Die Geschichte vom Schwarzen Gänserich Pablo
Kurzbeschreibung
Auf ihrem Weg nach Lappland treffen die Graugänse Lillesol, Ilvie und ihre Freunde einen arroganten Gänserich mit schwarzen Federn. Auf sein seltenes Aussehen und seine spanische Herkunft bildet sich Pablo viel ein. Aber hat er auch den Mumm und das Durchhaltevermögen, die Wildgänse zu ihren Brutgebieten im hohen Norden zu begleiten? Diese kleine Tiergeschichte habe ich als Kind erfunden und in Form eines Comics gezeichnet. Inspiriert wurde ich von "Die Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen". ©️ All Rights reserved
GeschichteFantasy, Freundschaft / P12 / Gen
07.11.2020
21.04.2023
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2.155
»DER SCHNEE BEGINNT ZU SCHMELZEN, Lillesol. Ich bin sicher, dass wir bald aufbrechen werden.«
»Aber wir sind noch nicht vollzählig. Wir können nicht ohne Snorre und Kalle losfliegen.«
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Vielleicht sind sie ja von Lura gefangen worden.«
»Ilvie, das ist nicht lustig. Du weißt genau, dass diese Füchsin derzeit hier in dieser Gegend jagt und sie ist nicht allein. Ihre flegelhaften Söhne Drummel und Knöl sind jetzt alt genug, um selbstständig eine Gans zu erbeuten.«
»Du lässt dich wirklich verdammt schnell in Angst und Schrecken versetzen, Schwesterherz.«
»Ilvie! Lillesol! Würdet ihr bitte für einen Moment das Schnattern einstellen und euch zu uns gesellen? Euer Großvater hat der Schar etwas mitzuteilen.«
»Ist gut, Papa! Wir sind schon auf dem Weg.«
Hallo, ihr lieben! Mein Name ist Lillesol. Ich bin eine Graugans. Das hübsche Gänschen neben mir ist meine Schwester Ilvie. Wenn sie nicht so fies ist, nenne ich sie Vie-Vie. Aber leider ist sie oft gemein zu mir und das nur, weil sie ein paar Minuten vor mir aus dem Ei geschlüpft ist. Sie denkt, dass sie deswegen mutiger wäre als ich.
Aber das stimmt nicht. Ich habe nur ganz selten Angst. Während es gewittert zum Beispiel. Oder, wenn ein Sturm aufzieht. Ich erschrecke mich manchmal vor hämmernden Spechten oder rufenden Raben und im Dunkeln ist es besonders gruselig. Am meisten fürchte ich mich vor Lura, der schwarzen Füchsin und ihren Söhnen. Aber, dass ich besonders ängstlich bin, das kann ich nicht von mir behaupten.
Und Vie-Vie ist auch nicht immer so furchtlos, wie sie vorgibt zu sein. Schon gar nicht, wenn Ganter in der Nähe ist. Den findet sie nämlich ganz besonders nett und träumt heimlich von einem gemeinsamen Nest mit ihm in Lappland. Aber dort müssen wir erstmal hinkommen.
Heute ist die Luft zum ersten Mal in diesem Jahr angenehm mild und die letzten Eis- und Schneeschichten beginnen zu schmelzen. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass unsere Schar bald aufbrechen wird. Es sind auch beinahe alle Gänse hier, um sich zu sammeln. Nur unsere Freunde Snorre und Kalle fehlen noch. Ich hoffe, dass ihnen nichts passiert ist.
Der Anführer der Schar ist übrigens unser Großvater Magnus, der Vater unserer Mutter Alva. Er ist der größte und stattlichste Gänserich, den ich kenne. Na ja, abgesehen von unserem Vater, Runar. Dessen Vater haben wir nie kennengelernt. Er ist lange vor unserem Schlupf gestorben. Von den Zweibeinern gefangen worden, hat man uns erzählt. Aber wir haben noch zwei Großmütter. Nelma und Oletta. Doch keiner von ihnen sieht im Moment besonders heiter aus.
