Ein Schicksalsschlag kommt selten allein | ESKSA
Kurzbeschreibung
Die frisch verwitwete Ellen Bannenberg kehrt ins Präsidium zurück, doch manchmal kennt das Schicksal keine Gnade und schlägt erneut erbarmungslos zu. Wird Nikolas wieder Zugang zu ihr finden oder trennen sich ihre Wege nun für immer? Ab Staffel 4 Folge 10
GeschichteKrimi, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Detlev Grün
Ellen Bannenberg
Emily Bannenberg
Nikolas Heldt
06.11.2020
14.06.2021
58
121.322
20
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Dieses Kapitel
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24.01.2021
18.015
„Frau Bannenberg!“
Ich nehme gerade mit einem ebenfalls erzürnten Hauptkommissar Grün an meiner Seite die ersten Treppenstufen nach oben zur Etage der Staatsanwaltschaft, als ich die Anzugträger wahrnehme, die auf der mittleren Ebene der Treppe stehen.
Darunter ist auch derjenige, der mich soeben angesprochen hat und es nun ein zweites Mal tut. „Da sind Sie ja!“
Mitten in der Bewegung stockend sehe ich nach oben. Über den Ärger gerade eben habe ich doch nicht etwa eine wichtige Besprechung verpasst? „Ähm, ah ...“ Hilfesuchend blicke ich zu Grün, doch mein Kollege ist ebenso wortlos wie ich.
„Herr Innenminister...“, begrüße ich den Mann, der dort oben steht und offensichtlich auf mich wartet, etwas überrumpelt, lasse Grün hinter mir zurück und überbrücke die wenigen Stufen zu der kleinen Plattform, auf der Innenminister Uwe Herbst mit zwei Sicherheitsbediensteten steht. Wie konnte ich vergessen, dass er heute im Präsidium ist?
Doch er scheint weder verärgert noch strahlt er sonst eine negative Emotion aus, sodass ich schließlich erleichtert weiteratme.
„Ich war eben bei Oberstaatsanwalt Böger. Wir hatten Sie schon vermisst!“
Ich bleibe eine Stufe unterhalb des Plateaus stehen und ergreife Herbsts Hand, die er mir mit einem gewinnenden Lächeln entgegenstreckt.
„Aber jetzt hab ich sie ja.“ Er hat einen festen, energischen Händedruck. Und er blickt mir direkt in die Augen, ehe er mich von oben bis unten mustert und sein Lächeln immer breiter wird.
Flirtet er etwa mit mir? Ich schiebe diesen unangenehmen Gedanken von mir.
Zu Recht, denn im nächsten Augenblick wendet er sich bereits meiner Begleitung zu. „Und den Herrn Grün auch gleich!“
„Morgen.“ Grün bleibt sogar zwei Stufen unterhalb von Herbst stehen, der uns breitbeinig den Durchgang nach oben versperrt.
Mir drängt sich die Vermutung auf, dass der doch eher recht klein gewachsene Innenminister durch seine erhöhte Position seinen Einfluss uns gegenüber demonstrieren will.
Plötzlich höre ich eilige Schritte hinter meinem Rücken. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, wer uns gefolgt ist. „Ähm, Herr Herbst, was ist denn hier los?“, versuche ich unserem Innenminister eine Antwort auf die Frage des Vormittags schlechthin zu entlocken.
„Was hier los ist?“ Der erfreute Ausdruck in seinem Gesicht erscheint mir angesichts der Situation denkbar unpassend, ja geradezu provokant. Er nickt erst in meine Richtung, dann in die meines Kollegen, ehe er die linke Hand zwischen uns schiebt und damit pathetisch auf den Fuß der Treppe deutet.
„Herr Heldt ist zurück!“, verkündet er mit einer Freude, als wäre sein lange verloren geglaubter Sohn nach Bochum zurückgekehrt.
Gleichzeitig drehen Grün und ich uns um. Unser lange abwesender (und vermisster) Kollege stapft zerknirscht die Treppe hoch und bleibt einige Stufen unter uns stehen. Der weiß ganz genau, dass sein Chef und ich ihn nicht zurück im Team haben wollen, schießt es mir durch den Kopf und ich frage mich, wie es passieren konnte, dass er wieder in den Besitz eines Dienstausweises gekommen ist.
„Freuen Sie sich!“, fordert Herbst das Unmögliche von mir. Ich soll mich freuen? Das wird schwer, sehr schwer. Zum Feiern ist mir anlässlich Heldts Rückkehr nicht gerade zu Mute. Noch dominieren Wut und Enttäuschung mein Gemüt.
Heldt guckt erst Grün und schließlich mich an, sein Blick ist hoffnungsvoll und ängstlich zugleich. Der weiß, dass er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hat. Er weiß es.
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ja, aber Herr Heldt hat vor sechs Monaten seinen Dienst quittiert...“, beginne ich und schaffe es nicht, ihm länger in die Augen zu schauen. Bevor mich mein Wut überrennt, wende ich mich ab und blicke stattdessen Herbst an, während ich meinen Satz vollende „...und ist über Nacht verschwunden.“ Ich verstumme. Mist! Über Nacht verschwunden... Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es geht niemanden etwas an, dass Nikolas unser Date abgesagt und mich versetzt hat, um mitten in der Nacht nach Mallorca zu fliegen.
Doch ehe ich mich in weitere Peinlichkeiten verstricken kann, kommt Grün mir zur Hilfe: „Er hat mehrere Ermittlungen und anhängige Verfahren einfach abgebrochen.“
„Stimmt.“ Wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, senkt Heldt schuldbewusst den Blick.
„Und das alles...“ Ich wage es wieder, in seine Richtung zu sehen. „...aus rein privaten Gründen...“ In dem Moment, in dem er den Kopf hebt und mich traurig ansieht, flüchte ich jedoch wieder in sichere Gefilde, auch wenn das im Moment bedeutet, dem grässlich fröhlichen Grinsen unseres Innenministers wieder ausgesetzt zu sein. "... die seine Dienstpflicht überschattet haben.“
„Absolut!“, gibt Heldt mir mit einem mir gänzlich unbekannten Eifer recht.
„Auf was auch immer Sie es hier anlegen“, sagt Grün bedrohlich leise in Richtung Treppenende. „Es wird nicht funktionieren. Wir wollen und werden Sie nicht zurücknehmen!“, stellt er ein für alle Mal klar, dann macht er eine abfällige Geste in Heldts Richtung und fügt ein leidenschaftliches „Niemals!“ hinzu.
„Nun, am besten, wir besprechen das in ihrem Büro weiter, Frau Bannenberg“, geht Herbst schlichtend dazwischen. Er spricht meinen Nachnamen wie eine Krankheit aus, als wäre ich überhaupt erst Schuld an Heldt Rückkehr. Dann setzt er sein charmantes falsches Lächeln wieder auf und lässt mir mit einer galanten Handbewegung den Vortritt.
Ich nicke und gehe voraus, ohne mich noch einmal nach Heldt umzudrehen. Zu tief sitzt der Schmerz von vorhin, als ich als erstes das Zimmer betreten habe, in dem er überraschenderweise die Zeugin betreut hat. Ich musste meinen Kollegen gegenüber nicht erwähnen, wie geschockt ich von seinem Anblick war. Noch in der Tür bin ich zu Stein erstarrt und rückwärts wieder aus dem Raum geflohen. Nachdem Grün die Konfrontation mit unserem lange verschollenen Kollegen gesucht hat und dieser jeden, wirklich auch jeden, sogar Herrn Kramer - den er ja eigentlich gar nicht kennt - freundlich lächelnd begrüßt hat, findet er für mich keine Worte, als sein Blick als letztes an mir hängen bleibt und sein Lächeln erstarrt. Und auf meine Frage ob er irre sei und was er hier mache, war Dienstausweis zücken kombiniert mit einem flapsigen „Naja, Arbeiten“ nicht gerade die Antwort, die sich meine verletzte Seele und mein gebrochenes Herz erhofft hatten.
In meinem Büro angekommen berichtet der Innenminister Grün und mir über Heldts große Verdienste auf Mallorca und dass er den Ermittlungen des Bundeskriminalamtes eine immense Unterstützung gewesen ist und deswegen mit vollen Bezügen wieder eingesetzt sei.
„Na, wenn er da so gut gearbeitet hat, dann soll ihn doch das BKA nehmen“, erwidere ich schnippisch, wenn auch im gemäßigten Tonfall. Herbst soll ja nicht gleich denken, dass ich Nikolas von vornherein Steine in den Weg legen möchte.
„Die hätten ihn mit Kusshand genommen! Aber Herr Heldt wollte unbedingt in diese Dienststelle zurück“, entgegnet Herr Herbst mir mit Nachdruck.
„Weshalb?“, kommt es fassungslos von Grün, der wegen Heldts Abtauchen nach der Tötung des Prothesenkillers völlig kompromittiert vor dem Ermittlungsausschuss stand und sich gezwungen war, seine Notwehrhandlung in der damaligen Lage ganz alleine zu rechtfertigen.
„Das müssen Sie ihn schon selber fragen...“, antwortet Herbst nonchalant.
Grün und ich tauschen einen resignierten Blick aus.
Der Innenminister fährt fort: „Ich erwarte, dass Sie ihn in alle laufenden Ermittlungen integrieren und zwar hundertprozentig.“
Ein paar Tage später kommt Heldt in mein Büro, er muss wohl angeklopft haben, aber ich war so in die Arbeit vertieft, dass ich es schlichtweg überhört habe. Vor mir liegen die Beweismittel aus dem Fall Dorne, der Räuber mit Stimmverzerrer und Catcher-Maske und wie ich es auch drehe und wende, es ergibt alles keinen Sinn mehr. Nichts.
„War es sehr schlimm?“, fragt Heldt, der auf den ersten Blick sieht, dass es mir nicht sonderlich gut geht. Was eigentlich auch kein Wunder ist. Seit ich gestern aus dem Gericht gekommen bin und Dorne vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, bin ich auf hundertachtzig und jeder, der mir begegnet, hält ganz automatisch eineinhalb Meter Sicherheitsabstand oder noch mehr zu mir ein. So auch Heldt, der nun vorsichtshalber sogar im Rahmen der Tür stehen bleibt, nachdem er diese zugezogen hat.
„Der Innenminister tobt“, gebe ich schwach von mir. Es ist ärgerlich genug, dass ich noch immer vollkommen damit überfordert bin, dass Heldt wieder hier ist, aber dass er mich in einer derartigen Verfassung – die von der Souveränität, die ich ihm gegenüber normalerweise ausstrahle, weit entfernt ist – sieht, gibt mir den Rest. Hilflos murmle ich vor mich hin: „Ich versteh das auch überhaupt nicht.“
Nun stößt Heldt sich doch vom Türrahmen ab und schlendert mehr oder weniger lässig auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch zu.
„Vor fünf Jahren, da hat das alles zusammengepasst.“ Je näher Heldt mir kommt, desto mehr verschanze ich mich hinter meinen verschränkten Armen und meinem Schreibtisch, auf den ich nun meinen Blick richte und mich mit dem Studium der darauf liegenden Fotokopien davon ablenke, dass er mich höchstwahrscheinlich anschaut. „Und jetzt passt hier gar nichts mehr. Das ist als wenn...“ Ich traue mich, blicke kurz, für den Bruchteil einer Sekunde, zu ihm hoch. „Als wenn einer alles manipuliert hat.“
Heldt bleibt direkt vor meinem Schreibtisch stehen.
„Ich versteh das überhaupt nicht, aber ...“ Diesmal hebe ich den Blick länger als nur zwei Sekunden. „Vielleicht hab ich eben doch nicht richtig aufgepasst.“ Resigniert und nervös zugleich pendelt mein Blick zwischen Heldt, der plötzlich ganz allein mit mir in meinem neuen Büro steht, und den Bildern auf der Tischplatte hin und her.
„Das glaub ich nicht“, bestreitet er meine Selbstanklage vehement.
„Da sind Sie der Einzige“, gebe ich ernüchtert zurück, sehe ihn etwas länger an und füge hinzu: „Aber danke für den Versuch der Aufmunterung.“
„Nein, Frau Bannenberg, ich mein das ganz ernst“, bekräftigt Heldt seinen Standpunkt. Er setzt sich vor mich und zeigt demonstrativ mit den Fingern auf die Fotos. „Sie machen solche Fehler nicht. Dorne spielt ‘n schmutziges Spiel.“
Ich atme tief durch. Warum kann er nicht einfach wieder aufstehen und gehen? Warum ist er so verdammt verständnisvoll und warum tut es so gut, dass wenigstens er an mich glaubt, wo ich doch gerade selbst meine Urteilskraft in Frage stelle? Er sollte nicht hier sein, nicht, wenn sonst niemand in diesem Raum mit uns ist. Und wenn er es schon ist, dann sollte er am Ende des Raumes stehen und nicht hier vor mir sitzen, die Hand direkt vor meinem Oberkörper auf der Tischplatte aufliegend. Mein Kopf rumort, mein Nacken schmerzt von den vielen Stunden am Schreibtisch. „Wenn ja, dann hat er gewonnen. Sein Urteil wird aufgehoben und mein Ruf ist ruiniert.“ Ich sehe mich im Raum um. „Ich kann eigentlich anfangen, zu packen.“ Mein Blick bleibt an der Fotografie von meiner Tochter hängen, die in einem weißen Holzrahmen neben meiner Schreibtischlampe steht. Das Bild ist neu, wir haben es kurz nach Emilys dreizehntem Geburtstag aufgenommen.
Nikolas beugt sich über den Tisch, um einen Blick darauf zu erhaschen.
Es ist zu nah. Viel zu nah.
Ich wünschte, Grün wäre jetzt hier, um mich vor meinen Erinnerungen an mich und Heldt in meinem alten Büro zu bewahren und mich vor dem Schmerz zu schützen, den allein Nikolas Anwesenheit und seine plötzliche Nähe in mir hervorruft.
Als hätte er es gespürt, nimmt er seine Hand von der Tischplatte und verschränkt die Arme nun ebenfalls leicht übereinander.
„Wahnsinn!“, kommentiert er das Foto von Emily. „Die ist ja jetzt fast ‘ne junge Frau geworden.“ Er schmunzelt. „Beim nächsten Geburtstag da kann ich dann nicht mehr mit Erbsenpistolen auftauchen.“
Bei der Erinnerung an ihren letzten Geburtstag, als Heldt mit zwei Tüten bunter Spielzeugpistolen aufgetaucht ist und meinen Ruf als Geburtstagsgastgeberin unter den Müttern von Emilys Freundinnen gerettet hat, muss ich in mich hinein schmunzeln. Er hatte sich an diesem Tag auch bei mir dafür bedankt, dass ich seinem Freund aus der Patsche geholfen habe und ihn vor mehreren Jahren Knast bewahrt habe und es hätte nicht viel gefehlt und wir wären uns damals schon näher gekommen. Die Erinnerungen kommen mir vor wie aus einer ganz anderen Zeit, einer, in der ich höchstens mal sauer auf ihn war, weil er einen Undercover-Einsatz gegen meinen Willen oder ohne mein Wissen durchgezogen hat und ich mich mit Dienstaufsichtsbeschwerden herumschlagen musste. Meine Wut heute hat eine ganz andere Dimension, eine, von der ich nie geglaubt hätte, dass ausgerechnet Nikolas dazu in der Lage sei, sie heraufzubeschwören.
Ich sehe ihn nicht an, halte mich an dem Bild meiner Tochter fest, denke an sie und Stefan und daran, dass sie nun meine Familie sind. „Nein, weiß Gott nicht.“ In Nikolas Anwesenheit an Stefan zu denken fühlt sich plötzlich falsch an. So, als gehörte einer von beiden definitiv nicht in mein Leben.
Es war alles gut, ich war glücklich, nur mit Stefan und Emily an meiner Seite. War. Bis vor ein paar Tagen. Wieso musste Nikolas zurückkommen und alles über den Haufen werfen?
Ich löse mich von dem vertrauten Bild und sehe ihn an. Was wäre in der Nacht passiert, wäre er nicht Hals über Kopf nach Mallorca aufgebrochen?
Ich hatte alles vorbereitet, alles bis ins kleinste Detail perfekt organisiert. Emily war bei ihrem Vater, ich hatte für uns gekocht, meine Wohnung mit Kerzen dekoriert, den Sekt für mich und das Bier für Nikolas hatte ich kühl gestellt, mein Outfit und mein Schmuck harmonierten, meine Locken saßen einmal perfekt, meine Unterwäsche passte zusammen, ja sogar mein Bett war frisch bezogen. Ich wäre wirklich auf alle Eventualitäten vorbereitet gewesen, wäre dieses Date wirklich zustande gekommen.
Hätte er Carlo nicht vorgeschickt, sondern wäre er selbst gekommen, wäre er dann geblieben?
Und wäre er geblieben, wäre jetzt alles anders? Vielleicht hätte es mit uns nach dem ersten Date auch nicht funktioniert, wer kann das schon sagen.
Auch jetzt sieht Nikolas mich so an, wie in seinem alten Büro, so verliebt, so zärtlich, so verträumt, dass mir fast schlecht davon wird, ihm tief in die Augen zu gucken. Ich habe einen Freund. Ich bin wieder mit dem Vater meiner Tochter zusammen. Ich darf mich in Nikolas‘ Gegenwart nicht so fühlen, wie ich es gerade tue.
Was gibt ihm das Recht, nachdem er sechs quälend lange Monate einfach wie vom Erdboden verschwunden war, wieder nach Bochum und in mein Leben zurückzukehren?
Ich löse mich abrupt. „Was machst du hier?“
„Du meinst, hier in deinem Büro?“, verfällt Nikolas in sein übliches Rumgeplänkel.
Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme vor der Brust, baue eine kleine Barrikade vor mir auf und ermahne ihn von meinem sicheren Turm aus genervt: „Nikolas, hör auf damit.“
„Ja, Ja...“ Er beißt sich auf die Lippe, sieht unangenehm berührt auf die Tischplatte vor mir. Er fängt immer wieder an, etwas sagen zu wollen, doch dann bricht er ab, bevor überhaupt ein Ton seinen Mund verlassen hat. Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen, doch er findet sie nicht. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt hast“, sagt er schließlich vorsichtig.
„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe!“, bricht es wütend aus mir heraus. Vor meinem inneren Auge erscheint Carlo, wie er mir den Zettel übergibt und ich ihn bitte, zu gehen, nachdem ich das Papierstück – ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen – zerrissen und auf den Boden fallen gelassen habe.
Ein ungeheurer Schmerz schießt mir durch die Brust. Dann denke ich an Emily und Stefan und bereits im nächsten Moment habe ich mich wieder gefangen. Fürs Erste. Ich muss Nikolas aus meinem Büro kriegen.
Mein Gegenüber sieht mich enttäuscht und verletzt an, hat er allen Ernstes damit gerechnet, er könnte nach einem halben Jahr Funkstille wieder hier aufschlagen und nichts hätte sich verändert?
Dabei hat sich alles verändert, nicht nur das Präsidium, nicht nur ich, auch das, was wir mal hatten, diese zarten Bande, dieser vorsichtige Anfang, diese Leichtigkeit im Umgang miteinander, auch das hat sich verändert. Wir laufen wie auf rohen Eiern, die lockere Unbeschwertheit haben wir in unseren alten Büroräumen verloren. Büro – ein gutes Stichwort. „Ich muss jetzt weiter arbeiten. Bitte entschuldigen Sie mich.“ Ich unterbreche unseren Blickkontakt, weigere mich, ihn noch einmal anzusehen und sammle stattdessen hektisch die kreuz und quer vor mir verstreuten Fotos wieder ein.
Nikolas geht, doch ich höre, wie er vor der Tür noch einmal Halt macht und sich zu mir umdreht. Irre ich mich, oder kann ich aus dem Augenwinkel ausmachen, wie sein Arm zittert, als er nach der Klinke greift und sie nach unten drückt, bevor er endgültig aus meinem Sichtfeld verschwindet?
Kaum ist er aus der Tür, fluche ich vor mich hin, schmeiße die sorgsam gestapelten Fotos wieder auf meinen Schreibtisch und starre die Wand an.
Nikolas Blick, gerade eben und am Anfang der Woche, als wir uns das erste Mal wieder gegenüberstanden, sagt er mir nicht alles, was ich wissen muss? Doch es geht nicht, selbst, wenn ich es sicher weiß und genauso fühlen würde, es geht nicht. Stefan ist jetzt in meinem Leben. Er ist der Mann an meiner Seite und es ist gut so. Oder ist es genau das eben nicht? „Scheiße!“ Ich sehe zur Tür, durch die Heldt gerade verschwunden ist.
Gegen Ende einer sehr langen Woche voller Ärger und Ungewissheiten ist dieser verdammte Fall, der mich beinahe meine Reputation gekostet hätte, gelöst und Dorne wieder da, wo er hingehört, nämlich hinter schwedischen Gardinen und das sogar für noch länger als zuvor von mir beantragt. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Vorm Empfang treffe ich auf Heldt. Ich bemühe mich, schnell an ihm vorbeizugehen, um nicht kurz vor Feierabend doch noch von ihm in ein Gespräch verwickelt zu werden.
„Alles klar, Danke!“, verabschiedet er sich von der Kollegin hinter dem Tresen und dreht sich zu mir, als ich gerade an ihm vorbeilaufen will. „Hallo Frau Bannenberg.“
„Herr Heldt“, verabschiede ich mich knapp von ihm und bin halb zur Tür hinaus, ehe mir siedend heiß einfällt, dass genau er es ist, der mithilfe von Herrn Özer maßgeblich zur Rettung meines Rufes bei der Staatsanwaltschaft beigetragen hat. Aus genau diesem Grund – und nicht etwa, weil ich es mag, wie er mich ansieht, so, als wäre noch nicht aller Tage Abend – bleibe ich noch einmal stehen und wende mich zu ihm um. „Ach ... Dankeschön.“ Ich werfe meine Haare mit einer leichten Kopfbewegung zurück. Nicht flirten, Ellen! Du bist sauer auf Heldt und außerdem: Da draußen wartet Stefan auf dich!
„Wofür?“, entgegnet Heldt neugierig oder vielleicht auch nur, um unser Gespräch nicht gleich wieder versiegen zu lassen.
„Na dafür, dass Sie Herrn Dorne dahin zurückgebracht haben, wo er hingehört.“ Ich stocke und schenke ihm ein kleines Lächeln. „Und, dass sie damit meine Reputation gerettet haben.“ Ich kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Ganz automatisch scannen meine Augen seinen Körper ab. Er ist noch ein bisschen breiter geworden, muskulöser, sieht irgendwie gereifter aus und seine Locken sind ein wenig länger. Mein Gott, warum sieht er nur so gut aus? Und warum ist das Gefühl, das gerade in meinem Magen aufsteigt so schmerzhaft?
„Ach, hätten Sie auch geschafft“, gibt er sich erst bescheiden, fügt dann aber mit einem schelmischen Zwinkern hinzu: „Früher oder später...“
Wir sehen uns an und unterdrücken beide ein Grinsen.
„Ja, das denk‘ ich auch.“
Mein Gott, dieses Lächeln auf seinen Lippen!
„Aber trotzdem... Ich nicke ihm erleichtert über unser kleines Geplänkel – fast wie früher – zu. „Danke nochmal ... Und willkommen zurück!“ Ich schwenke ganz unbeabsichtigt in seine Richtung, als ich mich umdrehe und wieder der Tür zuwende.
Ich trete bereits ins Freie, als ich plötzlich schnelle Schritte hinter mir höre. Ich sehe mich um. „Ellen!“ Heldt steht hinter mir und ruft mir hinterher.
Als ich meinen Name höre, werde ich langsamer.
„Ähm... Frau Bannenberg!“
Ich bleibe stehen und warte, bis er mich einholt.
Er atmet angespannt ein und aus. Es hört sich ganz so an, als hätte er noch ein Attentat auf mich vor – außerhalb der Arbeit. Und tatsächlich.
„Ich wollt‘ gerade Frühstücken gehen“, bringt er schließlich hervor.
„Frühstücken? Wir haben kurz nach zwölf!“, kläre ich ihn lachend auf.
Heldt stellt sich schulterzuckend vor mich. „Joa, naja, gestern war ja Nachteinsatz, Überstunden.“
Ich sehe auf den Boden und frage mich, ob er das vorhat, wovon ich ausgehe und wie ich ihm am besten klar machen kann, dass es nicht geht. Nicht mehr. Jemand wartet auf mich.
„Obwohl, ich könnt‘ auch was Warmes vertragen... Ich würd‘ Sie gerne einladen.“, springt Heldt schließlich über seinen Schatten und fragt mich direkt danach, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, rein privat.
Ein wenig überrascht, dass er das tatsächlich so unverblümt fragt, sehe ich in sein Gesicht. Einerseits fühle ich mich geschmeichelt, andererseits ist es mir unangenehm, Nikolas nun beichten zu müssen, dass ich nicht auf ihn gewartet habe, während er sich in der Weltgeschichte herumgetrieben hat. „D... Das ist total lieb, ähm... aber ich bin schon verabredet“, stammele ich äußerst souverän und immer wieder ungeduldige Seitenblicke in Richtung Parkplatz werfend vor mich hin. Wo bleibt mein Abholservice nur? Ich versuche mich aus der Situation zu befreien, indem ich weiterlaufe, doch ich habe die Rechnung ohne Nikolas gemacht.
Er eilt neben mir her und stellt sich mir schließlich wieder in den Weg. „Mit Emily?“, fragt er in einem Anflug von Verzweiflung. „Aber die kann doch mitkommen!“ An seinem Blick erkenne ich, dass er bereits ahnt, dass ich nicht nur mit meiner Tochter verabredet bin. „Ich würde wirklich gerne mit Ihnen reden über das, was vor sechs Monaten passiert ist, auch zwischen uns, und ...“
Endlich erkenne ich Stefan. Ich lächle ihm zu, als er auf Nikolas und mich zuläuft, doch Nikolas missinterpretiert mein Lächeln und denkt, ich stimme ihm zu, dass es da noch einiges an Redebedarf zwischen uns gibt. Das tue ich auch gedanklich, tatsächlich aber macht es keinen Sinn mehr, über das zu reden, was zwischen uns passiert ist.
Plötzlich registriert Heldt, dass mein Lächeln nicht ihm gilt, sein Gesicht wechselt von froher Erleichterung hin zu Irritation und schließlich tauchen dunkle Wolken darauf auf, bis seine Gesichtszüge plötzlich erstarren, als er Schritte hinter sich hört.
„Hey Schatz“, begrüßt Stefan mich, der mit einem Mal hinter Heldt hervorkommt und im Begriff ist, mir einen Begrüßungskuss zu geben.
