2020 11 27: Eine Frage der Zeit [by LockXOn]
von Jahreskalender
Kurzbeschreibung
Saguru hat Kaito schon lange überführt. Und anstatt weiterhin zu versuchen, ihn auf frischer Tat zu ertappen, entscheidet er sich, ihm das endlich einmal klar zu machen. Denn nicht alle Gegner Kids sind geduldig, und vielleicht könnte es schon beim nächsten Diebeszug zu spät für eine Aussprache sein.
OneshotAllgemein / P12 / Gen
Kaito Kid / Kaito Kuroba
Saguru Hakuba
27.11.2020
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Tag der Veröffentlichung: 27. November 2020
Zitat: „Probleme entstehen erst, wenn uns Träume zu Dummheiten anstiften.“ (Im Schatten des Himmels)
Titel der Geschichte: Eine Frage der Zeit
Autor: LockXOn
Hauptcharaktere: Saguru, Kaito
Nebencharaktere: /
Pairings: /
Kommentar des Autors: Aoyamas Detektive sind die intelligentesten Lebensformen des Multiversums – es sei denn, sie treffen auf ihren natürlichen Feind, die Plot Armor. Dann werden sie zu den intelligentesten Toastbroten. Lasst uns Kid also mal ohne Plot Armor gegen Saguru antreten und schauen, was passiert.
Fiery Floral. „Flammenblüte“. Ein Rubin von sagenhaften siebenhundertdreiundachtzig Karat, erklecklicher Größe und formidablen Schliff. So exorbitant atemberaubend, dass kein einziger seiner Besitzer darauf gekommen war, ihn in irgendetwas einzufassen – jeder nicht einsehbare Millimeter wäre Verschwendung gewesen.
Schwer und massiv lag er in seiner Hand, drückte sein Gemüt zur Erde in Aufregung und Ehrfurcht. Es bestand kein Zweifel daran, dass dieses Juwel zu den Grandiosen gehörte.
Sein Blick wanderte empor gen Nachthimmel. Zum vollen Mond, der heller zu strahlen schien als sonst, dort, hoch oben über dem Ozean aus künstlichem Licht.
Seine Hand folgte, Edelstein aufgestellt zwischen Daumen und Zeigefinger, ganz vorsichtig in leichter Sorge, den Halt zu verlieren und das unbezahlbare Stück über die Brüstung ins ungewisse Schicksal fallen zu lassen.
Wie würde es wohl aussehen, fragte er sich, ein roter Stein eingebettet in jenes funkelnde Rot eines Rubins. Konnte so etwas überhaupt ohne Weiteres mit bloßem Auge erkannt werden?
Um sicher zu gehen, änderte er mehrmals den Blickwinkel, ließ das Mondlicht über jede Seite einfallen.
Schräg unter ihm knallte die Tür zum Treppenhaus, doch er ließ sich nicht davon ablenken.
Erst war alles still, doch dann hörte er Schritte auf sich zukommen, leise, behutsam und doch berechnend vernehmbar, als wollte man nicht riskieren, ihn aufzuschrecken. Was bei seiner derzeitigen Position auf der Brüstung eines Wolkenkratzers sicherlich taktisch klug war.
„Du liebe Güte. Ich hätte nie gedacht, das mal fragen zu müssen, aber wie lange hast du über diesen Berufswechsel nachgedacht, Herr Detektiv?“
Nach einer letzten entscheidenden Drehung ließ Saguru Blick und Beute sinken und starrte wortlos auf Kid hinab, der ihn von unter der Krempe des weißen Zylinders her angrinste. Er meinte, unter der unbetroffenen Belustigung einen Hauch Besorgnis herauszuhören, doch wer konnte das bei diesem Pokerface schon ganz genau sagen? Gut möglich, dass er in Kids Augen in dieser Nacht den letzten Funken Verstand eingebüßt hatte – als er sich zu diesem Schritt entschieden hatte, hatte er das selbst befürchtet.
Kid blieb wenige Meter von ihm entfernt stehen, auf eine Antwort wartend, und als er keine erhielt, wanderte er kichernd zur Seite, hüpfte auf die Brüstung und schaute in den Abgrund, von dem Gebrüll und Polizeisirenen hinauf hallten: „Nakamori verfolgt mein Double, nur falls es dich interessiert. Das war ganz schön frech, ihn denken zu lassen, ich hätte den Stein noch immer bei mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner der Einsatztruppe damit gerechnet hat, dich mal überlaufen zu sehen.“
Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass Kid selbst damit gerechnet hatte. Dazu hatte er ein bisschen zu selbstgefällig gewirkt, vorhin, als er auf der Vitrine gelandet und praktisch umgehend mit dem typisch beherzten „KIIID“ des Inspektors und dutzenden Wachtmeistern angefallen worden war.
Saguru hatte ihn gesehen, diesen zweikommadrei Sekunden andauernden entgeisterten Gesichtsausdruck, als der Dieb im geführten Gerangel den Stein in die Finger bekommen und die fast unsichtbare Angelschnur bemerkt hatte. Doch das war den Bruchteil einer Sekunde zu spät gewesen, um den Griff zu verfestigen, ehe Saguru kräftig am anderen Ende gezogen hatte und Fiery Floral wie ein Werbegeschenk im Supermarkt in seine wartenden Hände gefallen war.
Danach hatte er sich um nicht viel anderes gekümmert als halsbrecherische Flucht – auch wenn er Kids fassungslosen Blick den ganzen Weg vom Saal zum Flur im Rücken gespürt hatte.
Es war ihm halt keine großartige Wahl geblieben. Kid hatte sich als nicht sonderlich willig erwiesen, mit ihm zu reden, und hatte er erstmal, was er wollte und man war gezwungen, ihn zu verfolgen, hatte man bereits verloren. Er hatte also dafür sorgen müssen, dass sich die Umstände umkehrten. Aber so sehr Ginzo auch bereit dazu war, Beutestücke zur Verhaftung Kids zu instrumentalisieren, so wenig hätte er ihm dieselbe Möglichkeit zugestanden.
Was Saguru absolut nachvollziehen konnte. Er war ein Zivilist, noch dazu in den Augen der Einsatztruppe nicht viel mehr als ein Kind, das Detektiv spielte, auch wenn sie ihm stets mit Respekt und Freundlichkeit begegneten und seinen Intellekt durchaus anerkannten – zumindest alle außer Ginzo, der eine eigene Art von Freundlichkeit aufwies, und herzlich wenig Respekt.
Kurzum, Saguru wollte mit Kid reden, doch der interessierte sich nur für seine Beute, also musste Saguru dafür sorgen, dass er die Beute nur erhielt, wenn er ihm zuhörte.
... Hätte ihm irgendjemand gesagt, dass er einmal einen Edelstein als Geisel nehmen würde, hätte er diesen jemand in sein Labor gebeten und ausgesprochen gründlich untersucht.
Kid wandte ihm das Gesicht zu. Der Schatten der Krempe verdunkelte es bis auf das gewohnte breite Grinsen und die Reflexion des Monds im Monokel.
Bei dem unterschwellig bedrohlichen Anblick fiel es leicht zu vergessen, dass er unter dem Ruf des international gesuchten Meisterdiebs ein Pazifist war. Manchmal, wenn er sich diesem aufmerksamen Blick ausgesetzt sah, vergaß Saguru, dass er den Jungen unter der Maske kannte. Ebenso laut wie das Stimmchen, dass er nichts zu befürchten hatte, hallte dann in seinem Kopf, dass schon viele Menschen angenehme Stunden mit bekannt geglaubten Leuten verbracht hatten, um erst in den letzten Momenten ihres Lebens festzustellen, dass es sich um Serienmörder handelte.
Kid und sein Zielobjekt befanden sich auf engstem Raum, und Saguru stellte das einzige Hindernis dar. Der Gedanke war nicht sehr beruhigend. Würden seine Vorkehrungen ausreichen, um den Dieb die Füße stillhalten zu lassen? Oder würde sich herausstellen, dass Kid die Sicherheit aller Beteiligten doch nicht alles wert war, vor allem, wenn er sich schon bald mit einer sehr emotionalen Entscheidung konfrontiert sehen würde?
Saguru schauderte es, doch er schüttelte energisch den Kopf und legte Fiery Floral in die Beuge seines angewinkelten Beins, welches quer über Brüstung und dem anderen Knie lag. Eine ganze Weile hatte er so gesessen, hatte Kid doch etwas länger gebraucht, um die Polizei abzuschütteln, vermutlich der heillosen Überraschung wegen. Gerne hätte er sich der Schadenfreude hingegeben und gelacht, aber eigentlich war ihm nicht danach zumute, und so fiel es zu unterdrücken nicht sonderlich schwer.
Kid visierte den Stein an – das Verlangen, sich einfach darauf zu stürzten, war nur zu ersichtlich. Doch Saguru hatte seinen Sitzplatz mit Bedacht gewählt, jede schnelle, übereilte Bewegung konnte Reflexe auslösen, Reflexe, die ihn, so dicht, wie er am Rand zum Abgrund saß, leicht hinüberschicken konnten. Und die Richtungen, aus denen Kid hätte angreifen können, waren auf jene begrenzt, die einen solchen Ausgang noch wahrscheinlicher machten. Entschied Kid sich also nicht unbedingt dafür, den Edelstein sein zu lassen und es ein andermal zu versuchen, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen und zuzuhören.
„Das hier ist nicht der Stein, den du suchst.“
Hätte er auch nur ansatzweise geglaubt, dass sein Wort dem anderen Vertrauen schenkte, hätte er nicht mit dieser Eröffnung begonnen. Doch Kid würde ihm nicht viel Zeit lassen, seinen Standpunkt zu verdeutlichen, und um den heißen Brei herumzureden, gereichte bei ihm nie zum Vorteil.
„Oh?“, der Dieb hob einen sarkastischen Tonfall an, „Mir war nicht bewusst, etwas Spezielles zu suchen. Aber weißt du, wenn ich etwas suchen würde, bin ich mir ziemlich sicher, nicht dieselben Anforderungen zu haben wie du. Also warum rückst du nicht ein Stück weit weg und lässt mich selbst nachsehen?“
Wunderbar, die Priorität lag anscheinend immer noch darin, an die Beute zu gelangen, ohne vorher über Sagurus gute Gesundheit hinwegzutrampeln.
Er hielt dagegen: „Dann sei dir ab heute besser ziemlich sicher, dass ich ziemlich genau weiß, wie deine Anforderungen aussehen.“
Kid lachte.
Immer noch ohne Zweifel, dass sein Gegenüber keinen blassen Schimmer hatte, wovon er sprach.
Saguru lachte nicht. Er fühlte nicht die gewohnte Selbstzufriedenheit, die ihn sonst überkam, wenn er ein kompliziertes Rätsel geknackt hatte, ebenso wenig die blanke Vorfreude, wenn sich dahinter ein weiteres, komplexeres verbarg. Dafür muteten die Hintergründe dieses Mal ein bisschen zu düster und viel, viel zu riesig an. Vielmehr empfand er sie fast als einen viel zu großen Bissen, den er im Begriff war, abzubeißen. Dies hier war mehrere Nummern zu groß für ihn und ja, er hätte einen Rückzieher machen sollen, kaum dass er das erkannt hatte.
