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Lindenstraße 2.0

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Familie / P6 / Gen
Gabi Zenker Helga Beimer Iffi Zenker Klaus Beimer Tanja Schildknecht Vasily Sarikakis
13.12.2020
18.12.2020
16
46.812
3
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13.12.2020 2.814
 
Was bisher geschah:
Beate Flöter verlässt im Februar 2002 die Lindenstrasse, nachdem sie den Alltag ihrer Freundinnen Urszula und Tanja monatelang ins Internet gestellt hat, um eine kleine aber illustre Fangemeinde damit zu unterhalten. 18 Jahre lang hat niemand, nicht einmal Beates Bruder Carsten, etwas von der Verstoßenen gehört oder gesehen. Doch Beate ist mittlerweile Mutter einer 13-jährigen Tochter geworden und plant einen neuen Lebensentwurf, der sie ausgerechnet in die ihr vertraute Lindenstraße führt. Doch wie werden die Menschen reagieren, bei denen Beate vor so vielen Jahren nichts als verbrannte Erde hinterlassen hat?

Es war noch recht früh am Morgen, als der Linienbus an der Haltestelle Lindenstraße hielt und eine alte Bekannte förmlich auszuspucken schien. Mit vollgepacktem Koffer und einem klobigen Rucksack auf ihrem Rücken sowie einem jungen Mädchen im Schlepptau, tat Beate nach über 18 Jahren ihren ersten Fuß wieder auf die Lindenstraße. Es schien sich nichts verändert zu haben, so wirkte es auf die Rückkehrerin zumindest auf den ersten Blick. Selbst das „Akropolis“ existierte noch, was Beate ein zufriedenes Lächeln entlockte. „Und hier wolltest du unbedingt hin, Mutter?“, nörgelte das Mädchen skeptisch und fuhr sich durch ihr kurz geschnittenes braunes Haar, während sie ihre Mutter genervt anblickte. „Jetzt reiß dich zusammen, Elli,“ motzte Beate gewohnt schnippig zurück. „Beate, bist du es wirklich?“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Biergarten des griechischen Lokals, die ihr nur zu vertraut war. Beates Exmann Vasily stand unerwartet vor ihr und ließ seine Arbeit ruhen, obwohl dieser eigentlich den Boden des Biergartens sauber fegen beabsichtigte. „Vasily, Mensch du bist hier auch nur mit den Füßen zuerst rauszubekommen,“ scherzte Beate und wollte ihrem Exgatten schon freudestrahlend um den Hals fallen, doch dessen Arm schnellte plötzlich als Abwehrhaltung in die Höhe. „Schonmal was von Corona gehört? Was führt dich eigentlich hierher?“ „Ohje, immer noch der stolze und verbohrte Grieche, was? Ich wollte meinem Brüderchen einen Besuch abstatten, wenn du gestattest. Vasily, es ist so viel Zeit vergangen. Können wir nicht ein bisschen freundlicher miteinander umgehen?“ Beates Bitte ließen den Griechen völlig unbeeindruckt. Nur zu gut konnte er sich noch an die chaotische und rücksichtslose Art seiner Ex-Frau entsinnen „Wie du bereits erkannt hast, ändern sich manche Dinge eben nie.“ Nun brachte sich Elli in die Unterhaltung ein, indem sie ihrer Mutter frech in den Oberarm kniff. „Das tut weh“, fauchte Beate ihre Tochter forsch an. „Können wir weiter oder willst du noch ewig Smalltalk mit deinem Ex halten, Mutter?“ „Mutter?“, horchte Vasily nun interessiert auf. „Sag mir nicht, du hast tatsächlich eine Familie gegründet.“ „Wie du siehst, ändern sich die Dinge eben doch in fast 20 Jahren. Das ist meine 13-jährige Tochter Elli. Elli, das ist mein ehrenwerter Exgatte.“ „Das hab ich schon gecheckt,“ antwortete Elli und musterte den Griechen von oben bis unten. „Allerdings sah er auf deinen alten Bildern viel jünger aus,“ setzte sie eine freche Spitze oben drauf und schnappte sich den Rollkoffer ihrer Mutter, um ein Vorankommen zu gewährleisten. „Also dann, Vasily, dann kehr mal weiter dein Lokal, welches du derzeit ohnehin nicht betreiben darfst. Ich bin hoffentlich noch ein paar Tage hier, falls du vielleicht doch noch die Absicht auf eine normale Unterhaltung entwickeln solltest.“ Nach diesen Worten liefen Beate und ihre Tochter in Richtung des Hauses Lindenstrasse 3, während Vasily sichtlich geschockt den Beiden hinterher blickte. „Elli,“ wiederholte er flüsternd den Namen von Beates Tochter und musste automatisch an seine verstorbene Schwiegermutter Elisabeth denken. Nun fühlte er sich beinahe ein bisschen schäbig, dass er Beate einen derart unterkühlten Empfang bereitet hatte und griff nur langsam wieder zu seinem Kehrbesen.

