaft und allein dies gibt jeder Heimat ihre Sicherheit ...“ **

So beginnt der König Schlag fünf Uhr seine Ansprache. Mehrmals während der nun folgenden Rede legt Avery kurz den Zeigefinger Ruhe gebietend an den Mund, wenn ein leises Raunen ringsum anhebt.

„ ... an jeden Einzelnen dieser großartigen Flotte sende ich Worte der Dankbarkeit, in meinem eigenen Namen genauso wie im Namen des Volkes. Die gleiche Botschaft richte ich an die furchtlose Air Force, die, zusammen mit der Navy, den sicheren Schutzschild für uns und unsere Heimat bildet.“ ***

Avery nickt unmerklich und als er kurz aufblickt sieht er vor allem in den Gesichtern der noch sehr jungen Piloten, im unteren Bett ihm gegenüber, einen gewissen Stolz. Einer der Piloten lächelt sogar flüchtig. Ein Schutzschild, so sicher er auch erscheinen mag, kann zwar zerbrechen, doch selbst dann werden sie weiter ihr Land verteidigen und in Formation bleiben, solange auch nur eine einzige Flugmaschine sich zu erheben vermag. Die deutsche Luftwaffe ist ihnen zahlenmäßig überlegen, das ist intern kein Geheimnis. Ein gewisser Stolz kann da nicht zum Schaden der Royal Air Force sein. Und zumindest Avery wird es den Piloten unter seinem Kommando schon nahe legen, was der geringe Unterschied zwischen angemessenem Stolz und fatalem Übereifer sein kann.

"Und an alle, die sich derzeit darauf vorbereiten unserem Land zu dienen - sei es zu Wasser, zu Lande oder in der Luft - entsende ich meinen Gruß und meine Achtung." ****

Der junge Mann neben Farrier hält kurz inne und legt dann flüchtig salutierend die Hand an die Schläfe und er meint diesen Gruß an den König durchaus ernst. Ehre wem Ehre gebührt. Einige andere ringsum tun es ihm fast im selben Moment gleich. Farrier nickt nur zustimmend. Die Rede des Königs ist erstaunlich persönlich und verbindend, ohne dass die britische Contenance dabei verloren geht.

"Ich bin aus tiefem Herzen überzeugt, dass der Grund, der mein Volk und unsere tapferen und treuen Verbündeten zusammenhält, die christliche Zivilisation ist. Auf keiner anderen Grundlage kann eine ordentliche und wahre Zivilisation erbaut sein." *****

„Scheiß Nazis.“, murmelt jemand dumpf vom unteren Bett her. Doch Avery bringt ihn mit einer energischen Handgeste zum Schweigen. Der junge Mann soll sich seine Energie sparen. Mit lediglich Beschimpfungen ist dem Teufel schließlich auch nicht beizukommen.

"Ein neues Jahr steht bevor. Wir können nicht sagen was es uns bringen wird. Wenn es uns Frieden bringen sollte – wie dankbar wären wir dafür. Wenn es uns weiterhin Kampf und Verderben bringen sollte, so werden wir unverdrossen ausharren und dies ertragen."******

Diese Worte ernten allgemeines Nicken. Und unwillkürlich blickt Avery zu Collins und Farrier hoch. Letzterer hat sich inzwischen nach vorne gelehnt und blickt an seinen Füßen vorbei hinunter zum Empfänger, als würde er aus seinem Cockpit heraus einen Fixpunkt am Boden sichten. Collins neben ihm hebt auf Averys Blick hin bemüht zuversichtlich und etwas abwesend die Mundwinkel, während er weiter aufmerksam die Rede verfolgt. Avery nickt zu ihm hinauf und blickt dann zu Farrier, dieser macht eine knappe zustimmende Handbewegung. Sie werden sich nicht geschlagen geben. Niemals.

"Ich möchte mit einem Zitat enden:

Ich sprach zu dem Mann, der am Tore zu diesem Jahr stand: 'Gebt mir ein Licht, sodass ich das Ungewisse, welches vor mir liegt, sicher betreten kann.' Und er antwortete: 'Geh hinaus in die Dunkelheit und lege deine Hand in die Hand Gottes. Das wird dir mehr helfen als ein Licht, und es wird sicherer für dich sein als ein dir bekannter Weg.'