„Hi“, erwidere ich sanft.
„Hi“, widerholt er und legt die Arme um mich.
„Na?“ Ich greife mit der rechten Hand um seinen Nacken und spitze die Lippen, als er sie mit seinen berührt. Doch diesmal schließe ich nicht wie gewohnt die Augen, sondern lasse sie offen und sehe Stefan nach unserem kurzen Begrüßungsritual betont verliebt an, während ich die Hand auf seine Brust lege und zulasse, dass er den Arm um mich legt, um mich näher an sich heranzuziehen. Ich betrachte meine Füße, ich wage es nicht, in Heldts Augen zu sehen und die Enttäuschung darin zu erkennen, die ich an seiner Atmung hören kann.
„Nikolas! Ich wusste gar nicht, dass du wieder zurück bist“, wendet Stefan sich schließlich an meinen verdatterten Kollegen.
„Ja“, gibt Heldt dezent überfordert von sich und auch mir ist es unangenehm, in dieser Situation festzustecken. Hätte ich ihm davon erzählen sollen, dass ich wieder mit dem Vater meiner Tochter zusammen bin? Es hat sich einfach kein passender Zeitpunkt dafür ergeben.
„Alles klar?“, erkundigt sich Stefan höflich. Für ihn ist es keine große Sache, dass wir hier zu Dritt vor dem Präsidium stehen, für ihn war Heldt nur ein Kollege, der mal größeres Interesse an mir gezeigt hat und sich dann nicht mehr gemeldet hat, keineswegs ein ernstzunehmender Konkurrent.
„Ja, bei euch auch, wie’s scheint, hm?“, presst er hervor, gibt sich erfreut und gut gelaunt.
Wie mag es wohl in seinem Inneren aussehen? Sollte mir Heldts Innenleben nicht gleichgültig sein, nachdem er meines ins Chaos gestürzt hat? Ich weiß nicht, was ich fühle, doch eines ist es gewiss nicht: Gleichgültigkeit.
Ich klammere mich an Stefans Arm fest und riskiere einen Blick in Heldts Gesicht. Er mimt den Überraschten, von Traurigkeit oder verletzten Gefühlen keine Spur.
„Ja, bisschen verrückt, was?“ Stefans Griff um meine Taille verstärkt sich.
„Ja, ja, es is verrückt!“ Heldt zieht eine Grimasse, diese Neuigkeit hat ihm offensichtlich die Sprache verschlagen.
Einerseits tut er mit leid, andererseits würde ich wirklich gern mit ihm zu Mittag essen und einfach nur mit ihm reden, aber das geht natürlich nicht. Ich muss schleunigst hier weg, weg von ihm und seinen braunen Rehaugen. „Ja, ...“, stelle auch ich mich in der Schlange der Ja-Sager hinten an und sehe Stefan auffordernd an. „Wir müssen dann auch los, Emily abholen.“
„Hm, klar.“ Heldt nickt uns aufgeregt zu.
„Dann Tschüss!“, verabschiede ich mich von meinem „guten Kollegen“.
„Tschüss!“, kommt es mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung von Heldt.
„Tschüss“, fällt auch Stefan in den allgemeinen Abschied-Singsang mit ein.
Tschau!“, wiederhole ich mich idiotischer Weise und laufe bei Stefan eingehakt zu seinem Wagen.
„Auf Gerber wurde geschossen?“, wiederhole ich ein paar Tage später Heldts Hiobsbotschaft zu seinem neuen Fall.
Heldt steht an meinen Besprechungstisch gelehnt mit so viel Sicherheitsabstand wie möglich zu mir in meinem Büro, den roten Aktenordner des Gerichtsvollziehers Gerbers wie ein Schutzschild vor die Brust geklemmt. Seine Hände liegen am unteren Ende der Akte übereinander.
Ich kann ihm ansehen, wie wenig er mit der Situation, mit mir allein zu sein, zurechtkommt, seit er von mir und Stefan weiß. Selbst schuld, denke ich, schließlich ist er ja nach Mallorca abgedampft.
Auch seine Stimme hat einen ganz anderen, viel helleren, klareren Klang als sonst. „Er wurde an der Schulter getroffen. Aber zum Glück nichts Lebensbedrohliches.“
Ich stütze meine Ellenbogen auf den Armlehnen meines Bürosessels ab und verschränke ebenfalls die Hände vor der Brust ineinander. „Also dann ham‘ wir’s jetzt nicht nur mit erhängten Gartenzwergen zu tun, sondern auch noch mit versuchtem Mord? Was sagt denn Grün dazu?“, bleibe ich bei der Sache, nämlich unserem Fall, die Bedrohung eines Gerichtsvollziehers.
„Hm, ich konnt‘ noch nicht mit ihm darüber sprechen.“ Er gibt einen frustrierten Laut von sich. „Zur Zeit wär‘ es leichter an die Kanzlerin ranzukommen als an ihn.“
„Mhm“ Sein Vergleich entlockt mir ein unfreiwilliges Schmunzeln. Mit Grün ist gerade wirklich nicht gut Kirschen essen, was ich aber andererseits auch sehr gut nachvollziehen kann. In seiner Haut hätte ich an dem Tag, als unser Kollege verschwunden ist, noch weniger stecken wollen als in meiner eigenen. Niemand konnte den Grund für den finalen Rettungsschuss bezeugen. Der Hauptkommissar hatte wirklich Glück, dass der Untersuchungsausschuss ihn letztendlich nicht vollends auseinander genommen hat und er rasch wieder arbeiten durfte. Insofern kann ich seinen Zorn auf Heldt sehr gut verstehen. Doch zwischen mir und Heldt hat das nichts verloren. Schnell bewege ich mich auf die berufliche Ebene zurück. „Gibt es schon hinweise auf den Täter?“
„Vielleicht... ähm ..“ Ungeschickt dreht er die Unterlagen in seiner Hand so herum, dass er deren Inhalt lesen kann. Dann richtet er sich auf, stößt sich vom Besprechungstisch ab und legt die Akte vor mir auf den Schreibtisch. .“Gerber hat kurz vor den Schüssen einen Schuldner erwähnt, der bei der Pfändung seines Laptops ausgerastet ist.“ Er stütz sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab.
Wir atmen beide angestrengt, blicken uns immer wieder rein zufällig in die Augen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Ich lese. „Ein Jurastudent?“ Fragend gucke ich zu Heldt hoch, diesmal ertrage ich es länger, ihn anzusehen.
Doch im Gegensatz zu mir ist er immer noch pedantisch darauf bedacht, meinem Blick auszuweichen, sodass er stattdessen auf die Unterlagen in der Akte starrt, während er ein zustimmendes „Mhm...“ von sich gibt. „Ich hab mit den beiden Polizisten gesprochen, die bei der Pfändung dabei gewesen sind. Langer, also dieser Jurastudent, hat geschworen, sich zu rächen.“ Kurz erwidert er meinen Blick, schüchtern, zaghaft und mehr aus Versehen treffen sich unsere Augen für einen Wimpernschlag. Dann sieht Heldt wieder nach unten. Ich schlage die Lider nieder und den Aktenordner zu. „Ach... Das klingt doch sehr vielversprechend.“ Mit einem gespielt lockeren Lächeln sehe ich Heldt an. „Dann brauchen Sie sich über den Fall auch nicht mehr zu beschweren..“ Ich halte ihm den roten Aktenordner hin, mir fällt im letzten Augenblick auf, dass ich ihn zu weit in der Mitte zusammenhalte, als dass Heldt ihn mir so einfach aus der Hand nehmen könnte. Und meine Vermutung bewahrheitet sich.
Einen kurzen Moment liegen seine Finger direkt über meinen.
Atemlos starrt Heldt auf unsere Hände. Es ist das erste Mal, dass wir uns wieder berühren, seit.... Seit damals. Seit dem Kuss in meinem gelb-orange gestrichenen Büro, den ich ihm zum Abschied gegeben habe, nachdem er mir versichert hat, dass er um acht Uhr vor meiner Haustür stehen würde. Damals... als ich einfach aufgestanden bin, ihn zu mir herangezogen habe und ihn geküsst habe. Trotz all dem Schmerz und den Tränen, die wir in diesem Moment miteinander geteilt haben, war unser Kuss wunderschön. Ich konnte nicht anders, zu sehr war ich von meinen Gefühlen für diesen Mann überwältigt, der da weinend vor mir stand und mich anflehte, dass ich an diesem für ihn so grauen Tag an unserer Verabredung festhielt und – rein privat – mit ihm ausging. Dass er zu mir kam, als es ihm schlecht ging, dass er sich mir anvertraute, mir die Fähigkeit zusprach, ihn an diesem Abend in seinem Kummer beizustehen, hatte mir so unendlich viel bedeutet. Ich wusste ja schon länger, wie sehr Nikolas darunter litt, nicht zu wissen, wer seine Eltern auf dem Gewissen hatte. Und nun hatte er zwar den Mann gefunden, der die Patronen abgefeuert hatte, doch dieser war vor seinen Augen gestorben, ohne ihm auch nur einen brauchbaren Hinweis zu liefern. Normalerweise wäre ich davon ausgegangen, dass Nikolas an diesem Abend lieber allein sein wollte, ich hätte ihm mein vollstes Verständnis entgegengebracht und unser Date selbstverständlich vertagt. Aber damals stand er mit Tränenflüssen im Gesicht vor mir und bestand darauf, den Abend mit mir zu verbringen. Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie froh ich darüber war, dass Nikolas bei mir Trost gesucht hat. Und dass ich ihm diesen wenigstens die paar Minuten, die unser Kuss angedauert hat, schenken konnte.
Doch das war vor einem halben Jahr, in einem anderen Gebäude und in einem anderen Leben.
Als hätte ich mich an seiner Haut verbrannt, ziehe ich meine Hand weg und werfe ihn mit einem lässigen „Machen Sie was draus!“ aus meinem neuen Büro mit den lila-blauen Wänden.
Heldt macht eine winkende Handbewegung, die seinen Abschied einläuten soll.
„Und unterrichten Sie Herrn Grün über ihre Ermittlungen!“, sage ich schroffer, als ich es beabsichtigt habe, während Heldt sich am Aktenordner festhaltend zur Tür begibt. Kurz bevor er mein Büro verlässt, bleibt er noch einmal stehen und sieht zu mir zurück. Ich kann ohne ein abgeschlossenes Psychologiestudium erkennen, was in seinem Kopf vor sich geht. Dass da noch immer etwas zwischen uns ist, was da nicht sein sollte, wären wir nur Kollegen.
Aber in diesem Leben, in diesem Büro werden wir nie etwas anderes sein als Staatsanwältin und Kommissar.
Ein paar Tage später höre ich Heldts energisches Klopfen bereits früh am Morgen an meiner Bürotür „Ja, bitte!“
Er öffnet die Tür und in der Zwischenzeit nehme einen tiefen Schluck aus der vor mir stehenden halb vollen Kaffeetasse. Für meine Nerven. Und gegen die Unruhe, die mich überkommt, sobald ich mit Heldt alleine in einem Raum bin.
„Guten Morgen!“ Er grinst mich enthusiastisch an und hält einen Laptop hoch. „Hätten Sie kurz Zeit für mich?“
Etwas zu Schwungvoll setze ich die Tasse auf meinem Tisch ab. Der Löffel klirrt gegen das Porzellan. Ups. War wohl doch ein bisschen zu viel Koffein auf einmal. „Wenn Sie Probleme mit’m Computer haben, fragen Sie lieber die IT“, versuche ich ihn möglichst schnell abzuwimmeln, doch Heldt tut das Gegenteil von dem, was ich beabsichtigt habe.
Er schließt die Tür hinter sich und kommt, den Laptop aufklappend auf mich zugelaufen. „Ne, der gehört nicht mir.“
Verwundert sehe ich zu ihm hoch. Muss er das tun? Muss er mich so quälen? Ja, das muss er, es ist mehr oder weniger sein Job, mich als seine Vorgesetzte über den Fortschritt der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten
Bereits im nächsten Moment erleuchtet er mich: „Sondern Timo Lange!“
„Dem Jurastudent?“, vergewissere ich mich, ob das Koffein mein Gedächtnis bislang verschont hat.
„Ja, der war zum Glück noch nicht versteigert. Und ich hab auf der Festplatte ‘n paar interessante Dinge gefunden, ich bin mir nur nicht sicher, ob sie das bedeuten, was ich denke, dass sie bedeuten“, verhaspelt Heldt sich aufgeregt, während er auf dem kleinen mobilen Rechner in seiner Hand herumtippt.
„Jetzt nochmal im Klartext!“, frage ich ihn völlig verständnislos. Ich hab mit IT-Sachen echt nichts am Hut, da kann Nikolas wahrscheinlich mehr als ich.
„Ich brauche die Hilfe einer erfahrenen Juristin!“, präzisiert er den Grund für sein Auftauchen keineswegs.
„Schleimer!“, erwidere ich spitz, drehe aber meinen Stuhl in die Richtung, von der aus Heldt nun verschmitzt grinsend hinter meinen Schreibtisch kommt. Er stellt sein Fundstück unmittelbar vor meiner Nase ab. Für einen kurzen Augenblick streift seine Lederjacke die Härchen auf meinem Unterarm, doch dann räuspert sich Heldt und stützt sich direkt neben mit auf der Tischplatte auf.
Er ruft ein Dokument auf und als er denkt, ich würde mich nun dem Lesen widmen, sieht er zu mir hinüber. Unsere Gesichter sind keine Handbreite voneinander entfernt.
Ich höre seinen beschleunigten Atem lauter als meinen eigenen. Auch ich sehe ihn an, blicke in seine Augen, lasse meinen Blick über seine kantigen und doch irgendwie vertraut weichen Gesichtszüge wandern und frage mich, wie lange ich mich noch zusammenreißen kann, wenn wir uns weiterhin so nah sind. Allein sein Geruch, der typische Heldt-Duft, vermischt mit dem Geruch seiner Lederjacke senden elektrische Impulse, so stark wie Blitze, meine Wirbelsäule hinab. Ohne aktiv etwas dafür zu tun, sorgen meine Muskeln dafür, dass ich mich Heldt immer stärker zuneige.
Nach wenigen Sekunden bemerkt Heldt ebenfalls, dass wir auf keinem guten Weg sind, wenn wir einander weiter so sehr auf die Pelle rücken und erhebt sich wieder.
Ich kann meine Frustration kaum verbergen, als er der Vernünftigere von uns beiden ist und sich in gebührendem Abstand hinter mich begibt.
Als ich am Freitag eine Woche später in die Einfahrt des Polizeipräsidiums einbiege, sind meine Gedanken noch bei Stefan, der mich heute etwas früher mit einer duftenden Tasse Kaffee geweckt hat.
Seit letztem Wochenende steht ein hochmoderner Kaffee-Vollautomat in unserer Küche und mein Freund erweist sich als echter Lebensretter, indem er mir jeden Morgen, nachdem er aufgestanden ist, mein geliebtes Heißgetränk ans Bett bringt. Stefan ist als Frühaufsteher meistens vor mir wach und so habe ich auch heute gehört, wie er aufgestanden ist. Heute allerdings hat er mich nicht wie sonst immer weiterschlafen lassen, sondern beschlossen, mich zusätzlich zu meinem Guten-Morgen-Kaffee mit etwas anderem zu überraschen. Dass ich die Idee von verschlafenem und zerzaustem Guten-Morgen-Sex allerdings nicht so toll fand, fand er wiederum auch nicht glänzend.
Während ich einparke, spiele ich unser Gespräch nach meinem vehementen Abblocken sämtlicher Zärtlichkeiten seinerseits noch einmal durch.
Stefan sieht mich eindringlich an. „Ellen.“
„Was denn?“, gebe ich gereizt zurück und entferne seine Hand von meiner Hüfte. Es ist schon zu viel, seine Finger durch den leichten Stoff meines Negligés zu spüren.
Enttäuscht sieht er auf meine halbvolle Kaffeetasse und lässt seine Hand sinken. „Wir haben seit zwei Wochen nicht mehr miteinander geschlafen...“
„Sorry“, unterbreche ich ihn rasch. „Der Stress auf der Arbeit, mit Emily, ich habe im Moment einfach keine Lust.“ Es ist eine Lüge. Sobald ich auf der Arbeit bin und Nikolas in mein Büro kommt, spüre ich von dieser durch den vermeintlichen Arbeitsstress verursachten Lustlosigkeit nichts mehr. Aber das kann ich Stefan ja schlecht auf die Nase binden. Ich setze mich auf und leere seinen Kaffee. „Und außerdem muss ich jetzt schon los!“ Nach langem hin und her habe ich mich gestern Abend bereit erklärt, Emily heute früh zur Schule zur bringen, weil er mal wieder nicht kann, wichtiger Kundentermin, intaktes Geschäftsnetzwerk und so weiter. Wie wichtig Teamplay für eine intakte Familie ist, muss der Kerl echt noch lernen. Aber um sich mit mir in den Laken zu wälzen, dafür hätte er genug Zeit. Vergnügen war ihm schon immer wichtiger als Verantwortung. Verärgert schüttle ich den Kopf.
„Quatsch, es ist doch nicht mal halb acht!“, widerspricht er mir skeptisch.
„Ja, aber heute ist Freitag und da steht die Wochenbesprechung an“, schiebe ich eine weitere Lüge vor, um nicht länger mit ihm im Bett bleiben zu müssen.
„Deine Wochenbesprechungen sind am Montag, Schatz“, belehrt er mich zu meiner Überraschung postwendend (Hat er sich etwa doch meinen Terminplan angeguckt?), doch dann sieht er mich besorgt an. „Hey, ist alles okay?“
Ich nicke enthusiastisch. „Klar, wieso, was soll sein?“
„Nichts, ich dachte nur, ... du bist so durcheinander in letzter Zeit.“
„Ach bin ich das?“ Ich überwinde mich dazu, ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken und stehe auf.
Und nun bin ich hier, parke den Mercedes auf meinem gewohnten Platz und laufe in Gedanken irgendwo, aber nicht bei der Arbeit, über den Hof zum Präsidium. Als ich Heldt unter dem Vordach sehe – was für die frühe Stunde doch sehr beachtlich ist -, schleicht sich ein leichtes Lächeln auf meine Züge. Sobald er mich entdeckt hat und bemerkt hat, dass ich ihn auch entdeckt habe, verkrampft er sich augenblicklich. Mit gesenktem Kopf läuft er in meine Richtung, bleibt jedoch kurz vor mir stehen. „Guten Morgen, Frau Staatsanwältin.“
Ich halte ebenfalls an. „Guten Morgen, Herr Heldt!“
Unruhig verlagert er sein Gewicht von einen Fuß auf den anderen, immer hin und her.
„Na, so früh schon im Einsatz?“, versuche ich die angespannte Atmosphäre zwischen uns aufzulockern.
Er lächelt stolz über mein Lob, dass er tatsächlich mal früher als ich im Präsidium ist und erwidert: „Ja, Spezialeinsatz, für die Kollegen. Der Kaffeeautomat spukt mal wieder nichts al heiße Luft aus.“ Verlegen steckt er beide Hände in die Jackentaschen.
„Na Sie werden ja noch zum Teamplayer!“, bemerke ich anerkennend und denke mir, dass Stefan sich echt mal ein paar Scheibchen von Nikolas abschneiden könnte. Heldt... ich meine natürlich von Heldt. Wobei es mir ja dann doch lieber wäre, wenn mein Freund meinen Kollegen in einem Stück lassen würde.
„Ja, einer für alle, alle für einen.“ Er sieht mich mit einem eigenartigen Blick an und ich werde das Gefühl nicht los, dass er noch etwas loswerden will.
Ganz automatisch lege ich den Kopf schief und schenke ihm ein warmes Lächeln.
„Latte, mit’m extra Espresso?“, erkundigt er sich im nächsten Moment nach meinen Kaffee-Wünschen. Er weiß immer noch, was ich am liebsten trinke.
Mein Lächeln verstärkt sich, erstirbt aber in dem Moment, in dem Stefan und sein Kaffee-Vollautomat vor meinem inneren Auge erscheint. „Danke, ich hatte schon einen“, beginne ich betreten und füge dann als Erklärung im Eiltempo hinzu: „Stefan hat diese super Kaffeemaschine gekauft und jetzt bekomm ich jeden Morgen den perfekten Kaffee ans ...“ Ich stocke und spreche das letzte Wort nicht aus, als ich in Heldts Gesicht sehen kann, wie sehr ihn meine privaten Geschichten verwirren. Was tue ich denn hier? Wollte ich ihn oder mich auf Abstand halten mit dieser Klarstellung dass Stefan der Mann in meinem Leben und der Mann in meinem Bett ist? Ich denke, ich habe es weniger für Nikolas gesagt, mehr für mich. Heldt, Nikolas, Heldt kennt diese unübbertretbare Linie. Ihm muss ich keine Grenzen aufzeigen, diese Demonstration benötige ich eher selber.
„Aber danke trotzdem“, stammele ich mit dem Rest Selbstachtung, der mir noch geblieben ist.
Heldt nimmt es gelassen. Zwar hebt er für einen kurzen Moment die Augenbrauen, gibt dann aber lässig „Wow, da kann man ja richtig eifersüchtig werden“, von sich und sieht mich unbeirrt lächelnd an.
Ich presse die Lippen zusammen, beäuge ihn schüchtern. Er sieht gut aus und irgendwie strahlt er auch etwas Besonderes aus heute Morgen. Ich glaube, es tut ihm gut, dass er eine Aufgabe für das gesamte Team übernehmen kann und sich von allen - auch von Herrn Grün zumindest ansatzweise - wieder respektiert fühlt.
Schnell schiebt Heldt – an dem meine Überlegungen bezüglich Teamfähigkeit vollkommen vorbei gegangen sind - noch ein „Neidisch, ich meine neidisch!“, hinterher, als er gemerkt hat, dass Eifersucht wohl doch eher auf die Beziehungsebene gehört, die zwischen uns seit einem halben Jahr nicht mehr vorhanden ist. „Also dann“, verabschiedet er sich und wendet sich zum Gehen.
Dummerweise weichen wir beide in die gleiche Richtung aus, lächeln uns peinlich berührt an und geraten beim nächsten Versuch, weiterzugehen, als wäre nichts gewesen, schon wieder aneinander. Wir bleiben voreinander stehen, ich glaube, ich erröte nicht gerade dezent.
Heldt seufzt, macht einen Schritt zurück und klappt seine Jacke auf, um mir den Vortritt zu lassen.
Schnellen Schrittes husche ich an ihm vorbei ins Präsidium. Ich schaffe es tatsächlich, mich nicht noch einmal nach ihm zumzudrehen.
„Dann bis gleich, tschüss“ Herr Korthals legt auf, als ich ein paar Stunden später an diesem Tag das Gemeinschaftsbüro von ihm und Heldt betrete.
„Und?“, fragt er eifrig nach neuen Erkenntnissen im Geiselnahmefall, noch bevor ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen lassen kann.
„Der Polizeipräsident tobt!“, erkläre ich unnötiger Weise und füge verzweifelt hinzu: „Haben Sie nicht irgendetwas, was uns hilft? Irgendwas?“
„Fehrichs hat sich von all seinen Freunden getrennt.“ Herr Korthals spielt unruhig mit dem Stift in seiner Hand. „Einer seiner früheren Mitarbeiter hat mir erzählt, dass er regelmäßig in so 'ne Kneipe gegangen ist.“
„Auch noch ein Alkoholiker? Na toll!“ ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, beuge mich nach vorne und stelle meine Ellenbogen auf Korthals Schreibtisch ab. „Das hat uns ja gerade noch gefehlt!“
Herr Korthals versucht, mich zu beschwichtigen: „Naja, also so hat sich das jetzt nicht gerade angehört.“
Nun schnappe ich mir einen Bleistift, zwirble ihn zur Ablenkung zwischen meinen Zeigefingern und versuche, meiner Aufregung zu unterdrücken.
„Ich habe eben mit der Wirtin telefoniert und sie ist gerade auf dem Weg hierhin.“, erklärt er vage.
Natürlich, wie immer hat der Kollege Korthals sauber recherchiert. Doch führen seine traditionellen Methoden uns auch zur Lösung des Falls?
„Wir greifen hier nach Stroheim, das ist Ihnen schon klar?“, mache ich meiner Verunsicherung Luft. Abrupt lasse ich den Bleistift fallen, verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich an der Rückseite des Stuhls an.
Heldts Apparat beginnt zu klingeln. Ich sehe zum gegenüberliegenden Schreibtisch hinüber. Natürlich ist er immer noch nicht von seinem Kaffee-Spezialeinsatz (nicht, dass er mir nach meiner Ansage heute früh einen mitgebracht hätte) zurück, sondern ist gleich mit Grün und dem SEK vor Ort geblieben, ist ja auch spannender als trockene Büroarbeit. Dass man ihn einmal im Büro antrifft, passiert seltener als dass es pünktlich zu Weihnachten in Bochum schneit. Und wie sein Schreibtisch schon wieder aussieht! Als hätte dort eine Bombe eingeschlagen!
„Ja?“
Während ich noch damit beschäftigt war, mich geistig über den Zustand von Heldts Arbeitsplatz aufzuregen, hat sich Herr Korthals bereits das Telefon geschnappt und den Anruf auf seinen Apparat weiter leiten lassen.
„Ach... ja...“ Er sieht mich abschätzend an. „Momentchen.“ Korthals nimmt den Hörer vom Ohr und hält ihn sich an die Brust, um den Lautsprecher zu verdecken. Dann wendet er sich an mich. „Da ist ne junge Dame, die möchte Kommissar Held sprechen...“
Ich hebe den Blick und sehe Heldts Kollegen perplex an. „Ach, der hat ne neue Freundin?“
Interessierter, als ich wahrscheinlich sein sollte - Immerhin ist mir vor Nikolas erst heute morgen dummerweise rausgerutscht, dass Stefan mir jeden Morgen den perfekten Kaffee ans Bett bringt - lehne ich mich wieder nach vorne und nehme die Hälfte von Korthals Schreibtisch mit meinen Unterarmen in Beschlag. Und überfordere ihn sichtlich mit meiner Neugier an Nikolas' Privatleben.
Was bilde ich mir eigentlich ein, so in Nikolas Leben herumzuschnüffeln, sogar seinen Freund über ihn auszuquetschen, wo bleibt denn meine Achtung vor mir selbst?
Korthals seufzt. „Ähm ne. Also nicht, dass ich wüsste“, ist seine nichtssagende Antwort.