„Beate?“, rief Carsten mit einem gellenden Schrei heraus und umarmte seine verschollen geglaubte Schwester freudestrahlend, so dass sie kurzzeitig den Boden unter den Füßen verlor. „Ich traue meinen eigenen Augen nicht. Wo hast du nur all die Jahre gesteckt?“ „Wenn du mich wieder auf den Boden lässt, erzähle ich dir alles Brüderchen. Aber zuerst möchte ich dir deine Nichte vorstellen. Das ist Elli.“ Genau diese schaute wie auf Kommando um die Ecke und reichte ihrem Onkel die Hand. Dieser ließ es sich jedoch nicht nehmen, auch seine Nichte in die Arme zu schließen, was dieser sichtlich missfiel. „Du hast eine Tochter? Wie alt bist du denn?“ „Ich bin 13 und du?“ „Frag lieber nicht,“ scherzte Beate lächelnd und wies anschließend auf ihr Gepäck. „Wollen wir den Rest des Wiedersehens vielleicht in deiner Wohnung zelebrieren?“ „Aber ja, entschuldige,“ antwortete Carsten noch immer völlig von den Socken und ließ seine Familienangehörigen eintreten. Während Elli recht schnell Interesse an Carstens Bücherregal gefunden hatte, kochte er für seine Schwester und sich einen frischen Kaffee auf, um dabei das unerwartete Wiedersehen aufzuarbeiten. Schließlich saßen sich beide Geschwister, die 18 Jahre lang nichts voneinander gehört hatten, in der Küche gegenüber und konnten ihr Glück kaum in Worte fassen. „Bist du noch mit Käthe zusammen?“ begann Beate nun die muntere Fragerunde und brauchte eine Antwort gar nicht abzuwarten. Carstens trauriger Blick verriet ihr alles, was sie wissen musste. „Wir sind seit beinahe drei Jahren nicht mehr beieinander. Es hat sich wirklich viel verändert, Beate. Ludwig ist gestorben.“ Beate nickte nun auch sichtlich gerührt und blickte traurig auf ihren Kaffee-Pott. „Ich habe es bereits gehört. Leider kommt meine Rückkehr ein paar Monate zu spät. Obwohl der gute alte Doktor eigentlich ein hochbetagtes Alter erreicht hat.“ „Was unserer Mutter leider nicht beschienen war. Ach Beate, warum tauchst du erst jetzt wieder auf?“ „Erinnerst du dich nicht mehr an meinen Abgang? Ich wurde förmlich aus der Lindenstrasse verbannt. Versteh mich nicht falsch, ich war wirklich ein rücksichtsloses Miststück und habe nichts anderes verdient.“ „Aber das ist doch alles längst vergessen und verziehen. Ich habe schon vor Jahren versucht dich ausfindig zu machen aber hatte keinen Erfolg. Wo hast du nur gesteckt und vor allem, wie bist du zu dieser bezaubernden Tochter gekommen?“ „Jetzt macht mal einen Punkt und redet nicht so geschwollen daher,“ ertönte es aus der Durchreiche hindurch, wo Elli die Konversation mit angehört hatte. Carsten lachte herzlich auf. „Ganz die Mutter, wie mir scheint.“ „Ja, sie wird hoffentlich nicht ganz so eine Kratzbürste wie ich es war. Aber jetzt sag mir endlich was mit dir los ist. Hattest du auch diesen schrecklichen Virus?“ Beate war Carstens kränklicher Anblick nicht entgangen und die Frage nach seinem gesundheitlichen Wohlbefinden brannte ihr schon die ganze Zeit unter den Nägeln. „Covid-19 hat damit nichts zu tun. Ich bin selbst schuld,“ winkte Carsten ab. „Vor 14 Jahren war ich schwer abhängig von Medikamenten und habe mir dabei meine Leberfunktionen ruiniert. Deswegen musste ich auch die Praxis aufgeben. Mein Körper ist einfach an seine Grenzen gestoßen.“ „Und was machst du jetzt?“ „Ich lebe von meinen Rücklagen, Erbschaften und meiner Arbeitsunfähigkeitsversicherung. Es geht mir den Umständen entsprechend gut, also mach dir bitte keine Sorgen. Was führt dich nach all den Jahren überhaupt wieder in diese Straße? Ich hatte bereits jegliche Hoffnung begraben, dich wiederzusehen.“ Beate atmete tief durch, ehe sie mit ihrem neuesten Lebensentwurf herausrückte. „Ich wollte wieder nach München ziehen, kannst du dir das vorstellen?“ Carsten griff nach den Händen seiner Schwester und drückte sie sanft. „Das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe. Ich helfe euch beiden, das ist ja wohl selbstverständlich.“ „Carsten, ich danke dir. Ich weiß, das ist nicht selbstverständlich, nach allem was geschehen ist. Natürlich muss ich nochmal nach Hamburg zurück, um alles zu klären, aber erstmal bleiben Elli und ich für einige Wochen in München. Gibt es derzeit überhaupt noch die Möglichkeit, in einem Hotel oder einer Pension Unterschlupf zu finden?“ Carsten lächelte seiner Schwester gutmütig entgegen und wies mit seinem Finger auf das nebenan befindliche Schlafzimmer. „Natürlich bleibt ihr hier bei mir, solange ihr wollt. Das ist doch keine Frage.“ Beate hatte auf dieses Angebot ihres Bruders gehofft und war sichtlich erleichtert.