»Denkst du, es gibt irgendein Problem, dass die alle so ernst dreinschauen, Vie-Vie?«
»Ich habe gehört, wie Mama sagte, dass sie Sorgen um Opi hat. Sie befürchtet, dass er die Schar auf dem weiten Flug nach Lappland nicht mehr im Griff haben könnte. Er ist nicht mehr so kräftig wie früher und der vergangene Winter war lang und hart.«
»Ich kann mir keinen anderen Anführer als ihn vorstellen.«
»Ich auch nicht, Lillesol, aber das ist der Lauf der Dinge. Pass auf, jetzt ergreift er das Wort!«
Opi ist auf einen Baumstumpf am Rande des Sees, auf dem wir uns sammeln, geflattert. Er schaut streng zu einigen jungen Gänsen, die nach wie vor auf dem Wasser herumtoben.
»Alle Gänse dieser Schar versammeln sich bitte unverzüglich um mich und hören mir zu!«
»Sie hören auf ihn. Von wegen zu alt.«
»Psst, Lille! Auch du musst dich benehmen.«
»Ist ja schon gut.«
Opi wartet noch einen Augenblick, bevor er erneut zu uns spricht.
»Der Winter zieht sich allmählich aus der Welt zurück. Das bedeutet, dass wir den Heimweg nach Lappland antreten können. Wir brechen morgen früh auf.«
Begeistertes Flattern und Schnattern lässt keinen Zweifel daran, dass sich jede Graugans über diese Nachricht freut. Doch Opis Miene bleibt ernst und Omi wendet sich ihm zu.
»Kannst du verstehen, was sie zu ihm sagt, Ilvie?«
»Ich bin nicht sicher, aber es klang, als ob sie ihn gefragt hat, ob er sich sicher sei. Sicher womit?«
»Wir werden es gleich erfahren.«
»Meine lieben Gänse. Bevor wir uns auf die lange und gefährliche Reise begeben, möchte ich euch noch etwas Wichtiges verkünden.«
Das fröhliche Schnattern macht einer ratlosen Stille Platz. Jetzt sind alle Schnäbel auf unseren Anführer gerichtet.
»Nachdem wir im letzten Herbst unser Winterquartier erreicht hatten, kam meine Frau zu mir und hat mir etwas ans Herz gelegt. Ich habe den ganzen Winter darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es wirklich das Beste für unsere Schar ist.«
»Was hat er vor? Worum geht es, Lillesol?«
»Kalle und Snorre. Da seid ihr ja endlich! Wo habt ihr so lange gesteckt?«
»Lillesol! Ruhe jetzt!«
»Ja, Papa. Entschuldige.«
Das Zischen meines Vaters hat auch das ungeduldige Gemurmel einiger weiterer Gänse unterbrochen. Nachdem er tief eingeatmet hatte, fuhr Großvater mit seiner Ansprache fort.
»Über viele Jahre lang habe ich euch, eure Vorfahren und auch eure Nachkommen sicher nach Lappland hin und wieder zurückgeführt. Ich bin sehr stolz darauf, all diese Jahre der Anführer solch einer lobenswerten Schar gewesen zu sein. Dafür möchte ich euch meinen größten Dank und meine Hochachtung aussprechen. Ich hoffe, dass ich für euch ein ebenso gutes Oberhaupt war.«
»War? Was meint er damit?«
Einer der jungen Gänseriche kann es mal wieder nicht abwarten.
»Ich werde nicht jünger und die Strapazen dieser Reisen zehren von Mal zu Mal mehr an meinen müden Knochen.«
Ein Raunen geht durch die Reihen. Ich bin überrascht, wie viel unser Opi den anderen Gänsen tatsächlich bedeutet.
»Er ist sehr streng, aber ich halte große Stücke auf ihn«, flüstert Snorre und nickt kräftig mit dem Kopf. Auch Fria, eine junge Gans stimmt ihm zu und verfällt in singsang-artiges Geschnatter.
»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen und mache es kurz. Ich werde heute, hier und jetzt euren neuen Anführer ernennen und mich in den Ruhestand begeben.«
Der Protest könnte nicht größer sein. Keiner der Gänse hat anscheinend mit dieser Ankündigung gerechnet. Meine Schwester ebenso wenig.