Ich mustere ihn kritisch, bevor ich mich mit einem leichten Kopfschütteln zu einer äußerst unprofessionellen Aussage hinreißen lasse: „Naja ... Ist ja auch egal, wimmeln Sie sie ab!“
Meine Güte, Ellen! Dir steht es wirklich nicht zu, Nikolas private Kontakte zu sabotieren. Was, wenn es etwas Wichtiges ist? Verlegen weiche ich Korthals Blickkontakt aus und gucke stattdessen auf den Block auf seinem Schreibtisch. Ich ergreife den dort liegenden Bleistift und beschäftige mich mit kleinen Kritzeleien auf der Unterlage, während meine Gedanken rasen. Hat Heldt jemanden kennengelernt? Wenn ja, warum stört es dich? Du bist doch in einer glücklichen Beziehung oder etwa nicht? Und außerdem, sein Privatleben geht dich ja nun wirklich nichts an. Zumindest nicht mehr. Ich wünschte, es wäre so einfach, meine verletzten Gefühle, wann immer es um Heldt geht, zu unterdrücken. Ich habe keine Schmetterlinge mehr im Bauch, wenn ich an ihn denke. Nur vollgefressene Raupen im Winterschlaf und die liegen mir schwer im Magen.
„Hören Sie... Kommissar Heldt ist vor...“, leistet Korthals meiner Bitte Folge. Doch anscheinend erfolglos, denn im nächsten Moment scheint er unterbrochen zu werden. Wieder nimmt er das Telefon herunter und verdeckt es an seinem blau-rot gestreiften Poloshirt.
„Die Dame ist vorne am Eingang.“
Mein Herz rutscht mir in die Hose. Bedeutet das, dass ich gleich mit Heldts neuer Flamme konfrontiert werde? Wird es sich für mich ähnlich schmerzhaft anfühlen wie für ihn, als Stefan mich abgeholt hat, nachdem der Catcher-Masken-Fall gelöst war? Ich habe doch gesehen, wie hinter seiner guten Miene zum bösen Spiel etwas von seiner Fassade abgebröckelt ist. Ich spiele bereits im Kopf alle möglichen Szenarien, die geht sich gleich ergeben könnten, durch, als mich Herr Korthals zum Glück mit einem schlichten weiteren Satz erlöst: „Es ist Julia Fehrichs.“
Die Tochter des Geiselnehmers. Auch, wenn ich es nach außen hin nicht zeigen kann, fällt mir ein Stein vom Herzen. Nikolas ist nicht neu vergeben. Nun da dieser private Konfliktherd geklärt wäre, kann ich mich wieder mit voller Energie dem Fall widmen. Mir ist bewusst, was für ein schlechtes Zeichen es ist, dass meine persönlichen Gefühle für Heldt unsere aktuellen Ermittlungen überschatten.
Wenig später sitze ich Julia Fehrichs an meinem Besprechungstisch gegenüber. „Dein Vater hat also seit der Scheidung Besuchsrecht. Wie oft seht ihr euch, einmal die Woche?“ so hatten Stefan und ich es zumindest gehandhabt. Obwohl wir nie verheiratet waren, fand ich es wichtig, dass er Emily regelmäßig sehen konnte. Ich hätte nie gewollt, dass mein Kind ohne ihren Vater aufwächst. Aber das ist ja nun Geschichte, jetzt darf sich meine Teenie Tochter wieder mit beiden Elternteilen rumschlagen, ob sie will oder nicht.
Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, dass mir gegenüber sitzt. „Wir sehen uns gar nicht. Früher habe ich so oft auf ihn gewartet, da ist er einfach nicht. Wissen Sie, wie scheiße das ist?“
„Klar!“ Heldtheldtheldtheldt. Und wie gut ich weiß, wie Scheiße das ist. Vor allem, wenn derjenige auch die anschließenden sechs Monate nicht auftaucht und einem jede Erklärung, jede Entschuldigung schuldig bleibt. „Klar, keiner wird gerne versetzt“, murmle ich mitfühlend.
Ein paar Wochen darauf wandert mein Blick über den nachgebildete Weltraumhelm, der wohl zur Rüstung des Sternekrieger Gouverneur Dark aus Guardians of the Galaxy gehören soll. „Aufgrund der Schwere der Verletzung muss ich auf jeden Fall ein Ermittlungsverfahren einleiten“, konstatiere ich und sehe Heldt grinsen. Was ist denn mit dem schon wieder los? Nachdem ich das Wochenende darüber nachgedacht habe, warum in Gottes Namen er sich mit dem Geiselnehmer in diesen Kiosk hat einsperren lassen und zu dem Ergebnis gekommen bin, dass er es getan hat, um zu vermeiden, dass Julia Fehrichs ohne ihren Vater aufwächst, bin ich ihm gegenüber wieder deutlich milder gestimmt.
„Yeah! Ich wusste, dass Sie das sagen!“, freut er sich wie ein kleines Kind über meine schlichte Verkündung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung. Irritiert lächelnd stütze ich mein Kinn in die Hände und sehe zwischen ihm und Grün hin und her. „Noch Fragen?“ Dass eigentlich ich diejenige bin, die einen ganzen Haufen Fragen an Heldt hat, verdränge ich mit gewohnter Professionalität, während ich aufmerksam in die Runde blicke.
„Ja!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Hauptkommissar Grün. „Warum läuft ein erwachsener Mensch mit so etwas herum?“ Sein Kopf nickt in die Richtung meines Schreibtisches.
Ich folge Grüns Blick. Unzweifelhaft spricht er von dem schwarzen Helm mit der Atemmaske. Keine Sekunde später grinsen Heldt und ich uns verschwörerisch an. Bestürzt lässt er seinen Kaffeebecher sinken und dreht sich zu Grün herum.
Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme in bequemer Haltung vor der Brust und warte darauf, dass der Kriminalkommissar mit Weltraumfaible seinem Chef die Welt der Sterne erklärt.
„Das ist die Maske von Gouverneur Dark!“, kommt es fassungslos über so viel Unwissenheit von besagtem Kollegen.
„Hm?“, entgegnet dieser wenig überzeugt.
Heldt sieht mit gespieltem Entsetzten zu mir hinüber. „In einem fernen Universum... Vor langer Zeit?“ Erneut wendet er sich Grün zu und blickt ihm forschend – in der Hoffnung die Glocken der Erkenntnis in dessen Geist klingeln zu hören – ins Gesicht.
Erneut erntet er nichts als ein verwirrtes „Hm?“
„Weißer Schattenkrieger wird zu schwarzem Schattenkrieger, dessen Sohn Steve die einzige Rettung vor der ewigen Finsternis is...?“, führt Heldt mit einem Stoßseufzer aus.
Statt einer Antwort blickt Grün ahnungslos gerade aus zu mir.
„Herr Grün“, beschließe ich, Licht ins Dunkle zu bringen. „Gouverneur Dark ist eine Figur aus Shadows of the Galaxy.“ und ernte umgehend ein anerkennendes „Sie kennen die Filme“ von Heldt.
„Emily steht total drauf“, lasse ich die beiden Herren wissen, nicht ohne eine Spitze in Richtung Heldt hinzuzufügen: „Sie hat mit Stefan ...“ Ich ziehe die Augenbraue nach oben und mache eine Pause, um zu sehen, wie er reagiert. Heldt lächelt vorsichtig. „...jeden Teil geguckt“, ende ich schließlich und beobachte ihn weiter.
Heldt hat den Blick inzwischen gesenkt und scheint mit den unterschiedlichsten Emotionen in seinem Inneren zu kämpfen. Ich lächle ihn weiter unentwegt an, was ihn zu irritieren scheint, denn er schüttelt kurz drauf den Kopf und bewegt sich in die Richtung seines Chefs.
Während die beiden sich einen kurzen Schlagabtausch über Grüns Kino-Gewohnheiten liefern, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es irritiert Nikolas also, wenn ich von Emilys Vater spreche, der wieder mit mir zusammen ist. Interessant. Ellen, hör auf, dir Hoffnungen zu machen! Du bist vergeben und du bist glücklich, mit Emily, mit Stefan, mit deiner kleinen Familie.
„So, bitte meine Herren, jetzt lassen wir das und einer von Ihnen fährt bitte zur Sternenwarte und wird den Bruder des Opfers vernehmen“, gebe ich den beiden schließlich ihre Hausaufgaben und Grün und Heldt machen sich diskutierend darüber, wer von ihnen diesen verrückten Ort voller Weltraumfans aufsuchen darf, von dannen.
Ich bleibe sitzen und widme mich meinem Büro-Kaffee, der plötzlich so viel besser als der aus Stefans Vollautomat schmeckt.
Wenige Tage später ist es dem Team gelungen, den Brandstifter und Angreifer von Ralph und Rolf Licht zu schnappen. Das bedeutet auch, dass der kleine Junge und seine Mutter ihr Leben wieder wie gewohnt fortsetzen können. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich mit den beiden im Foyer stehe und ihnen diese guten Nachrichten mitteile.
Plötzlich ertönen seltsame Geräusche aus dem Büroflur, der zu Heldts und Korthals Gemeinschaftsbüro führt. Schwere Schritte folgen und gemeinsam mit einer großen Wolke staubt schwebt Nikolas Heldt als Gouverneur Dark in voller Montur mit schwarzem Mantel und Weltraumhelm in den Eingangsbereich hinein.
Mit lauten Atemgeräuschen kommt er vor dem Kleinen zum Stehen und hält seine behandschuhte Hand über dessen Kopf.
Die Mutter, die neben mir steht, legt gerührt eine Hand über ihre Brust.
Andächtig beginnt Heldt mit verzerrter Stimme zu sprechen: „Mein Sohn! Ich werde immer bei dir sein! Auch wenn ich da oben bei den Sternen bin.“
Die Frau neben mir schließt für einen Moment die Augen. Auch mich überkommt ein seltsames Gefühl des Verlustes, sogar meine Augen werden plötzlich feucht. Ist es die Erinnerung an die Vergangenheit, als ich auf einmal mit Emily auf mich allein gestellt war oder ist es die Rührung über die Emotionen in Heldts Worten, die seine Sätze in mir hervorrufen?
„Du musst jetzt auf deine Mutter aufpassen.“ Er übergibt dem Jungen feierlich eine Spielzeugwaffe von der Sternenwarte, die dieser ehrfürchtig nickend entgegen nimmt.
„Komm, wir gehen nach Hause“, sagt seine Mutter, greift seinen Arm und wendet sich zum Gehen.
Jetzt stehen Heldt und ich wieder alleine da. Ich atme tief durch, um meiner Gefühle wieder Herr zu werden. Doch ganz verbergen kann ich es nicht, dass Nikolas Worte etwas in mir ausgelöst haben. Er findet immer die richtigen Worte bei anderen, ist immer für sie da, nur bei mir scheitert er jedes Mal grandios aufs Neue. Ich sehe ihn an, wie er da in voller Weltraummontur vor mir steht. Auf einmal mache ich - ganz unterbewusst, aber eindeutig - einen Schritt auf ihn zu. Und dann noch einen. Ich überquere die Hälfte des Flurs, die noch zwischen uns lag und komme schließlich direkt vor ihm zum Stehen. Noch immer laufen einzelne Tränen mein Gesicht hinab, als ich Mutter und Kind hinterhersehe. „Glauben Sie, sie haben ihn damit erreicht?“, frage ich mit tränenerstickter Stimme und wende den Kopf ab, damit er nicht sieht, dass er mich erreicht hat.
Heldt nimmt seine Kopfbedeckung ab und sieht mich forschend an. Seine braunen Locken sind ein wenig plattgedrückt, trotzdem kann ich nicht leugnen, dass mir bei seinem Anblick jedes Mal aufs Neue die Knie schwach werden. Er betrachtet mich eindringlich, der Ausdruck in seinen großen braunen Augen wird mit einem Mal ganz sanft. „ Bei Ihnen hat’s ja schon mal funktioniert.“
„Wenn das so einfach wär...“, erwidere ich schwach und sehe ihn unentwegt an, während er beginnt, die unterschiedlichen Taschen des Anzugs zu durchsuchen.
„Vielleicht ja damit“
Er zückt ein seltsames silbernes Gerät aus dem Inneren seiner schwarzen Jacke das auf den ersten Blick unter Betrachtung im richtigen Kontext wie der Knauf eines Lichtsschwertes aussieht, jedoch auf den zweiten Blick auch etwas darstellen könnte, was „frau“ lieber diskret in ihrer Nachttischschublade aufbewahren würde. Ich verfluche mich für den zweiten Gedanken, muss aber dennoch kurz kichern – bin ich mir doch ziemlich sicher, dass Nikolas... Das Heldt mich damit auf die eine oder andere Weise erreichen könnte.
„Hm?“ Heldt schwenkt das silberne Teil vor meinen Augen herum.
Ich beschließe, meine Fantasien Fantasien sein zu lassen und mich von ihm zu verabschieden. „Sie werden nie erwachsen, Heldt“, antworte ich, lächle ihm zu und lasse ihn dort mit seinem Spielzeuganzug stehen, während ich wieder nach oben gehe. Doch der Gedanke an unser Gespräch zaubert noch den ganzen Tag über ein Lächeln in mein Gesicht, wenn ich in meinen Tagträumen über Nikolas mal wieder darauf zurückkomme.
„Ich such den...“, ertönt unten im Foyer eine vertraute Stimme, die ich lange nicht gehört habe. Ist er wirklich wieder da?
Schnell eile ich, mit Robe überm Arm und Gesetzeskommentar in der Hand, die Treppe hinunter. „Herr Funke“, spreche ich Heldts lange vermissten alten Freund ungläubig an. Eigentlich müsste ich nun zu Gericht, aber für ein kurzes Gespräch habe ich sicher noch ein paar Minuten Zeit. „Wie schön, Sie sind wieder da“, begrüße ich ihn herzlich.
Er fährt zu mir herum und erwidert lächelnd: „Ja, seit gestern.“ Überrascht, aber definitiv auf eine gute Art und Weise, sieht er mir ins Gesicht. „Hallo, Frau Bannenberg.“
„Hm?“ Ich deute auf die Sitzgruppe vor der Treppe die hoch zur Staatsanwaltschaft geht. Er nickt und folgt mir zu den grauen Metallstühlen. „Wie geht es Ihnen?“, frage ich neugierig, während wir uns setzen.
„Gut.“ Einen Moment lang ist er still und sieht mich nachdenklich an. „Wieder gut. Die Zeit heilt alle Wunden.“
Ich lächle kühl. „Tut sie nicht.“ Die Worte kommen schroffer aus meinem Mund, als ich es eigentlich beabsichtig hatte, jedoch nicht annähernd so hart, wie sie in meinem Kopf geklungen haben. Widerstrebend nehme ich wahr, dass meine Augen feucht werden.
Nachdem Herr Funke mich verwundert gemustert hat, sieht er sich ein wenig verloren in der neuen Eingangshalle um.
Ich folge seinem Blick und sehe nach oben an die Decke, gebe meinen Augen etwas Zeit, um zu trocknen und bemerke dann: „Tja, in der Zwischenzeit hat sich hier einiges verändert.“
„Allerdings.“ Er schmunzelt. „Können Sie mir sagen, wo ich Nikolas finde?“
Gute Frage, das weiß ich selbst nicht. „Soweit ich weiß, ist er nicht im Büro“, gebe ich bedauernd, dass ich ihm nicht weiterhelfen kann, von mir.
„Zu mindestens eine Sache, die sich nicht geändert hat“, merkt unser Lieblingsbarbesitzer trocken an. Ich nicke schmunzelnd. Wir teilen einen kostbaren Moment der Ausgelassenheit und ein ehrliches Lachen miteinander.
„Haben Sie denn schon Wiedersehen gefeiert?“, erkundige ich mich schließlich, nachdem die fröhliche Stimmung abgeebbt ist.
Herr Funke macht eine langsame verneinende Kopfbewegung „Nein, noch nicht.“ Er wartet einen kurzen Moment, sieht mich forschend an und spricht dann aus, was ihm wohl noch auf der Zunge gelegen hat: „Und Sie?“
Ich schlucke. Sammle mich. Entgegne ihm am Ende ohne jegliche Emotionsregung in der Stimme: „Wie ich schon sagte, es haben sich einige Dinge verändert.“
Wahnsinn, zwanzig Jahre ist Grün heute bei der Kripo Bochum! Und das gesamte Präsidium hat sich versammelt, um ihn gebührend zu feiern. Das gesamte Präsidium? Nein, ein besonders freches Individuum aus der Mitarbeiterschaft ließ zuerst ewig auf sich warten und ist allem Anschein nach nur gekommen, um sich an den Fressalien gütlich zu tun.
Heldt steht schon wieder am Buffet und holt sich nun schon zum dritten oder vierten Mal einen von diesen gemischten Spießen. Wie so oft frage ich mich, wie so viel Essen in ihn reinpasst und er immer noch aussieht, wie er nunmal aussieht. Leicht trainiert, schlank, groß, breite Schultern, eben alles, was ich an einem Mann körperlich attraktiv finde. Wie kann er trotzdem so viel verschlingen, ohne dass er aus allen Nähten zu platzen droht, wie es wahrscheinlich bei mir der Fall wäre? Trotzdem gönne ich mir zur Feier des Tages ein Stück Kuchen, wenn auch nur ein ganz kleines – immerhin hat Herrn Korthals Mutter ihn selbst gebacken und sie backt hervorragend.
Während der von Herrn Korthals bestellte Sänger, Rudi Rastlos mit einer eher mäßigen Vertonung des Liedes „Quando“ aufwartet und meine zwei Kollegen sich in höchstem Maße irritierte Blicke zuwerfen, bleibt mein Blick und meine gesamte Aufmerksamkeit an Heldt kleben, der nun mit einem Spieß in der Hand und einem ebenfalls schmerzverzerrten Gesichtsausdruck an unseren Stehtisch am Kopfende des Gemeinschaftsbüros, an dem normalerweise sein Schreibtisch steht, zurückkehrt. Ich blicke belustigt von meinem Kuchenstücke auf.
„Rudi talentlos träfe es wohl besser“, bemerkt Grün mit einem Seitenblick zu Heldt und Korthals.
Letzterer fühlt sich wohl persönlich angegriffen, denn er fängt umgehend damit an, sich zu verteidigen: „Ich kann das auch nicht verstehen!“ Er erhebt die Stimme, um den schrillen Gesang zu übertönen. „Seine Referenzen im Internet sind echt gut!“
Während Heldt seinen Ohrenschmerz mit Alkohol ertränkt, schlucke ich einen Bissen dieses köstlichen Kuchen hinunter und versuche, unseren Kollegen aufzumuntern: „Herr Korthals, machen Sie sich keinen Kopf, ich finde Sie haben hier was ganz Tolles für den Herrn Grün auf die Beine gestellt.“
Grün stimmt mir grinsend zu: „Ja in puncto Organisation eines Dienstjubiläum würde ich in ihr Zeugnis schreiben, er hat sich stets bemüht.“
Korthals lächelt selig. „Danke“
Heldt und ich tauschen einen dieser Blicke aus, die dafür sorgen, dass sich meine Nackenhärchen aufstellen, so tief gehen sie unter die Oberfläche.
Plötzlich wird Corti von einer der anwesenden Polizeimeisterinnen an der Hand genommen und von ihr an Heldt vorbei auf die Tanzfläche gezogen. Der schafft es gerade noch, sein Bier festzuhalten, doch was er dann tut, entzieht sich meinem Sichtfeld, das sich gerade vollkommen auf eine weitere Gabel dieses Gaumenschmauses fokussiert.
Während die meisten Gäste wirklich das Beste aus der grauenvollen musikalischen Untermalung machen und wild in Büro herumwirbeln, stoße ich mit Rotwein mit Grünen an. „Auf Sie!“, erhebe ich meine Stimme über das trällernde Quando von Rudi Rastlos.
Nikolas stößt mit Bier an und wiederholt meinen Toast, dann sieht er zu mir hinüber, stößt ebenfalls mit mir an und lässt mich, während ich das Weinglas an die Lippen setze und trinke, nicht aus den Augen.
Etwas neidisch beobachte ich währenddessen Korthals und seine Tanzpartnerin, wie sie gemeinsam schäkern und Drehungen vollführen, ehe ich mich wieder meinem Kuchen widme, der mein persönliches Highlight für diesen Tag zu sein scheint
„Frau Staatsanwältin?“
Ich sehe erschrocken auf und suizidiere mich fast mit der Kuchengabel in meinem Rachen. „Hm?“
Heldt macht eine Augenbewegung in Richtung Tanzfläche und untermalt seine Mimik mit einer verbalen Erpressung: „Und immer schön dran denken, was Sie in der Tanzschule gelernt haben!“
Bedauernd verabschiede ich mich vom Rest des Kuchenstückes auf meinem Teller und ziehe das dreizackige Mordwerkzeug aus meinem Mund, dann werfe ich meinem potentiellen Tanzpartner einen fragenden Blick zu.
„Ein Nein wäre extrem unhöflich!“, klärt Heldt mich auf und streckt seine linke Hand über den Tisch nach mir aus. Zuerst werfe ich unserem Jubilar einen flehenden Blick zu, doch dieser ist mir keine große Hilfe, ist er doch damit beschäftigt, sein Rotweinglas zu schwenken und geistesabwesend vor sich hinzulächeln. Schließlich greife ich zögernd nach Heldts Hand und lass mich von ihm zwischen die übrigen Tanzenden ziehen.
Immer noch kauend lege ich meine linke Hand auf seine Schulter, während sich seine rechte sanft an meine Taille schmiegt. Durch den leichten Stoff meiner schwarzen Bluse spüre ich die Wärme, die von seinen Fingern ausgeht, bei jeder noch so kleinen Bewegung überdeutlich. Während Heldt mich erst in einigem Abstand zu sich verspannt hin und her schwingt, lecke ich mir den Rest der Kuchenfüllung von den Lippen und weiß nicht recht, wohin mit meinen Blicken. Nach ein paar verkrampften Schritten löst sich unsere Verklemmung schließlich, auf Heldts Lippen erscheint sogar ein kleines Lächeln, als er nicht mehr auf unsere Füße und Tritte, sondern mir in die Augen schaut und meinen Blick festhält. Als wir gerade unseren Rhythmus gefunden zu haben scheinen, rempelt uns Korthals, der seine Partnerin etwas zu schwungvoll gedreht hat, Nikolas und mich von hinten an. Ich pralle etwas unsanft gegen Nikolas, ähm, ich meine natürlich Heldt, ich pralle etwas unsanft gegen Heldt.
Erschrocken dreht unser Kollege sich um. „Entschuldigung!“
Sofort legt Heldt den Arm um meinen Rücken, bewegt mich von der Gefahrenquelle weg und hält mich einen Moment lang fest.
Mein Gesicht ist so nah an seinem, dass ich seinen aufgeregten Atem auf meinen Lippen spüren kann. Ich gerate aus dem Takt.
Nikolas ist mir so nah, er hält mich so fest, doch es ist zu nah und zu fest, als dass ich seine körperliche Nähe in diesem Augenblick genießen könnte, noch dazu vor allen Kollegen, was sollen denn die Leute denken!
Entschlossen lege ich eine Hand auf seine Lederjacke und drücke ihn ein Stück weit von mir weg. Einen kurzen Augenblick haben wir beide Gelegenheit uns zu sammeln, Heldt richtet seine Lederjacke, dann verschließen sich unsere Hände wieder und seine freie Hand kommt erneut knapp über meiner Hüfte zum Aufliegen. Ich ziehe scharf die Luft ein.
Nikolas scheint zu merken, wie schlecht es um meine Selbstbeherrschung steht und erlöst mich, indem er eine Drehung einläutet. Vollkommen überfordert davon, ihn anzufassen und überhaupt, ihn so nah bei mir zu haben, überlasse ich ihm die Führung. Als er mich zu sich zurück dirigiert, pralle ich für einen kurzen Moment mit dem Rücken gegen seine Brust. Ich lächle, als mich daraufhin ein wohliger Schauer erfasst. Mein Gott, was für eine Wirkung er auf mich hat, es ist beinahe beängstigend wie stark mein Körper auf ihn reagiert.
Doch anstatt mich wieder umzudrehen und von sich wegzubewegen, legt Nikolas seine linke Hand, die von meiner linken überdeckt ist, auf meinen Oberköper, knapp unter meiner Brust und zieht mich an sich heran. Ich kann seine Nase an meinem Nacken spüren, nehme überdeutlich wahr, wie er meinen Geruch einatmet und leise aufseufzt.
Was tut er nur mit mir? Warum reagiere ich so sensibel auf seine körperliche Nähe, warum wünsche ich mir, alles um ihn herum zu vergessen und verbiete mir gleichzeitig, mich ihm zu sehr hinzugeben? Was ist Nikolas für mich? Ein Kollege, nur ein guter Kollege, ein Bekannter, nur ein entfernter Bekannter oder mehr? Ist er ein Freund, ist er der, den ich immer gesucht habe, der, der mir das Gefühl gibt, angekommen zu sein? Endgültig angekommen zu sein? Mein Lächeln verwandelt sich in ein trauriges Gesicht.
Nikolas lässt unsere Hände wieder sinken und wartet darauf, dass ich mich wieder in die Ausgangsstellung begebe.
Ich tue ihm den Gefallen, wenn auch äußerst widerwillig. Zu schön war das Gefühl, mich an ihm anlehnen zu können, mich einfach fallen lassen zu können, ganz leicht in ihn zu sinken, während er mich von hinten umarmt hat.
Wir tanzen locker weiter, doch die Stimmung ist eine andere, sie ist voller ungestillter Sehnsüchte. Der Wunsch in mir, ihn wieder so nah bei mir zu haben, wächst mit jedem Atemzug, in dem sich unsere Hände berühren, weiter an. Hat er das beabsichtigt? Vermisst er mich genau so sehr wie ich ihn insgeheim? Seit er weiß, dass ich vergeben bin, unterlässt er sämtliches Flirten und sämtliche dumme Sprüche in meine Richtung, aber vor ein paar Wochen gab es einen kurzen Moment zwischen uns, der mich meine begrabenen Hoffnungen wieder ausbuddeln ließ.