Aber wenn es bereits ihm zittrige Knie bereitete, dieses schwarze Loch, was sich hinter der Fassade primitiver Publicity-Überfälle auftat ... Wie musste es dann erst Kid gehen? Hatte er Rückendeckung? Hatte er Sicherheit? Reichte sein enormer Genius aus, um der lauernden Gefahr Herr zu werden, die da in der endlos scheinenden Finsternis lauerte?
Nein, es gab zu viele unsichere Faktoren, und so konnte Saguru ihn nicht einfach sich selbst überlassen.
Vielleicht brauchte Kid seine Hilfe nicht. Umso besser, es wäre begrüßenswert gewesen. Aber würde Kid auch nur den Hauch von Anschein erwecken, ebenso hilflos umherzutappen wie Saguru, konnte und würde er ihn nicht im Stich lassen.
Saguru lehnte sich zurück an die Stufe, die hinter ihm die Brüstung ein Stück erhöhte, entspannt, ohne die Aufmerksamkeit von Kid abzuwenden, und erklärte: „Du hast ein Problem, Kid. Ein gewaltiges Problem. Und das solltest du dir endlich klarmachen. Aber da du oft blind gegenüber deiner eigenen Grenzen bist, lass mich dir ‚Problem‘ buchstabieren, hm? Es beginnt mit einem P.“
Kid schnaubte verächtlich und wandte den Blick ab gen Horizont.
„Und es geht weiter mit einem A.“
Ein zweites Mal in dieser Nacht überraschte er ihn, was sich an dem kurzen Stutzen verdeutlichte.
„N.“
Kid erstarrte. Ein leichtes Rucken des Kopfs, kaum merklich, wenn nicht das Monokel aufgeblitzt hätte.
„D.“
„Halt den Mund.“
Saguru gehorchte und ließ Kid Zeit, die Situation angemessen zu analysieren.
Und schluckte, als sich das Grinsen verbreiterte wie das Gebiss eines geifernden Hunds kurz vorm Zuschnappen. „Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, wovon du redest, Herr Detektiv“, es klang glaubwürdig, „Du solltest deine Rechtschreibung überprüfen.“
Saguru atmete kräftig durch, Geduldsfaden wie immer bei Interaktionen mit dem Mondscheindieb gefährlich belastet. Seine Antwort kam mit einer Kid ebenbürtigen Ruhe, die er nicht fühlte.
„Wenn man den Blickwinkel ändert, ist es nicht schwer zu erkennen. Ich muss zugeben, mit einer zu einfältigen Einstellung an deinen Fall herangegangen zu sein. Ich habe mich wie alle anderen von deiner geschickten Zurschaustellung blenden lassen, tatsächlich gedacht, du würdest aus Eitelkeit handeln, stehlen aus dem simplen Grund, dass du es kannst. Dabei ist der Bruch ziemlich deutlich. Am Anfang hast du wahllos Kunstgegenstände geraubt, und mit ‚Anfang‘ meine ich nach einer achtjährigen Pause, die meiner Meinung nach sowohl weder während ihrer Dauer noch bei ihrem Ende genug untersucht wurde. Aber dann, nach der ägyptischen Ausstellung für antiken Schmuck ... Nichts. Keine Bilder, keine Skulpturen, keine Kuriositäten mehr. Nur noch exklusiv Juwelen.“
Kid wollte etwas sagen, doch Saguru ließ keinen Einwand zu.
„Wenn du mich fragst – du hast etwas gesucht, und nach Blue Birthday hast du die Suche eingegrenzt. Weil du Hinweise darauf gefunden hast, dass es sich bei deinem Zielobjekt um ein Juwel handelt. Aber nicht irgendeins. Green Dream, Crystal Mother, Red Tear, Black Star, Golden Eye, die Dark Knights, Blue Wonder ... Die meisten, die du dir zum Stehlen aussuchst, gehören zu einer kleinen Gruppe, die man als Großjuwelen der Welt bezeichnet. Die Tatsache, dass du deine Beute jedes Mal ins Mondlicht hältst, kann nichts anderes bedeuten, als dass du einen bestimmten Stein suchst, dessen Wert sich nur auf diese Weise offenbart. Und die Tatsache, dass du bisher jede Beute unbeschädigt zurückgegeben hast, bedeutet, dass alles andere wertlos für dich ist. Recherchiert man die Geschichten der Großjuwelen eingehender, stolpert man über einen Haufen Legenden. Die Menschen haben ihre Faszination für außerordentliche Objekte schon immer gerne in sagenhafte Geschichten verpackt – und eine sticht besonders hervor. Eine, die eins zu eins mit deinem Modus operandi übereinstimmt.“
„Woher weißt du das alles?“
Die Unterbrechung kam nicht unerwartet, wohl aber der feindselige Ton, in dem sie erfolgte. Saguru hatte mit Sarkasmus gerechnet, Ironie, alles, um von einer Schwäche abzulenken, vielleicht, im besten Fall, mit einem Funken Hoffnung.
... Doch, wenn er ehrlich mit sich war, war er auf ein gewisses Maß Ablehnung vorbereitet gewesen.
Aber nicht auf so viel. Kid klang, als war er der absolut letzte, den er in der Ecke seines Spielfelds haben wollte, und selbst das wäre noch Platzverschwendung gewesen.
Autsch.
Durchatmen. Nicht auf Provokation eingehen. Das hier tat er nicht für sich selbst. Doch trotz bester Absichten spürte er, wie die gezeigte Feindseligkeit sein Inneres zum Kochen brachte. „Ich habe Kontakte, ich habe das Darknet“, erwiderte er reserviert, „und ich habe einen gewissen Grad an Intelligenz, auch wenn du mir den bei jeder Gelegenheit absprichst.“
„Verdammte Detektive und ihre verdammte Neugier! Können sie nicht abschalten, und wenn’s um ihr verdammtes Leben geht!“
Das Pokerface hatte sich zu einer angespannten Fratze verzogen, das erste Mal, dass Saguru so etwas wie Ärger in den sonst spöttischen Zügen herauslesen konnte. Mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit wuchs dieser Ärger aus Sorge um seine Person.
... Oder er fantasierte zu viel hinein. Aber dieser Betrachtungswinkel half ihm, die eigene Wut über so viel Überheblichkeit zu unterdrücken.
„Du machst es leichter, als du denkst“, stieß er mehr frustriert als selbstzufrieden hervor und Kids schiefgelegter Kopf deutete auf eine erhobene Augenbraue hin, „Das, was dich vor einer Festnahme bewahrt, sind dein unglaubliches Glück, deine Komplizen und glaubwürdige Bestreitbarkeit, nicht der Mangel an handfesten Beweisen!“
Ein Hauch von Kids üblicher Haltung kehrte zurück und er legte in einer provokanten Hm-Pose eine Hand ans Kinn: „Glück will ich nicht bestreiten, jeder gute Magier besitzt ein gesundes Maß davon. Aber Komplizen? Glaubst du wirklich, hochgradige Könner wie ich wachsen auf Bäumen?“
„Du hast mindestens zwei – wag es ja nicht, es abzustreiten“, Saguru funkelte ihn drohend unter Ponyfransen hervor an und Kid klappte tatsächlich den Mund zu, „Ich bin mir auch ziemlich sicher, zu wissen, wer sie sind, aber wie das Schicksal so spielt, habe ich keine stichhaltigen Beweise in diesem Belang.“
„Aber in meinem schon? Träumst du oft mit offenen Augen, Herr Detektiv?“
„Wie arrogant kannst du sein?! Wir haben deine DNA!“
„...“
Saguru schnaubte abfällig ob Kids Schweigen und fuhr fort: „Mein Hauptverdächtiger entspricht zu Neunundneunzig Komma Sechs Sieben Prozent den Untersuchungsergebnissen. Aber sicher, wenn du nachts besser schlafen kannst, halt dich daran fest, dass alles andere praktisch Indizienbeweisführung ist: Er ist einer der besten Zauberer, die ich kenne, er kann alles außer Schlittschuhlaufen und bis zum Anfang des Jahres hat er seine verdammte Kartenkanone noch in der Freizeit abgefeuert! Seine Freunde denken übrigens, die hätte er nach deinem Vorbild konstruiert – dumm nur, dass du zu der Zeit, in der er ein vollständig funktionelles Modell benutzt hat, noch gar nicht wieder aktiv warst! Wenn nur einer in deinem Umfeld darüber nachdenken würde, wenn auch nur einer es wahrhaben wollte, wärst du schneller überführt, als du dich in Luft auflösen könntest!“
Kid verschwand.
Noch während Sagurus Augen sich weiteten und alle Sinne in Habachtstellung umsprangen, fühlte er den Luftzug in der Seite und zuckte automatisch in die andere – Richtung freien Fall. Seine Innereien schienen der Schwerkraft zuvorkommen zu wollen und eine Welle heftiger Übelkeit überkam ihn, da packte plötzlich jemand seinen Ellenbogen wie in einem Schraubstock und riss ihn weg vom Abgrund.
Sie landeten hart auf dem Beton, sowieso schon geringes Volumen Sauerstoff in ihren Lungen durch den Aufprall komplett erschöpft.
Kurze Rangelei, der Versuch, den jeweils anderen zu überwältigen, ein gut gezielter Schlag ließ die Dose Betäubungsspray fliegen.
Aufspringen.
Kurze Panik, wo war der Edelstein? Natürlich verschwunden, aber sicher nicht in die Tiefe.
Die Ablenkung reichte, ein kräftiger Arm legte sich um Sagurus Hals, zwang ihn rücklings gegen eine Brust und hielt.
Aus einem Reflex heraus schob Saguru den Fuß zurück, griff den Arm und wollte den Angreifer über die Schulter zu Boden werfen, doch ein schwerer Ballast schoss ihm in die Kniekehle und ließ das Standbein einknicken. Derart aus dem Gleichgewicht, fiel er nach hinten über.
Ein zweiter Aufprall, zwar etwas abgemildert durch Kids Gegensteuern, nichtsdestotrotz auf den Steiß.
Autsch.
Der Arm hatte den Druck nicht aufgegeben, so wie auch seine Finger noch immer unnachgiebig in ihn verkrallt blieben.
Nun keuchten die Jungen um die Wette, Kids Beine neben Sagurus Hüften angespannt, als erwartete er weitere Gegenwehr.
Doch Saguru zwang sich zur Ruhe. Es war gleichgültig, wo Kid sich befand, wo sich Fiery Floral befand oder er selbst, solange ihm Kid weiterhin zuhören musste. Anhand der pulsierenden Muskeln unter seinen Fingerkuppen bezweifelte er, dass er sich gerade an eine von Kids Scherzprothesen krallte – solange er also festhielt, konnte er nicht noch einmal verschwinden.