»Was? Opi will zurücktreten? Das kann er doch nicht machen. Dann sind wir keine Adeligen mehr unter den Gänsen.«
»Ilvie! Dein Ernst? Dass unser Großvater der Anführer der Schar ist, hat uns noch lange nicht zu etwas Besonderem gemacht.«
»Du verstehst von so etwas nichts, Lille. Ein gutaussehender Gänserich wie Ganter würde sich doch nie mit einer gewöhnlichen Graugans abgeben.«
»Vielleicht wird er ja der neue Anführer, dann traust du dich noch weniger, mit ihm zu sprechen, Vie-Vie.«
»Ach, halt den Schnabel! Hör lieber zu, was Opi zu sagen hat.«
»Als euren neuen Führer habe ich jemanden auserkoren, der mir in den letzten Jahren oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ich habe sehr viel Vertrauen in diesen wackeren Gänserich und bin unendlich froh darüber, ihn meinen Schwiegersohn nennen zu dürfen. Runar, ich bitte dich, diesen Posten zu übernehmen. Ich bin sicher, dass du die Schar sicher und gerecht führen wirst.«
»Oh, du gute Feder! Unser Papa soll Anführer werden! Wie aufregend! Das ist definitiv ein sozialer Aufstieg für uns, Lillesol! Wir sind jetzt quasi Prinzessinnen. Alle anderen werden uns mit Respekt behandeln.«
»Vielleicht leistest du zur Abwechslung mal selbst etwas, um dir Rang und Namen zu erarbeiten, Schwesterchen.«
Ich kann nicht verstehen, dass Ilvie so darauf fixiert ist, sich von den anderen Gänsen abzuheben. Ich gewinne meine Freunde lieber unabhängig davon, ob sie zu mir aufschauen oder nicht. Dennoch muss ich gestehen, dass es tatsächlich überraschend und auch schön ist, dass Papa unser neuer Boss wird. Ich kann mir keinen Besseren für dieses Amt vorstellen, auch wenn Opis Fußspuren groß sind.
»Hurra! Wir haben einen neuen Anführer! Runar wird uns sicher nach Lappland geleiten! Ein Hoch auf Runar!«
»Hörst du, wie sie jubeln, Lille?« Ilvie flattert vor Aufregung wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hin und her. »Ja, Gänse! Jubelt ihm zu! Das ist mein Papa, der gerade zum Anführer ernannt wird! Juhu! Jetzt stellt er sich auf den Baumstumpf. Alle Gänse sehen zu ihm auf. Ist das spannend!«
»Meine lieben Kameraden.« Papa ist es nicht gewohnt, vor der gesamten Schar zu sprechen. Ich sehe ihm seine Nervosität deutlich an. »Es ist mir eine Ehre, die Nachfolge des unvergleichlichen Magnus antreten zu dürfen. Ich verspreche euch, dass ich stets bemüht sein werde, seinen und euren Erwartungen in mich gerecht zu werden. Sollte ich jedoch einmal in eine schwierige Situation geraten, aus der ich allein keinen Ausweg finden kann, so werde ich mich vertrauensvoll an meinen Schwiegervater wenden. Denn ich blicke zu ihm auf und weiß, dass es eine große Aufgabe ist, die ab heute auf mich zukommt. Ich danke ihm und euch allen für euer Vertrauen. Bitte sucht euch jetzt die besten Futterpflanzen und bequeme Nachtlager, denn wir brechen morgen beim ersten Licht des Tages auf. Gute Nacht!«
»Oh, Lillesol! Du bist jetzt die Tochter des Anführers. Müssen wir jetzt einen Knicks vor dir machen und dich mit Ihre Königliche Hoheit ansprechen?«
»Nein, Fria. Keine Angst. Mich könnt ihr weiterhin so behandeln, wie zuvor. Bei meiner Schwester bin ich da nicht so sicher. Schaut mal, sie biedert sich bereits bei Papa an, diese Schleimerin.«
»Mein liebes Papilein! Herzlichen Glückwunsch zum neuen Posten. Als Töchter unseres Oberhaupts sind wir doch gewiss ebenfalls berechtigt, Befehle zu erteilen. Hab ich nicht recht? Wenn du mal verhindert sein solltest, dann stehe ich als deine erstgeschlüpfte Tochter dir selbstverständlich als Vertretung zur Verfügung.«
»Ach, weißt du, Liebes. Lass uns erstmal losfliegen. Alles andere sehen wir dann.«
»A-aber ... Ich bin gut darin, Befehle zu geben.«
»Daran habe ich keinen Zweifel, Ilvie. Wenn du mich entschuldigen würdest. Die anderen Gänse möchten mir ebenfalls gratulieren.«
Gesträubten Gefieders watschelt sie davon. Weit sollte sie aber nicht kommen, denn jemand kreuzt unabsichtlich ihren Weg – Ganter, ihr heimlicher Schwarm.