Es war lange nach Feierabend, diesmal war ich selbst mit dem Auto gefahren, weil Stefan in letzter Zeit jede freie Minute in die Eröffnung seiner Kulturkantine steckt. Nikolas und ich hatten uns scheinbar zeitgleich entschlossen, unsere Überstunden an einem anderen Tag weiter zu sammeln und waren gemeinsam auf dem Weg zu unseren Autos. Kurz, bevor wir sie jedoch erreicht hatten, legte Nikolas – quasi im Vorbeigehen – seine Hand auf meinen Unterarm und fragte mich, ob es mir gut gehe, ich mache in letzter Zeit ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Ich hatte tatsächlich eine harte Woche hinter mir, gezeichnet von Emilys Schulstress und Stefans fehlender Organisation, nichts bekam er mehr auf die Reihe, ständig rief Emily mich an und fragte mich, ob ich sie von A nach B fahren könne, da Papa nicht zu erreichen war. So langsam aber sicher drohte unser Experiment „Wir sind eine Familie“ zu scheitern. So hoch ich es Nikolas insgeheim anrechnete, dass er sich Sorgen um mich machte und dass ihm diese kleinen Veränderungen in meinem Verhalten (gereizte Stimmung, genervtes Augenrollen, Ungeduld, notdürftig überschminkte Augenringe) aufgefallen waren, so vehement bestritt ich auch das Vorhandensein all dieser Anzeichen und versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Dass ich ihn vermisste, mehr als ich es mir eingestehen konnte, erfuhr er an diesem Abend selbstverständlich nicht, trotzdem war es für mich seit diesem Parkplatz-Gespräch praktisch nicht mehr zu leugnen.
Endlich verstummt Rudi Rastlos, Heldt, Korthals und ich kehren zu Herrn Grün an unseren Stehtisch zurück, an dem sich mittlerweile auch Frau Dr. Holle mit einer Runde Reagenzgläsern eingefunden hat, die sie nun „Mit den besten Empfehlungen von der KTU“ an das Team verteilt.
„Was ist das?“, frage ich neugierig.
„Nie Fragen, immer exen!“, antwortet Heldt schlagfertig.
Wir stoßen alle zusammen an und kippen den Inhalt der Reagenzgläser in einem Zug runter.
Sobald ich das Zeug geschluckt habe, brennt mein Rachen wie Feuer. Scheinbar vertrage ich Hannahs selbstgebrauten Schnaps nicht so gut wie den Kuchen von Herrn Korthals Mutter. Ich verziehe das Gesicht und spüle mit einem Schluck von Grüns leckerem Rotwein nach, während Heldt mich schief anlächelt.
Eigentlich müsste Stefan jeden Moment hier auftauchen, um mich abzuholen, zumindest hat er mir heute Morgen versprochen, diesmal pünktlich zu sein. Heldt scheint mir meine innere Unruhe anzusehen, denn er stellt sein halbleeres Bier, an dem er sich mindestens den halben Abend lang festgeklammert hat, zur Seite und tritt neben mich. „Na, wollen Sie uns schon verlassen?“, fragt er und zieht eine Schnute.
„Von Wollen kann keine Rede sein, Heldt!“, verbessere ich ihn und verfluche mich im nächsten Moment selbst für meine nicht zu beneidende Fähigkeit, mich durch den Konsum von ausreichend Rotwein in einen Zustand zu versetzen, in dem ich eine kleinen Flirt mit Heldt durchaus nicht abgeneigt wäre.
„Warum tun Sie's dann?“, fragt er fast schon vorwurfsvoll.
„Weil ich eine Tochter zuhause habe, die auf ihre Mutter wartet vielleicht?“, gebe ich zu bedenken.
„Achso, klar... Aber Sie fahren doch wohl nicht mehr selber nach dem, was wir heut alles in uns reingekippt haben, um diesen Rudi Rastlos zu ertragen, oder?“ Er macht einen Schritt auf mich zu, steht so dicht neben mir, dass jeder, der uns von weitem sieht, uns für ein Paar halten würde.
„Nein, nein, ich werde abgeholt.“ Wieder pendelt mein Blick zwischen Heldt und der Uhr hin und her. „Und zwar genau in ...“
„Ich bring Sie raus, ich brauch dringend ein bisschen frische Luft und etwas Ruhe kann meinen Ohren auch nicht schaden, was?“, unterbricht Heldt mich mit seinem spontanen Einfall.
„Ähm...“, versuche ich noch zu widersprechen, doch mir fällt kein triftiger Grund ein, weshalb Heldt mich nicht begleiten sollte. Immerhin will er nur diesem Lärm hier drinnen entkommen und einen Moment frische Luft schnappen. Heldt hilft mir in die Jacke, ich verabschiede mich von der Runde und folge meinem die Tür für mich aufhaltenden Gentleman nach draußen.
Im Flur beginne ich - Grüns exzellentem Rotwein sei Dank - ein wenig zu schwanken, weshalb Nikolas sich einen Schritt hinter mich zurückfallen lässt und ich wenige Sekunden später seine Hände rechts und links an meinen Oberarme spüre. Kurz vor der kleinen Treppe bleibe ich stehen und er mit mir. Die Stellen an meinem Arm, die seine Finger festgehalten haben, noch immer sanft berühren, glühen förmlich. Ich blicke zu ihm hoch.
Nikolas erwidert meinen Blick fragend. „Ellen...“, nuschelt er leise, während ich mich ganz unbewusst in seine Richtung lehne.
Was zur Hölle tue ich hier? Ich fühle mich benebelt, losgelöst, ein wenig betrunken, doch noch auf die angenehme Art und Weise, die einen redselig oder gefühlsduselig macht, je nachdem.
Nikolas scheint im Gegensatz zu mir stocknüchtern zu sein - Kein Wunder, wenn der Kerl sich auch den ganzen Abend über an eine Flasche Bier klammert und mit seinen Fressereien zuvor eine ordentliche Grundlage geschaffen hat, während ich, von dem Stück Kuchen mal abgesehen, den Wein auf fast leeren Magen getrunken habe.
„Ellen?“, wiederholt Nikolas sich fragend.
„Mhm?“
„Geht es Ihnen gut?“ Er legt eine Hand auf meine Schulter.
„Ja, sicher doch, ich hab heute nur zu viel getrunken und zu wenig gegessen...“, fertige ihn ab und will mich wieder in Bewegung setzen, die kurzen Treppenstufen hinunter zum Foyer, aber Nikolas greift nach meinem Arm und hält mich zurück. „Vorsicht!“ Ich spüre seine Blicke auf meinem Körper. „Ich glaub, ich geh lieber vor.“
Ich nicke, was bleibt mir auch anderes übrig, und lasse mich von ihm die wenigen Stufen hinunter führen.
„Danke“, murmle ich, als er mir die Eingangstür aufhält und mich als Erste hindurchgehen lässt.
„Ich hab eigentlich nicht den Alkohol gemeint“, spricht er mich erneut an, als wir unter dem Vordach stehen und zum Parkplatz blicken.
Natürlich ist Stefan wieder zu spät. Aber anstatt mich darüber aufzuregen bin ich in diesem Moment eher dankbar dafür, noch ein paar Minuten mit Nikolas alleine zu sein. Ich erinnere mich nicht an seine Frage und sehe ihn verwirrt an. „Von was dann, Heldt?“
„Vorhin, als wir getanzt haben...“ Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. „Da haben Sie ‘ne Miene gemacht, als wäre ich Ihnen die ganze Zeit auf Ihre schicken Schuhe getreten.“
„Hm... ach, hab ich das?“, gebe ich konfus zurück. Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, welchen Gesichtsausdruck ich bei unserem gemeinsamen Tanz aufgesetzt habe. Alles, woran mein berauschtes Gehirn gerade denkt, sind Nikolas‘ Hände auf meiner Taille, ist die Wärme, die seine schlichten Berührungen in mir hervorgerufen haben. Und der Moment, in dem er unsere Hände auf meinen Brustkorb gelegt hat und mich von hinten an seinen Oberkörper gedrückt hat. Ich schließe die Augen und kann uns wieder bildlich vor mir sehen.
Er lächelt und legt den Kopf schief. „Ja. Haben Sie. Ganz im Gegensatz zu jetzt.“
„Tja, was so ein bisschen Alkohol und frische Luft nicht alles bewirken kann, was?“, gebe ich flapsig zurück und lehne mich ganz nebenbei an ihn an. Zu meiner Zufriedenheit legt Heldt seine Hand erneut auf meine Schulter, wenn auch diesmal nur für einen kurzen Moment.
„Aber so schlimm scheint es ja nicht gewesen sein. Ich dachte nur, Sie...“
In diesem Moment blinken die Scheinwerfer eines Auto auf, kurz darauf fährt Stefan in die Einfahrt des Präsidiums und kommt kurz vor der Überdachung zum Stehen.
Abrupt lässt Heldt mich wieder los. „Frau Staatsanwältin?“ Er hebt die Hand zur Verabschiedung.
„Also dann... bis morgen, Herr Heldt!“, sage ich mit leisem Bedauern, nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen zu können und mache mich auf wackeligen Beinen daran, die wenigen Meter bis zu Stefan zurück zu legen.
Hallo Schatz!“ Er steigt aus und kommt lächelnd auf mich zu. Ich lächle nicht, ich versuche viel zu angestrengt, meine Gedanken nicht mehr um Nikolas Heldt kreisen zu lassen.
Nachdem er mich um den Wagen herumgeführt hat, hilft Stefan mir, mich auf den Beifahrersitz zu setzen. „Scheint ja ‘ne feucht-fröhliche Veranstaltung gewesen zu sein, diese Party von eurem Hauptkommissar“, bemerkt er, nachdem auch er wieder neben mir Platz genommen hat und legt seine Hand an mein Kinn.
Bevor er mir einen Begrüßungskuss geben kann, drehe ich mich weg und schnalle mich an.
„Hey, ist was?“
„Nein, ist alles in Ordnung, ich hab nur ‘ne furchtbare Fahne.“
Er lässt mich nicht los. „Das stört mich doch nicht, Ellen.“
„Mich aber, Stefan!“, protestiere ich und schiebe ihn unsanft von mir weg. „Kannst du bitte einfach nach Hause fahren?“
Stegan sieht mich verletzt an, guckt nach draußen und lässt schließlich den Motor an.
Zuhause liege ich lange neben ihm wach. Ich habe keine Ahnung, was mit mir in letzter Zeit los ist, ich verspüre einfach keinerlei sexuelle Anziehung mehr zu dem Mann, der neben mir im Bett liegt und endlich eingeschlafen ist, nachdem er mich nochmal überreden wollte, ich mich aber standhaft geweigert habe, es mit ihm zu tun. Nicht mit meinen Kopfschmerzen und nicht nach diesem Alkoholkonsum. Und auch sonst könnte ich in Zukunft sehr gut darauf verzichten, mit ihm intim zu sein.
In dieser Nacht träume ich schlecht, ich träume, dass ich mit meinem Kollegen Heldt in diesem weichen großen altmodischen Bett liege, das wir uns bei unserem Undercover-Einsatz geteilt haben. Dass wir uns Gute Nacht sagen wie damals, aber dass dann keiner von uns schlafen kann und wir irgendwann merken, wie unsere Hände ganz von selbst zum anderen finden. Ich beginne im Traum schneller zu atmen, als Nikolas seine Finger unter mein weißes Seidenoberteil schiebt und über meinen Rücken auf Wanderschaft schickt. Während ich mich enger an ihn heran dränge, und ihm sein Shirt mit der passenden Aufschrift "Break the Rules" gar nicht schnell genug über den Kopf ziehen kann, finden sich unsere Lippen. Dieser Kuss ist in meinem Traum alles andere als dienstlich begründet und er ist um 100 Grad heißer als unser - sich tatsächlich so ereignetes - Lippenbekenntnis tags darauf im Pool unter der fachkundigen Anleitung des Paartherapeuten Martin Walden, das Heldt dann doch recht schnell mit den Worten „Jetzt bringen wir endlich diesen ver.. verdammten Fall zu Ende“, abgewürgt hat.
In meiner Fantasie können Nikolas und ich jedoch sehr schnell nicht mehr genug voneinander kriegen, Decken und Kleider fliegen im Sekundentakt vom Bett auf den Fußboden. Gerade, als Nikolas meine Handgelenke auf die Matratze drückt und seine Finger langsam darüber gleiten lässt, ehe er sie ekstatisch in meine schiebt und sich mit einer kleinen Kopfbewegung fragend vergewissert, ob ich das, was wir nun tun werden, wirklich will, und ich mit einem gehauchten „Nikolas, ja“ antworte, geht die Tür zu unserem Zimmer auf und Stefan steht mitten in der Nacht darin.
Tags darauf ist das feucht-fröhliche Dienstjubiläum von Herrn Grün Geschichte, der dort auftretende Sänger Rudi Rastlos leider auch. Herrn Korthals aber habe ich aus einem anderen Grund auf ein Wort zu mir ins Büro gebeten, um sicher gehen zu können, dass Heldt nicht plötzlich reinschneit und mitbekommt, worum ich seinen Kollegen bitte. Das könnte nämlich einen ganz falschen Eindruck erwecken.
„Herr Korthals!“ Ich sehe den Profi im Recherchieren eindringlich an. „Ich brauche jede Information, die sie über Sarah Kern – die Tochter unseres Opfers – bekommen können.“
„Ja, Frau Bannenberg“, antwortet er mir ergeben.
„Danke...“ Ich atme erleichtert durch. Auf Korthals und seine Diskretion ist für gewöhnlich Verlass. „Und kein Wort zu Heldt“, bitte ich ihn nachdrücklich. Schlimm genug, dass Heldt mir bei jeder Teambesprechung erneut unter die Nase reiben muss, dass Sarah und er sich duzen und sie wollte, dass er die Nacht über auf sie aufpasst.
„Okay“, sagt er leicht verwundert und geht wieder.
„Tschüüüß!“ rufe ich Sarah Kern erfreut, dass die Tochter von „Rudi Rastlos“ Nikolas soeben eine Abfuhr erteilt hat, hinterher.
Heldt bleibt unterdessen stehen und zieht etwas aus seiner Jackentasche hervor.
„Tja, das hat ja wohl leider nicht geklappt mit dieser Sarah", säusele ich mit gespieltem Bedauern, während ich um ihn herum auf die windgeschütztere Seite des Vordachs stöckele.
„Ja, so kann’s gehen...“, murmelt er wenig getroffen, während er einen schwarzen Kabelsalat, der anscheinend zu seinen In-Ear-Kopfhörern gehört, entwirrt.
„Mhm...“, stimme ich ihm, vollstes Mitgefühl und Mitleid für Heldt vortäuschend, zu, bevor ich anmerke: „Aber so wirklich unglücklich sehen Sie auch gar nicht aus, ich glaub, so richtig, wollten Sie’s gar nicht.“
Ich drehe den Kopf zu ihm und blicke ihm für den Bruchteil einer Sekunde zu lang in die Augen. Mist, Mist, Mist! Aber eigentlich ist es ja auch egal, schließlich stehen wir alleine vor dem Präsidium. Sein Gespräch mit Sarah Kern und unser Geplänkel gerade eben hat sich so sehr in die Länge gezogen, dass wir beide die einzigen sind, die noch hier sind.
„Hätt’s Ihnen denn was ausgemacht?“, fragt Nikolas mich plötzlich salopp, während er mich mit seinem neugierig und irgendwie auch provokanten Blick festhält.
„Hmm... Da muss ich Sie leider enttäuschen, Herr Heldt, ich war wirklich zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise eifersüchtig“, flöte ich scheinheilig vor mich hin, doch ich kann nicht anders, als wieder einmal vollkommen in seinen ewig braunen Augen zu versinken. Mein Gott ist das peinlich. Als die Sache mit dem Tresor angefangen hat und Nikolas nicht aufhören konnte, von dieser Sarah zu reden, habe ich es nicht lassen können und doch tatsächlich den Kollegen Korthals auf Frau Kern angesetzt, natürlich unter einer strengen Verschwiegenheitsvereinbarung, dass er Heldt nichts erzählt.
Ich fahre erschrocken aus meinen peinlichen Erinnerungen hoch, als dieser mich nun trocken auf meine eigene Beziehung hinweist. „Stefan wartet.“
Ist er derjenige, der eifersüchtig ist? Bin ich diejenige, die fremdflirtet? Ist das, was ich tue und fühle nicht total unfair Stefan gegenüber? Natürlich ist es das, schreit mich die gemeine kleine Stimme, die sich auch Gewissen nennt an. Aber ich kann nicht anders, ich merke immer mehr, wie ich immer noch Besitzansprüche auf einen Mann erhebe, der mich vor einer halben Ewigkeit geküsst hat und mich anschließend versetzt hat und untergetaucht ist. Es tat lange Zeit weh, aber in diesem Augenblick steht er wieder vor mir, so unerlaubt nah vor mir und da ist mir die Vergangenheit herzlich egal, mein Herz klopft trotzdem viel zu schnell. Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, doch bevor ich nur ein Wort herausbringe, winkt Heldt ab.
„Mir bleibt immer noch Bochum.“ Damit setzt er die Kopfhörer ein, er zieht beschwingt von dannen und lässt mich verliebt grinsend vor dem Eingang des Polizeipräsidiums stehen.
Moment, ich grinse verliebt? Scheiße, das sollte ich sofort lassen, denn Stefan wartet ja tatsächlich auf mich.
Als ich über den Parkplatz laufe und zu ihm ins Auto steige, geben wir uns auch diesmal keinen Begrüßungskuss.
„Ellen?“, fragt er stattdessen misstrauisch. „Was läuft da?“
„Nichts“, murmle ich und wende den Blick ab und sehe Heldt nach, wie er in seinem roten Mercedes davon fährt.
„Wohin man sieht, nichts als Akten.“ Heldt stöhnt „Und Papiere. Ich muss in der Hölle sein.“
Ich stehe weniger als einen Meter entfernt von ihm und starre ebenfalls auf die mächtigen Regale des Archivs, die sich bedrohlich vor uns auftürmen „Ach, deshalb haben Sie mich hierher bestellt, damit wir hier gemeinsam schmoren!“
Heldt sieht mich von der Seite an und grinst. „Verlockender Gedanke...“
Ich schlucke. Ich sollte wirklich aufhören, mit ihm zu flirten. Aber ich kann nicht, es passiert beinahe automatisch, wenn wir alleine sind und es macht zu viel Spaß, sich zumindest verbal mit ihm zu kabbeln.
„Aber Hörner würden Ihnen nicht so gut stehen glaube ich“, murmelt er und wirft mir ebenfalls einen eindeutigen Blick zu.
Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und seufze. Er wird nun garantiert noch etwas sagen, das man auch ganz anders interpretieren könnte, wenn man nur wollte.
„Obwohl...“ Bevor ich noch denken könnte, dass er definitiv die Grenze zum Flirten überschritten hat, verstummt er.
„Naja“, sage ich und drehe mich nun vollständig zu ihm um. „Ich würde sie ja manchmal ganz gerne zum Teufel jagen...“ Es ist ein Spiel mit dem Feuer, aber ich kann nicht anders, ich muss einen Schritt auf ihn zu machen. „Aber das wissen Sie ja!“
Heldt tut es mir gleich, unsere Gesichter rücken noch näher aneinander heran.
Für wenige Augenblicke steigt die Raumtemperatur meinem Gefühl nach tatsächlich auf eine höllische Hitze an und ich muss mich zusammen reißen, um mich so lässig wie möglich wieder von meinem Kollegen abzuwenden. Denn nichts anderes ist Heldt. Er ist nur ein Kollege. Gut, vielleicht ist er mittlerweile sogar schon wieder ein guter Kollege, aber vorrangig ist er eben Arbeit, nicht Privatleben. Und ich werde den Teufel tun, die zaghaften Verstrickungen, die aus unserer Vergangenheit noch übrig sind, auch noch zu befeuern. Er hat seine Chance gehabt und er hat es vergeigt.
„Ja...“, erwidert Heldt überflüssigerweise auf meine rein rhetorische Frage, dann geht er vor zu den Aktenschränken.
„Wir suchen einen Fall aus dem Jahre 78, März 78, um genau zu sein“, eröffnet er mir unsere Aufgabe, dann nimmt er sich das linke Regal vor, mir bleibt das rechte.
Ich gehe leicht in die Knie und durchforste die Ablage. „Hier ist März August-September, 61.“
„Können Sie eigentlich stricken?“, kommt es plötzlich überraschend aus der anderen Ecke des Archivs.
Ich dachte, Heldt liest Aktendeckel. „Warum, haben Sie Angst dass Ihnen in der Hölle kalt wird?“, gehe ich spielerisch auf seine zusammenhangslose Frage ein. Erst im nächsten Augenblick kommt mir der Gedanke, dass er meinen Satz auch als Flirtversuch deuten könnte. Mist. Mist. Mist, warum ist es auch so leicht, sich immer wieder im scheinbar unverfänglichen Geplänkel mit ihm zu verlieren?
„Sie meinen, weil ich so viel heißer bin als die Hölle?“, nutzt er meine Steilvorlage postwendend. Wir fangen beide an zu kichern.
Doch dann redet Heldt, statt noch einen draufzusetzen über das Problem meiner Tochter mit dem Schal. Emily muss ihm wohl oben im Foyer über den Weg gelaufen sein.
„Tja die Süße muss eben lernen, dass man im Leben manchmal Dinge tun muss, auch wenn man gar keine Lust dazu hat.“
„Aber jetzt mal ehrlich, stricken?“ Als Heldt um das Regal herumschleicht und auf mich zusteuert, kann ich erkennen, was ich mir gerade eben nur gedacht habe. Er verdreht die Augen, dann sieht er mich grinsend an. Seit wir miteinander getanzt haben, flirtet er wieder viel offensiver mit mir, aber nie so direkt, dass ich ihn darauf ansprechen könnte. Er weiß, dass Stefan in meinem Leben existiert, doch ich glaube, er weiß auch, dass unser Kapitel noch nicht abgeschlossen ist.
„Ja dass die das nicht verstehen, war mir klar“, entgegne ich ironisch und suche das Regal weiter nach dem Karton aus dem Jahre 1978 ab. Kurze Zeit später wird mein akribisches Durcharbeiten jeder einzelnen Pappschachtel belohnt. „Hier! März 78!“ Nehme den Karton aus der Ablage und pustet Staub herunter.
Heldt stellt sich schräg hinter mich, stützt den Karton und hilft mir dabei, den Deckel abzuheben und fischt die gesuchte Akte heraus. Er klappt die erste Seite auf und hält sie so, dass auch ich hineingucken kann, vor uns.
Ich lasse meine Arme sinken und beginne deren Inhalt zu lesen. Doch ich kann mich hier direkt neben Heldt stehend einfach nicht konzentrieren. Immer mal wieder blicke ich kurz zu ihm hoch und registriere zufrieden, wie auch er mich immer wieder aus den Augenwinkeln heraus mustert. So wird das aber nichts, wir sollten schleunigst wieder ans Tageslicht zurückkehren.
Oberstaatsanwalt Böger hat leicht säuerlich die Pressekonferenz abgesagt, mein Team und ich stecken wieder ganz am Anfang fest und verfolgen verzweifelt jede Spur, die sich auch nur als irgendwie lohnenswert herausstellt. Jede Spur bedeutet in unserem Fall auch, Heldts Einfällen zuzuhören und zu beten, dass unsere Super-Spürnase mal wieder den richtigen Riecher hatte.
Ich glaube es nicht, dass wir tatsächlich vor Heldts Rentner-WG in seinem roten Mercedes sitzen, während Herr Grün im Blaumann als Undercover Handwerker die kaputte Spülung im Haus überprüfen soll und sich sodann sehr verdächtig nach Beweisen umsehen soll. Herr Grün in Arbeitskleidung zu sehen ist schon abstrus genug, aber der Gedanke, wie er auf dem Toilettenboden des heruntergekommenen Hauses, in dem die beiden Rentner leben, herumkriecht, verursacht bei mir Bilder im Kopf, die dort nicht hingehören.
Ich schüttele mich, dann lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die alte Akte auf meinem Schoß.
Heldt, der Comics lesend neben mir sitzt, hält dankenswerterweise die Klappe, anstatt herauszukehren, dass er es ja gleich gewusst hätte. Nein, er ist ausnahmsweise tatsächlich einmal still. Ich blicke verstohlen zu ihm hinüber. In diesem Moment lässt er sein Heft sinken und sieht sehnsüchtig zu mir hinüber. Ich lächle leicht, wende mich dann aber ab und fixiere den Hauseingang. Es fällt mir unsagbar schwer, hier stillschweigend neben Nikolas zu sitzen, gibt es doch so viele Themen, die mit uns das Wageninnere ausfüllen, aber nie von uns angesprochen wurden. Und nun hängen sie wie Gewitterwolken zwischen den Sitzen und sind kurz davor, ihre Wassermassen auf uns zu entladen.
Auf einmal geht die Hintertür des Wagens auf und Grün klettert auf die Rückbank des Oldtimers. „Er hat mich erwischt und hinausgeworfen!“, verkündet er stolz.
„Wie geplant!“, erwidere ich erfreut und sehe Heldt an. „Und jetzt?“
Von ihm kommt nicht mehr als ein zufriedenes Grinsen. „... Warten wir...“
Drei Augenpaare richten sich auf den Eingang des Hauses und tatsächlich dauert es nicht lange, bis der sich der erste Bewohner des Hauses blicken lässt. Der alte Herr trägt einen sandfarbenen Rucksack und sieht sich verdächtig in alle Richtungen um. Schnell tauchen Grün hinter mir und Heldt neben mir – die beiden könnte er ja wiedererkennen – ab.
Ich dagegen darf oben bleiben, aber es fällt mir denkbar schwer, nicht zu Heldt hinunter zu schielen, der seinen Kopf auf meine Oberschenkel gelegt hat und – wie ich dank meiner Inkonsequenz, mir nichts anmerken zu lassen erkennen kann - entschuldigend zu mir hoch sieht. Seine Wärme lässt mich erschaudern. Nicht runter gucken, Ellen! Lass es! Ich verkneife mir ein Schmunzeln und schaue stur vor mich hin auf die Straße, bis der Rentner uns den Rücken zugekehrt hat und auf die Mülltonnen zuläuft. Dann stupse ich Heldt an der Schulter an. „Hey, los geht’s, hinterher, Sie Super-Cop!“ Er rappelt sich auf und streift mein Knie, als er sich wieder aufrichtet. Wir sehen uns einen kurzen Moment an, dann reißt Heldt die Autotür auf und stürmt aus dem Wagen.
„Also ich kann mir immer noch überhaupt nicht vorstellen, dass ein Rentner das alleine hingekriegt hat“, tue ich meine Verwunderung über den Ausgang des Roter-Pullover-Falles kund, während ich mit Heldt aus dem Präsidium laufe.
Heldt schlendert lässig neben mir her. „Ja, manche Männer sind eben echt vielseitig.“
„Mhm...“Wo will er denn jetzt schon wieder drauf hinaus?
„Gerade, wenn’s um Rache geht.“ Er pausiert.
Wir bleiben an seinem schief geparkten feuerroten Spielmobil stehen. Heldt wendet sich mir zu und bleibt stehen. „Oder um die Liebe...“ Nervös spielt er mit dem Autoschlüssel in seiner Hand herum.