„Manchmal, Herr Detektiv“, schnaufte Kid ihm ins Haar und schluckte, „manchmal glaube ich fast, du bist noch verrückter als ich.“ Die schiere Fassungslosigkeit in der Stimme entlockte Saguru ein atemloses Lachen.
„Sooo ... Könntest du meinen Arm loslassen?“
„Nein.“
„Uuund ... Warum nicht?“
„Wir sind noch nicht fertig miteinander.“
„Komm schon, Herr Detektiv, erwartest du etwa ein lückenloses Geständnis? Das würde ich dem Inspektor nie antun! Die Jagd auf Kid ist seine ganze Lebensfreude! Und du solltest kein Spielverderber sein, nicht so sehr auf Nebensächlichkeiten herumreiten und ihn nicht mit deinen lächerlichen Schlussfolgerungen belästigen.“
„Nakamori hat all diese Informationen bereits.“
Der Arm straffte sich und Saguru musste sich daran erinnern, dass das Kid war, in dessen Schoß er hockte. Trotzdem ging sein Herzschlag einen Takt schneller, während er gezwungen ruhig fortfuhr: „Er hatte einmal denselben Hauptverdächtigen im Auge wie ich. Ich habe ihn gefragt, was ihn seine Meinung hat ändern lassen. Er sagte, dass derjenige sich während eines Überfalls mit einer Freundin getroffen hatte. Ich habe ihn gefragt, ob ihm eine solche Aussage tatsächlich ausreicht. Er sagte ja. Glaubwürdige Bestreitbarkeit.“
Kid seufzte theatralisch: „Stimmt ja, ich rede mit dem Typen, der auf seinem Standpunkt beharrt, obwohl sein Hauptverdächtiger während eines Überfalls ununterbrochen an ihn gekettet war.“
„Ich bin eben nicht so leicht zu täuschen. Du wolltest ein Alibi generieren oder, was ich für wahrscheinlicher halte, deine Freundin hat aktiv versucht, Nakamoris Verdacht zu zerstreuen – immerhin ist es nicht ganz leicht, zu glauben, dass der beste Freund ein international gesuchter Verbrecher ist, so pazifistisch er auch eingestellt sein mag.“
„Und du? Du akzeptierst sowas stumpf?“
Saguru hielt inne. Seltsam, wie oft ihm seine kühle Analytik als etwas Negatives vorgeworfen wurde. Zwar hatte er sich an das Infragestellen seiner Ethik gewöhnt, doch aus dem Mund eines ... Freundes ... tat es etwas mehr weh.
Nichts, womit er nicht umgehen konnte.
„Ich schätze, für mich macht es schlichtweg keinen Unterschied. Ich will, dass du mit dem Stehlen aufhörst. Das ist alles. Und ich denke, ich gehe die Dinge ein bisschen nüchterner an als deine Freundin.“
„Du weißt zu erstaunen, Herr Detektiv. Nie hätte ich gedacht, dass du unschuldige Damen mit hineinzieh-“
Saguru versetzte Kid im Zorn einen Tritt ans Schienbein, ehe er den Satz beenden konnte, fühlte er sich doch nun ernstlich verletzt von ihm, der ihn besser kennen sollte. „Wofür hältst du mich?“, spuckte er giftig mit einer halben Drehung des Kopfs aus und ignorierte den zunehmenden Druck auf seine Luftröhre, „Denkst du wirklich, ich würde ihre Gesundheit aufs Spiel setzen für eine Schlussfolgerung, die du selbst am besten kennst?! Ich muss dich nicht entlarven, Kid, ich weiß, wer du bist! Ich will dir helfen, verdammt nochmal!“
Jede Bewegung fror ein. Lange, unangenehme Sekunden, Minuten gar saßen sie da, auf dem kalten Beton, im Dunkel der Nacht und atmeten kontrolliert ein und aus, als wollten beide sichergehen, dass der jeweils andere vor Schreck nicht ganz damit aufgehört hatte.
Kid war noch nie in seiner Gegenwart paralysiert gewesen, und das ungewöhnliche Schweigen strapazierte Sagurus Nerven.
„Helfen?“
Kids Stimme durchschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Sein Atem kitzelte Sagurus Ohr, mehr noch, als er sich in zynisches Kichern verwandelte.
„Ich brauche keine Hilfe, Herr Detektiv, schon gar nicht von dir“, fuhr er im Plauderton fort, doch für jemanden mit scharfsinniger Aufmerksamkeit war es nicht schwer, die Anspannung herauszuhören.
Kid hob die Hand und zu niemandes Verwunderung hielt er Fiery Floral zwischen den Fingern. Der Edelstein wanderte empor, Sagurus Blick folgte ihm automatisch und stoppte erst, als er auf einer Höhe mit dem Mond lag.
„Wobei willst du mir überhaupt helfen?“, höhnte Kid weiter, „Mit Verlaub, deine bescheidenen Fähigkeiten geben keinen besonders guten Dieb ab!“
Komisch, so etwas von demjenigen zu hören, dem er vor nicht allzu langer Zeit die Beute abgeluchst hatte, wollte Saguru dagegenhalten, schluckte die spitzfindige Antwort jedoch herunter und formulierte eine zierendere. Mondlicht und Rubin spiegelten sich in seinen Augen, während sich ihm derselbe Anblick bot, den er bereits vor Kids Ankunft genossen hatte. Das Funkeln des Schliffs war wunderschön, wie zu erwarten bei einem der wertvollsten der Welt, aber ein Bild im Bild erschien nicht.
„Dein Ziel“, murmelte Saguru und spürte Kid zucken, der sich etwas zu sehr in den andächtigen Moment vertieft hatte, „willst du noch lange danach suchen wie nach einer Nadel im Heuhaufen? Hast du nie darüber nachgedacht, dass eine etwas koordinierter Herangehensweise eventuell höhere Erfolgsaussichten verspricht?“
Einmal mehr schnaubte Kid ihm abfällig ins Haar und langsam wurde ihm ihre Position wirklich unangenehm. Doch ehe er über die zahllosen Möglichkeiten nachgrübeln konnte, wie leicht man ihm in dieser Stellung den Hals umdrehen konnte, schmollte Kid: „Hey, also ich finde, an meiner Herangehensweise gibt es nichts auszusetzen. Zumal du nicht einmal weißt, welche Prioritäten ich setze. Aber ich bin nunmal kein professioneller Schnüffler, Herr Detektiv.“
Offensichtlich.
„So viele Hinweise in einem einzigen Satz, und du fragst immer noch, wobei ich dir helfen kann?“
Erneut folgte Schweigen und Sagurus Frustration wuchs. Es war zwar nicht verwunderlich, dass der Dieb sich sträubte, ihm zu vertrauen, und wenn er seinen Charakter richtig einschätzte, womit er zugegebenermaßen bei manchen Menschen unerklärliche Schwierigkeiten hatte, spielte auch ein enormer Beschützerinstinkt mit ein.
Der jedoch bei Saguru vollkommen verschwendet war – er konnte hervorragend auf sich selbst aufpassen.
Nun, solange Kid naseweise Kommentare zurückhielt, würde er die Zeit nutzen, ihm diese Tatsache zu verdeutlichen.
„Vorhin hast du über Kid in der dritten Person gesprochen und es ist nicht das erste Mal, dass du das tust. Was mich zu dem Schluss bringt, dass es mindestens einen weiteren ‚Kid‘ gibt oder gegeben hat. Mitstreiter oder Vorgänger.“
Toichi Kuroba. Noch eine Vermutung, die auf keinerlei dingfesten Beweisen fußte. Doch es war so einfach, eine Verbindung herzustellen – der weltbeste Zauberer, ein beinahe identisches Kostüm, gewaltsamer Tod acht Jahre zuvor, die gleichzeitig letzte Erscheinung des ‚alten‘ Kaito Kid, die Rückkehr zu einer Zeit, in der der Sohn alt genug war, in die Fußstapfen zu treten. Alles war da, vor ihren Nasen – man musste nur glauben.
Doch Saguru wusste, dass Glauben nicht gleich Wissen war. Eine Überführung ohne Beweise konnte nicht stattfinden. Und das wollte er auch gar nicht. Nicht wenn sie eine lebensbedrohliche Gefahr für das kriminelle Element darstellte. Wie in Trance starrte er noch immer auf den Rubin, das Glitzern der dunkelroten Farbe im fahlen Schein, die so sehr an etwas anderes, unangenehmeres erinnerte.
„Scharfschützen, Unfälle, Verfolger, so geschickt, dass ihre Identitäten im Dunkeln bleiben, Verfolger, die die Polizei nie zu Gesicht bekommt, die aber Spuren hinterlassen, die zu subtil sind, um richtig gedeutet zu werden. Die Jagd nach Blue Birthday hat die Einsatztruppe damals geradewegs in ein verlassenes Anwesen geführt, angeblich dein Unterschlupf, obwohl es, egal aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, viel zu geräumig für eine Person war und nicht im Geringsten deinem Stil entsprach. Es sei denn, du hast die tonnenweisen illegalen Waffen, die bei der Durchsuchung gefunden wurden, aus reiner Liebhaberei gesammelt. Und all diese seltsamen Vorkommnisse ereigneten sich ausschließlich bei den Jagden auf die Großjuwelen.“
Der Körper in seinem Rücken verlagerte sich unmerklich und er hatte das Gefühl, als versuchte Kid, ihm mit der Schärfe seines Blicks ein Loch in den Hinterkopf zu brennen. Kein angenehmes Gefühl, doch er ignorierte es.
„Pandora, der Stein des Lebens. Oder der Unsterblichkeit, je nachdem, wie man es sehen will. Ein Status Quo der Existenz, den die Menschheit nicht müde wird, ohne Rücksicht auf Verluste zu verfolgen. Eine gefährliche Bereitschaft, die einer Menge Beteiligter und Unbeteiligter eine Menge Probleme einhandeln kann. Aber Probleme entstehen erst, wenn uns Träume zu Dummheiten anstiften. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du einer der Dummen bist, Kid. Du wirkst nicht wie der Typ Mensch, der sich ewige Jugend wünscht. Also warum setzt du dein Leben aufs Spiel? Vor wem willst du Pandora schützen?“
Einen Moment wartete er, um Kid die Gelegenheit zu geben, seine Gedanken zu sammeln, doch letztendlich musste er auch diese Frage selbst beantworten.