»Oh, hallo Ganter. Ich habe dich heute noch gar nicht gesehen.« Wie kann man nur so dreist lügen? Den ganzen Tag schmachtet sie ihn aus der Ferne an. »Darf ich erfahren, neben wem du morgen fliegst? Ich hätte nichts dagegen, wenn du neben mir fliegen würdest. Lillesol fliegt nicht gern so weit vorne in der Formation und ich dachte ...«
»Tut mir leid, Ilvie. Ich habe bereits einen Platz. Schönen Abend noch und richte deinem Vater die besten Glückwünsche von mir und meiner Familie aus!«
Während meine Schwester eine Niederlage nach der anderen zu verkraften hat, suche ich das Gespräch mit meinem Großvater, denn eine Sache lässt mir keine Ruhe.
»Du, Opi. Darf ich dich etwas fragen?«
»Aber natürlich, meine Kleine. Was bedrückt dich?«
»Es ist wegen einer Geschichte, die ich gehört habe. Eine Gans aus einer anderen Schar hat erzählt, dass deren Anführern, nachdem er von seinem Amt zurückgetreten war, nicht mehr von Lappland aus in den Süden geflogen ist. Er, er soll sich dort zum Sterben hingelegt haben.«
»Oh, Lillesol.« Opi legt behutsam seinen Flügel um mich. »Ich verstehe, dass dich das traurig macht und du dir Sorgen um mich und deine Großmutter machst. Aber solange wir können, werden wir mit euch nach Lappland und auch wieder zurückfliegen. Ich verspreche dir, dass wir es euch wissen lassen, wenn wir dies nicht mehr können.«
»Ich hoffe, das dauert noch ganz lange, Opilein.«
»Hab keine Angst, Lille.« Omi gesellt sich zu und schließt gutmütig die Augen. »Als ich in deinem Alter war, habe ich meinen Großeltern genau dieselbe Frage gestellt. Und weißt du was? Sie haben noch so lange gelebt, dass sie viele meiner Küken aufwachsen sehen konnten. Uns geht es gut. Geh jetzt etwas essen und dann schlaf dich aus. Es wird ein weiter Flug ab morgen.«
»Ich hoffe, dass Fria bis dahin aufgehört hat, Loblieder auf meinen Vater zu singen«, antworte ich und meine Großeltern kneifen zustimmend die Augen zu.
Eine der größten Leidenschaften unserer Freundin Fria ist das Dichten und Singen. Es ist bekannt, dass Gänse nicht zu den Singvögeln gehören, aber ihr Gesang ... nun ja. Während meine Schwester und ich es geduldig ertragen, sind die beiden Gänseriche Snorre und Kalle sehr schnell genervt von ihren Kapriolen.
»Ihr habt doch keine Ahnung von Musik, ihr Banausen!«, schreit sie die beiden an.
»Fria, wir haben Ohren und wenn diese anfangen zu schmerzen, dann wissen wir, dass dein Gesang nicht gut ist. Oder was meinst du, Kalle?«
»Snorre hat recht. Da erleidet man ja eine Schreckmauser. Jede Krähe singt besser.«
»Ihr seid gemein! Runar sollte euch aus der Schar werfen. Ich werde Lille und Vie-Vie morgen bitten, mit ihrem Vater darüber zu sprechen.«
»Sei dir sicher, Fria. Er wird auf unserer Seite stehen. Hahahaha!«
Ich gebe ja zu, Fria nervt und Snorre und Kalle sind gemein zu ihr. Aber ich würde Vater niemals darum bitten, einen von ihnen aus der Gruppe auszuschließen. Sie sorgen mit ihren Streitereien immer wieder für Heiterkeit und das ist während des langen und beschwerlichen Fluges bitternötig.