Möge die Hand des Allmächtigen uns alle leiten und uns Halt geben."
*******


Avery wartet kurz ab, bis die Lautsprecher wirklich nur noch ein diffuses Rauschen und Knistern übertragen und schaltet den Röhrenempfänger dann ab. In der daraufhin einsetzenden Stille meint ein junger Mann namens Hubacek, während er seine Jacke zusammensucht und dann ein Zigarettenpäckchen in die Höhe hält: „Ich entzünde jetzt draußen erstmal ein ganz anderes Licht. Kommt jemand mit?“

Fünf Minuten später stehen sie alle draußen und die hier und da aufglimmenden Zigaretten sind leuchtende Punkte in der Dunkelheit.
Aus der Mess Hall strömen allmählich auch die anderen hinaus auf den Vorplatz.
Gedämpft entstehen Gespräche. Manche diskutieren die Rede, andere sind gedanklich bereits beim nächsten Einsatz. Illusionen macht sich niemand. Es wird ein langer Weg werden bis zum Frieden, auf welche Weise er auch immer erreicht werden mag.
Vielleicht werden noch einige Weihnachtsansprachen des Königs währenddessen ins Land ziehen.
Vielleicht wird am Ende ihr Land nicht mehr dasselbe sein.

Dezente Mengen von wahlweise heißem Whisky, Rum oder Brandy aus der Kantine machen die Runde.

Collins, Farrier und Avery stehen beieinander und rauchen schweigend. Sie blicken sich ab und zu an und schließlich hebt Avery sein Glas und murmelt ungewohnt feierlich: „Auf dass wir in einem Jahr hier an dieser Stelle wieder beisammen stehen mögen. Unversehrt und in weiterhin fester Überzeugung das Richtige und das für uns Möglichste getan zu haben.“

Drei Gläser stoßen leise klirrend zusammen.
Der Dampf des heißen Alkohols und der Rauch der Zigaretten vermischen sich in der eiskalten Luft.






ENDE

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* "You are never going to get me to jump out of a serviceable aircraft!"
Dieses Zitat rund um die Fallschirmdebatte und -entwicklung während der Kriegsjahre hab ich in folgendem Dokument (auf Seite 34) gefunden: https://www.rafmuseum.org.uk/documents/research/RAF-Historical-Society-Journals/Journal-37-Seminar-Flight%20Safety.pdf

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Hier die Originalauszüge der Weihnachtsansprache zum Nachlesen, die ich versucht habe im laufenden Text zu übersetzen:

** "The festival which we know as Christmas is above all the festival of peace and of the home. Among all free peoples the love of peace is profound, for this alone gives security to the home ..."

*** "… To every one in this great Fleet I send a message of gratitude and greeting, from myself as from all my peoples. The same message I send to the gallant Air Force which, in co-operation with the Navy, is our sure shield of defence."

**** "And to all who are preparing themselves to serve their country, on sea or land or in the air, I send my greeting at this time."

***** "I believe from my heart that the cause which binds together my peoples and our gallant and faithful Allies is the cause of Christian civilisation. On no other basis can a true civilisation be built."

****** "A new year is at hand. We cannot tell what it will bring. If it brings peace, how thankful we shall all be. If it brings us continued struggle we shall remain undaunted.“

******* "... in my closing words, I would like to say to you: 'I said to the man who stood at the Gate of the Year, "Give me a light that I may tread safely into the unknown." And he replied, "Go out into the darkness, and put your hand into the Hand of God. That shall be to you better than light, and safer than a known way.
May that Almighty Hand guide and uphold us all."

Die vollständige Rede von König Georg VI vom 25. Dezember 1939 hier im Original (Transkription unter dem Video):
https://www.youtube.com/watch?v=a4ZpQ1s5tR8

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Normalerweise wird die Weihnachtsrede der Queen heutzutage zwar um 3pm übertragen, aber ich habe mich für das Jahr 1939 mal auf 5 pm verlegt (ich hab keine genauen Angaben gefunden), das passte irgendwie besser zum Fünf-Uhr-Tee und der war damals vielleicht noch "heiliger" als heutzutage und ein Grund zum Zusammensitzen in der Familie und damit auch vor den Radiogeräten

Ich habe mir die Freiheit herausgenommen dem Stützpunkt einen gewissen Vorrat an Röhrenempfängern zuzugestehen. Außerdem habe ich absolut keine Ahnung, wie damals die Feiertage auf so einem Stützpunkt abgelaufen sind, daher sind bspw. das Weihnachtsessen oder auch die Ausnahme von der Rang- und Sitzordnung in der überfüllten Kantine eben reine "fanfiktion" ;-)

.....

EUCH ALLEN EIN GESUNDES, FRIEDLICHES UND (ich wage nicht zu sagen "besseres") GUTES JAHR 2021
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