„Ich vermute eine Gruppe. Sehr wahrscheinlich sogar eine Organisation, so sorgfältig wie es ihnen gelingt, jede entscheidende Spur zu verwischen. Und so lange, wie sie schon daran interessiert sind, kann es sich nicht um harmlose Neugier oder Forscherdrang handeln. Sie glauben an die Legende. Und so vehement, wie sie dich, als ihren einzigen Rivalen, auszuschalten versuchen, gehen sie für diesen Glauben über Leichen. Ich weiß nicht, wer oder was dir noch als Unterstützung dient, aber ich kann und will dir helfen.“
„... Hm.“
Er mochte schreien. Diese ganze wohl überlegte Analyse, und sie rang Kid lediglich ein nichtssagendes „Hm“ ab. Saguru war schmerzlich bewusst, dass er vermutlich von einem Großteil der Umstände keine Ahnung hatte. Aber er war überzeugt davon, den kleinen Teil, den er ans Licht gebracht hatte, korrekt geschlussfolgert zu haben. Sicherlich mussten seine Gedankengänge zumindest so viel Eindruck geschunden haben, dass Kid eine Weile über das Angebot nachdachte.
Kids Hand, die den Edelstein gegen das Mondlicht gehalten hatte, senkte sich endlich und ließ ihn auf dem Weg in Sagurus Manteltasche gleiten.
„Ist das alles, was du zu sagen hast? Könntest du mich dann jetzt bitte loslassen?“
Automatisch griff Saguru den Arm vor sich fester und hörte noch ein resigniertes Seufzen, ehe Kid mit einem kräftigen Ruck ihre Positionen tauschte und sich Saguru auf dem Bauch liegend wiederfand. Seinem Halt tat das keinen Abbruch und so blieb es nicht bei einer Rolle.
Die Jungen wälzten sich rabiat hin und her, Schmutz und Schürfwunden gegenüber herzlich gleichgültig, der eine nichts als Abstand, der andere nur Rückhalt im Sinn.
Keiner von beiden achtete auf die Richtung und so kam es, dass sie sich plötzlich neben der Dose Betäubungsmittel wiederfanden, die Saguru Kid im ersten Kampf aus der Hand hatte schlagen können. Instinkte schlugen Alarm, Kid war schneller, der Arm um seinen Hals verfestigte sich wieder.
Schlafen hieß nicht reden können, nicht überzeugen können, und so reagierte Saguru entsprechend, zog den Kopf gerade noch rechtzeitig aus der Schlinge, ehe sie sich zuziehen konnte, drehte sich und nutzte den Kontakt zu Kids Arm, um ihn von sich zu stoßen. Beide verloren durch den unerwarteten Schwung das Gleichgewicht, rollten sich aber geübt über die Schulter ab.
Saguru kam in der Hocke zum Stehen, schnellte sobald er konnte in die Höhe und rief in der Panik, dass Kid die Chance nutzen würde, laut seinen Namen.
„... Kid“, fügte er noch geistesgegenwärtig und mit zittriger Stimme hinzu, als er erkannte, dass ihm der Dieb noch immer gegenüberstand – aufrecht, unüblich ernst, aber er hatte sich nicht umgehend aus dem Staub gemacht. Ein gutes Zeichen?
Kid musterte ihn eine Weile stumm. Doch dann wanderte er langsam, sehr langsam Richtung Brüstung, immer ein Auge auf ihn habend als fürchtete er, noch einmal angegriffen zu werden. Angekommen, blitzte das Monokel auf, doch das manische Grinsen war nirgends zu sehen. So oft, wie er ihn in ihrer Freizeit zu etwas mehr nötigem Ernst aufforderte, erstaunte es Saguru, dass er jetzt nichts lieber gehört hätte als das überhebliche Lachen.
Doch zumindest dachte Kid nach, wenn die konzentriert über seine Unterlippe gleitende Zunge als Indikator dafür gelten konnte.
„Du hast die Wahrscheinlichkeit, belauscht zu werden, einkalkuliert und gibst keinerlei Hinweise auf meine Identität preis, hältst aber mit keinem Wort hinterm Berg, dich als Komplize anzubieten“, fasste Kid die Vorkommnisse zusammen und schüttelte entgeistert den Kopf, „Ich frage mich, wer von allen Beteiligten hier wirklich der Dumme ist, Herr Detektiv.“
Weil es gleichgültig war, wer ihm auf dem Nachhauseweg auflauerte. Saguru betonte seinen Standpunkt und erntete einen verärgerten Blick, der ihm jedoch ebenso egal war. Alles was zählte, war, Kid zu beweisen, wie ernst ihm die Sache war. Er hatte sich diesen Schritt sehr genau überlegt. Und er war bereit, das Risiko zu tragen.
Kid entfuhr ein beinahe hysterisches Lachen. Nicht das, was er sich gewünscht hatte, doch Bettler konnten sich nicht immer alles aussuchen. „Du kennst das Risiko nicht einmal“, herrschte man ihn an, doch Saguru blieb unbeeindruckt.
„Das ist meistens so in meinem Metier. Oder denkst du, jeder Fall eröffnet sich mir sofort eingeordnet auf einer Skala von harmlos bis potenziell tödlich?!“
Kid zuckte zusammen, doch Saguru schonte ihn nicht. Offenbar musste man es in diesen märtyrerischen Dickschädel hineinhämmern, dass er sich bereits mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert gesehen hatte, als Kid noch ein stinknormaler Teenager gewesen war. Oder zumindest so stinknormal, wie es einem Kuroba möglich sein konnte. Er fixierte Kid mit einem strengen Blick und zuckte mit den Schultern: „Du hast es bei unserem ersten Treffen doch selber gesagt – ich bin hier der Detektiv. Und damit ist es mein Job Dinge herauszufinden, so übel wie sie sich auch herausstellen können.“ Er zwang sich zur Stoik, sein Schmunzeln, das er eigentlich als beschwichtigend einstudiert hatte, wäre hier nur einmal mehr als Überheblichkeit missgedeutet worden.
Stattdessen streckte er Kid eine Hand entgegen.
„Ich will, dass du mit dem Stehlen aufhörst. Ich habe nie behauptet, dass der einzige Weg dorthin übers Gefängnis gehen muss. Keine Ahnung, warum du nach Pandora suchst, aber ich bin mir verdammt sicher, dass der Grund ein wesentlich tugendreicherer ist, als der deiner Verfolger. Bitte, lass mich dir helfen, Kid.“
Der Dieb starrte auf die einladende Geste hinab wie ein Kaninchen in die Augen einer hungrigen Katze, Verstand ratternd wie ein Uhrwerk.
Saguru wusste, dass er ihn unter der Hutkrempe diskret musterte. Er wusste auch, wie müde er aussah – kein Wunder bei der ganzen Ermittlungsarbeit, die er in den letzten Wochen geleistet hatte. Und er hoffte inständig, dass sein Gesicht die Entschlossenheit zeigte, sich auf jene Seite zu schlagen, die ihm als die ehrenwertere erschien, international gesuchter Krimineller hin oder her. Ja, seine Ermittlungen hatten ihm zweifellos offenbart, wie gefährlich die Einmischung in dieses Pulverfass werden konnte, trotzdem war er hier, bereit, sich Kids Erklärung der Umstände anzuhören, anstatt eigene und möglicherweise wieder übereilte Schlüsse zu ziehen. Musste Kid das nicht irgendetwas bedeuten?!
„Saguru.“
Sein Vorname aus dem Mund des Diebs verblüffte ihn so sehr, dass alle Gedankengänge abrupt zum Erliegen kamen. Die Irritation musste ihm von der Nasenspitze abzulesen gewesen sein, denn es entlockte Kid ein Schnauben echten Humors.
Doch der war kurzlebig und alsbald sah er ihn wieder ernst an, durchdrang mit seinem Blick alle trotzige Hartnäckigkeit und Schutzmauern seiner Seele. „Saguru“, wiederholte er, vielleicht nur, um ihm noch einmal eine peinliche Reaktion zu entlocken, ein Gefallen, den ihm Saguru nicht tat, „Ich kann nicht. Sobald ich deine Hand greife, gibt es kein Zurück. Du wirst dich in Lebensgefahr befinden, wo auch immer du bist, was auch immer du tust. Das kann ich nicht zulassen.“
Saguru schluckte. So staubtrocken, wie seine Kehle plötzlich war, kratzte es unangenehm an den Seitenwänden. „Glaubst du nicht, dass das meine Entscheidung sein sollte?“, fragte er mit unzureichend unterdrücktem Zorn in der Stimme.
„Ich kann nicht.“
Kid betonte jedes Wort.
„Du hast keine Vorstellung. Von nichts. Nicht davon, was dich erwartet und nicht davon, wie gern ich deine Hand fassen würde. Aber es geht nicht. Ich werde sie niemals hineinziehen und ich werde dich niemals hineinziehen. Habe ich mich verständlich genug für dein verbohrtes Hirn ausgedrückt?“
Aoko. Ginzo. Die Polizei. Kid hatte nicht vor, irgendwen anders als sich selbst zur Zielscheibe zu machen. Ja, er hatte sich sehr verständlich ausgedrückt. Und auch diese Erkenntnis manifestierte sich wohl in seiner Mimik, denn Kid nickte zufrieden und hielt es für unnötig, seinen Standpunkt weiter auszuführen.
Nur zwei Finger an der Hutkrempe und sein plötzlich wieder strahlend weißes Grinsen dienten Saguru als Warnung, ehe Kid sich ohne ein Wort des Abschieds in den Abgrund fallen ließ.
Saguru eilte nicht sofort zur Brüstung. Er wusste, was er sehen würde, gespannter schneeweißer Gleiter in der Ferne, stetig schrumpfend.
Einen Augenblick wartete er nur, ehe er seufzend in sich zusammensackte, jede Anspannung aus seinem Körper weichend. Er schob die Hände in die Manteltaschen, marschierte endlich zum Rand und sah dem schnell kleiner werdenden Dreieck nach.
Der Flug blieb ungestört. Er vermutete, dass das Riesenaufgebot von Wachleuten die obskuren Feinde dieses Mal wohl so abgeschreckt hatte, dass sie Pandora Pandora hatten sein lassen. Ein Lichtblick im Finstern, dachte er bei sich, sie schienen die Angst vor der Polizei noch nicht völlig abgelegt zu haben. Saguru hatte sein Bestes gegeben, Ginzo bei den Abwehrmaßnahmen zu beraten, und dass sie gewirkt hatten, bekräftigte nur seine Überzeugung, Kid helfen zu können.
Zwar hatte dieser arrogante Arsch jedwede Unterstützung ausgeschlagen, doch hatte er deutlich durchscheinen lassen, dass er sie verdammt gut gebrauchen konnte. Und nun konnte er nicht verhindern, sie trotzdem zu erhalten – schließlich war Saguru sein eigener Herr.
Er würde weiterhin jede Ankündigung rechtzeitig entschlüsseln. Er würde stichhaltige Beweise finden, wenn und warum es sich bei einer angepeilten Beute nicht um Pandora handeln konnte. Jeden einzelnen Fall würde er genauestens untersuchen und Kid zuverlässig warnen, zur Not mittels durchgemachter Nacht. Und Schritt für Schritt würden sie sich an Pandora heranarbeiten, bis sie sicher sagen konnten, ob dieser legendäre Stein tatsächlich existierte und wo sie ihn finden konnten.