Morgen geht es los. Bestimmt kann ich nicht einschlafen, vor Aufregung, endlich den Ort meiner Geburt wiederzusehen. Ich wünschte, es gäbe eine Garantie dafür, dass wir es alle bis dorthin schaffen.
»Aber wir sind noch nicht vollzählig. Wir können nicht ohne Snorre und Kalle losfliegen.«
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Vielleicht sind sie ja von Lura gefangen worden.«
»Ilvie, das ist nicht lustig. Du weißt genau, dass diese Füchsin derzeit hier in dieser Gegend jagt und sie ist nicht allein. Ihre flegelhaften Söhne Drummel und Knöl sind jetzt alt genug, um selbstständig eine Gans zu erbeuten.«
»Du lässt dich wirklich verdammt schnell in Angst und Schrecken versetzen, Schwesterherz.«
»Ilvie! Lillesol! Würdet ihr bitte für einen Moment das Schnattern einstellen und euch zu uns gesellen? Euer Großvater hat der Schar etwas mitzuteilen.«
»Ist gut, Papa! Wir sind schon auf dem Weg.«
Hallo, ihr lieben! Mein Name ist Lillesol. Ich bin eine Graugans. Das hübsche Gänschen neben mir ist meine Schwester Ilvie. Wenn sie nicht so fies ist, nenne ich sie Vie-Vie. Aber leider ist sie oft gemein zu mir und das nur, weil sie ein paar Minuten vor mir aus dem Ei geschlüpft ist. Sie denkt, dass sie deswegen mutiger wäre als ich.
Aber das stimmt nicht. Ich habe nur ganz selten Angst. Während es gewittert zum Beispiel. Oder, wenn ein Sturm aufzieht. Ich erschrecke mich manchmal vor hämmernden Spechten oder rufenden Raben und im Dunkeln ist es besonders gruselig. Am meisten fürchte ich mich vor Lura, der schwarzen Füchsin und ihren Söhnen. Aber, dass ich besonders ängstlich bin, das kann ich nicht von mir behaupten.
Und Vie-Vie ist auch nicht immer so furchtlos, wie sie vorgibt zu sein. Schon gar nicht, wenn Ganter in der Nähe ist. Den findet sie nämlich ganz besonders nett und träumt heimlich von einem gemeinsamen Nest mit ihm in Lappland. Aber dort müssen wir erstmal hinkommen.
Heute ist die Luft zum ersten Mal in diesem Jahr angenehm mild und die letzten Eis- und Schneeschichten beginnen zu schmelzen. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass unsere Schar bald aufbrechen wird. Es sind auch beinahe alle Gänse hier, um sich zu sammeln. Nur unsere Freunde Snorre und Kalle fehlen noch. Ich hoffe, dass ihnen nichts passiert ist.
Der Anführer der Schar ist übrigens unser Großvater Magnus, der Vater unserer Mutter Alva. Er ist der größte und stattlichste Gänserich, den ich kenne. Na ja, abgesehen von unserem Vater, Runar. Dessen Vater haben wir nie kennengelernt. Er ist lange vor unserem Schlupf gestorben. Von den Zweibeinern gefangen worden, hat man uns erzählt. Aber wir haben noch zwei Großmütter. Nelma und Oletta. Doch keiner von ihnen sieht im Moment besonders heiter aus.
»Denkst du, es gibt irgendein Problem, dass die alle so ernst dreinschauen, Vie-Vie?«
»Ich habe gehört, wie Mama sagte, dass sie Sorgen um Opi hat. Sie befürchtet, dass er die Schar auf dem weiten Flug nach Lappland nicht mehr im Griff haben könnte. Er ist nicht mehr so kräftig wie früher und der vergangene Winter war lang und hart.«
»Ich kann mir keinen anderen Anführer als ihn vorstellen.«
»Ich auch nicht, Lillesol, aber das ist der Lauf der Dinge. Pass auf, jetzt ergreift er das Wort!«
Opi ist auf einen Baumstumpf am Rande des Sees, auf dem wir uns sammeln, geflattert. Er schaut streng zu einigen jungen Gänsen, die nach wie vor auf dem Wasser herumtoben.