Da ist er schon wieder, dieser verträumte Ausdruck in seinem Gesicht, der mich automatisch dazu bringt, mitzulächeln. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen wir einfach nur wortlos voreinander stehen, uns darüber bewusst sind, dass das für den Moment ausreichen muss und uns dennoch so angrinsen, als hätten wir heute Abend noch Pläne miteinander.
„Ähm... hm, ja...“, stammelt Heldt plötzlich nervös. Ihm ist die Komik seiner Aussage verbunden mit unserem Blickwechsel wohl gerade auch aufgefallen. „Hat Emily ihre Schulaufgabe schon gemacht?“, erkundigt er sich (Sicher wieder so ein typisches heldt‘sches Ablenkungsmanöver) nach dem Schalprojekt meiner Tochter, während er seinen Wagen aufsperrt.
„Pff, achwas,“ Amüsiert entsperre ich mein Auto mit der Funkfunktion meines Schlüssels. „Die weigert sich, die Stricknadeln auch nur anzufassen.“
Heldt öffnet die Beifahrertür des Oldtimers „Dann geben sie ihr doch den von mir!“, verkündet er stolz und zaubert die Lösung für Emilys Schulaufgabe hervor.
Mir bleibt die Spucke weg. Ich bin ehrlich beeindruckt und weiß gar nicht, was ich darauf erwidern soll, als Heldt mir den grünen Strickschal überreicht. „Haben Sie den...?“
Er nickt. „Mhm, und sagen ihr, wenn ich das schaffe, dann wird sie das ja wohl auch hinkriegen!“
„Das glaub ich ja nich!“, entfährt es mir und begutachte das Strickmuster genauer. Das ist wirklich sauber gearbeitet. Respekt Heldt!
Nur entfernt bekomme ich mit, wie ein Taxi direkt unter dem Vordach zum Stehen kommt. Dann springt Heldts Kumpel Herr Özer aus dem Fahrzeug und ruft aufgeregt: „Ey, ist das wahr, ihr habt roten Pullover geschnappt?“
„Ja, das haben wir!“, berichte ich enthusiastisch von der besten Nachricht der Woche, ehe mir die kleine rotbekleidete Actionfigur mit schwarzer Wollmütze über dem Kopf im Miniaturformal auffällt, die vorne hinter der Windschutzscheibe des Taxis sitzt.
Herrn Özer jedoch stimmt die Botschaft nicht so wirklich gut gelaunt. Missmutig flucht er: „So ein Scheiß – Da hat man einmal die Chance auf das Geschäft seines Lebens ...“
Verwirrt sehe ich zu Heldt hinüber.
Kopfschüttelnd zeigt er auf die Spielzeugfigur. „Sag bloß nicht, du hast schon ‘ne Containerladung von den Dingern bestellt?“
„Na, zum Glück nicht, wenn der Typ nicht mehr in der Zeitung steht, verkaufen sich die Dinger schlechter als Schalke-Trikots in Dortmund!“, beschwert sich der Taxifahrer und Spielzeughändler unseres Vertrauens und rauft sich die Haare.
Ich schlinge den Heldts Grünen Schal um den Hals und warte ab, was sich dessen Hersteller nun noch einfallen lassen wird, um das Geschäftsmodell seines Kumpels zu retten.
„Also den da würde ich dir abkaufen“, brummt Heldt schulterzuckend.
Ich kann nicht anders, als in lautes Lachen auszubrechen. Diese zwei Chaoten und ihre wunderbar herrlich erfrischende Freizeitgestaltung. Wieder einmal wird mir klar, warum Heldt und Özer beste Freunde sind.
„Oh, Heldt“, gebe ich seufzend von mir und schlängle mich zwischen den zwei Fahrzeugen vorbei. „Sie ändern sich auch nicht mehr, was?“
Am Morgen nach unserem Streit sitzen Stefan und ich gemeinsam mit unserer Tochter am Frühstückstisch.
Emily sieht immer wieder zögernd zwischen uns hin und her, während ich den Blickkontakt zu den anderen Familienmitgliedern größtenteils durch permanentes aus dem Fenstergucken oder auf-den-Teller-Gucken vermeide.
Genervt von der verfahrenen Situation beiße ich von meinem mit Gurkenscheiben belegten Vollkorn-Dinkelbrot ab und blicke wieder nach draußen.
Neben mir holt Emily tief Luft. „Habt ihr gestern wieder gestritten?“
Natürlich ist es dumm von uns zu glauben, Emily würde rein gar nichts von unseren tagtäglichen Auseinandersetzungen mitbekommen, dazu ist sie viel zu feinfühlig und emphatisch. Kinder merken es einfach immer, wie es ihren Eltern geht, da müssen wir uns gar nichts vormachen. Ich schlucke den Bissen, der mir noch im Mund steckt runter und sehe Stefan an. Er sagt ebenfalls nichts, sondern guckt zerknirscht an mir vorbei. Gut, dann bleibt es mal wieder an mir hängen, unserer Tochter zu erklären, dass wir nicht gestritten, sondern lediglich diskutiert haben.
„Na, da habt ihr wohl ziemlich laut diskutiert“, gibt Emily spitz zurück.
Ich verschanze mich hinter meiner Kaffeetasse und sehe Stefan an.
Er ringt mit sich und entschuldigt sich schließlich bei ihr. „Tut mir leid, Schatz, war ne ziemlich harte Woche.“
„Es ist Mittwoch, Papi.“ Ihre Stimme klingt traurig und viel erwachsener als es der Fall sein dürfte.
Stefan und ich tauschen traurige Blicke aus. Viel länger können wir unsere Streitereien nicht mehr vor ihr verheimlichen, was bringt es auch, sie weiter anzulügen? Wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen, ich beuge mich wieder über meinen Teller und Stefan blickt irritiert zur Seite. „Stimmt...“, brummt er, greift nach seinem auf der Tischkante liegenden Smartphone, checkt seinen Terminkalender und erklärt: „Da Kommt heute der Elektriker in die Galerie, ich muss los.“
„Sag mal, hatten wir nicht gesagt, eine Mahlzeit am Tag zusammen?“, werfe ich ihm vorwurfsvoll über den Tisch zu, als er sich gerade aufraffen und Emily und mich hier sitzen lassen will.
„Ja, du hast Recht“, gibt er unerwarteter Weise nach, doch ich kann ihm deutlich ansehen, wie viel Überwindung es ihn kostet, sich wieder hinzusetzen und zu bleiben. Stefan ist einfach nicht der fürsorgliche Familienvater, der er manchmal sein möchte und er wird diese Rolle auch nie ausfüllen. Mit einem falschen Lächeln in Emilys Richtung schiebt er seinen Stuhl zurück an den Tisch.
Ich leere – genervt von der ganzen Welt - meine Kaffeetasse, als plötzlich mein Mobiltelefon anfängt zu klingeln. „ Oh, das ist super wichtig, ich muss weg, Abendessen zusammen?“
Emily und ihr Vater verdrehen synchron die Augen. Ich gebe meiner Tochter einen Kuss, verabschiede mich mit einem schnellen „Tschöö!“ und berühre Stefan im Vorbeigehen flüchtig an der Schulter, dann eile ich ins Bad, ziehe mich um und fahre zum Präsidium. Heldt hat die IP-Adresse des Maskenrappers gecheckt und seine Wohnadresse herausgefunden.
„Offensichtlich hat er das mit mir und Quirin gewusst“, sagt Annette von Kampen gerade heraus, während sie sich in meinem Büro auf die Tischplatte des Besprechungstisches sieht. Wahrscheinlich begutachtet sie gerade die kleinen Kratzer, die Heldt dadurch verursacht hat, dass er den Kekse-Teller für die Gäste ständig hin und her schiebt, je nachdem, wo er gerade sitzt. Ihre Stimme hat einen kristallenen Klang, alles, was sie ausspricht, hört sich so unmissverständlich und eindeutig an, als wüsste sie genau, wer sie ist und was sie in ihrem Leben will.
So ganz anders als ich es im Moment tue. Will ich das mit Stefan? Ich weiß es nicht mehr. Doch ich bin jetzt nicht im Vernehmungsraum, um mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden, sondern, weil ich diese Frau vor mir befragen soll.
„Tja Kinder bekommen doch mehr mit als man denkt, besonders dann wenn man ihnen etwas vor ihnen verheimlichen möchte“, bringe ich ihr verständnisvoll entgegen.
Sie lächelt, dann sagt sie wieder mit dieser Stimme, für die das Leben so klar und leicht zu begreifen zu sein scheint: „Dann besteht die Ehe nur noch aus Streit und man trennt sich nicht, um das Kind zu schonen.“
„Ich glaube, dass es in vielen Beziehungen so“, gebe ich eine allgemeine Antwort, die eher ein Ausweichen als eine hilfreiche Bemerkung darstellt. Ist es in meiner Beziehung auch so? Wann haben Stefan und ich zuletzt einen friedlichen Tag hinter uns gebracht ohne Streit? Ich bin nur noch gut genug, um seine Rechnungen zu bezahlen und dafür zu sorgen, dass in seinem Kunst-Schuppen keine Verbrechen begangen werden. Verdammt, ich schaffe es heute einfach nicht, auf der beruflichen Ebene zu bleiben. Warum übertrage ich jedes ihrer Worte auf meine festgefahrene Situation zuhause, warum fühle ich mich von dieser fremden Frau mehr verstanden als von meinem Freund?
„Aber irgendwann kommt der Punkt, da ist das Kind groß und da darf man auch wieder mal an sich denken“, erzählt sie weiter.
Es steckt so viel Wahres in ihrem schlichten Satz, so viel, das ich zwar denke, aber niemals aussprechen würde, so viel, was ich schon eine Zeit lang mit mir herumtrage. Langsam kann ich nichts mehr dagegen tun, dass dieses Gespräch auf eine immer persönlicher werdende Ebene abrutscht, ich habe die Kontrolle über diese Befragung schon lange verloren. Alles, was ich noch tue – Fragen stelle ich schon lange keine mehr – ist, auf ihre Antworten, nein, auf ihren Monolog der inneren Befreiung zu reagieren. Innerlich zumindest. Denn nach außen hin darf ich mir nicht anmerken lassen, wie sehr mich ihre Worte zum Nachdenken bringen und wie dringend ich einen Urlaub bräuchte, um ganz alleine weg zu fahren, irgendwo hin zu fahren, bloß weg von all dem Ballast.
„Ich wollte das nicht wahrhaben, dass meine Ehe am Ende ist.“ Nach dieser Selbsterkenntnis pausiert sie und sieht mich lächelnd an. Habe ich eben unbewusst zurückgelächelt oder ihr zugenickt? Oder warum ergänzt sie mit einem kleinen Augenzwinkern, dass das wohl auch in vielen Beziehungen so sei? „Seit einiger Zeit denke ich immer öfter darüber nach, mich von meinem Mann zu trennen“, verrät sie mir und plötzlich hat die zuvor noch helle klare Stimme einen geheimnisvollen dunklen Klang.
„Wegen Straight-On?“, entfährt es mir, ehe mir bewusst wird, dass ich damit endlich mal wieder meinem Job nachkomme, nämlich eine Befragung von Frau von Kampen durchzuführen.
Sie nickt. „Da ist plötzlich jemand der passt eigentlich sogar zu dir und trotzdem weißt du, das ist der Richtige!“ Ich nicke ihr zu und lächle. Gedanklich bereite ich mich bereits auf die nächste Frage, die ich Frau von Kampen stellen möchte vor, doch bereits im nächsten Moment entgleiten mir die Zügel wieder, als ihre glasklare Stimme fragt: „Kennen Sie das?“
„Ich? Nein!“, gebe ich ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken von mir. Erst im Nachhinein, nachdem sie gegangen ist, wird mir klar, dass ich mit diesem Nein nicht nur meine Beziehungsprobleme mit Stefan leugne, sondern auch Nikolas Heldts permanente Existenz in meinen Gedanken.
Ich stehe vor dem offenen gusseisernen Tor einer Vorstadtvilla mit enormem Garten und im Vergleich ebenso großen Fenstern. Während ich auf Heldt warte, tippe ich ununterbrochen auf meinem Handy herum. Stefans Gezeter war groß, als ich ihm heute Abend eröffnet habe, dass ich noch arbeiten muss und nun kann ich mir seine Vorwürfe als Chat-Nachrichten durchlesen, einen nach dem anderen. Dass ich zu wenig für Emily da wäre, dass ich seine Bedürfnisse nicht mehr befriedigen würde, dass mir die Familie egal wäre, dass ich eine Affäre hätte.
Ich und eine Affäre, das ist so ungefähr das Letzte, was ich tun würde. Für mich stehen Loyalität, Treue und Vertrauen ganz oben auf meiner Prioritätenliste, anders als bei Stefan. Aber er schließt ja gern von sich auf andere. Der Streit der letzten Wochen wegen der unbezahlten Rechnungen und wegen dieses Rüpel-Rappers, den er bei der Ausstellungseröffnung in Emilys Anwesenheit hat auftreten lassen, ist noch lange nicht vergessen und schon bricht er den nächsten vom Zaun. Wie erstarrt stehe ich da und lese eine eingehende Message nach der anderen. Mit jeder weiteren muss ich härter kämpfen, um meine aufsteigende Wut hinunterzuschlucken. Eigentlich hätte ich dieses Teil längst wegpacken sollen. Entfernt höre ich, wie sich der rote Mercedes nähert und Heldt aussteigt
„Tach!“, begrüßt er mich gut gelaunt. Normalerweise mag ich das an ihm, seine Motivation, seine übersprudelnde gute Laune, dass er es schafft, uns alle (mal mehr, mal weniger) begeistert mitzureißen mit seinen Ideen, wenn wir mal wieder auf dem Trockenen liegen. Aber heute mag es nicht so richtig funktionieren, heute lasse ich mich nicht anstecken.
„Ah, Herr Heldt, auch schon da?“, entgegne ich ihm stattdessen leicht angenervt von diesem sinnlosen Handydiskurs, den ich da führe.
Heldt schlägt die Tür zu und kommt auf mich zugelaufen.
„Ist die Ringfahndung eingeleitet?“, frage ich ihn desinteressiert und tippe weiter auf meinem Smartphone herum. Ständig diese Streitereien mit Stefan. Er wirft mir vor, nur noch zu arbeiten und keine Zeit mehr für ihn zu finden. Ich werfe ihm vor, sich nicht richtig um Emily zu kümmern und ständig in dieser Kulturkantine abzuhängen. Er wirft mir vor, ihn emotional und körperlich nicht mehr an mich ranzulassen und ich werfe ihm vor, der Grund dafür zu sein, dass ich mich Nikolas Heldt emotional wie körperlich nicht so nähern kann, wie ich es gerne würde. Zumindest werfe ich es Stefan gedanklich vor. Tatsächlich kann ich seine Berührungen nicht mehr ertragen und ich erzähle ihm auch nicht mehr, was mich bewegt, weil es ihn nur verletzen würde. Annette von Kampen hatte Recht. Da ist plötzlich jemand, der passt eigentlich so gar nicht zu mir und trotzdem weiß ich, das ist der Richtige. Ob ich das kenne? Nur zu gut. Ich bitte Stefan, sich morgen ums Frühstück zu kümmern, weil ich mit zu einem Nachteinsatz kommen musste und hoffe, dass er es noch liest und mir rechtzeitig antwortet. Dann blicke ich kurz von meinem Handy auf.
„Ja, alle Straßen im Umkreis von drei Kilometern sind gesperrt. Da kommt nicht mal mehr ein Mäuschen durch geschweige denn ein Wagen“, versucht Heldt mich aufzumuntern. Wenn er das schon so probiert, muss ich wohl wirklich und wahrhaftig ein jämmerliches Bild an Selbstmitleid präsentieren. Aber ich sage nichts.
„Ist alles in Ordnung? Ist irgendwas passiert?“, fragte er nun ehrlich besorgt nach.
Ich sehe ihn beiläufig an. „Nein.“ Nichts, außer dass hier irgendeine Industrie-Fotografie gestohlen wurde, die wahrscheinlich zehnmal so viel wie Heldts Oldtimer kostet und ebenso gut in Stefans Galerie hängen könnte, würde er endlich mal seine Rechnungen bezahlen und an ordentliche Kundschaft kommen. Ich schalte mein Handy aus und verstaue es in der Jackentasche. „Nein alles gut“, wiederhole ich mich stur, nicke ihm zu und wir gehen nach drinnen. Er hätte es ebenso als Antwort auf seine erste Frage verstehen können, denn eigentlich ist nichts in Ordnung, meine Heile Welt ist kurz davor, zu zerbrechen, wenn sie nicht schon längst in Scherben liegt. Ich gehe dicht neben Heldt über den gepflasterten Weg zur Villa und nehme den Geruch seiner Lederjacke wahr. Es tut nach all dem Streit zuhause so gut, nicht mehr reden zu müssen, einfach nur im stillen Einverständnis neben ihm zu laufen, auf dem Weg zu einem Tatort.
„Ist schön mal wieder zusammenzusetzen, ein Abendessen zu zweit, ganz ohne Streit.“ Stefan sitzt mir gegenüber, hebt sein Rotweinglas an und trinkt einen Schluck, während ich in meinem Essen herumstochere und ihm einsilbig zustimme. Unvermittelt steht er auf, geht um die Kücheninsel herum und greift nach der Rotweinflasche. Er nähert sich mir von der Seite, offensichtlich möchte er mir auch noch nachschenken, doch ich schüttle den Kopf halte mein Glas mit der Handfläche zu. „Nein, danke.“
Er geht um den Tisch herum. „So schlecht ist er doch gar nicht...“
Das nicht, erwidere ich ihm in Gedanken, aber wieso sollte ich mich mit etwas zufrieden geben, nur weil es nicht schlecht ist. Ich mag diese Weinsorte nicht, mir ist italienischer Rotwein lieber als französischer, aber daran hat er nicht gedacht. Der französische schmeckt ganz passabel aber nicht so gut, dass ich noch mehr davon wollen würde. Wieso also sollte ich einen Wein trinken, nur weil er eben da ist und gar nicht so schlecht ist? Das ist ja fast, als wäre ich mit Stefan zusammen, weil er eben verfügbar ist und ich mir schlimmere Partner als ihn vorstellen könnte. Moment, Ellen.
Ich bemerke mit einer gewissen Verzögerung, wie Stefan mich durchdringend ansieht und stelle mein Weinglas zur Seite.
„Stefan, was machen wir hier überhaupt.“ Es ist eine Feststellung, dass das, was wir hier machen, nicht über „gar nicht so schlecht“ hinaus geht, keine Frage, ob es „wirklich gut“ sein könnte. Ich blicke ihn hoffnungslos an.
Er stellt ebenfalls Weinglas und -flasche weg, ehe er meinen Blick traurig erwidert. Ganz langsam spricht er es aus. „Es funktioniert nicht oder?“
Ich sage wieder nichts, schüttle nur den Kopf.
Er trinkt und wartet darauf, dass ich ihm eine Antwort gebe.
Was soll ich ihm denn sagen, dass ich noch immer in Nikolas Heldt verliebt bin? Ich, die Staatsanwältin, die sich damals bei unserem unsäglichen Undercover-Einsatz nach einem Kuss im Pool mehr erhofft hatte, als einer kollegialen Beziehung gut täte? Die, als sie ihrem berüchtigten Kommissar endlich die Chance auf eine private Verabredung eingeräumt hat, bitter enttäuscht und verletzt zurückblieb und sich dann, als sich ihr angebeteter und idealisierter Kommissar nach einem halben Jahr Abwesenheit mal wieder blicken lässt, sofort wieder in ihn verliebt hat? Erstens stimmt das nicht und zweitens wäre das bei weitem nicht der einzige Grund dafür, dass ich es mit Stefan nicht mehr aushalte. Der ständige Streit, unsere gegenläufigen Interessen, das Heucheln von Gefühlen, die nicht mehr dieselben sind, alles nur Emily zuliebe, soll ich ihm das sagen? Dass wir wieder an der gleichen Stelle stehen wie damals, weil ihm seine Projekte wichtiger sind als die Familie, auch wenn er immer behauptet, es sei anders? Was soll ich diesem Mann sagen, der da vor mir steht, so vertraut und gleichzeitig so fremd?
„Ich habe wirklich geglaubt, wir hätten uns verändert“, finde ich schließlich Worte, wenn auch nicht die passenden. „Irgendwas hätte sich verändert, ich ... Ich habe wirklich auf eine zweite Chance gehofft, aber ...“
„Wir passen einfach nicht zusammen“, ergänzt er meinen Satz mühelos. Wie gut er mich doch kennt nach all den Jahren.
Wieder bekommt er nichts als ein Kopfschütteln von mir den Kopf. Ich senke meinen Blick auf meine zitternden Hände, um seinen traurigen Augen auszuweichen. Es ist gut, dass wir endlich darüber sprechen, auch wenn es wehtut.
„Ich liebe dich Ellen.“
Mein Herz schmerzt. Dass es auch diesmal so wehtut, obwohl es längst für einen anderen schlägt, hätte ich nicht gedacht. Auf irgendeine tief verwurzelte Art und Weise liebe ich Stefan auch noch. Und das werde ich auch immer tun, denn er ist der Vater meiner Tochter. Wie könnte ich es also nicht, wo Emily doch mein ganzer Stolz ist?
„Dich und Emily.“
„Wir lieben Dich auch.“ Ich fühle mich sehr schwach in diesem Augenblick, aber ich bringe trotz der aufsteigenden Tränen ein leichtes Lächeln zustande. „Wir werden dich immer lieben und wir werden auch immer Familie sein.“ So, jetzt habe ich klargestellt, dass er in Emilys und meinem Herzen immer einen besonderen Platz haben wird. „Auch wenn wir nicht mehr zusammen leben.“
Stefan kämpft ebenfalls mit den Tränen, er guckt weg, steht auf und möchte sein Geschirr rüberbringen, aber ich erhebe mich ebenfalls und komme ihm entgegen, um ihm seinen Teller abzunehmen und mit meinem in der Spüle zu stapeln.
„Danke.“
Ist es möglich, dass wir uns einvernehmlich trennen können, ohne Rosenkrieg und zerbrochenes Porzellan?
„Bitte“, entgegne ich, räume unser Besteck und Geschirr auf und bleibe anschließend einen Moment mit geschlossenen Augen an die Arbeitsfläche gelehnt stehen.
Einatmen, ausatmen, die Luft kommen und gehen lassen.
Ich muss annehmen und loslassen und begreifen, was wir gerade besprochen haben. Worüber wir geredet haben. Was längst überfällig war. Obwohl es notwendig war, tut es trotzdem so weh.
„Was es mit Emily?“, reißt Stefan mich plötzlich aus meinen Gedanken. „Wir müssen es ihr sagen.“
Natürlich hat er Recht. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann denke ich, dass Emily es schon wusste, bevor wir es ausgesprochen haben. Unsere Tochter ist nicht dumm, sie nimmt die schlechten Schwingungen, die wir beide tagtäglich verbreitet haben, sehr gewiss wahr und denkt sich ihren Teil. Außerdem kennt sie es ja schon, mit getrennten Eltern aufzuwachsen, sodass sich für sie nicht allzu viel ändert. Dennoch müssen wir es ihr sagen. Besser früher als später. „Ich bin sicher, dass wir die richtigen Worte finden werden“, sage ich zu Stefan und meine es auch so. „Emily ist ein tolles Mädchen, sie wird es verstehen.“ Wie so oft an diesem Abend schüttle ich den Kopf, gehe auf Stefan zu und bleibe am Tischende direkt neben ihm stehen.
Er greift erneut nach seinem Weinglas und meint nachdenklich: „Ich ziehe erstmal wieder in die Kulturkantine.... Ich bin ja sowieso die ganze Zeit da...“ Er trinkt einen Schluck und hätte ich noch etwas Wein in meinem Glas, würde ich wahrscheinlich allein, um ihm zuzustimmen, ebenfalls einen Schluck nehmen. So aber trete ich neben ihn und nehme seine Hand, die er jedoch sofort wegzieht. Er stellt das Glas für einen kurzen Moment wieder ab.
Ich atme tief durch und sehe mit Tränen in den Augen zu ihm hoch. „Sieh mal Stefan, du hast für uns auch alles aufgegeben. Du bist immer gereist, warst immer unterwegs, immer auf Reisen, du hast die ganze Welt gesehen und jetzt, jetzt hängst du hier fest.“
Er sieht mich eindrücklich an. „Denk das nicht.“
Doch es ist die Wahrheit. Auf einmal kommt er mir vor wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln, für ihn ist Sesshaftigkeit gleichbedeutend mit Gefangenschaft, würde er hier bei uns bleiben und versuchen, mit meinem Spießerleben klarzukommen, wäre das für ihn nur ein goldener Käfig. Ich bewege den Kopf leicht hin und her, diesmal kann ich ihn nicht aus den Augen lassen.
„Ich wollte das“, betont er. Sein Gesichtsausdruck verhärtet sich.
Ich kann nicht anders, mir kommen die Tränen und das einzige, was ich ihm noch sagen will, bevor sich unsere Wege endgültig trennen, ist: „Wenn irgendwas ist, wenn du mich brauchst, wenn ich was für dich tun kann, dann sag mir Bescheid, okay?“
Er schließt seinen Mund, schaut zur Seite, sagt lange nichts und dann ganz langsam und leise: „Ich schaffe das schon.“
In einem letzten verzweifelten Versuch, mich an das zu erinnern, was wir einmal waren, halte ich seinen Arm fest und löse meine Finger erst ganz langsam wieder, als er sich befreit und schließlich meine andere, freie Hand ein letztes Mal hält.
Wir sehen uns stumm an und wissen, dass unser Abschied diesmal endgültig sein wird. Es gibt kein Zurück. Stefan und Ellen, das funktioniert einfach nicht. Ich muss mir eingestehen, dass unser letzter Versuch gescheitert ist.
Ich nehme gerade mit einem ebenfalls erzürnten Hauptkommissar Grün an meiner Seite die ersten Treppenstufen nach oben zur Etage der Staatsanwaltschaft, als ich die Anzugträger wahrnehme, die auf der mittleren Ebene der Treppe stehen.
Darunter ist auch derjenige, der mich soeben angesprochen hat und es nun ein zweites Mal tut. „Da sind Sie ja!“
Mitten in der Bewegung stockend sehe ich nach oben. Über den Ärger gerade eben habe ich doch nicht etwa eine wichtige Besprechung verpasst? „Ähm, ah ...“ Hilfesuchend blicke ich zu Grün, doch mein Kollege ist ebenso wortlos wie ich.