Bis Kaito begriff, dass es unnötig war, sich in Lebensgefahr zu begeben, wenn man einen Meisterdetektiv zum Freund hatte.
Eine wirklich tolle Geschichte passend zum Zitat. Wirklich gelungen (nur hatte ich nicht so viel Text erwartet, als ich die Geschichte gerade gelesen habe).
Eure lula-chan
Zitat: „Probleme entstehen erst, wenn uns Träume zu Dummheiten anstiften.“ (Im Schatten des Himmels)
Titel der Geschichte: Eine Frage der Zeit
Autor: LockXOn
Hauptcharaktere: Saguru, Kaito
Nebencharaktere: /
Pairings: /
Kommentar des Autors: Aoyamas Detektive sind die intelligentesten Lebensformen des Multiversums – es sei denn, sie treffen auf ihren natürlichen Feind, die Plot Armor. Dann werden sie zu den intelligentesten Toastbroten. Lasst uns Kid also mal ohne Plot Armor gegen Saguru antreten und schauen, was passiert.
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Fiery Floral. „Flammenblüte“. Ein Rubin von sagenhaften siebenhundertdreiundachtzig Karat, erklecklicher Größe und formidablen Schliff. So exorbitant atemberaubend, dass kein einziger seiner Besitzer darauf gekommen war, ihn in irgendetwas einzufassen – jeder nicht einsehbare Millimeter wäre Verschwendung gewesen.
Schwer und massiv lag er in seiner Hand, drückte sein Gemüt zur Erde in Aufregung und Ehrfurcht. Es bestand kein Zweifel daran, dass dieses Juwel zu den Grandiosen gehörte.
Sein Blick wanderte empor gen Nachthimmel. Zum vollen Mond, der heller zu strahlen schien als sonst, dort, hoch oben über dem Ozean aus künstlichem Licht.
Seine Hand folgte, Edelstein aufgestellt zwischen Daumen und Zeigefinger, ganz vorsichtig in leichter Sorge, den Halt zu verlieren und das unbezahlbare Stück über die Brüstung ins ungewisse Schicksal fallen zu lassen.
Wie würde es wohl aussehen, fragte er sich, ein roter Stein eingebettet in jenes funkelnde Rot eines Rubins. Konnte so etwas überhaupt ohne Weiteres mit bloßem Auge erkannt werden?
Um sicher zu gehen, änderte er mehrmals den Blickwinkel, ließ das Mondlicht über jede Seite einfallen.
Schräg unter ihm knallte die Tür zum Treppenhaus, doch er ließ sich nicht davon ablenken.
Erst war alles still, doch dann hörte er Schritte auf sich zukommen, leise, behutsam und doch berechnend vernehmbar, als wollte man nicht riskieren, ihn aufzuschrecken. Was bei seiner derzeitigen Position auf der Brüstung eines Wolkenkratzers sicherlich taktisch klug war.
„Du liebe Güte. Ich hätte nie gedacht, das mal fragen zu müssen, aber wie lange hast du über diesen Berufswechsel nachgedacht, Herr Detektiv?“
Nach einer letzten entscheidenden Drehung ließ Saguru Blick und Beute sinken und starrte wortlos auf Kid hinab, der ihn von unter der Krempe des weißen Zylinders her angrinste. Er meinte, unter der unbetroffenen Belustigung einen Hauch Besorgnis herauszuhören, doch wer konnte das bei diesem Pokerface schon ganz genau sagen? Gut möglich, dass er in Kids Augen in dieser Nacht den letzten Funken Verstand eingebüßt hatte – als er sich zu diesem Schritt entschieden hatte, hatte er das selbst befürchtet.
Kid blieb wenige Meter von ihm entfernt stehen, auf eine Antwort wartend, und als er keine erhielt, wanderte er kichernd zur Seite, hüpfte auf die Brüstung und schaute in den Abgrund, von dem Gebrüll und Polizeisirenen hinauf hallten: „Nakamori verfolgt mein Double, nur falls es dich interessiert. Das war ganz schön frech, ihn denken zu lassen, ich hätte den Stein noch immer bei mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner der Einsatztruppe damit gerechnet hat, dich mal überlaufen zu sehen.“
Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass Kid selbst damit gerechnet hatte. Dazu hatte er ein bisschen zu selbstgefällig gewirkt, vorhin, als er auf der Vitrine gelandet und praktisch umgehend mit dem typisch beherzten „KIIID“ des Inspektors und dutzenden Wachtmeistern angefallen worden war.
Saguru hatte ihn gesehen, diesen zweikommadrei Sekunden andauernden entgeisterten Gesichtsausdruck, als der Dieb im geführten Gerangel den Stein in die Finger bekommen und die fast unsichtbare Angelschnur bemerkt hatte. Doch das war den Bruchteil einer Sekunde zu spät gewesen, um den Griff zu verfestigen, ehe Saguru kräftig am anderen Ende gezogen hatte und Fiery Floral wie ein Werbegeschenk im Supermarkt in seine wartenden Hände gefallen war.
Danach hatte er sich um nicht viel anderes gekümmert als halsbrecherische Flucht – auch wenn er Kids fassungslosen Blick den ganzen Weg vom Saal zum Flur im Rücken gespürt hatte.
Es war ihm halt keine großartige Wahl geblieben. Kid hatte sich als nicht sonderlich willig erwiesen, mit ihm zu reden, und hatte er erstmal, was er wollte und man war gezwungen, ihn zu verfolgen, hatte man bereits verloren. Er hatte also dafür sorgen müssen, dass sich die Umstände umkehrten. Aber so sehr Ginzo auch bereit dazu war, Beutestücke zur Verhaftung Kids zu instrumentalisieren, so wenig hätte er ihm dieselbe Möglichkeit zugestanden.
Was Saguru absolut nachvollziehen konnte. Er war ein Zivilist, noch dazu in den Augen der Einsatztruppe nicht viel mehr als ein Kind, das Detektiv spielte, auch wenn sie ihm stets mit Respekt und Freundlichkeit begegneten und seinen Intellekt durchaus anerkannten – zumindest alle außer Ginzo, der eine eigene Art von Freundlichkeit aufwies, und herzlich wenig Respekt.
Kurzum, Saguru wollte mit Kid reden, doch der interessierte sich nur für seine Beute, also musste Saguru dafür sorgen, dass er die Beute nur erhielt, wenn er ihm zuhörte.
... Hätte ihm irgendjemand gesagt, dass er einmal einen Edelstein als Geisel nehmen würde, hätte er diesen jemand in sein Labor gebeten und ausgesprochen gründlich untersucht.
Kid wandte ihm das Gesicht zu. Der Schatten der Krempe verdunkelte es bis auf das gewohnte breite Grinsen und die Reflexion des Monds im Monokel.
Bei dem unterschwellig bedrohlichen Anblick fiel es leicht zu vergessen, dass er unter dem Ruf des international gesuchten Meisterdiebs ein Pazifist war. Manchmal, wenn er sich diesem aufmerksamen Blick ausgesetzt sah, vergaß Saguru, dass er den Jungen unter der Maske kannte. Ebenso laut wie das Stimmchen, dass er nichts zu befürchten hatte, hallte dann in seinem Kopf, dass schon viele Menschen angenehme Stunden mit bekannt geglaubten Leuten verbracht hatten, um erst in den letzten Momenten ihres Lebens festzustellen, dass es sich um Serienmörder handelte.
Kid und sein Zielobjekt befanden sich auf engstem Raum, und Saguru stellte das einzige Hindernis dar. Der Gedanke war nicht sehr beruhigend. Würden seine Vorkehrungen ausreichen, um den Dieb die Füße stillhalten zu lassen? Oder würde sich herausstellen, dass Kid die Sicherheit aller Beteiligten doch nicht alles wert war, vor allem, wenn er sich schon bald mit einer sehr emotionalen Entscheidung konfrontiert sehen würde?
Saguru schauderte es, doch er schüttelte energisch den Kopf und legte Fiery Floral in die Beuge seines angewinkelten Beins, welches quer über Brüstung und dem anderen Knie lag. Eine ganze Weile hatte er so gesessen, hatte Kid doch etwas länger gebraucht, um die Polizei abzuschütteln, vermutlich der heillosen Überraschung wegen. Gerne hätte er sich der Schadenfreude hingegeben und gelacht, aber eigentlich war ihm nicht danach zumute, und so fiel es zu unterdrücken nicht sonderlich schwer.
Kid visierte den Stein an – das Verlangen, sich einfach darauf zu stürzten, war nur zu ersichtlich. Doch Saguru hatte seinen Sitzplatz mit Bedacht gewählt, jede schnelle, übereilte Bewegung konnte Reflexe auslösen, Reflexe, die ihn, so dicht, wie er am Rand zum Abgrund saß, leicht hinüberschicken konnten. Und die Richtungen, aus denen Kid hätte angreifen können, waren auf jene begrenzt, die einen solchen Ausgang noch wahrscheinlicher machten. Entschied Kid sich also nicht unbedingt dafür, den Edelstein sein zu lassen und es ein andermal zu versuchen, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen und zuzuhören.
„Das hier ist nicht der Stein, den du suchst.“
Hätte er auch nur ansatzweise geglaubt, dass sein Wort dem anderen Vertrauen schenkte, hätte er nicht mit dieser Eröffnung begonnen. Doch Kid würde ihm nicht viel Zeit lassen, seinen Standpunkt zu verdeutlichen, und um den heißen Brei herumzureden, gereichte bei ihm nie zum Vorteil.
„Oh?“, der Dieb hob einen sarkastischen Tonfall an, „Mir war nicht bewusst, etwas Spezielles zu suchen. Aber weißt du, wenn ich etwas suchen würde, bin ich mir ziemlich sicher, nicht dieselben Anforderungen zu haben wie du. Also warum rückst du nicht ein Stück weit weg und lässt mich selbst nachsehen?“
Wunderbar, die Priorität lag anscheinend immer noch darin, an die Beute zu gelangen, ohne vorher über Sagurus gute Gesundheit hinwegzutrampeln.
Er hielt dagegen: „Dann sei dir ab heute besser ziemlich sicher, dass ich ziemlich genau weiß, wie deine Anforderungen aussehen.“
Kid lachte.
Immer noch ohne Zweifel, dass sein Gegenüber keinen blassen Schimmer hatte, wovon er sprach.
Saguru lachte nicht. Er fühlte nicht die gewohnte Selbstzufriedenheit, die ihn sonst überkam, wenn er ein kompliziertes Rätsel geknackt hatte, ebenso wenig die blanke Vorfreude, wenn sich dahinter ein weiteres, komplexeres verbarg. Dafür muteten die Hintergründe dieses Mal ein bisschen zu düster und viel, viel zu riesig an. Vielmehr empfand er sie fast als einen viel zu großen Bissen, den er im Begriff war, abzubeißen. Dies hier war mehrere Nummern zu groß für ihn und ja, er hätte einen Rückzieher machen sollen, kaum dass er das erkannt hatte.