»Alle Gänse dieser Schar versammeln sich bitte unverzüglich um mich und hören mir zu!«
»Sie hören auf ihn. Von wegen zu alt.«
»Psst, Lille! Auch du musst dich benehmen.«
»Ist ja schon gut.«
Opi wartet noch einen Augenblick, bevor er erneut zu uns spricht.
»Der Winter zieht sich allmählich aus der Welt zurück. Das bedeutet, dass wir den Heimweg nach Lappland antreten können. Wir brechen morgen früh auf.«
Begeistertes Flattern und Schnattern lässt keinen Zweifel daran, dass sich jede Graugans über diese Nachricht freut. Doch Opis Miene bleibt ernst und Omi wendet sich ihm zu.
»Kannst du verstehen, was sie zu ihm sagt, Ilvie?«
»Ich bin nicht sicher, aber es klang, als ob sie ihn gefragt hat, ob er sich sicher sei. Sicher womit?«
»Wir werden es gleich erfahren.«
»Meine lieben Gänse. Bevor wir uns auf die lange und gefährliche Reise begeben, möchte ich euch noch etwas Wichtiges verkünden.«
Das fröhliche Schnattern macht einer ratlosen Stille Platz. Jetzt sind alle Schnäbel auf unseren Anführer gerichtet.
»Nachdem wir im letzten Herbst unser Winterquartier erreicht hatten, kam meine Frau zu mir und hat mir etwas ans Herz gelegt. Ich habe den ganzen Winter darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es wirklich das Beste für unsere Schar ist.«
»Was hat er vor? Worum geht es, Lillesol?«
»Kalle und Snorre. Da seid ihr ja endlich! Wo habt ihr so lange gesteckt?«
»Lillesol! Ruhe jetzt!«
»Ja, Papa. Entschuldige.«
Das Zischen meines Vaters hat auch das ungeduldige Gemurmel einiger weiterer Gänse unterbrochen. Nachdem er tief eingeatmet hatte, fuhr Großvater mit seiner Ansprache fort.
»Über viele Jahre lang habe ich euch, eure Vorfahren und auch eure Nachkommen sicher nach Lappland hin und wieder zurückgeführt. Ich bin sehr stolz darauf, all diese Jahre der Anführer solch einer lobenswerten Schar gewesen zu sein. Dafür möchte ich euch meinen größten Dank und meine Hochachtung aussprechen. Ich hoffe, dass ich für euch ein ebenso gutes Oberhaupt war.«
»War? Was meint er damit?«
Einer der jungen Gänseriche kann es mal wieder nicht abwarten.
»Ich werde nicht jünger und die Strapazen dieser Reisen zehren von Mal zu Mal mehr an meinen müden Knochen.«
Ein Raunen geht durch die Reihen. Ich bin überrascht, wie viel unser Opi den anderen Gänsen tatsächlich bedeutet.
»Er ist sehr streng, aber ich halte große Stücke auf ihn«, flüstert Snorre und nickt kräftig mit dem Kopf. Auch Fria, eine junge Gans stimmt ihm zu und verfällt in singsang-artiges Geschnatter.
»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen und mache es kurz. Ich werde heute, hier und jetzt euren neuen Anführer ernennen und mich in den Ruhestand begeben.«
Der Protest könnte nicht größer sein. Keiner der Gänse hat anscheinend mit dieser Ankündigung gerechnet. Meine Schwester ebenso wenig.