Vasily hatte das Mittagsgeschäft im „Akropolis“ nur unter großer Anstrengung hinter sich gebracht und saß anschließend erschöpft an einem der Gästetische, wo er gedankenversunken auf zwei alte Fotografien blickte. Sunny schlich sich unbemerkt an ihn heran und jagte Vasily damit einen gewaltigen Schrecken ein. „Schwelgst du in Erinnerungen? Du warst heute schon den ganzen Tag über mit deinen Gedanken woanders.“ Vasily nickte schwermütig, während Roland sich nun auch zu den Beiden gesellte. „Na, was macht’n ihr für Gesichter? In der Küche gibt’s noch genuch zu tun, so isses nich. Die Außer-Haus Bestellungen häufen sich zuhauf, Mädels. Also ma ran an die Arbeit. Gegammelt wird später, kapiert?“ „Ich habe heute überraschend meine Exfrau wiedergesehen und mich ihr gegenüber unmöglich verhalten.“ „Welsche von deinen Exfrauen war’s denne?“, scherzte Roland und erhielt strafende Blicke, so dass er sich schnell wieder in seine Küche zurückzog. „Warte mal, das ist doch Beate,“ erkannte nun Sunny die Frau auf der alten Fotografie. „Tanja hat mir schon von ihr berichtet. Sie ist wieder hier?“ „Ja und ich habe sie gleich mit Vorurteilen überschüttet, ohne ihr wirklich eine Chance gegeben zu haben.“ „Ist sie etwa bei Carsten? Sicher bleibt sie eine Weile. Warum lädst du sie heute Abend nicht ins „Akropolis“ ein und suchst nochmal das Gespräch? Falls es eine Kontrolle gibt, dann stellst du sie einfach als neue Küchenkraft vor, die heute ihr Probearbeiten verrichtet.“ Sunny klopfte Vasily aufmunternd auf die Schulter, der sich von ihrer Idee animieren ließ und wenig später bei Carsten auftauchte, um eine völlig verblüffte Beate tatsächlich für den Abend in sein griechisches Wirtshaus einzuladen.