Aber wenn es bereits ihm zittrige Knie bereitete, dieses schwarze Loch, was sich hinter der Fassade primitiver Publicity-Überfälle auftat ... Wie musste es dann erst Kid gehen? Hatte er Rückendeckung? Hatte er Sicherheit? Reichte sein enormer Genius aus, um der lauernden Gefahr Herr zu werden, die da in der endlos scheinenden Finsternis lauerte?
Nein, es gab zu viele unsichere Faktoren, und so konnte Saguru ihn nicht einfach sich selbst überlassen.
Vielleicht brauchte Kid seine Hilfe nicht. Umso besser, es wäre begrüßenswert gewesen. Aber würde Kid auch nur den Hauch von Anschein erwecken, ebenso hilflos umherzutappen wie Saguru, konnte und würde er ihn nicht im Stich lassen.
Saguru lehnte sich zurück an die Stufe, die hinter ihm die Brüstung ein Stück erhöhte, entspannt, ohne die Aufmerksamkeit von Kid abzuwenden, und erklärte: „Du hast ein Problem, Kid. Ein gewaltiges Problem. Und das solltest du dir endlich klarmachen. Aber da du oft blind gegenüber deiner eigenen Grenzen bist, lass mich dir ‚Problem‘ buchstabieren, hm? Es beginnt mit einem P.“
Kid schnaubte verächtlich und wandte den Blick ab gen Horizont.
„Und es geht weiter mit einem A.“
Ein zweites Mal in dieser Nacht überraschte er ihn, was sich an dem kurzen Stutzen verdeutlichte.
„N.“
Kid erstarrte. Ein leichtes Rucken des Kopfs, kaum merklich, wenn nicht das Monokel aufgeblitzt hätte.
„D.“
„Halt den Mund.“
Saguru gehorchte und ließ Kid Zeit, die Situation angemessen zu analysieren.
Und schluckte, als sich das Grinsen verbreiterte wie das Gebiss eines geifernden Hunds kurz vorm Zuschnappen. „Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, wovon du redest, Herr Detektiv“, es klang glaubwürdig, „Du solltest deine Rechtschreibung überprüfen.“
Saguru atmete kräftig durch, Geduldsfaden wie immer bei Interaktionen mit dem Mondscheindieb gefährlich belastet. Seine Antwort kam mit einer Kid ebenbürtigen Ruhe, die er nicht fühlte.
„Wenn man den Blickwinkel ändert, ist es nicht schwer zu erkennen. Ich muss zugeben, mit einer zu einfältigen Einstellung an deinen Fall herangegangen zu sein. Ich habe mich wie alle anderen von deiner geschickten Zurschaustellung blenden lassen, tatsächlich gedacht, du würdest aus Eitelkeit handeln, stehlen aus dem simplen Grund, dass du es kannst. Dabei ist der Bruch ziemlich deutlich. Am Anfang hast du wahllos Kunstgegenstände geraubt, und mit ‚Anfang‘ meine ich nach einer achtjährigen Pause, die meiner Meinung nach sowohl weder während ihrer Dauer noch bei ihrem Ende genug untersucht wurde. Aber dann, nach der ägyptischen Ausstellung für antiken Schmuck ... Nichts. Keine Bilder, keine Skulpturen, keine Kuriositäten mehr. Nur noch exklusiv Juwelen.“
Kid wollte etwas sagen, doch Saguru ließ keinen Einwand zu.
„Wenn du mich fragst – du hast etwas gesucht, und nach Blue Birthday hast du die Suche eingegrenzt. Weil du Hinweise darauf gefunden hast, dass es sich bei deinem Zielobjekt um ein Juwel handelt. Aber nicht irgendeins. Green Dream, Crystal Mother, Red Tear, Black Star, Golden Eye, die Dark Knights, Blue Wonder ... Die meisten, die du dir zum Stehlen aussuchst, gehören zu einer kleinen Gruppe, die man als Großjuwelen der Welt bezeichnet. Die Tatsache, dass du deine Beute jedes Mal ins Mondlicht hältst, kann nichts anderes bedeuten, als dass du einen bestimmten Stein suchst, dessen Wert sich nur auf diese Weise offenbart. Und die Tatsache, dass du bisher jede Beute unbeschädigt zurückgegeben hast, bedeutet, dass alles andere wertlos für dich ist. Recherchiert man die Geschichten der Großjuwelen eingehender, stolpert man über einen Haufen Legenden. Die Menschen haben ihre Faszination für außerordentliche Objekte schon immer gerne in sagenhafte Geschichten verpackt – und eine sticht besonders hervor. Eine, die eins zu eins mit deinem Modus operandi übereinstimmt.“
„Woher weißt du das alles?“
Die Unterbrechung kam nicht unerwartet, wohl aber der feindselige Ton, in dem sie erfolgte. Saguru hatte mit Sarkasmus gerechnet, Ironie, alles, um von einer Schwäche abzulenken, vielleicht, im besten Fall, mit einem Funken Hoffnung.
... Doch, wenn er ehrlich mit sich war, war er auf ein gewisses Maß Ablehnung vorbereitet gewesen.
Aber nicht auf so viel. Kid klang, als war er der absolut letzte, den er in der Ecke seines Spielfelds haben wollte, und selbst das wäre noch Platzverschwendung gewesen.
Autsch.
Durchatmen. Nicht auf Provokation eingehen. Das hier tat er nicht für sich selbst. Doch trotz bester Absichten spürte er, wie die gezeigte Feindseligkeit sein Inneres zum Kochen brachte. „Ich habe Kontakte, ich habe das Darknet“, erwiderte er reserviert, „und ich habe einen gewissen Grad an Intelligenz, auch wenn du mir den bei jeder Gelegenheit absprichst.“
„Verdammte Detektive und ihre verdammte Neugier! Können sie nicht abschalten, und wenn’s um ihr verdammtes Leben geht!“
Das Pokerface hatte sich zu einer angespannten Fratze verzogen, das erste Mal, dass Saguru so etwas wie Ärger in den sonst spöttischen Zügen herauslesen konnte. Mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit wuchs dieser Ärger aus Sorge um seine Person.
... Oder er fantasierte zu viel hinein. Aber dieser Betrachtungswinkel half ihm, die eigene Wut über so viel Überheblichkeit zu unterdrücken.
„Du machst es leichter, als du denkst“, stieß er mehr frustriert als selbstzufrieden hervor und Kids schiefgelegter Kopf deutete auf eine erhobene Augenbraue hin, „Das, was dich vor einer Festnahme bewahrt, sind dein unglaubliches Glück, deine Komplizen und glaubwürdige Bestreitbarkeit, nicht der Mangel an handfesten Beweisen!“
Ein Hauch von Kids üblicher Haltung kehrte zurück und er legte in einer provokanten Hm-Pose eine Hand ans Kinn: „Glück will ich nicht bestreiten, jeder gute Magier besitzt ein gesundes Maß davon. Aber Komplizen? Glaubst du wirklich, hochgradige Könner wie ich wachsen auf Bäumen?“
„Du hast mindestens zwei – wag es ja nicht, es abzustreiten“, Saguru funkelte ihn drohend unter Ponyfransen hervor an und Kid klappte tatsächlich den Mund zu, „Ich bin mir auch ziemlich sicher, zu wissen, wer sie sind, aber wie das Schicksal so spielt, habe ich keine stichhaltigen Beweise in diesem Belang.“
„Aber in meinem schon? Träumst du oft mit offenen Augen, Herr Detektiv?“
„Wie arrogant kannst du sein?! Wir haben deine DNA!“
„...“
Saguru schnaubte abfällig ob Kids Schweigen und fuhr fort: „Mein Hauptverdächtiger entspricht zu Neunundneunzig Komma Sechs Sieben Prozent den Untersuchungsergebnissen. Aber sicher, wenn du nachts besser schlafen kannst, halt dich daran fest, dass alles andere praktisch Indizienbeweisführung ist: Er ist einer der besten Zauberer, die ich kenne, er kann alles außer Schlittschuhlaufen und bis zum Anfang des Jahres hat er seine verdammte Kartenkanone noch in der Freizeit abgefeuert! Seine Freunde denken übrigens, die hätte er nach deinem Vorbild konstruiert – dumm nur, dass du zu der Zeit, in der er ein vollständig funktionelles Modell benutzt hat, noch gar nicht wieder aktiv warst! Wenn nur einer in deinem Umfeld darüber nachdenken würde, wenn auch nur einer es wahrhaben wollte, wärst du schneller überführt, als du dich in Luft auflösen könntest!“
Kid verschwand.
Noch während Sagurus Augen sich weiteten und alle Sinne in Habachtstellung umsprangen, fühlte er den Luftzug in der Seite und zuckte automatisch in die andere – Richtung freien Fall. Seine Innereien schienen der Schwerkraft zuvorkommen zu wollen und eine Welle heftiger Übelkeit überkam ihn, da packte plötzlich jemand seinen Ellenbogen wie in einem Schraubstock und riss ihn weg vom Abgrund.
Sie landeten hart auf dem Beton, sowieso schon geringes Volumen Sauerstoff in ihren Lungen durch den Aufprall komplett erschöpft.
Kurze Rangelei, der Versuch, den jeweils anderen zu überwältigen, ein gut gezielter Schlag ließ die Dose Betäubungsspray fliegen.
Aufspringen.
Kurze Panik, wo war der Edelstein? Natürlich verschwunden, aber sicher nicht in die Tiefe.
Die Ablenkung reichte, ein kräftiger Arm legte sich um Sagurus Hals, zwang ihn rücklings gegen eine Brust und hielt.
Aus einem Reflex heraus schob Saguru den Fuß zurück, griff den Arm und wollte den Angreifer über die Schulter zu Boden werfen, doch ein schwerer Ballast schoss ihm in die Kniekehle und ließ das Standbein einknicken. Derart aus dem Gleichgewicht, fiel er nach hinten über.
Ein zweiter Aufprall, zwar etwas abgemildert durch Kids Gegensteuern, nichtsdestotrotz auf den Steiß.
Autsch.
Der Arm hatte den Druck nicht aufgegeben, so wie auch seine Finger noch immer unnachgiebig in ihn verkrallt blieben.
Nun keuchten die Jungen um die Wette, Kids Beine neben Sagurus Hüften angespannt, als erwartete er weitere Gegenwehr.
Doch Saguru zwang sich zur Ruhe. Es war gleichgültig, wo Kid sich befand, wo sich Fiery Floral befand oder er selbst, solange ihm Kid weiterhin zuhören musste. Anhand der pulsierenden Muskeln unter seinen Fingerkuppen bezweifelte er, dass er sich gerade an eine von Kids Scherzprothesen krallte – solange er also festhielt, konnte er nicht noch einmal verschwinden.
„Manchmal, Herr Detektiv“, schnaufte Kid ihm ins Haar und schluckte, „manchmal glaube ich fast, du bist noch verrückter als ich.“ Die schiere Fassungslosigkeit in der Stimme entlockte Saguru ein atemloses Lachen.