»Was? Opi will zurücktreten? Das kann er doch nicht machen. Dann sind wir keine Adeligen mehr unter den Gänsen.«
»Ilvie! Dein Ernst? Dass unser Großvater der Anführer der Schar ist, hat uns noch lange nicht zu etwas Besonderem gemacht.«
»Du verstehst von so etwas nichts, Lille. Ein gutaussehender Gänserich wie Ganter würde sich doch nie mit einer gewöhnlichen Graugans abgeben.«
»Vielleicht wird er ja der neue Anführer, dann traust du dich noch weniger, mit ihm zu sprechen, Vie-Vie.«
»Ach, halt den Schnabel! Hör lieber zu, was Opi zu sagen hat.«
»Als euren neuen Führer habe ich jemanden auserkoren, der mir in den letzten Jahren oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ich habe sehr viel Vertrauen in diesen wackeren Gänserich und bin unendlich froh darüber, ihn meinen Schwiegersohn nennen zu dürfen. Runar, ich bitte dich, diesen Posten zu übernehmen. Ich bin sicher, dass du die Schar sicher und gerecht führen wirst.«
»Oh, du gute Feder! Unser Papa soll Anführer werden! Wie aufregend! Das ist definitiv ein sozialer Aufstieg für uns, Lillesol! Wir sind jetzt quasi Prinzessinnen. Alle anderen werden uns mit Respekt behandeln.«
»Vielleicht leistest du zur Abwechslung mal selbst etwas, um dir Rang und Namen zu erarbeiten, Schwesterchen.«
Ich kann nicht verstehen, dass Ilvie so darauf fixiert ist, sich von den anderen Gänsen abzuheben. Ich gewinne meine Freunde lieber unabhängig davon, ob sie zu mir aufschauen oder nicht. Dennoch muss ich gestehen, dass es tatsächlich überraschend und auch schön ist, dass Papa unser neuer Boss wird. Ich kann mir keinen Besseren für dieses Amt vorstellen, auch wenn Opis Fußspuren groß sind.
»Hurra! Wir haben einen neuen Anführer! Runar wird uns sicher nach Lappland geleiten! Ein Hoch auf Runar!«
»Hörst du, wie sie jubeln, Lille?« Ilvie flattert vor Aufregung wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hin und her. »Ja, Gänse! Jubelt ihm zu! Das ist mein Papa, der gerade zum Anführer ernannt wird! Juhu! Jetzt stellt er sich auf den Baumstumpf. Alle Gänse sehen zu ihm auf. Ist das spannend!«
»Meine lieben Kameraden.« Papa ist es nicht gewohnt, vor der gesamten Schar zu sprechen. Ich sehe ihm seine Nervosität deutlich an. »Es ist mir eine Ehre, die Nachfolge des unvergleichlichen Magnus antreten zu dürfen. Ich verspreche euch, dass ich stets bemüht sein werde, seinen und euren Erwartungen in mich gerecht zu werden. Sollte ich jedoch einmal in eine schwierige Situation geraten, aus der ich allein keinen Ausweg finden kann, so werde ich mich vertrauensvoll an meinen Schwiegervater wenden. Denn ich blicke zu ihm auf und weiß, dass es eine große Aufgabe ist, die ab heute auf mich zukommt. Ich danke ihm und euch allen für euer Vertrauen. Bitte sucht euch jetzt die besten Futterpflanzen und bequeme Nachtlager, denn wir brechen morgen beim ersten Licht des Tages auf. Gute Nacht!«
»Oh, Lillesol! Du bist jetzt die Tochter des Anführers. Müssen wir jetzt einen Knicks vor dir machen und dich mit Ihre Königliche Hoheit ansprechen?«
»Nein, Fria. Keine Angst. Mich könnt ihr weiterhin so behandeln, wie zuvor. Bei meiner Schwester bin ich da nicht so sicher. Schaut mal, sie biedert sich bereits bei Papa an, diese Schleimerin.«
»Mein liebes Papilein! Herzlichen Glückwunsch zum neuen Posten. Als Töchter unseres Oberhaupts sind wir doch gewiss ebenfalls berechtigt, Befehle zu erteilen. Hab ich nicht recht? Wenn du mal verhindert sein solltest, dann stehe ich als deine erstgeschlüpfte Tochter dir selbstverständlich als Vertretung zur Verfügung.«
»Ach, weißt du, Liebes. Lass uns erstmal losfliegen. Alles andere sehen wir dann.«
»A-aber ... Ich bin gut darin, Befehle zu geben.«
»Daran habe ich keinen Zweifel, Ilvie. Wenn du mich entschuldigen würdest. Die anderen Gänse möchten mir ebenfalls gratulieren.«
Gesträubten Gefieders watschelt sie davon. Weit sollte sie aber nicht kommen, denn jemand kreuzt unabsichtlich ihren Weg – Ganter, ihr heimlicher Schwarm.