„Herr Innenminister...“, begrüße ich den Mann, der dort oben steht und offensichtlich auf mich wartet, etwas überrumpelt, lasse Grün hinter mir zurück und überbrücke die wenigen Stufen zu der kleinen Plattform, auf der Innenminister Uwe Herbst mit zwei Sicherheitsbediensteten steht. Wie konnte ich vergessen, dass er heute im Präsidium ist?
Doch er scheint weder verärgert noch strahlt er sonst eine negative Emotion aus, sodass ich schließlich erleichtert weiteratme.
„Ich war eben bei Oberstaatsanwalt Böger. Wir hatten Sie schon vermisst!“
Ich bleibe eine Stufe unterhalb des Plateaus stehen und ergreife Herbsts Hand, die er mir mit einem gewinnenden Lächeln entgegenstreckt.
„Aber jetzt hab ich sie ja.“ Er hat einen festen, energischen Händedruck. Und er blickt mir direkt in die Augen, ehe er mich von oben bis unten mustert und sein Lächeln immer breiter wird.
Flirtet er etwa mit mir? Ich schiebe diesen unangenehmen Gedanken von mir.
Zu Recht, denn im nächsten Augenblick wendet er sich bereits meiner Begleitung zu. „Und den Herrn Grün auch gleich!“
„Morgen.“ Grün bleibt sogar zwei Stufen unterhalb von Herbst stehen, der uns breitbeinig den Durchgang nach oben versperrt.
Mir drängt sich die Vermutung auf, dass der doch eher recht klein gewachsene Innenminister durch seine erhöhte Position seinen Einfluss uns gegenüber demonstrieren will.
Plötzlich höre ich eilige Schritte hinter meinem Rücken. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, wer uns gefolgt ist. „Ähm, Herr Herbst, was ist denn hier los?“, versuche ich unserem Innenminister eine Antwort auf die Frage des Vormittags schlechthin zu entlocken.
„Was hier los ist?“ Der erfreute Ausdruck in seinem Gesicht erscheint mir angesichts der Situation denkbar unpassend, ja geradezu provokant. Er nickt erst in meine Richtung, dann in die meines Kollegen, ehe er die linke Hand zwischen uns schiebt und damit pathetisch auf den Fuß der Treppe deutet.
„Herr Heldt ist zurück!“, verkündet er mit einer Freude, als wäre sein lange verloren geglaubter Sohn nach Bochum zurückgekehrt.
Gleichzeitig drehen Grün und ich uns um. Unser lange abwesender (und vermisster) Kollege stapft zerknirscht die Treppe hoch und bleibt einige Stufen unter uns stehen. Der weiß ganz genau, dass sein Chef und ich ihn nicht zurück im Team haben wollen, schießt es mir durch den Kopf und ich frage mich, wie es passieren konnte, dass er wieder in den Besitz eines Dienstausweises gekommen ist.
„Freuen Sie sich!“, fordert Herbst das Unmögliche von mir. Ich soll mich freuen? Das wird schwer, sehr schwer. Zum Feiern ist mir anlässlich Heldts Rückkehr nicht gerade zu Mute. Noch dominieren Wut und Enttäuschung mein Gemüt.
Heldt guckt erst Grün und schließlich mich an, sein Blick ist hoffnungsvoll und ängstlich zugleich. Der weiß, dass er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hat. Er weiß es.
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ja, aber Herr Heldt hat vor sechs Monaten seinen Dienst quittiert...“, beginne ich und schaffe es nicht, ihm länger in die Augen zu schauen. Bevor mich mein Wut überrennt, wende ich mich ab und blicke stattdessen Herbst an, während ich meinen Satz vollende „...und ist über Nacht verschwunden.“ Ich verstumme. Mist! Über Nacht verschwunden... Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es geht niemanden etwas an, dass Nikolas unser Date abgesagt und mich versetzt hat, um mitten in der Nacht nach Mallorca zu fliegen.
Doch ehe ich mich in weitere Peinlichkeiten verstricken kann, kommt Grün mir zur Hilfe: „Er hat mehrere Ermittlungen und anhängige Verfahren einfach abgebrochen.“
„Stimmt.“ Wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, senkt Heldt schuldbewusst den Blick.
„Und das alles...“ Ich wage es wieder, in seine Richtung zu sehen. „...aus rein privaten Gründen...“ In dem Moment, in dem er den Kopf hebt und mich traurig ansieht, flüchte ich jedoch wieder in sichere Gefilde, auch wenn das im Moment bedeutet, dem grässlich fröhlichen Grinsen unseres Innenministers wieder ausgesetzt zu sein. "... die seine Dienstpflicht überschattet haben.“
„Absolut!“, gibt Heldt mir mit einem mir gänzlich unbekannten Eifer recht.
„Auf was auch immer Sie es hier anlegen“, sagt Grün bedrohlich leise in Richtung Treppenende. „Es wird nicht funktionieren. Wir wollen und werden Sie nicht zurücknehmen!“, stellt er ein für alle Mal klar, dann macht er eine abfällige Geste in Heldts Richtung und fügt ein leidenschaftliches „Niemals!“ hinzu.
„Nun, am besten, wir besprechen das in ihrem Büro weiter, Frau Bannenberg“, geht Herbst schlichtend dazwischen. Er spricht meinen Nachnamen wie eine Krankheit aus, als wäre ich überhaupt erst Schuld an Heldt Rückkehr. Dann setzt er sein charmantes falsches Lächeln wieder auf und lässt mir mit einer galanten Handbewegung den Vortritt.
Ich nicke und gehe voraus, ohne mich noch einmal nach Heldt umzudrehen. Zu tief sitzt der Schmerz von vorhin, als ich als erstes das Zimmer betreten habe, in dem er überraschenderweise die Zeugin betreut hat. Ich musste meinen Kollegen gegenüber nicht erwähnen, wie geschockt ich von seinem Anblick war. Noch in der Tür bin ich zu Stein erstarrt und rückwärts wieder aus dem Raum geflohen. Nachdem Grün die Konfrontation mit unserem lange verschollenen Kollegen gesucht hat und dieser jeden, wirklich auch jeden, sogar Herrn Kramer - den er ja eigentlich gar nicht kennt - freundlich lächelnd begrüßt hat, findet er für mich keine Worte, als sein Blick als letztes an mir hängen bleibt und sein Lächeln erstarrt. Und auf meine Frage ob er irre sei und was er hier mache, war Dienstausweis zücken kombiniert mit einem flapsigen „Naja, Arbeiten“ nicht gerade die Antwort, die sich meine verletzte Seele und mein gebrochenes Herz erhofft hatten.
In meinem Büro angekommen berichtet der Innenminister Grün und mir über Heldts große Verdienste auf Mallorca und dass er den Ermittlungen des Bundeskriminalamtes eine immense Unterstützung gewesen ist und deswegen mit vollen Bezügen wieder eingesetzt sei.
„Na, wenn er da so gut gearbeitet hat, dann soll ihn doch das BKA nehmen“, erwidere ich schnippisch, wenn auch im gemäßigten Tonfall. Herbst soll ja nicht gleich denken, dass ich Nikolas von vornherein Steine in den Weg legen möchte.
„Die hätten ihn mit Kusshand genommen! Aber Herr Heldt wollte unbedingt in diese Dienststelle zurück“, entgegnet Herr Herbst mir mit Nachdruck.
„Weshalb?“, kommt es fassungslos von Grün, der wegen Heldts Abtauchen nach der Tötung des Prothesenkillers völlig kompromittiert vor dem Ermittlungsausschuss stand und sich gezwungen war, seine Notwehrhandlung in der damaligen Lage ganz alleine zu rechtfertigen.
„Das müssen Sie ihn schon selber fragen...“, antwortet Herbst nonchalant.
Grün und ich tauschen einen resignierten Blick aus.
Der Innenminister fährt fort: „Ich erwarte, dass Sie ihn in alle laufenden Ermittlungen integrieren und zwar hundertprozentig.“
Ein paar Tage später kommt Heldt in mein Büro, er muss wohl angeklopft haben, aber ich war so in die Arbeit vertieft, dass ich es schlichtweg überhört habe. Vor mir liegen die Beweismittel aus dem Fall Dorne, der Räuber mit Stimmverzerrer und Catcher-Maske und wie ich es auch drehe und wende, es ergibt alles keinen Sinn mehr. Nichts.
„War es sehr schlimm?“, fragt Heldt, der auf den ersten Blick sieht, dass es mir nicht sonderlich gut geht. Was eigentlich auch kein Wunder ist. Seit ich gestern aus dem Gericht gekommen bin und Dorne vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, bin ich auf hundertachtzig und jeder, der mir begegnet, hält ganz automatisch eineinhalb Meter Sicherheitsabstand oder noch mehr zu mir ein. So auch Heldt, der nun vorsichtshalber sogar im Rahmen der Tür stehen bleibt, nachdem er diese zugezogen hat.
„Der Innenminister tobt“, gebe ich schwach von mir. Es ist ärgerlich genug, dass ich noch immer vollkommen damit überfordert bin, dass Heldt wieder hier ist, aber dass er mich in einer derartigen Verfassung – die von der Souveränität, die ich ihm gegenüber normalerweise ausstrahle, weit entfernt ist – sieht, gibt mir den Rest. Hilflos murmle ich vor mich hin: „Ich versteh das auch überhaupt nicht.“
Nun stößt Heldt sich doch vom Türrahmen ab und schlendert mehr oder weniger lässig auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch zu.
„Vor fünf Jahren, da hat das alles zusammengepasst.“ Je näher Heldt mir kommt, desto mehr verschanze ich mich hinter meinen verschränkten Armen und meinem Schreibtisch, auf den ich nun meinen Blick richte und mich mit dem Studium der darauf liegenden Fotokopien davon ablenke, dass er mich höchstwahrscheinlich anschaut. „Und jetzt passt hier gar nichts mehr. Das ist als wenn...“ Ich traue mich, blicke kurz, für den Bruchteil einer Sekunde, zu ihm hoch. „Als wenn einer alles manipuliert hat.“
Heldt bleibt direkt vor meinem Schreibtisch stehen.
„Ich versteh das überhaupt nicht, aber ...“ Diesmal hebe ich den Blick länger als nur zwei Sekunden. „Vielleicht hab ich eben doch nicht richtig aufgepasst.“ Resigniert und nervös zugleich pendelt mein Blick zwischen Heldt, der plötzlich ganz allein mit mir in meinem neuen Büro steht, und den Bildern auf der Tischplatte hin und her.
„Das glaub ich nicht“, bestreitet er meine Selbstanklage vehement.
„Da sind Sie der Einzige“, gebe ich ernüchtert zurück, sehe ihn etwas länger an und füge hinzu: „Aber danke für den Versuch der Aufmunterung.“
„Nein, Frau Bannenberg, ich mein das ganz ernst“, bekräftigt Heldt seinen Standpunkt. Er setzt sich vor mich und zeigt demonstrativ mit den Fingern auf die Fotos. „Sie machen solche Fehler nicht. Dorne spielt ‘n schmutziges Spiel.“
Ich atme tief durch. Warum kann er nicht einfach wieder aufstehen und gehen? Warum ist er so verdammt verständnisvoll und warum tut es so gut, dass wenigstens er an mich glaubt, wo ich doch gerade selbst meine Urteilskraft in Frage stelle? Er sollte nicht hier sein, nicht, wenn sonst niemand in diesem Raum mit uns ist. Und wenn er es schon ist, dann sollte er am Ende des Raumes stehen und nicht hier vor mir sitzen, die Hand direkt vor meinem Oberkörper auf der Tischplatte aufliegend. Mein Kopf rumort, mein Nacken schmerzt von den vielen Stunden am Schreibtisch. „Wenn ja, dann hat er gewonnen. Sein Urteil wird aufgehoben und mein Ruf ist ruiniert.“ Ich sehe mich im Raum um. „Ich kann eigentlich anfangen, zu packen.“ Mein Blick bleibt an der Fotografie von meiner Tochter hängen, die in einem weißen Holzrahmen neben meiner Schreibtischlampe steht. Das Bild ist neu, wir haben es kurz nach Emilys dreizehntem Geburtstag aufgenommen.
Nikolas beugt sich über den Tisch, um einen Blick darauf zu erhaschen.
Es ist zu nah. Viel zu nah.
Ich wünschte, Grün wäre jetzt hier, um mich vor meinen Erinnerungen an mich und Heldt in meinem alten Büro zu bewahren und mich vor dem Schmerz zu schützen, den allein Nikolas Anwesenheit und seine plötzliche Nähe in mir hervorruft.
Als hätte er es gespürt, nimmt er seine Hand von der Tischplatte und verschränkt die Arme nun ebenfalls leicht übereinander.
„Wahnsinn!“, kommentiert er das Foto von Emily. „Die ist ja jetzt fast ‘ne junge Frau geworden.“ Er schmunzelt. „Beim nächsten Geburtstag da kann ich dann nicht mehr mit Erbsenpistolen auftauchen.“
Bei der Erinnerung an ihren letzten Geburtstag, als Heldt mit zwei Tüten bunter Spielzeugpistolen aufgetaucht ist und meinen Ruf als Geburtstagsgastgeberin unter den Müttern von Emilys Freundinnen gerettet hat, muss ich in mich hinein schmunzeln. Er hatte sich an diesem Tag auch bei mir dafür bedankt, dass ich seinem Freund aus der Patsche geholfen habe und ihn vor mehreren Jahren Knast bewahrt habe und es hätte nicht viel gefehlt und wir wären uns damals schon näher gekommen. Die Erinnerungen kommen mir vor wie aus einer ganz anderen Zeit, einer, in der ich höchstens mal sauer auf ihn war, weil er einen Undercover-Einsatz gegen meinen Willen oder ohne mein Wissen durchgezogen hat und ich mich mit Dienstaufsichtsbeschwerden herumschlagen musste. Meine Wut heute hat eine ganz andere Dimension, eine, von der ich nie geglaubt hätte, dass ausgerechnet Nikolas dazu in der Lage sei, sie heraufzubeschwören.
Ich sehe ihn nicht an, halte mich an dem Bild meiner Tochter fest, denke an sie und Stefan und daran, dass sie nun meine Familie sind. „Nein, weiß Gott nicht.“ In Nikolas Anwesenheit an Stefan zu denken fühlt sich plötzlich falsch an. So, als gehörte einer von beiden definitiv nicht in mein Leben.
Es war alles gut, ich war glücklich, nur mit Stefan und Emily an meiner Seite. War. Bis vor ein paar Tagen. Wieso musste Nikolas zurückkommen und alles über den Haufen werfen?
Ich löse mich von dem vertrauten Bild und sehe ihn an. Was wäre in der Nacht passiert, wäre er nicht Hals über Kopf nach Mallorca aufgebrochen?
Ich hatte alles vorbereitet, alles bis ins kleinste Detail perfekt organisiert. Emily war bei ihrem Vater, ich hatte für uns gekocht, meine Wohnung mit Kerzen dekoriert, den Sekt für mich und das Bier für Nikolas hatte ich kühl gestellt, mein Outfit und mein Schmuck harmonierten, meine Locken saßen einmal perfekt, meine Unterwäsche passte zusammen, ja sogar mein Bett war frisch bezogen. Ich wäre wirklich auf alle Eventualitäten vorbereitet gewesen, wäre dieses Date wirklich zustande gekommen.
Hätte er Carlo nicht vorgeschickt, sondern wäre er selbst gekommen, wäre er dann geblieben?
Und wäre er geblieben, wäre jetzt alles anders? Vielleicht hätte es mit uns nach dem ersten Date auch nicht funktioniert, wer kann das schon sagen.
Auch jetzt sieht Nikolas mich so an, wie in seinem alten Büro, so verliebt, so zärtlich, so verträumt, dass mir fast schlecht davon wird, ihm tief in die Augen zu gucken. Ich habe einen Freund. Ich bin wieder mit dem Vater meiner Tochter zusammen. Ich darf mich in Nikolas‘ Gegenwart nicht so fühlen, wie ich es gerade tue.
Was gibt ihm das Recht, nachdem er sechs quälend lange Monate einfach wie vom Erdboden verschwunden war, wieder nach Bochum und in mein Leben zurückzukehren?
Ich löse mich abrupt. „Was machst du hier?“
„Du meinst, hier in deinem Büro?“, verfällt Nikolas in sein übliches Rumgeplänkel.
Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme vor der Brust, baue eine kleine Barrikade vor mir auf und ermahne ihn von meinem sicheren Turm aus genervt: „Nikolas, hör auf damit.“
„Ja, Ja...“ Er beißt sich auf die Lippe, sieht unangenehm berührt auf die Tischplatte vor mir. Er fängt immer wieder an, etwas sagen zu wollen, doch dann bricht er ab, bevor überhaupt ein Ton seinen Mund verlassen hat. Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen, doch er findet sie nicht. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt hast“, sagt er schließlich vorsichtig.
„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe!“, bricht es wütend aus mir heraus. Vor meinem inneren Auge erscheint Carlo, wie er mir den Zettel übergibt und ich ihn bitte, zu gehen, nachdem ich das Papierstück – ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen – zerrissen und auf den Boden fallen gelassen habe.
Ein ungeheurer Schmerz schießt mir durch die Brust. Dann denke ich an Emily und Stefan und bereits im nächsten Moment habe ich mich wieder gefangen. Fürs Erste. Ich muss Nikolas aus meinem Büro kriegen.
Mein Gegenüber sieht mich enttäuscht und verletzt an, hat er allen Ernstes damit gerechnet, er könnte nach einem halben Jahr Funkstille wieder hier aufschlagen und nichts hätte sich verändert?
Dabei hat sich alles verändert, nicht nur das Präsidium, nicht nur ich, auch das, was wir mal hatten, diese zarten Bande, dieser vorsichtige Anfang, diese Leichtigkeit im Umgang miteinander, auch das hat sich verändert. Wir laufen wie auf rohen Eiern, die lockere Unbeschwertheit haben wir in unseren alten Büroräumen verloren. Büro – ein gutes Stichwort. „Ich muss jetzt weiter arbeiten. Bitte entschuldigen Sie mich.“ Ich unterbreche unseren Blickkontakt, weigere mich, ihn noch einmal anzusehen und sammle stattdessen hektisch die kreuz und quer vor mir verstreuten Fotos wieder ein.
Nikolas geht, doch ich höre, wie er vor der Tür noch einmal Halt macht und sich zu mir umdreht. Irre ich mich, oder kann ich aus dem Augenwinkel ausmachen, wie sein Arm zittert, als er nach der Klinke greift und sie nach unten drückt, bevor er endgültig aus meinem Sichtfeld verschwindet?
Kaum ist er aus der Tür, fluche ich vor mich hin, schmeiße die sorgsam gestapelten Fotos wieder auf meinen Schreibtisch und starre die Wand an.
Nikolas Blick, gerade eben und am Anfang der Woche, als wir uns das erste Mal wieder gegenüberstanden, sagt er mir nicht alles, was ich wissen muss? Doch es geht nicht, selbst, wenn ich es sicher weiß und genauso fühlen würde, es geht nicht. Stefan ist jetzt in meinem Leben. Er ist der Mann an meiner Seite und es ist gut so. Oder ist es genau das eben nicht? „Scheiße!“ Ich sehe zur Tür, durch die Heldt gerade verschwunden ist.
Gegen Ende einer sehr langen Woche voller Ärger und Ungewissheiten ist dieser verdammte Fall, der mich beinahe meine Reputation gekostet hätte, gelöst und Dorne wieder da, wo er hingehört, nämlich hinter schwedischen Gardinen und das sogar für noch länger als zuvor von mir beantragt. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Vorm Empfang treffe ich auf Heldt. Ich bemühe mich, schnell an ihm vorbeizugehen, um nicht kurz vor Feierabend doch noch von ihm in ein Gespräch verwickelt zu werden.
„Alles klar, Danke!“, verabschiedet er sich von der Kollegin hinter dem Tresen und dreht sich zu mir, als ich gerade an ihm vorbeilaufen will. „Hallo Frau Bannenberg.“
„Herr Heldt“, verabschiede ich mich knapp von ihm und bin halb zur Tür hinaus, ehe mir siedend heiß einfällt, dass genau er es ist, der mithilfe von Herrn Özer maßgeblich zur Rettung meines Rufes bei der Staatsanwaltschaft beigetragen hat. Aus genau diesem Grund – und nicht etwa, weil ich es mag, wie er mich ansieht, so, als wäre noch nicht aller Tage Abend – bleibe ich noch einmal stehen und wende mich zu ihm um. „Ach ... Dankeschön.“ Ich werfe meine Haare mit einer leichten Kopfbewegung zurück. Nicht flirten, Ellen! Du bist sauer auf Heldt und außerdem: Da draußen wartet Stefan auf dich!
„Wofür?“, entgegnet Heldt neugierig oder vielleicht auch nur, um unser Gespräch nicht gleich wieder versiegen zu lassen.
„Na dafür, dass Sie Herrn Dorne dahin zurückgebracht haben, wo er hingehört.“ Ich stocke und schenke ihm ein kleines Lächeln. „Und, dass sie damit meine Reputation gerettet haben.“ Ich kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Ganz automatisch scannen meine Augen seinen Körper ab. Er ist noch ein bisschen breiter geworden, muskulöser, sieht irgendwie gereifter aus und seine Locken sind ein wenig länger. Mein Gott, warum sieht er nur so gut aus? Und warum ist das Gefühl, das gerade in meinem Magen aufsteigt so schmerzhaft?
„Ach, hätten Sie auch geschafft“, gibt er sich erst bescheiden, fügt dann aber mit einem schelmischen Zwinkern hinzu: „Früher oder später...“
Wir sehen uns an und unterdrücken beide ein Grinsen.
„Ja, das denk‘ ich auch.“
Mein Gott, dieses Lächeln auf seinen Lippen!
„Aber trotzdem... Ich nicke ihm erleichtert über unser kleines Geplänkel – fast wie früher – zu. „Danke nochmal ... Und willkommen zurück!“ Ich schwenke ganz unbeabsichtigt in seine Richtung, als ich mich umdrehe und wieder der Tür zuwende.
Ich trete bereits ins Freie, als ich plötzlich schnelle Schritte hinter mir höre. Ich sehe mich um. „Ellen!“ Heldt steht hinter mir und ruft mir hinterher.
Als ich meinen Name höre, werde ich langsamer.
„Ähm... Frau Bannenberg!“
Ich bleibe stehen und warte, bis er mich einholt.
Er atmet angespannt ein und aus. Es hört sich ganz so an, als hätte er noch ein Attentat auf mich vor – außerhalb der Arbeit. Und tatsächlich.
„Ich wollt‘ gerade Frühstücken gehen“, bringt er schließlich hervor.
„Frühstücken? Wir haben kurz nach zwölf!“, kläre ich ihn lachend auf.
Heldt stellt sich schulterzuckend vor mich. „Joa, naja, gestern war ja Nachteinsatz, Überstunden.“
Ich sehe auf den Boden und frage mich, ob er das vorhat, wovon ich ausgehe und wie ich ihm am besten klar machen kann, dass es nicht geht. Nicht mehr. Jemand wartet auf mich.
„Obwohl, ich könnt‘ auch was Warmes vertragen... Ich würd‘ Sie gerne einladen.“, springt Heldt schließlich über seinen Schatten und fragt mich direkt danach, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, rein privat.
Ein wenig überrascht, dass er das tatsächlich so unverblümt fragt, sehe ich in sein Gesicht. Einerseits fühle ich mich geschmeichelt, andererseits ist es mir unangenehm, Nikolas nun beichten zu müssen, dass ich nicht auf ihn gewartet habe, während er sich in der Weltgeschichte herumgetrieben hat. „D... Das ist total lieb, ähm... aber ich bin schon verabredet“, stammele ich äußerst souverän und immer wieder ungeduldige Seitenblicke in Richtung Parkplatz werfend vor mich hin. Wo bleibt mein Abholservice nur? Ich versuche mich aus der Situation zu befreien, indem ich weiterlaufe, doch ich habe die Rechnung ohne Nikolas gemacht.
Er eilt neben mir her und stellt sich mir schließlich wieder in den Weg. „Mit Emily?“, fragt er in einem Anflug von Verzweiflung. „Aber die kann doch mitkommen!“ An seinem Blick erkenne ich, dass er bereits ahnt, dass ich nicht nur mit meiner Tochter verabredet bin. „Ich würde wirklich gerne mit Ihnen reden über das, was vor sechs Monaten passiert ist, auch zwischen uns, und ...“
Endlich erkenne ich Stefan. Ich lächle ihm zu, als er auf Nikolas und mich zuläuft, doch Nikolas missinterpretiert mein Lächeln und denkt, ich stimme ihm zu, dass es da noch einiges an Redebedarf zwischen uns gibt. Das tue ich auch gedanklich, tatsächlich aber macht es keinen Sinn mehr, über das zu reden, was zwischen uns passiert ist.
Plötzlich registriert Heldt, dass mein Lächeln nicht ihm gilt, sein Gesicht wechselt von froher Erleichterung hin zu Irritation und schließlich tauchen dunkle Wolken darauf auf, bis seine Gesichtszüge plötzlich erstarren, als er Schritte hinter sich hört.
„Hey Schatz“, begrüßt Stefan mich, der mit einem Mal hinter Heldt hervorkommt und im Begriff ist, mir einen Begrüßungskuss zu geben.
„Hi“, erwidere ich sanft.
„Hi“, widerholt er und legt die Arme um mich.
„Na?“ Ich greife mit der rechten Hand um seinen Nacken und spitze die Lippen, als er sie mit seinen berührt. Doch diesmal schließe ich nicht wie gewohnt die Augen, sondern lasse sie offen und sehe Stefan nach unserem kurzen Begrüßungsritual betont verliebt an, während ich die Hand auf seine Brust lege und zulasse, dass er den Arm um mich legt, um mich näher an sich heranzuziehen. Ich betrachte meine Füße, ich wage es nicht, in Heldts Augen zu sehen und die Enttäuschung darin zu erkennen, die ich an seiner Atmung hören kann.
„Nikolas! Ich wusste gar nicht, dass du wieder zurück bist“, wendet Stefan sich schließlich an meinen verdatterten Kollegen.
„Ja“, gibt Heldt dezent überfordert von sich und auch mir ist es unangenehm, in dieser Situation festzustecken. Hätte ich ihm davon erzählen sollen, dass ich wieder mit dem Vater meiner Tochter zusammen bin? Es hat sich einfach kein passender Zeitpunkt dafür ergeben.