„Sooo ... Könntest du meinen Arm loslassen?“
„Nein.“
„Uuund ... Warum nicht?“
„Wir sind noch nicht fertig miteinander.“
„Komm schon, Herr Detektiv, erwartest du etwa ein lückenloses Geständnis? Das würde ich dem Inspektor nie antun! Die Jagd auf Kid ist seine ganze Lebensfreude! Und du solltest kein Spielverderber sein, nicht so sehr auf Nebensächlichkeiten herumreiten und ihn nicht mit deinen lächerlichen Schlussfolgerungen belästigen.“
„Nakamori hat all diese Informationen bereits.“
Der Arm straffte sich und Saguru musste sich daran erinnern, dass das Kid war, in dessen Schoß er hockte. Trotzdem ging sein Herzschlag einen Takt schneller, während er gezwungen ruhig fortfuhr: „Er hatte einmal denselben Hauptverdächtigen im Auge wie ich. Ich habe ihn gefragt, was ihn seine Meinung hat ändern lassen. Er sagte, dass derjenige sich während eines Überfalls mit einer Freundin getroffen hatte. Ich habe ihn gefragt, ob ihm eine solche Aussage tatsächlich ausreicht. Er sagte ja. Glaubwürdige Bestreitbarkeit.“
Kid seufzte theatralisch: „Stimmt ja, ich rede mit dem Typen, der auf seinem Standpunkt beharrt, obwohl sein Hauptverdächtiger während eines Überfalls ununterbrochen an ihn gekettet war.“
„Ich bin eben nicht so leicht zu täuschen. Du wolltest ein Alibi generieren oder, was ich für wahrscheinlicher halte, deine Freundin hat aktiv versucht, Nakamoris Verdacht zu zerstreuen – immerhin ist es nicht ganz leicht, zu glauben, dass der beste Freund ein international gesuchter Verbrecher ist, so pazifistisch er auch eingestellt sein mag.“
„Und du? Du akzeptierst sowas stumpf?“
Saguru hielt inne. Seltsam, wie oft ihm seine kühle Analytik als etwas Negatives vorgeworfen wurde. Zwar hatte er sich an das Infragestellen seiner Ethik gewöhnt, doch aus dem Mund eines ... Freundes ... tat es etwas mehr weh.
Nichts, womit er nicht umgehen konnte.
„Ich schätze, für mich macht es schlichtweg keinen Unterschied. Ich will, dass du mit dem Stehlen aufhörst. Das ist alles. Und ich denke, ich gehe die Dinge ein bisschen nüchterner an als deine Freundin.“
„Du weißt zu erstaunen, Herr Detektiv. Nie hätte ich gedacht, dass du unschuldige Damen mit hineinzieh-“
Saguru versetzte Kid im Zorn einen Tritt ans Schienbein, ehe er den Satz beenden konnte, fühlte er sich doch nun ernstlich verletzt von ihm, der ihn besser kennen sollte. „Wofür hältst du mich?“, spuckte er giftig mit einer halben Drehung des Kopfs aus und ignorierte den zunehmenden Druck auf seine Luftröhre, „Denkst du wirklich, ich würde ihre Gesundheit aufs Spiel setzen für eine Schlussfolgerung, die du selbst am besten kennst?! Ich muss dich nicht entlarven, Kid, ich weiß, wer du bist! Ich will dir helfen, verdammt nochmal!“
Jede Bewegung fror ein. Lange, unangenehme Sekunden, Minuten gar saßen sie da, auf dem kalten Beton, im Dunkel der Nacht und atmeten kontrolliert ein und aus, als wollten beide sichergehen, dass der jeweils andere vor Schreck nicht ganz damit aufgehört hatte.
Kid war noch nie in seiner Gegenwart paralysiert gewesen, und das ungewöhnliche Schweigen strapazierte Sagurus Nerven.
„Helfen?“
Kids Stimme durchschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Sein Atem kitzelte Sagurus Ohr, mehr noch, als er sich in zynisches Kichern verwandelte.
„Ich brauche keine Hilfe, Herr Detektiv, schon gar nicht von dir“, fuhr er im Plauderton fort, doch für jemanden mit scharfsinniger Aufmerksamkeit war es nicht schwer, die Anspannung herauszuhören.
Kid hob die Hand und zu niemandes Verwunderung hielt er Fiery Floral zwischen den Fingern. Der Edelstein wanderte empor, Sagurus Blick folgte ihm automatisch und stoppte erst, als er auf einer Höhe mit dem Mond lag.
„Wobei willst du mir überhaupt helfen?“, höhnte Kid weiter, „Mit Verlaub, deine bescheidenen Fähigkeiten geben keinen besonders guten Dieb ab!“
Komisch, so etwas von demjenigen zu hören, dem er vor nicht allzu langer Zeit die Beute abgeluchst hatte, wollte Saguru dagegenhalten, schluckte die spitzfindige Antwort jedoch herunter und formulierte eine zierendere. Mondlicht und Rubin spiegelten sich in seinen Augen, während sich ihm derselbe Anblick bot, den er bereits vor Kids Ankunft genossen hatte. Das Funkeln des Schliffs war wunderschön, wie zu erwarten bei einem der wertvollsten der Welt, aber ein Bild im Bild erschien nicht.
„Dein Ziel“, murmelte Saguru und spürte Kid zucken, der sich etwas zu sehr in den andächtigen Moment vertieft hatte, „willst du noch lange danach suchen wie nach einer Nadel im Heuhaufen? Hast du nie darüber nachgedacht, dass eine etwas koordinierter Herangehensweise eventuell höhere Erfolgsaussichten verspricht?“
Einmal mehr schnaubte Kid ihm abfällig ins Haar und langsam wurde ihm ihre Position wirklich unangenehm. Doch ehe er über die zahllosen Möglichkeiten nachgrübeln konnte, wie leicht man ihm in dieser Stellung den Hals umdrehen konnte, schmollte Kid: „Hey, also ich finde, an meiner Herangehensweise gibt es nichts auszusetzen. Zumal du nicht einmal weißt, welche Prioritäten ich setze. Aber ich bin nunmal kein professioneller Schnüffler, Herr Detektiv.“
Offensichtlich.
„So viele Hinweise in einem einzigen Satz, und du fragst immer noch, wobei ich dir helfen kann?“
Erneut folgte Schweigen und Sagurus Frustration wuchs. Es war zwar nicht verwunderlich, dass der Dieb sich sträubte, ihm zu vertrauen, und wenn er seinen Charakter richtig einschätzte, womit er zugegebenermaßen bei manchen Menschen unerklärliche Schwierigkeiten hatte, spielte auch ein enormer Beschützerinstinkt mit ein.
Der jedoch bei Saguru vollkommen verschwendet war – er konnte hervorragend auf sich selbst aufpassen.
Nun, solange Kid naseweise Kommentare zurückhielt, würde er die Zeit nutzen, ihm diese Tatsache zu verdeutlichen.
„Vorhin hast du über Kid in der dritten Person gesprochen und es ist nicht das erste Mal, dass du das tust. Was mich zu dem Schluss bringt, dass es mindestens einen weiteren ‚Kid‘ gibt oder gegeben hat. Mitstreiter oder Vorgänger.“
Toichi Kuroba. Noch eine Vermutung, die auf keinerlei dingfesten Beweisen fußte. Doch es war so einfach, eine Verbindung herzustellen – der weltbeste Zauberer, ein beinahe identisches Kostüm, gewaltsamer Tod acht Jahre zuvor, die gleichzeitig letzte Erscheinung des ‚alten‘ Kaito Kid, die Rückkehr zu einer Zeit, in der der Sohn alt genug war, in die Fußstapfen zu treten. Alles war da, vor ihren Nasen – man musste nur glauben.
Doch Saguru wusste, dass Glauben nicht gleich Wissen war. Eine Überführung ohne Beweise konnte nicht stattfinden. Und das wollte er auch gar nicht. Nicht wenn sie eine lebensbedrohliche Gefahr für das kriminelle Element darstellte. Wie in Trance starrte er noch immer auf den Rubin, das Glitzern der dunkelroten Farbe im fahlen Schein, die so sehr an etwas anderes, unangenehmeres erinnerte.
„Scharfschützen, Unfälle, Verfolger, so geschickt, dass ihre Identitäten im Dunkeln bleiben, Verfolger, die die Polizei nie zu Gesicht bekommt, die aber Spuren hinterlassen, die zu subtil sind, um richtig gedeutet zu werden. Die Jagd nach Blue Birthday hat die Einsatztruppe damals geradewegs in ein verlassenes Anwesen geführt, angeblich dein Unterschlupf, obwohl es, egal aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, viel zu geräumig für eine Person war und nicht im Geringsten deinem Stil entsprach. Es sei denn, du hast die tonnenweisen illegalen Waffen, die bei der Durchsuchung gefunden wurden, aus reiner Liebhaberei gesammelt. Und all diese seltsamen Vorkommnisse ereigneten sich ausschließlich bei den Jagden auf die Großjuwelen.“
Der Körper in seinem Rücken verlagerte sich unmerklich und er hatte das Gefühl, als versuchte Kid, ihm mit der Schärfe seines Blicks ein Loch in den Hinterkopf zu brennen. Kein angenehmes Gefühl, doch er ignorierte es.
„Pandora, der Stein des Lebens. Oder der Unsterblichkeit, je nachdem, wie man es sehen will. Ein Status Quo der Existenz, den die Menschheit nicht müde wird, ohne Rücksicht auf Verluste zu verfolgen. Eine gefährliche Bereitschaft, die einer Menge Beteiligter und Unbeteiligter eine Menge Probleme einhandeln kann. Aber Probleme entstehen erst, wenn uns Träume zu Dummheiten anstiften. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du einer der Dummen bist, Kid. Du wirkst nicht wie der Typ Mensch, der sich ewige Jugend wünscht. Also warum setzt du dein Leben aufs Spiel? Vor wem willst du Pandora schützen?“
Einen Moment wartete er, um Kid die Gelegenheit zu geben, seine Gedanken zu sammeln, doch letztendlich musste er auch diese Frage selbst beantworten.
„Ich vermute eine Gruppe. Sehr wahrscheinlich sogar eine Organisation, so sorgfältig wie es ihnen gelingt, jede entscheidende Spur zu verwischen. Und so lange, wie sie schon daran interessiert sind, kann es sich nicht um harmlose Neugier oder Forscherdrang handeln. Sie glauben an die Legende. Und so vehement, wie sie dich, als ihren einzigen Rivalen, auszuschalten versuchen, gehen sie für diesen Glauben über Leichen. Ich weiß nicht, wer oder was dir noch als Unterstützung dient, aber ich kann und will dir helfen.“
„... Hm.“
Er mochte schreien. Diese ganze wohl überlegte Analyse, und sie rang Kid lediglich ein nichtssagendes „Hm“ ab. Saguru war schmerzlich bewusst, dass er vermutlich von einem Großteil der Umstände keine Ahnung hatte. Aber er war überzeugt davon, den kleinen Teil, den er ans Licht gebracht hatte, korrekt geschlussfolgert zu haben. Sicherlich mussten seine Gedankengänge zumindest so viel Eindruck geschunden haben, dass Kid eine Weile über das Angebot nachdachte.