»Oh, hallo Ganter. Ich habe dich heute noch gar nicht gesehen.« Wie kann man nur so dreist lügen? Den ganzen Tag schmachtet sie ihn aus der Ferne an. »Darf ich erfahren, neben wem du morgen fliegst? Ich hätte nichts dagegen, wenn du neben mir fliegen würdest. Lillesol fliegt nicht gern so weit vorne in der Formation und ich dachte ...«
»Tut mir leid, Ilvie. Ich habe bereits einen Platz. Schönen Abend noch und richte deinem Vater die besten Glückwünsche von mir und meiner Familie aus!«
Während meine Schwester eine Niederlage nach der anderen zu verkraften hat, suche ich das Gespräch mit meinem Großvater, denn eine Sache lässt mir keine Ruhe.
»Du, Opi. Darf ich dich etwas fragen?«
»Aber natürlich, meine Kleine. Was bedrückt dich?«
»Es ist wegen einer Geschichte, die ich gehört habe. Eine Gans aus einer anderen Schar hat erzählt, dass deren Anführern, nachdem er von seinem Amt zurückgetreten war, nicht mehr von Lappland aus in den Süden geflogen ist. Er, er soll sich dort zum Sterben hingelegt haben.«
»Oh, Lillesol.« Opi legt behutsam seinen Flügel um mich. »Ich verstehe, dass dich das traurig macht und du dir Sorgen um mich und deine Großmutter machst. Aber solange wir können, werden wir mit euch nach Lappland und auch wieder zurückfliegen. Ich verspreche dir, dass wir es euch wissen lassen, wenn wir dies nicht mehr können.«
»Ich hoffe, das dauert noch ganz lange, Opilein.«
»Hab keine Angst, Lille.« Omi gesellt sich zu und schließt gutmütig die Augen. »Als ich in deinem Alter war, habe ich meinen Großeltern genau dieselbe Frage gestellt. Und weißt du was? Sie haben noch so lange gelebt, dass sie viele meiner Küken aufwachsen sehen konnten. Uns geht es gut. Geh jetzt etwas essen und dann schlaf dich aus. Es wird ein weiter Flug ab morgen.«
»Ich hoffe, dass Fria bis dahin aufgehört hat, Loblieder auf meinen Vater zu singen«, antworte ich und meine Großeltern kneifen zustimmend die Augen zu.
Eine der größten Leidenschaften unserer Freundin Fria ist das Dichten und Singen. Es ist bekannt, dass Gänse nicht zu den Singvögeln gehören, aber ihr Gesang ... nun ja. Während meine Schwester und ich es geduldig ertragen, sind die beiden Gänseriche Snorre und Kalle sehr schnell genervt von ihren Kapriolen.
»Ihr habt doch keine Ahnung von Musik, ihr Banausen!«, schreit sie die beiden an.
»Fria, wir haben Ohren und wenn diese anfangen zu schmerzen, dann wissen wir, dass dein Gesang nicht gut ist. Oder was meinst du, Kalle?«
»Snorre hat recht. Da erleidet man ja eine Schreckmauser. Jede Krähe singt besser.«
»Ihr seid gemein! Runar sollte euch aus der Schar werfen. Ich werde Lille und Vie-Vie morgen bitten, mit ihrem Vater darüber zu sprechen.«
»Sei dir sicher, Fria. Er wird auf unserer Seite stehen. Hahahaha!«
Ich gebe ja zu, Fria nervt und Snorre und Kalle sind gemein zu ihr. Aber ich würde Vater niemals darum bitten, einen von ihnen aus der Gruppe auszuschließen. Sie sorgen mit ihren Streitereien immer wieder für Heiterkeit und das ist während des langen und beschwerlichen Fluges bitternötig.
Morgen geht es los. Bestimmt kann ich nicht einschlafen, vor Aufregung, endlich den Ort meiner Geburt wiederzusehen. Ich wünschte, es gäbe eine Garantie dafür, dass wir es alle bis dorthin schaffen.
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