„Alles klar?“, erkundigt sich Stefan höflich. Für ihn ist es keine große Sache, dass wir hier zu Dritt vor dem Präsidium stehen, für ihn war Heldt nur ein Kollege, der mal größeres Interesse an mir gezeigt hat und sich dann nicht mehr gemeldet hat, keineswegs ein ernstzunehmender Konkurrent.
„Ja, bei euch auch, wie’s scheint, hm?“, presst er hervor, gibt sich erfreut und gut gelaunt.
Wie mag es wohl in seinem Inneren aussehen? Sollte mir Heldts Innenleben nicht gleichgültig sein, nachdem er meines ins Chaos gestürzt hat? Ich weiß nicht, was ich fühle, doch eines ist es gewiss nicht: Gleichgültigkeit.
Ich klammere mich an Stefans Arm fest und riskiere einen Blick in Heldts Gesicht. Er mimt den Überraschten, von Traurigkeit oder verletzten Gefühlen keine Spur.
„Ja, bisschen verrückt, was?“ Stefans Griff um meine Taille verstärkt sich.
„Ja, ja, es is verrückt!“ Heldt zieht eine Grimasse, diese Neuigkeit hat ihm offensichtlich die Sprache verschlagen.
Einerseits tut er mit leid, andererseits würde ich wirklich gern mit ihm zu Mittag essen und einfach nur mit ihm reden, aber das geht natürlich nicht. Ich muss schleunigst hier weg, weg von ihm und seinen braunen Rehaugen. „Ja, ...“, stelle auch ich mich in der Schlange der Ja-Sager hinten an und sehe Stefan auffordernd an. „Wir müssen dann auch los, Emily abholen.“
„Hm, klar.“ Heldt nickt uns aufgeregt zu.
„Dann Tschüss!“, verabschiede ich mich von meinem „guten Kollegen“.
„Tschüss!“, kommt es mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung von Heldt.
„Tschüss“, fällt auch Stefan in den allgemeinen Abschied-Singsang mit ein.
Tschau!“, wiederhole ich mich idiotischer Weise und laufe bei Stefan eingehakt zu seinem Wagen.
„Auf Gerber wurde geschossen?“, wiederhole ich ein paar Tage später Heldts Hiobsbotschaft zu seinem neuen Fall.
Heldt steht an meinen Besprechungstisch gelehnt mit so viel Sicherheitsabstand wie möglich zu mir in meinem Büro, den roten Aktenordner des Gerichtsvollziehers Gerbers wie ein Schutzschild vor die Brust geklemmt. Seine Hände liegen am unteren Ende der Akte übereinander.
Ich kann ihm ansehen, wie wenig er mit der Situation, mit mir allein zu sein, zurechtkommt, seit er von mir und Stefan weiß. Selbst schuld, denke ich, schließlich ist er ja nach Mallorca abgedampft.
Auch seine Stimme hat einen ganz anderen, viel helleren, klareren Klang als sonst. „Er wurde an der Schulter getroffen. Aber zum Glück nichts Lebensbedrohliches.“
Ich stütze meine Ellenbogen auf den Armlehnen meines Bürosessels ab und verschränke ebenfalls die Hände vor der Brust ineinander. „Also dann ham‘ wir’s jetzt nicht nur mit erhängten Gartenzwergen zu tun, sondern auch noch mit versuchtem Mord? Was sagt denn Grün dazu?“, bleibe ich bei der Sache, nämlich unserem Fall, die Bedrohung eines Gerichtsvollziehers.
„Hm, ich konnt‘ noch nicht mit ihm darüber sprechen.“ Er gibt einen frustrierten Laut von sich. „Zur Zeit wär‘ es leichter an die Kanzlerin ranzukommen als an ihn.“
„Mhm“ Sein Vergleich entlockt mir ein unfreiwilliges Schmunzeln. Mit Grün ist gerade wirklich nicht gut Kirschen essen, was ich aber andererseits auch sehr gut nachvollziehen kann. In seiner Haut hätte ich an dem Tag, als unser Kollege verschwunden ist, noch weniger stecken wollen als in meiner eigenen. Niemand konnte den Grund für den finalen Rettungsschuss bezeugen. Der Hauptkommissar hatte wirklich Glück, dass der Untersuchungsausschuss ihn letztendlich nicht vollends auseinander genommen hat und er rasch wieder arbeiten durfte. Insofern kann ich seinen Zorn auf Heldt sehr gut verstehen. Doch zwischen mir und Heldt hat das nichts verloren. Schnell bewege ich mich auf die berufliche Ebene zurück. „Gibt es schon hinweise auf den Täter?“
„Vielleicht... ähm ..“ Ungeschickt dreht er die Unterlagen in seiner Hand so herum, dass er deren Inhalt lesen kann. Dann richtet er sich auf, stößt sich vom Besprechungstisch ab und legt die Akte vor mir auf den Schreibtisch. .“Gerber hat kurz vor den Schüssen einen Schuldner erwähnt, der bei der Pfändung seines Laptops ausgerastet ist.“ Er stütz sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab.
Wir atmen beide angestrengt, blicken uns immer wieder rein zufällig in die Augen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Ich lese. „Ein Jurastudent?“ Fragend gucke ich zu Heldt hoch, diesmal ertrage ich es länger, ihn anzusehen.
Doch im Gegensatz zu mir ist er immer noch pedantisch darauf bedacht, meinem Blick auszuweichen, sodass er stattdessen auf die Unterlagen in der Akte starrt, während er ein zustimmendes „Mhm...“ von sich gibt. „Ich hab mit den beiden Polizisten gesprochen, die bei der Pfändung dabei gewesen sind. Langer, also dieser Jurastudent, hat geschworen, sich zu rächen.“ Kurz erwidert er meinen Blick, schüchtern, zaghaft und mehr aus Versehen treffen sich unsere Augen für einen Wimpernschlag. Dann sieht Heldt wieder nach unten. Ich schlage die Lider nieder und den Aktenordner zu. „Ach... Das klingt doch sehr vielversprechend.“ Mit einem gespielt lockeren Lächeln sehe ich Heldt an. „Dann brauchen Sie sich über den Fall auch nicht mehr zu beschweren..“ Ich halte ihm den roten Aktenordner hin, mir fällt im letzten Augenblick auf, dass ich ihn zu weit in der Mitte zusammenhalte, als dass Heldt ihn mir so einfach aus der Hand nehmen könnte. Und meine Vermutung bewahrheitet sich.
Einen kurzen Moment liegen seine Finger direkt über meinen.
Atemlos starrt Heldt auf unsere Hände. Es ist das erste Mal, dass wir uns wieder berühren, seit.... Seit damals. Seit dem Kuss in meinem gelb-orange gestrichenen Büro, den ich ihm zum Abschied gegeben habe, nachdem er mir versichert hat, dass er um acht Uhr vor meiner Haustür stehen würde. Damals... als ich einfach aufgestanden bin, ihn zu mir herangezogen habe und ihn geküsst habe. Trotz all dem Schmerz und den Tränen, die wir in diesem Moment miteinander geteilt haben, war unser Kuss wunderschön. Ich konnte nicht anders, zu sehr war ich von meinen Gefühlen für diesen Mann überwältigt, der da weinend vor mir stand und mich anflehte, dass ich an diesem für ihn so grauen Tag an unserer Verabredung festhielt und – rein privat – mit ihm ausging. Dass er zu mir kam, als es ihm schlecht ging, dass er sich mir anvertraute, mir die Fähigkeit zusprach, ihn an diesem Abend in seinem Kummer beizustehen, hatte mir so unendlich viel bedeutet. Ich wusste ja schon länger, wie sehr Nikolas darunter litt, nicht zu wissen, wer seine Eltern auf dem Gewissen hatte. Und nun hatte er zwar den Mann gefunden, der die Patronen abgefeuert hatte, doch dieser war vor seinen Augen gestorben, ohne ihm auch nur einen brauchbaren Hinweis zu liefern. Normalerweise wäre ich davon ausgegangen, dass Nikolas an diesem Abend lieber allein sein wollte, ich hätte ihm mein vollstes Verständnis entgegengebracht und unser Date selbstverständlich vertagt. Aber damals stand er mit Tränenflüssen im Gesicht vor mir und bestand darauf, den Abend mit mir zu verbringen. Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie froh ich darüber war, dass Nikolas bei mir Trost gesucht hat. Und dass ich ihm diesen wenigstens die paar Minuten, die unser Kuss angedauert hat, schenken konnte.
Doch das war vor einem halben Jahr, in einem anderen Gebäude und in einem anderen Leben.
Als hätte ich mich an seiner Haut verbrannt, ziehe ich meine Hand weg und werfe ihn mit einem lässigen „Machen Sie was draus!“ aus meinem neuen Büro mit den lila-blauen Wänden.
Heldt macht eine winkende Handbewegung, die seinen Abschied einläuten soll.
„Und unterrichten Sie Herrn Grün über ihre Ermittlungen!“, sage ich schroffer, als ich es beabsichtigt habe, während Heldt sich am Aktenordner festhaltend zur Tür begibt. Kurz bevor er mein Büro verlässt, bleibt er noch einmal stehen und sieht zu mir zurück. Ich kann ohne ein abgeschlossenes Psychologiestudium erkennen, was in seinem Kopf vor sich geht. Dass da noch immer etwas zwischen uns ist, was da nicht sein sollte, wären wir nur Kollegen.
Aber in diesem Leben, in diesem Büro werden wir nie etwas anderes sein als Staatsanwältin und Kommissar.
Ein paar Tage später höre ich Heldts energisches Klopfen bereits früh am Morgen an meiner Bürotür „Ja, bitte!“
Er öffnet die Tür und in der Zwischenzeit nehme einen tiefen Schluck aus der vor mir stehenden halb vollen Kaffeetasse. Für meine Nerven. Und gegen die Unruhe, die mich überkommt, sobald ich mit Heldt alleine in einem Raum bin.
„Guten Morgen!“ Er grinst mich enthusiastisch an und hält einen Laptop hoch. „Hätten Sie kurz Zeit für mich?“
Etwas zu Schwungvoll setze ich die Tasse auf meinem Tisch ab. Der Löffel klirrt gegen das Porzellan. Ups. War wohl doch ein bisschen zu viel Koffein auf einmal. „Wenn Sie Probleme mit’m Computer haben, fragen Sie lieber die IT“, versuche ich ihn möglichst schnell abzuwimmeln, doch Heldt tut das Gegenteil von dem, was ich beabsichtigt habe.
Er schließt die Tür hinter sich und kommt, den Laptop aufklappend auf mich zugelaufen. „Ne, der gehört nicht mir.“
Verwundert sehe ich zu ihm hoch. Muss er das tun? Muss er mich so quälen? Ja, das muss er, es ist mehr oder weniger sein Job, mich als seine Vorgesetzte über den Fortschritt der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten
Bereits im nächsten Moment erleuchtet er mich: „Sondern Timo Lange!“
„Dem Jurastudent?“, vergewissere ich mich, ob das Koffein mein Gedächtnis bislang verschont hat.
„Ja, der war zum Glück noch nicht versteigert. Und ich hab auf der Festplatte ‘n paar interessante Dinge gefunden, ich bin mir nur nicht sicher, ob sie das bedeuten, was ich denke, dass sie bedeuten“, verhaspelt Heldt sich aufgeregt, während er auf dem kleinen mobilen Rechner in seiner Hand herumtippt.
„Jetzt nochmal im Klartext!“, frage ich ihn völlig verständnislos. Ich hab mit IT-Sachen echt nichts am Hut, da kann Nikolas wahrscheinlich mehr als ich.
„Ich brauche die Hilfe einer erfahrenen Juristin!“, präzisiert er den Grund für sein Auftauchen keineswegs.
„Schleimer!“, erwidere ich spitz, drehe aber meinen Stuhl in die Richtung, von der aus Heldt nun verschmitzt grinsend hinter meinen Schreibtisch kommt. Er stellt sein Fundstück unmittelbar vor meiner Nase ab. Für einen kurzen Augenblick streift seine Lederjacke die Härchen auf meinem Unterarm, doch dann räuspert sich Heldt und stützt sich direkt neben mit auf der Tischplatte auf.
Er ruft ein Dokument auf und als er denkt, ich würde mich nun dem Lesen widmen, sieht er zu mir hinüber. Unsere Gesichter sind keine Handbreite voneinander entfernt.
Ich höre seinen beschleunigten Atem lauter als meinen eigenen. Auch ich sehe ihn an, blicke in seine Augen, lasse meinen Blick über seine kantigen und doch irgendwie vertraut weichen Gesichtszüge wandern und frage mich, wie lange ich mich noch zusammenreißen kann, wenn wir uns weiterhin so nah sind. Allein sein Geruch, der typische Heldt-Duft, vermischt mit dem Geruch seiner Lederjacke senden elektrische Impulse, so stark wie Blitze, meine Wirbelsäule hinab. Ohne aktiv etwas dafür zu tun, sorgen meine Muskeln dafür, dass ich mich Heldt immer stärker zuneige.
Nach wenigen Sekunden bemerkt Heldt ebenfalls, dass wir auf keinem guten Weg sind, wenn wir einander weiter so sehr auf die Pelle rücken und erhebt sich wieder.
Ich kann meine Frustration kaum verbergen, als er der Vernünftigere von uns beiden ist und sich in gebührendem Abstand hinter mich begibt.
Als ich am Freitag eine Woche später in die Einfahrt des Polizeipräsidiums einbiege, sind meine Gedanken noch bei Stefan, der mich heute etwas früher mit einer duftenden Tasse Kaffee geweckt hat.
Seit letztem Wochenende steht ein hochmoderner Kaffee-Vollautomat in unserer Küche und mein Freund erweist sich als echter Lebensretter, indem er mir jeden Morgen, nachdem er aufgestanden ist, mein geliebtes Heißgetränk ans Bett bringt. Stefan ist als Frühaufsteher meistens vor mir wach und so habe ich auch heute gehört, wie er aufgestanden ist. Heute allerdings hat er mich nicht wie sonst immer weiterschlafen lassen, sondern beschlossen, mich zusätzlich zu meinem Guten-Morgen-Kaffee mit etwas anderem zu überraschen. Dass ich die Idee von verschlafenem und zerzaustem Guten-Morgen-Sex allerdings nicht so toll fand, fand er wiederum auch nicht glänzend.
Während ich einparke, spiele ich unser Gespräch nach meinem vehementen Abblocken sämtlicher Zärtlichkeiten seinerseits noch einmal durch.
Stefan sieht mich eindringlich an. „Ellen.“
„Was denn?“, gebe ich gereizt zurück und entferne seine Hand von meiner Hüfte. Es ist schon zu viel, seine Finger durch den leichten Stoff meines Negligés zu spüren.
Enttäuscht sieht er auf meine halbvolle Kaffeetasse und lässt seine Hand sinken. „Wir haben seit zwei Wochen nicht mehr miteinander geschlafen...“
„Sorry“, unterbreche ich ihn rasch. „Der Stress auf der Arbeit, mit Emily, ich habe im Moment einfach keine Lust.“ Es ist eine Lüge. Sobald ich auf der Arbeit bin und Nikolas in mein Büro kommt, spüre ich von dieser durch den vermeintlichen Arbeitsstress verursachten Lustlosigkeit nichts mehr. Aber das kann ich Stefan ja schlecht auf die Nase binden. Ich setze mich auf und leere seinen Kaffee. „Und außerdem muss ich jetzt schon los!“ Nach langem hin und her habe ich mich gestern Abend bereit erklärt, Emily heute früh zur Schule zur bringen, weil er mal wieder nicht kann, wichtiger Kundentermin, intaktes Geschäftsnetzwerk und so weiter. Wie wichtig Teamplay für eine intakte Familie ist, muss der Kerl echt noch lernen. Aber um sich mit mir in den Laken zu wälzen, dafür hätte er genug Zeit. Vergnügen war ihm schon immer wichtiger als Verantwortung. Verärgert schüttle ich den Kopf.
„Quatsch, es ist doch nicht mal halb acht!“, widerspricht er mir skeptisch.
„Ja, aber heute ist Freitag und da steht die Wochenbesprechung an“, schiebe ich eine weitere Lüge vor, um nicht länger mit ihm im Bett bleiben zu müssen.
„Deine Wochenbesprechungen sind am Montag, Schatz“, belehrt er mich zu meiner Überraschung postwendend (Hat er sich etwa doch meinen Terminplan angeguckt?), doch dann sieht er mich besorgt an. „Hey, ist alles okay?“
Ich nicke enthusiastisch. „Klar, wieso, was soll sein?“
„Nichts, ich dachte nur, ... du bist so durcheinander in letzter Zeit.“
„Ach bin ich das?“ Ich überwinde mich dazu, ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken und stehe auf.
Und nun bin ich hier, parke den Mercedes auf meinem gewohnten Platz und laufe in Gedanken irgendwo, aber nicht bei der Arbeit, über den Hof zum Präsidium. Als ich Heldt unter dem Vordach sehe – was für die frühe Stunde doch sehr beachtlich ist -, schleicht sich ein leichtes Lächeln auf meine Züge. Sobald er mich entdeckt hat und bemerkt hat, dass ich ihn auch entdeckt habe, verkrampft er sich augenblicklich. Mit gesenktem Kopf läuft er in meine Richtung, bleibt jedoch kurz vor mir stehen. „Guten Morgen, Frau Staatsanwältin.“
Ich halte ebenfalls an. „Guten Morgen, Herr Heldt!“
Unruhig verlagert er sein Gewicht von einen Fuß auf den anderen, immer hin und her.
„Na, so früh schon im Einsatz?“, versuche ich die angespannte Atmosphäre zwischen uns aufzulockern.
Er lächelt stolz über mein Lob, dass er tatsächlich mal früher als ich im Präsidium ist und erwidert: „Ja, Spezialeinsatz, für die Kollegen. Der Kaffeeautomat spukt mal wieder nichts al heiße Luft aus.“ Verlegen steckt er beide Hände in die Jackentaschen.
„Na Sie werden ja noch zum Teamplayer!“, bemerke ich anerkennend und denke mir, dass Stefan sich echt mal ein paar Scheibchen von Nikolas abschneiden könnte. Heldt... ich meine natürlich von Heldt. Wobei es mir ja dann doch lieber wäre, wenn mein Freund meinen Kollegen in einem Stück lassen würde.
„Ja, einer für alle, alle für einen.“ Er sieht mich mit einem eigenartigen Blick an und ich werde das Gefühl nicht los, dass er noch etwas loswerden will.
Ganz automatisch lege ich den Kopf schief und schenke ihm ein warmes Lächeln.
„Latte, mit’m extra Espresso?“, erkundigt er sich im nächsten Moment nach meinen Kaffee-Wünschen. Er weiß immer noch, was ich am liebsten trinke.
Mein Lächeln verstärkt sich, erstirbt aber in dem Moment, in dem Stefan und sein Kaffee-Vollautomat vor meinem inneren Auge erscheint. „Danke, ich hatte schon einen“, beginne ich betreten und füge dann als Erklärung im Eiltempo hinzu: „Stefan hat diese super Kaffeemaschine gekauft und jetzt bekomm ich jeden Morgen den perfekten Kaffee ans ...“ Ich stocke und spreche das letzte Wort nicht aus, als ich in Heldts Gesicht sehen kann, wie sehr ihn meine privaten Geschichten verwirren. Was tue ich denn hier? Wollte ich ihn oder mich auf Abstand halten mit dieser Klarstellung dass Stefan der Mann in meinem Leben und der Mann in meinem Bett ist? Ich denke, ich habe es weniger für Nikolas gesagt, mehr für mich. Heldt, Nikolas, Heldt kennt diese unübbertretbare Linie. Ihm muss ich keine Grenzen aufzeigen, diese Demonstration benötige ich eher selber.
„Aber danke trotzdem“, stammele ich mit dem Rest Selbstachtung, der mir noch geblieben ist.
Heldt nimmt es gelassen. Zwar hebt er für einen kurzen Moment die Augenbrauen, gibt dann aber lässig „Wow, da kann man ja richtig eifersüchtig werden“, von sich und sieht mich unbeirrt lächelnd an.
Ich presse die Lippen zusammen, beäuge ihn schüchtern. Er sieht gut aus und irgendwie strahlt er auch etwas Besonderes aus heute Morgen. Ich glaube, es tut ihm gut, dass er eine Aufgabe für das gesamte Team übernehmen kann und sich von allen - auch von Herrn Grün zumindest ansatzweise - wieder respektiert fühlt.
Schnell schiebt Heldt – an dem meine Überlegungen bezüglich Teamfähigkeit vollkommen vorbei gegangen sind - noch ein „Neidisch, ich meine neidisch!“, hinterher, als er gemerkt hat, dass Eifersucht wohl doch eher auf die Beziehungsebene gehört, die zwischen uns seit einem halben Jahr nicht mehr vorhanden ist. „Also dann“, verabschiedet er sich und wendet sich zum Gehen.
Dummerweise weichen wir beide in die gleiche Richtung aus, lächeln uns peinlich berührt an und geraten beim nächsten Versuch, weiterzugehen, als wäre nichts gewesen, schon wieder aneinander. Wir bleiben voreinander stehen, ich glaube, ich erröte nicht gerade dezent.
Heldt seufzt, macht einen Schritt zurück und klappt seine Jacke auf, um mir den Vortritt zu lassen.
Schnellen Schrittes husche ich an ihm vorbei ins Präsidium. Ich schaffe es tatsächlich, mich nicht noch einmal nach ihm zumzudrehen.
„Dann bis gleich, tschüss“ Herr Korthals legt auf, als ich ein paar Stunden später an diesem Tag das Gemeinschaftsbüro von ihm und Heldt betrete.
„Und?“, fragt er eifrig nach neuen Erkenntnissen im Geiselnahmefall, noch bevor ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen lassen kann.
„Der Polizeipräsident tobt!“, erkläre ich unnötiger Weise und füge verzweifelt hinzu: „Haben Sie nicht irgendetwas, was uns hilft? Irgendwas?“
„Fehrichs hat sich von all seinen Freunden getrennt.“ Herr Korthals spielt unruhig mit dem Stift in seiner Hand. „Einer seiner früheren Mitarbeiter hat mir erzählt, dass er regelmäßig in so 'ne Kneipe gegangen ist.“
„Auch noch ein Alkoholiker? Na toll!“ ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, beuge mich nach vorne und stelle meine Ellenbogen auf Korthals Schreibtisch ab. „Das hat uns ja gerade noch gefehlt!“
Herr Korthals versucht, mich zu beschwichtigen: „Naja, also so hat sich das jetzt nicht gerade angehört.“
Nun schnappe ich mir einen Bleistift, zwirble ihn zur Ablenkung zwischen meinen Zeigefingern und versuche, meiner Aufregung zu unterdrücken.
„Ich habe eben mit der Wirtin telefoniert und sie ist gerade auf dem Weg hierhin.“, erklärt er vage.
Natürlich, wie immer hat der Kollege Korthals sauber recherchiert. Doch führen seine traditionellen Methoden uns auch zur Lösung des Falls?
„Wir greifen hier nach Stroheim, das ist Ihnen schon klar?“, mache ich meiner Verunsicherung Luft. Abrupt lasse ich den Bleistift fallen, verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich an der Rückseite des Stuhls an.
Heldts Apparat beginnt zu klingeln. Ich sehe zum gegenüberliegenden Schreibtisch hinüber. Natürlich ist er immer noch nicht von seinem Kaffee-Spezialeinsatz (nicht, dass er mir nach meiner Ansage heute früh einen mitgebracht hätte) zurück, sondern ist gleich mit Grün und dem SEK vor Ort geblieben, ist ja auch spannender als trockene Büroarbeit. Dass man ihn einmal im Büro antrifft, passiert seltener als dass es pünktlich zu Weihnachten in Bochum schneit. Und wie sein Schreibtisch schon wieder aussieht! Als hätte dort eine Bombe eingeschlagen!
„Ja?“
Während ich noch damit beschäftigt war, mich geistig über den Zustand von Heldts Arbeitsplatz aufzuregen, hat sich Herr Korthals bereits das Telefon geschnappt und den Anruf auf seinen Apparat weiter leiten lassen.
„Ach... ja...“ Er sieht mich abschätzend an. „Momentchen.“ Korthals nimmt den Hörer vom Ohr und hält ihn sich an die Brust, um den Lautsprecher zu verdecken. Dann wendet er sich an mich. „Da ist ne junge Dame, die möchte Kommissar Held sprechen...“
Ich hebe den Blick und sehe Heldts Kollegen perplex an. „Ach, der hat ne neue Freundin?“
Interessierter, als ich wahrscheinlich sein sollte - Immerhin ist mir vor Nikolas erst heute morgen dummerweise rausgerutscht, dass Stefan mir jeden Morgen den perfekten Kaffee ans Bett bringt - lehne ich mich wieder nach vorne und nehme die Hälfte von Korthals Schreibtisch mit meinen Unterarmen in Beschlag. Und überfordere ihn sichtlich mit meiner Neugier an Nikolas' Privatleben.
Was bilde ich mir eigentlich ein, so in Nikolas Leben herumzuschnüffeln, sogar seinen Freund über ihn auszuquetschen, wo bleibt denn meine Achtung vor mir selbst?
Korthals seufzt. „Ähm ne. Also nicht, dass ich wüsste“, ist seine nichtssagende Antwort.
Ich mustere ihn kritisch, bevor ich mich mit einem leichten Kopfschütteln zu einer äußerst unprofessionellen Aussage hinreißen lasse: „Naja ... Ist ja auch egal, wimmeln Sie sie ab!“
Meine Güte, Ellen! Dir steht es wirklich nicht zu, Nikolas private Kontakte zu sabotieren. Was, wenn es etwas Wichtiges ist? Verlegen weiche ich Korthals Blickkontakt aus und gucke stattdessen auf den Block auf seinem Schreibtisch. Ich ergreife den dort liegenden Bleistift und beschäftige mich mit kleinen Kritzeleien auf der Unterlage, während meine Gedanken rasen. Hat Heldt jemanden kennengelernt? Wenn ja, warum stört es dich? Du bist doch in einer glücklichen Beziehung oder etwa nicht? Und außerdem, sein Privatleben geht dich ja nun wirklich nichts an. Zumindest nicht mehr. Ich wünschte, es wäre so einfach, meine verletzten Gefühle, wann immer es um Heldt geht, zu unterdrücken. Ich habe keine Schmetterlinge mehr im Bauch, wenn ich an ihn denke. Nur vollgefressene Raupen im Winterschlaf und die liegen mir schwer im Magen.
„Hören Sie... Kommissar Heldt ist vor...“, leistet Korthals meiner Bitte Folge. Doch anscheinend erfolglos, denn im nächsten Moment scheint er unterbrochen zu werden. Wieder nimmt er das Telefon herunter und verdeckt es an seinem blau-rot gestreiften Poloshirt.