Kids Hand, die den Edelstein gegen das Mondlicht gehalten hatte, senkte sich endlich und ließ ihn auf dem Weg in Sagurus Manteltasche gleiten.
„Ist das alles, was du zu sagen hast? Könntest du mich dann jetzt bitte loslassen?“
Automatisch griff Saguru den Arm vor sich fester und hörte noch ein resigniertes Seufzen, ehe Kid mit einem kräftigen Ruck ihre Positionen tauschte und sich Saguru auf dem Bauch liegend wiederfand. Seinem Halt tat das keinen Abbruch und so blieb es nicht bei einer Rolle.
Die Jungen wälzten sich rabiat hin und her, Schmutz und Schürfwunden gegenüber herzlich gleichgültig, der eine nichts als Abstand, der andere nur Rückhalt im Sinn.
Keiner von beiden achtete auf die Richtung und so kam es, dass sie sich plötzlich neben der Dose Betäubungsmittel wiederfanden, die Saguru Kid im ersten Kampf aus der Hand hatte schlagen können. Instinkte schlugen Alarm, Kid war schneller, der Arm um seinen Hals verfestigte sich wieder.
Schlafen hieß nicht reden können, nicht überzeugen können, und so reagierte Saguru entsprechend, zog den Kopf gerade noch rechtzeitig aus der Schlinge, ehe sie sich zuziehen konnte, drehte sich und nutzte den Kontakt zu Kids Arm, um ihn von sich zu stoßen. Beide verloren durch den unerwarteten Schwung das Gleichgewicht, rollten sich aber geübt über die Schulter ab.
Saguru kam in der Hocke zum Stehen, schnellte sobald er konnte in die Höhe und rief in der Panik, dass Kid die Chance nutzen würde, laut seinen Namen.
„... Kid“, fügte er noch geistesgegenwärtig und mit zittriger Stimme hinzu, als er erkannte, dass ihm der Dieb noch immer gegenüberstand – aufrecht, unüblich ernst, aber er hatte sich nicht umgehend aus dem Staub gemacht. Ein gutes Zeichen?
Kid musterte ihn eine Weile stumm. Doch dann wanderte er langsam, sehr langsam Richtung Brüstung, immer ein Auge auf ihn habend als fürchtete er, noch einmal angegriffen zu werden. Angekommen, blitzte das Monokel auf, doch das manische Grinsen war nirgends zu sehen. So oft, wie er ihn in ihrer Freizeit zu etwas mehr nötigem Ernst aufforderte, erstaunte es Saguru, dass er jetzt nichts lieber gehört hätte als das überhebliche Lachen.
Doch zumindest dachte Kid nach, wenn die konzentriert über seine Unterlippe gleitende Zunge als Indikator dafür gelten konnte.
„Du hast die Wahrscheinlichkeit, belauscht zu werden, einkalkuliert und gibst keinerlei Hinweise auf meine Identität preis, hältst aber mit keinem Wort hinterm Berg, dich als Komplize anzubieten“, fasste Kid die Vorkommnisse zusammen und schüttelte entgeistert den Kopf, „Ich frage mich, wer von allen Beteiligten hier wirklich der Dumme ist, Herr Detektiv.“
Weil es gleichgültig war, wer ihm auf dem Nachhauseweg auflauerte. Saguru betonte seinen Standpunkt und erntete einen verärgerten Blick, der ihm jedoch ebenso egal war. Alles was zählte, war, Kid zu beweisen, wie ernst ihm die Sache war. Er hatte sich diesen Schritt sehr genau überlegt. Und er war bereit, das Risiko zu tragen.
Kid entfuhr ein beinahe hysterisches Lachen. Nicht das, was er sich gewünscht hatte, doch Bettler konnten sich nicht immer alles aussuchen. „Du kennst das Risiko nicht einmal“, herrschte man ihn an, doch Saguru blieb unbeeindruckt.
„Das ist meistens so in meinem Metier. Oder denkst du, jeder Fall eröffnet sich mir sofort eingeordnet auf einer Skala von harmlos bis potenziell tödlich?!“
Kid zuckte zusammen, doch Saguru schonte ihn nicht. Offenbar musste man es in diesen märtyrerischen Dickschädel hineinhämmern, dass er sich bereits mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert gesehen hatte, als Kid noch ein stinknormaler Teenager gewesen war. Oder zumindest so stinknormal, wie es einem Kuroba möglich sein konnte. Er fixierte Kid mit einem strengen Blick und zuckte mit den Schultern: „Du hast es bei unserem ersten Treffen doch selber gesagt – ich bin hier der Detektiv. Und damit ist es mein Job Dinge herauszufinden, so übel wie sie sich auch herausstellen können.“ Er zwang sich zur Stoik, sein Schmunzeln, das er eigentlich als beschwichtigend einstudiert hatte, wäre hier nur einmal mehr als Überheblichkeit missgedeutet worden.
Stattdessen streckte er Kid eine Hand entgegen.
„Ich will, dass du mit dem Stehlen aufhörst. Ich habe nie behauptet, dass der einzige Weg dorthin übers Gefängnis gehen muss. Keine Ahnung, warum du nach Pandora suchst, aber ich bin mir verdammt sicher, dass der Grund ein wesentlich tugendreicherer ist, als der deiner Verfolger. Bitte, lass mich dir helfen, Kid.“
Der Dieb starrte auf die einladende Geste hinab wie ein Kaninchen in die Augen einer hungrigen Katze, Verstand ratternd wie ein Uhrwerk.
Saguru wusste, dass er ihn unter der Hutkrempe diskret musterte. Er wusste auch, wie müde er aussah – kein Wunder bei der ganzen Ermittlungsarbeit, die er in den letzten Wochen geleistet hatte. Und er hoffte inständig, dass sein Gesicht die Entschlossenheit zeigte, sich auf jene Seite zu schlagen, die ihm als die ehrenwertere erschien, international gesuchter Krimineller hin oder her. Ja, seine Ermittlungen hatten ihm zweifellos offenbart, wie gefährlich die Einmischung in dieses Pulverfass werden konnte, trotzdem war er hier, bereit, sich Kids Erklärung der Umstände anzuhören, anstatt eigene und möglicherweise wieder übereilte Schlüsse zu ziehen. Musste Kid das nicht irgendetwas bedeuten?!
„Saguru.“
Sein Vorname aus dem Mund des Diebs verblüffte ihn so sehr, dass alle Gedankengänge abrupt zum Erliegen kamen. Die Irritation musste ihm von der Nasenspitze abzulesen gewesen sein, denn es entlockte Kid ein Schnauben echten Humors.
Doch der war kurzlebig und alsbald sah er ihn wieder ernst an, durchdrang mit seinem Blick alle trotzige Hartnäckigkeit und Schutzmauern seiner Seele. „Saguru“, wiederholte er, vielleicht nur, um ihm noch einmal eine peinliche Reaktion zu entlocken, ein Gefallen, den ihm Saguru nicht tat, „Ich kann nicht. Sobald ich deine Hand greife, gibt es kein Zurück. Du wirst dich in Lebensgefahr befinden, wo auch immer du bist, was auch immer du tust. Das kann ich nicht zulassen.“
Saguru schluckte. So staubtrocken, wie seine Kehle plötzlich war, kratzte es unangenehm an den Seitenwänden. „Glaubst du nicht, dass das meine Entscheidung sein sollte?“, fragte er mit unzureichend unterdrücktem Zorn in der Stimme.
„Ich kann nicht.“
Kid betonte jedes Wort.
„Du hast keine Vorstellung. Von nichts. Nicht davon, was dich erwartet und nicht davon, wie gern ich deine Hand fassen würde. Aber es geht nicht. Ich werde sie niemals hineinziehen und ich werde dich niemals hineinziehen. Habe ich mich verständlich genug für dein verbohrtes Hirn ausgedrückt?“
Aoko. Ginzo. Die Polizei. Kid hatte nicht vor, irgendwen anders als sich selbst zur Zielscheibe zu machen. Ja, er hatte sich sehr verständlich ausgedrückt. Und auch diese Erkenntnis manifestierte sich wohl in seiner Mimik, denn Kid nickte zufrieden und hielt es für unnötig, seinen Standpunkt weiter auszuführen.
Nur zwei Finger an der Hutkrempe und sein plötzlich wieder strahlend weißes Grinsen dienten Saguru als Warnung, ehe Kid sich ohne ein Wort des Abschieds in den Abgrund fallen ließ.
Saguru eilte nicht sofort zur Brüstung. Er wusste, was er sehen würde, gespannter schneeweißer Gleiter in der Ferne, stetig schrumpfend.
Einen Augenblick wartete er nur, ehe er seufzend in sich zusammensackte, jede Anspannung aus seinem Körper weichend. Er schob die Hände in die Manteltaschen, marschierte endlich zum Rand und sah dem schnell kleiner werdenden Dreieck nach.
Der Flug blieb ungestört. Er vermutete, dass das Riesenaufgebot von Wachleuten die obskuren Feinde dieses Mal wohl so abgeschreckt hatte, dass sie Pandora Pandora hatten sein lassen. Ein Lichtblick im Finstern, dachte er bei sich, sie schienen die Angst vor der Polizei noch nicht völlig abgelegt zu haben. Saguru hatte sein Bestes gegeben, Ginzo bei den Abwehrmaßnahmen zu beraten, und dass sie gewirkt hatten, bekräftigte nur seine Überzeugung, Kid helfen zu können.
Zwar hatte dieser arrogante Arsch jedwede Unterstützung ausgeschlagen, doch hatte er deutlich durchscheinen lassen, dass er sie verdammt gut gebrauchen konnte. Und nun konnte er nicht verhindern, sie trotzdem zu erhalten – schließlich war Saguru sein eigener Herr.
Er würde weiterhin jede Ankündigung rechtzeitig entschlüsseln. Er würde stichhaltige Beweise finden, wenn und warum es sich bei einer angepeilten Beute nicht um Pandora handeln konnte. Jeden einzelnen Fall würde er genauestens untersuchen und Kid zuverlässig warnen, zur Not mittels durchgemachter Nacht. Und Schritt für Schritt würden sie sich an Pandora heranarbeiten, bis sie sicher sagen konnten, ob dieser legendäre Stein tatsächlich existierte und wo sie ihn finden konnten.
Bis Kaito begriff, dass es unnötig war, sich in Lebensgefahr zu begeben, wenn man einen Meisterdetektiv zum Freund hatte.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Lulas Nachwort ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Eine wirklich tolle Geschichte passend zum Zitat. Wirklich gelungen (nur hatte ich nicht so viel Text erwartet, als ich die Geschichte gerade gelesen habe).
Eure lula-chan