„Und du bist dir sicher, dass du mit Elli klarkommst?“, fragte Beate nochmals vorsichtshalber ihren Bruder, ehe sie am Abend das Haus verließ, um Vasilys Einladung Folge zu leisten. „Jetzt schieb endlich deinen Hintern aus der Wohnung. Wir kommen schon zurecht.“ „Ja, zieh du nur verbotener Weise um die Häuser,“ fügte Elli sarkastisch hinzu und zauberte ein herzliches Lachen auf die Gesichter der Erwachsenen. Beate hauchte den Beiden einen Handkuss zum Abschied entgegen. „Ich liebe euch,“ flüsterte sie mit emotionalem Unterton in ihrer Stimme und stieg die Treppen hinab. Es war fast wie in alten Zeiten, das dachte sie sich genau in diesem Moment. Nur die ehemalige Hausmeisterin Else Kling schaute nicht mehr neugierig aus ihrer Wohnung hervor, um ihren ungefragten Senf abzugeben oder einen ihrer berüchtigten Seitenhiebe auszuteilen. Dafür tat das eine andere Person, mit der Beate nicht gerechnet hatte. Aus Berta Grieses ehemaliger Wohnung im ersten Stock tauchte plötzlich Tanja auf, was Beate zuerst einen gehörigen Schrecken einjagte. „Beate“, bemerkte sie nur, mit einem Müllbeutel in der Hand und musterte ihre ehemalige Freundin zweifelnd. „Hallo Tanja, schön dich zu sehen.“ „Was machst du hier?“ „Du meinst, warum ich nicht im Exil geblieben bin. Ich habe hier einen Bruder, wie du weißt.“ Tanja lachte skeptisch auf. „Für den hast du dich die letzten Jahre ja auch nicht interessiert. Was willst du wirklich? Ludwigs Erbe ist leider schon verteilt, sorry.“ „Ich weiß, ich habe damals Scheiße gebaut aber können wir das Kriegsbeil nach all den Jahren nicht begraben?“ „Ich muss aber nicht gleich die Friedenspfeife rauchen.“ „Nein aber Chancen vergeben. Wie ich mich erinnere hattest du auch mehr als eine in der Vergangenheit. Schönen Abend noch.“ Beate lief aufgebracht weiter die Treppen hinab, während Tanja in ihre Wohnung zurückkehrte. Sunny streifte sich im Flur gerade ihren Mantel über, denn auch sie musste wieder zurück ins „Akropolis“, um die Abendschicht zu absolvieren. „Soll ich den Müll jetzt selbst runterbringen?“, fragte sie etwas brüskiert. „Ich habe gerade Beate im Hausflur gesehen. Du hast Recht, sie ist zurück und führt nichts Gutes im Schilde.“ „Solltest du ihr nicht ihre Fehler von damals verzeihen?“, versuchte Sunny zu vermitteln, doch ein Blick in das Gesicht ihrer Frau zeigte ihr, dass Belehrungen völlig zwecklos waren. „Sunny, ich kenne diese Frau besser als mir lieb ist, das weißt du. Die ist immer genau dann aufgetaucht, wenn es für sie was zu holen gab. Ist es nicht mehr als bezeichnend, dass sie so kurz nach Ludwigs Tod ganz plötzlich aus der Versenkung auftaucht?“ „Gibt es denn nun Abendessen oder soll ich mit Sunny ins Akropolis?“, mischte sich nun der hungrige Teenager Simon ein und löste die angespannte Situation vorerst auf. Doch Tanja wusste genau, dass sie Beate im Auge behalten würde. Noch einmal würde sie nicht zulassen, dass die Menschen, die ihr wichtig sind, unter Beate leiden würden. Das hatte sich Tanja fest vorgenommen.

Die ehemaligen Eheleute Sarikakis hatten im „Akropolis“ einen schönen und herzlichen Abend verbracht, wonach es am Morgen noch ganz und gar nicht ausgesehen hatte. Beide schwelgten ausgiebig in der Vergangenheit und erklärten sich gegenseitig, wie sehr sich das Leben in den vergangenen 18 Jahren verändert hatte. Beate war darüber am Meisten überrascht und leerte ihr drittes Weinglas mit einem letzten Zug. „Es war schön, dass du meine Einladung angenommen hast.“, versuchte sich Vasily etwas unbeholfen zu bedanken und erntete ein gütiges Lächeln seiner Exfrau. „Es ist schön, dass wir die Vergangenheit ein wenig aufarbeiten konnten und normal miteinander gesprochen haben. Ich glaube du hast noch nie als Gast in deinem Lokal gesessen und dich bedienen lassen.“ „Seitdem dieser Virus das halbe Land lahmgelegt hat, gibt es ja keine Gäste mehr vor Ort. Mit dir scheine ich außerdem immer besondere Dinge zum ersten Mal zu genießen.“ Beate blickte etwas verlegen nach unten, ehe Jack durch die Tür schritt und Emma als Übernachtungsgast ablieferte. „Einen Moment noch, Jack,“ sprach Vasily, stand auf und blickte Beate ein letztes Mal tief in die Augen. „Das ist übrigens meine Tochter Emma, von der ich dir erzählt habe.“ Beate begrüßte sowohl das Mädchen als auch deren Mutter, die wie üblich wenig Zeit hatte. „Beate,“ sprach Vasily plötzlich mit gewichtigem Ausdruck in seiner Stimme. „Wenn du tatsächlich beschlossen hast, wieder zurück nach München zu ziehen, brauchst du doch sicher einen Job. Wie du mir erzählt hast, wirst du ja wohl kaum in Tanjas Salon eine Stellung finden. Fang doch fürs Erste bei mir an, solange du keine Alternative gefunden hast. Ich brauche ohnehin eine zuverlässige Aushilfe, wenn das Geschäft irgendwann wieder richtig anläuft. Was sagst du?“ Beate war überrascht und sprachlos von Vasilys großzügigem Angebot. Doch war diese Nähe zueinander wirklich eine gute Idee, nach allem was hinter den Beiden lag? Beate konnte es sich andererseits nicht leisten, wählerisch zu sein. Ihr breites Lächeln über den Lippen signalisierte Vasily, dass sie sein Angebot annehmen würde.

Carsten versuchte zur selben Zeit seine Fähigkeiten als guter Onkel unter Beweis zu stellen. Tatsächlich schien Elli zwar recht aufmüpfig zu sein, doch er mochte ihre quirlige und eigensinnige Art. Er erkannte seine Schwester Beate und sogar ein wenig von sich selbst in seiner Nichte wieder, was in ihm eine Reise in die Vergangenheit auslöste. Gegen 21 Uhr lag Elli erschöpft in seinem Bett, was er als Lager für seine plötzlich aufgetauchte Familie zur Verfügung gestellt hatte. „Soll ich das Licht ausmachen?“, fragte Carsten väterlich, als er an der Tür stand und Elli dabei zusah, wie sie unter die Bettdecke huschte. „Ja bitte, falls du mir nicht noch eine Geschichte vorlesen willst.“ Carsten lachte über die schnippige Bemerkung seiner Nichte. „Du erinnerst mich sehr an deine Oma Elisabeth. Irgendwie haben die Flöters generell ein loses Mundwerk. Du bist eindeutig eine von uns. Gute Nacht.“ Als Carsten die Tür geschlossen hatte, huschte ein Lächeln über das sonst so mürrische Gesicht von Elli. Sie mochte den Gedanken daran, dass sie plötzlich ein neues Familienmitglied um sich hatte, obwohl Carsten in ihren Augen uralt und irgendwie schrullig wirkte. Ihr Onkel hingegen hatte es sich in seinem Sessel im Wohnzimmer gemütlich gemacht und hielt ein Bild seiner Mutter in den Händen. „Es ist beinahe so, als wäre heute ein kindliches Abbild von dir hier aufgetaucht,“ flüsterte Carsten mit einem melancholischen Ton in seiner Stimme, ehe ihn ein Klingeln an der Tür aus seinen Erinnerungen riss. „Was machst du denn so spät noch hier?“, fragte er seine Freundin Tanja, die ihren Besuch nicht angekündigt hatte. „Sag mir lieber was Beate hier zu suchen hat und warum ausgerechnet du sie bei dir aufgenommen hast.“ Tanja war wie gewöhnlich aufgeregt und ungehalten, was Carsten allerdings nicht aus der Ruhe zu bringen schien. „Erst einmal möchte ich dich bitten, hier nicht so hysterisch herumzuschreien. Meine Nichte liegt schon im Bett und sollte deine Tiraden nicht mit anhören müssen. Warum reagierst du überhaupt so schockiert?“ „Das muss ich dir wirklich erst erklären? Hast du schon alles vergessen?“ „Nicht vergessen, aber ich habe beschlossen meiner Schwester zu verzeihen. Tanja, sie ist heute, nach 18 Jahren, unerwartet hier aufgetaucht. Hätte ich sie wegschicken sollen?“ „Das wäre wahrscheinlich besser gewesen. Findest du ihr Timing, so kurz nach Lu’s Tod, nicht auch sehr auffällig? Aber gut, kauf du ihr nur die Unschuldsnummer ab, doch ich verspreche dir, das böse Erwachen wird noch kommen.“ Nach diesen Worten verschwand Tanja so schnell, wie sie zu nächtlicher Stunde bei Carsten aufgetaucht war. Hinterlassen hatte sie nur Sorgenfalten auf Carstens Stirn, die seinen gütigen Gesichtsausdruck längst übertüncht hatten. Sollte seine Freundin Tanja am Ende Recht behalten und Beate tatsächlich noch eine böse Überraschung aus dem Hut zaubern?
 
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