„Die Dame ist vorne am Eingang.“
Mein Herz rutscht mir in die Hose. Bedeutet das, dass ich gleich mit Heldts neuer Flamme konfrontiert werde? Wird es sich für mich ähnlich schmerzhaft anfühlen wie für ihn, als Stefan mich abgeholt hat, nachdem der Catcher-Masken-Fall gelöst war? Ich habe doch gesehen, wie hinter seiner guten Miene zum bösen Spiel etwas von seiner Fassade abgebröckelt ist. Ich spiele bereits im Kopf alle möglichen Szenarien, die geht sich gleich ergeben könnten, durch, als mich Herr Korthals zum Glück mit einem schlichten weiteren Satz erlöst: „Es ist Julia Fehrichs.“
Die Tochter des Geiselnehmers. Auch, wenn ich es nach außen hin nicht zeigen kann, fällt mir ein Stein vom Herzen. Nikolas ist nicht neu vergeben. Nun da dieser private Konfliktherd geklärt wäre, kann ich mich wieder mit voller Energie dem Fall widmen. Mir ist bewusst, was für ein schlechtes Zeichen es ist, dass meine persönlichen Gefühle für Heldt unsere aktuellen Ermittlungen überschatten.
Wenig später sitze ich Julia Fehrichs an meinem Besprechungstisch gegenüber. „Dein Vater hat also seit der Scheidung Besuchsrecht. Wie oft seht ihr euch, einmal die Woche?“ so hatten Stefan und ich es zumindest gehandhabt. Obwohl wir nie verheiratet waren, fand ich es wichtig, dass er Emily regelmäßig sehen konnte. Ich hätte nie gewollt, dass mein Kind ohne ihren Vater aufwächst. Aber das ist ja nun Geschichte, jetzt darf sich meine Teenie Tochter wieder mit beiden Elternteilen rumschlagen, ob sie will oder nicht.
Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, dass mir gegenüber sitzt. „Wir sehen uns gar nicht. Früher habe ich so oft auf ihn gewartet, da ist er einfach nicht. Wissen Sie, wie scheiße das ist?“
„Klar!“ Heldtheldtheldtheldt. Und wie gut ich weiß, wie Scheiße das ist. Vor allem, wenn derjenige auch die anschließenden sechs Monate nicht auftaucht und einem jede Erklärung, jede Entschuldigung schuldig bleibt. „Klar, keiner wird gerne versetzt“, murmle ich mitfühlend.
Ein paar Wochen darauf wandert mein Blick über den nachgebildete Weltraumhelm, der wohl zur Rüstung des Sternekrieger Gouverneur Dark aus Guardians of the Galaxy gehören soll. „Aufgrund der Schwere der Verletzung muss ich auf jeden Fall ein Ermittlungsverfahren einleiten“, konstatiere ich und sehe Heldt grinsen. Was ist denn mit dem schon wieder los? Nachdem ich das Wochenende darüber nachgedacht habe, warum in Gottes Namen er sich mit dem Geiselnehmer in diesen Kiosk hat einsperren lassen und zu dem Ergebnis gekommen bin, dass er es getan hat, um zu vermeiden, dass Julia Fehrichs ohne ihren Vater aufwächst, bin ich ihm gegenüber wieder deutlich milder gestimmt.
„Yeah! Ich wusste, dass Sie das sagen!“, freut er sich wie ein kleines Kind über meine schlichte Verkündung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung. Irritiert lächelnd stütze ich mein Kinn in die Hände und sehe zwischen ihm und Grün hin und her. „Noch Fragen?“ Dass eigentlich ich diejenige bin, die einen ganzen Haufen Fragen an Heldt hat, verdränge ich mit gewohnter Professionalität, während ich aufmerksam in die Runde blicke.
„Ja!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Hauptkommissar Grün. „Warum läuft ein erwachsener Mensch mit so etwas herum?“ Sein Kopf nickt in die Richtung meines Schreibtisches.
Ich folge Grüns Blick. Unzweifelhaft spricht er von dem schwarzen Helm mit der Atemmaske. Keine Sekunde später grinsen Heldt und ich uns verschwörerisch an. Bestürzt lässt er seinen Kaffeebecher sinken und dreht sich zu Grün herum.
Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme in bequemer Haltung vor der Brust und warte darauf, dass der Kriminalkommissar mit Weltraumfaible seinem Chef die Welt der Sterne erklärt.
„Das ist die Maske von Gouverneur Dark!“, kommt es fassungslos über so viel Unwissenheit von besagtem Kollegen.
„Hm?“, entgegnet dieser wenig überzeugt.
Heldt sieht mit gespieltem Entsetzten zu mir hinüber. „In einem fernen Universum... Vor langer Zeit?“ Erneut wendet er sich Grün zu und blickt ihm forschend – in der Hoffnung die Glocken der Erkenntnis in dessen Geist klingeln zu hören – ins Gesicht.
Erneut erntet er nichts als ein verwirrtes „Hm?“
„Weißer Schattenkrieger wird zu schwarzem Schattenkrieger, dessen Sohn Steve die einzige Rettung vor der ewigen Finsternis is...?“, führt Heldt mit einem Stoßseufzer aus.
Statt einer Antwort blickt Grün ahnungslos gerade aus zu mir.
„Herr Grün“, beschließe ich, Licht ins Dunkle zu bringen. „Gouverneur Dark ist eine Figur aus Shadows of the Galaxy.“ und ernte umgehend ein anerkennendes „Sie kennen die Filme“ von Heldt.
„Emily steht total drauf“, lasse ich die beiden Herren wissen, nicht ohne eine Spitze in Richtung Heldt hinzuzufügen: „Sie hat mit Stefan ...“ Ich ziehe die Augenbraue nach oben und mache eine Pause, um zu sehen, wie er reagiert. Heldt lächelt vorsichtig. „...jeden Teil geguckt“, ende ich schließlich und beobachte ihn weiter.
Heldt hat den Blick inzwischen gesenkt und scheint mit den unterschiedlichsten Emotionen in seinem Inneren zu kämpfen. Ich lächle ihn weiter unentwegt an, was ihn zu irritieren scheint, denn er schüttelt kurz drauf den Kopf und bewegt sich in die Richtung seines Chefs.
Während die beiden sich einen kurzen Schlagabtausch über Grüns Kino-Gewohnheiten liefern, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es irritiert Nikolas also, wenn ich von Emilys Vater spreche, der wieder mit mir zusammen ist. Interessant. Ellen, hör auf, dir Hoffnungen zu machen! Du bist vergeben und du bist glücklich, mit Emily, mit Stefan, mit deiner kleinen Familie.
„So, bitte meine Herren, jetzt lassen wir das und einer von Ihnen fährt bitte zur Sternenwarte und wird den Bruder des Opfers vernehmen“, gebe ich den beiden schließlich ihre Hausaufgaben und Grün und Heldt machen sich diskutierend darüber, wer von ihnen diesen verrückten Ort voller Weltraumfans aufsuchen darf, von dannen.
Ich bleibe sitzen und widme mich meinem Büro-Kaffee, der plötzlich so viel besser als der aus Stefans Vollautomat schmeckt.
Wenige Tage später ist es dem Team gelungen, den Brandstifter und Angreifer von Ralph und Rolf Licht zu schnappen. Das bedeutet auch, dass der kleine Junge und seine Mutter ihr Leben wieder wie gewohnt fortsetzen können. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich mit den beiden im Foyer stehe und ihnen diese guten Nachrichten mitteile.
Plötzlich ertönen seltsame Geräusche aus dem Büroflur, der zu Heldts und Korthals Gemeinschaftsbüro führt. Schwere Schritte folgen und gemeinsam mit einer großen Wolke staubt schwebt Nikolas Heldt als Gouverneur Dark in voller Montur mit schwarzem Mantel und Weltraumhelm in den Eingangsbereich hinein.
Mit lauten Atemgeräuschen kommt er vor dem Kleinen zum Stehen und hält seine behandschuhte Hand über dessen Kopf.
Die Mutter, die neben mir steht, legt gerührt eine Hand über ihre Brust.
Andächtig beginnt Heldt mit verzerrter Stimme zu sprechen: „Mein Sohn! Ich werde immer bei dir sein! Auch wenn ich da oben bei den Sternen bin.“
Die Frau neben mir schließt für einen Moment die Augen. Auch mich überkommt ein seltsames Gefühl des Verlustes, sogar meine Augen werden plötzlich feucht. Ist es die Erinnerung an die Vergangenheit, als ich auf einmal mit Emily auf mich allein gestellt war oder ist es die Rührung über die Emotionen in Heldts Worten, die seine Sätze in mir hervorrufen?
„Du musst jetzt auf deine Mutter aufpassen.“ Er übergibt dem Jungen feierlich eine Spielzeugwaffe von der Sternenwarte, die dieser ehrfürchtig nickend entgegen nimmt.
„Komm, wir gehen nach Hause“, sagt seine Mutter, greift seinen Arm und wendet sich zum Gehen.
Jetzt stehen Heldt und ich wieder alleine da. Ich atme tief durch, um meiner Gefühle wieder Herr zu werden. Doch ganz verbergen kann ich es nicht, dass Nikolas Worte etwas in mir ausgelöst haben. Er findet immer die richtigen Worte bei anderen, ist immer für sie da, nur bei mir scheitert er jedes Mal grandios aufs Neue. Ich sehe ihn an, wie er da in voller Weltraummontur vor mir steht. Auf einmal mache ich - ganz unterbewusst, aber eindeutig - einen Schritt auf ihn zu. Und dann noch einen. Ich überquere die Hälfte des Flurs, die noch zwischen uns lag und komme schließlich direkt vor ihm zum Stehen. Noch immer laufen einzelne Tränen mein Gesicht hinab, als ich Mutter und Kind hinterhersehe. „Glauben Sie, sie haben ihn damit erreicht?“, frage ich mit tränenerstickter Stimme und wende den Kopf ab, damit er nicht sieht, dass er mich erreicht hat.
Heldt nimmt seine Kopfbedeckung ab und sieht mich forschend an. Seine braunen Locken sind ein wenig plattgedrückt, trotzdem kann ich nicht leugnen, dass mir bei seinem Anblick jedes Mal aufs Neue die Knie schwach werden. Er betrachtet mich eindringlich, der Ausdruck in seinen großen braunen Augen wird mit einem Mal ganz sanft. „ Bei Ihnen hat’s ja schon mal funktioniert.“
„Wenn das so einfach wär...“, erwidere ich schwach und sehe ihn unentwegt an, während er beginnt, die unterschiedlichen Taschen des Anzugs zu durchsuchen.
„Vielleicht ja damit“
Er zückt ein seltsames silbernes Gerät aus dem Inneren seiner schwarzen Jacke das auf den ersten Blick unter Betrachtung im richtigen Kontext wie der Knauf eines Lichtsschwertes aussieht, jedoch auf den zweiten Blick auch etwas darstellen könnte, was „frau“ lieber diskret in ihrer Nachttischschublade aufbewahren würde. Ich verfluche mich für den zweiten Gedanken, muss aber dennoch kurz kichern – bin ich mir doch ziemlich sicher, dass Nikolas... Das Heldt mich damit auf die eine oder andere Weise erreichen könnte.
„Hm?“ Heldt schwenkt das silberne Teil vor meinen Augen herum.
Ich beschließe, meine Fantasien Fantasien sein zu lassen und mich von ihm zu verabschieden. „Sie werden nie erwachsen, Heldt“, antworte ich, lächle ihm zu und lasse ihn dort mit seinem Spielzeuganzug stehen, während ich wieder nach oben gehe. Doch der Gedanke an unser Gespräch zaubert noch den ganzen Tag über ein Lächeln in mein Gesicht, wenn ich in meinen Tagträumen über Nikolas mal wieder darauf zurückkomme.
„Ich such den...“, ertönt unten im Foyer eine vertraute Stimme, die ich lange nicht gehört habe. Ist er wirklich wieder da?
Schnell eile ich, mit Robe überm Arm und Gesetzeskommentar in der Hand, die Treppe hinunter. „Herr Funke“, spreche ich Heldts lange vermissten alten Freund ungläubig an. Eigentlich müsste ich nun zu Gericht, aber für ein kurzes Gespräch habe ich sicher noch ein paar Minuten Zeit. „Wie schön, Sie sind wieder da“, begrüße ich ihn herzlich.
Er fährt zu mir herum und erwidert lächelnd: „Ja, seit gestern.“ Überrascht, aber definitiv auf eine gute Art und Weise, sieht er mir ins Gesicht. „Hallo, Frau Bannenberg.“
„Hm?“ Ich deute auf die Sitzgruppe vor der Treppe die hoch zur Staatsanwaltschaft geht. Er nickt und folgt mir zu den grauen Metallstühlen. „Wie geht es Ihnen?“, frage ich neugierig, während wir uns setzen.
„Gut.“ Einen Moment lang ist er still und sieht mich nachdenklich an. „Wieder gut. Die Zeit heilt alle Wunden.“
Ich lächle kühl. „Tut sie nicht.“ Die Worte kommen schroffer aus meinem Mund, als ich es eigentlich beabsichtig hatte, jedoch nicht annähernd so hart, wie sie in meinem Kopf geklungen haben. Widerstrebend nehme ich wahr, dass meine Augen feucht werden.
Nachdem Herr Funke mich verwundert gemustert hat, sieht er sich ein wenig verloren in der neuen Eingangshalle um.
Ich folge seinem Blick und sehe nach oben an die Decke, gebe meinen Augen etwas Zeit, um zu trocknen und bemerke dann: „Tja, in der Zwischenzeit hat sich hier einiges verändert.“
„Allerdings.“ Er schmunzelt. „Können Sie mir sagen, wo ich Nikolas finde?“
Gute Frage, das weiß ich selbst nicht. „Soweit ich weiß, ist er nicht im Büro“, gebe ich bedauernd, dass ich ihm nicht weiterhelfen kann, von mir.
„Zu mindestens eine Sache, die sich nicht geändert hat“, merkt unser Lieblingsbarbesitzer trocken an. Ich nicke schmunzelnd. Wir teilen einen kostbaren Moment der Ausgelassenheit und ein ehrliches Lachen miteinander.
„Haben Sie denn schon Wiedersehen gefeiert?“, erkundige ich mich schließlich, nachdem die fröhliche Stimmung abgeebbt ist.
Herr Funke macht eine langsame verneinende Kopfbewegung „Nein, noch nicht.“ Er wartet einen kurzen Moment, sieht mich forschend an und spricht dann aus, was ihm wohl noch auf der Zunge gelegen hat: „Und Sie?“
Ich schlucke. Sammle mich. Entgegne ihm am Ende ohne jegliche Emotionsregung in der Stimme: „Wie ich schon sagte, es haben sich einige Dinge verändert.“
Wahnsinn, zwanzig Jahre ist Grün heute bei der Kripo Bochum! Und das gesamte Präsidium hat sich versammelt, um ihn gebührend zu feiern. Das gesamte Präsidium? Nein, ein besonders freches Individuum aus der Mitarbeiterschaft ließ zuerst ewig auf sich warten und ist allem Anschein nach nur gekommen, um sich an den Fressalien gütlich zu tun.
Heldt steht schon wieder am Buffet und holt sich nun schon zum dritten oder vierten Mal einen von diesen gemischten Spießen. Wie so oft frage ich mich, wie so viel Essen in ihn reinpasst und er immer noch aussieht, wie er nunmal aussieht. Leicht trainiert, schlank, groß, breite Schultern, eben alles, was ich an einem Mann körperlich attraktiv finde. Wie kann er trotzdem so viel verschlingen, ohne dass er aus allen Nähten zu platzen droht, wie es wahrscheinlich bei mir der Fall wäre? Trotzdem gönne ich mir zur Feier des Tages ein Stück Kuchen, wenn auch nur ein ganz kleines – immerhin hat Herrn Korthals Mutter ihn selbst gebacken und sie backt hervorragend.
Während der von Herrn Korthals bestellte Sänger, Rudi Rastlos mit einer eher mäßigen Vertonung des Liedes „Quando“ aufwartet und meine zwei Kollegen sich in höchstem Maße irritierte Blicke zuwerfen, bleibt mein Blick und meine gesamte Aufmerksamkeit an Heldt kleben, der nun mit einem Spieß in der Hand und einem ebenfalls schmerzverzerrten Gesichtsausdruck an unseren Stehtisch am Kopfende des Gemeinschaftsbüros, an dem normalerweise sein Schreibtisch steht, zurückkehrt. Ich blicke belustigt von meinem Kuchenstücke auf.
„Rudi talentlos träfe es wohl besser“, bemerkt Grün mit einem Seitenblick zu Heldt und Korthals.
Letzterer fühlt sich wohl persönlich angegriffen, denn er fängt umgehend damit an, sich zu verteidigen: „Ich kann das auch nicht verstehen!“ Er erhebt die Stimme, um den schrillen Gesang zu übertönen. „Seine Referenzen im Internet sind echt gut!“
Während Heldt seinen Ohrenschmerz mit Alkohol ertränkt, schlucke ich einen Bissen dieses köstlichen Kuchen hinunter und versuche, unseren Kollegen aufzumuntern: „Herr Korthals, machen Sie sich keinen Kopf, ich finde Sie haben hier was ganz Tolles für den Herrn Grün auf die Beine gestellt.“
Grün stimmt mir grinsend zu: „Ja in puncto Organisation eines Dienstjubiläum würde ich in ihr Zeugnis schreiben, er hat sich stets bemüht.“
Korthals lächelt selig. „Danke“
Heldt und ich tauschen einen dieser Blicke aus, die dafür sorgen, dass sich meine Nackenhärchen aufstellen, so tief gehen sie unter die Oberfläche.
Plötzlich wird Corti von einer der anwesenden Polizeimeisterinnen an der Hand genommen und von ihr an Heldt vorbei auf die Tanzfläche gezogen. Der schafft es gerade noch, sein Bier festzuhalten, doch was er dann tut, entzieht sich meinem Sichtfeld, das sich gerade vollkommen auf eine weitere Gabel dieses Gaumenschmauses fokussiert.
Während die meisten Gäste wirklich das Beste aus der grauenvollen musikalischen Untermalung machen und wild in Büro herumwirbeln, stoße ich mit Rotwein mit Grünen an. „Auf Sie!“, erhebe ich meine Stimme über das trällernde Quando von Rudi Rastlos.
Nikolas stößt mit Bier an und wiederholt meinen Toast, dann sieht er zu mir hinüber, stößt ebenfalls mit mir an und lässt mich, während ich das Weinglas an die Lippen setze und trinke, nicht aus den Augen.
Etwas neidisch beobachte ich währenddessen Korthals und seine Tanzpartnerin, wie sie gemeinsam schäkern und Drehungen vollführen, ehe ich mich wieder meinem Kuchen widme, der mein persönliches Highlight für diesen Tag zu sein scheint
„Frau Staatsanwältin?“
Ich sehe erschrocken auf und suizidiere mich fast mit der Kuchengabel in meinem Rachen. „Hm?“
Heldt macht eine Augenbewegung in Richtung Tanzfläche und untermalt seine Mimik mit einer verbalen Erpressung: „Und immer schön dran denken, was Sie in der Tanzschule gelernt haben!“
Bedauernd verabschiede ich mich vom Rest des Kuchenstückes auf meinem Teller und ziehe das dreizackige Mordwerkzeug aus meinem Mund, dann werfe ich meinem potentiellen Tanzpartner einen fragenden Blick zu.
„Ein Nein wäre extrem unhöflich!“, klärt Heldt mich auf und streckt seine linke Hand über den Tisch nach mir aus. Zuerst werfe ich unserem Jubilar einen flehenden Blick zu, doch dieser ist mir keine große Hilfe, ist er doch damit beschäftigt, sein Rotweinglas zu schwenken und geistesabwesend vor sich hinzulächeln. Schließlich greife ich zögernd nach Heldts Hand und lass mich von ihm zwischen die übrigen Tanzenden ziehen.
Immer noch kauend lege ich meine linke Hand auf seine Schulter, während sich seine rechte sanft an meine Taille schmiegt. Durch den leichten Stoff meiner schwarzen Bluse spüre ich die Wärme, die von seinen Fingern ausgeht, bei jeder noch so kleinen Bewegung überdeutlich. Während Heldt mich erst in einigem Abstand zu sich verspannt hin und her schwingt, lecke ich mir den Rest der Kuchenfüllung von den Lippen und weiß nicht recht, wohin mit meinen Blicken. Nach ein paar verkrampften Schritten löst sich unsere Verklemmung schließlich, auf Heldts Lippen erscheint sogar ein kleines Lächeln, als er nicht mehr auf unsere Füße und Tritte, sondern mir in die Augen schaut und meinen Blick festhält. Als wir gerade unseren Rhythmus gefunden zu haben scheinen, rempelt uns Korthals, der seine Partnerin etwas zu schwungvoll gedreht hat, Nikolas und mich von hinten an. Ich pralle etwas unsanft gegen Nikolas, ähm, ich meine natürlich Heldt, ich pralle etwas unsanft gegen Heldt.
Erschrocken dreht unser Kollege sich um. „Entschuldigung!“
Sofort legt Heldt den Arm um meinen Rücken, bewegt mich von der Gefahrenquelle weg und hält mich einen Moment lang fest.
Mein Gesicht ist so nah an seinem, dass ich seinen aufgeregten Atem auf meinen Lippen spüren kann. Ich gerate aus dem Takt.
Nikolas ist mir so nah, er hält mich so fest, doch es ist zu nah und zu fest, als dass ich seine körperliche Nähe in diesem Augenblick genießen könnte, noch dazu vor allen Kollegen, was sollen denn die Leute denken!
Entschlossen lege ich eine Hand auf seine Lederjacke und drücke ihn ein Stück weit von mir weg. Einen kurzen Augenblick haben wir beide Gelegenheit uns zu sammeln, Heldt richtet seine Lederjacke, dann verschließen sich unsere Hände wieder und seine freie Hand kommt erneut knapp über meiner Hüfte zum Aufliegen. Ich ziehe scharf die Luft ein.
Nikolas scheint zu merken, wie schlecht es um meine Selbstbeherrschung steht und erlöst mich, indem er eine Drehung einläutet. Vollkommen überfordert davon, ihn anzufassen und überhaupt, ihn so nah bei mir zu haben, überlasse ich ihm die Führung. Als er mich zu sich zurück dirigiert, pralle ich für einen kurzen Moment mit dem Rücken gegen seine Brust. Ich lächle, als mich daraufhin ein wohliger Schauer erfasst. Mein Gott, was für eine Wirkung er auf mich hat, es ist beinahe beängstigend wie stark mein Körper auf ihn reagiert.
Doch anstatt mich wieder umzudrehen und von sich wegzubewegen, legt Nikolas seine linke Hand, die von meiner linken überdeckt ist, auf meinen Oberköper, knapp unter meiner Brust und zieht mich an sich heran. Ich kann seine Nase an meinem Nacken spüren, nehme überdeutlich wahr, wie er meinen Geruch einatmet und leise aufseufzt.
Was tut er nur mit mir? Warum reagiere ich so sensibel auf seine körperliche Nähe, warum wünsche ich mir, alles um ihn herum zu vergessen und verbiete mir gleichzeitig, mich ihm zu sehr hinzugeben? Was ist Nikolas für mich? Ein Kollege, nur ein guter Kollege, ein Bekannter, nur ein entfernter Bekannter oder mehr? Ist er ein Freund, ist er der, den ich immer gesucht habe, der, der mir das Gefühl gibt, angekommen zu sein? Endgültig angekommen zu sein? Mein Lächeln verwandelt sich in ein trauriges Gesicht.
Nikolas lässt unsere Hände wieder sinken und wartet darauf, dass ich mich wieder in die Ausgangsstellung begebe.
Ich tue ihm den Gefallen, wenn auch äußerst widerwillig. Zu schön war das Gefühl, mich an ihm anlehnen zu können, mich einfach fallen lassen zu können, ganz leicht in ihn zu sinken, während er mich von hinten umarmt hat.
Wir tanzen locker weiter, doch die Stimmung ist eine andere, sie ist voller ungestillter Sehnsüchte. Der Wunsch in mir, ihn wieder so nah bei mir zu haben, wächst mit jedem Atemzug, in dem sich unsere Hände berühren, weiter an. Hat er das beabsichtigt? Vermisst er mich genau so sehr wie ich ihn insgeheim? Seit er weiß, dass ich vergeben bin, unterlässt er sämtliches Flirten und sämtliche dumme Sprüche in meine Richtung, aber vor ein paar Wochen gab es einen kurzen Moment zwischen uns, der mich meine begrabenen Hoffnungen wieder ausbuddeln ließ.
Es war lange nach Feierabend, diesmal war ich selbst mit dem Auto gefahren, weil Stefan in letzter Zeit jede freie Minute in die Eröffnung seiner Kulturkantine steckt. Nikolas und ich hatten uns scheinbar zeitgleich entschlossen, unsere Überstunden an einem anderen Tag weiter zu sammeln und waren gemeinsam auf dem Weg zu unseren Autos. Kurz, bevor wir sie jedoch erreicht hatten, legte Nikolas – quasi im Vorbeigehen – seine Hand auf meinen Unterarm und fragte mich, ob es mir gut gehe, ich mache in letzter Zeit ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Ich hatte tatsächlich eine harte Woche hinter mir, gezeichnet von Emilys Schulstress und Stefans fehlender Organisation, nichts bekam er mehr auf die Reihe, ständig rief Emily mich an und fragte mich, ob ich sie von A nach B fahren könne, da Papa nicht zu erreichen war. So langsam aber sicher drohte unser Experiment „Wir sind eine Familie“ zu scheitern. So hoch ich es Nikolas insgeheim anrechnete, dass er sich Sorgen um mich machte und dass ihm diese kleinen Veränderungen in meinem Verhalten (gereizte Stimmung, genervtes Augenrollen, Ungeduld, notdürftig überschminkte Augenringe) aufgefallen waren, so vehement bestritt ich auch das Vorhandensein all dieser Anzeichen und versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Dass ich ihn vermisste, mehr als ich es mir eingestehen konnte, erfuhr er an diesem Abend selbstverständlich nicht, trotzdem war es für mich seit diesem Parkplatz-Gespräch praktisch nicht mehr zu leugnen.
Endlich verstummt Rudi Rastlos, Heldt, Korthals und ich kehren zu Herrn Grün an unseren Stehtisch zurück, an dem sich mittlerweile auch Frau Dr. Holle mit einer Runde Reagenzgläsern eingefunden hat, die sie nun „Mit den besten Empfehlungen von der KTU“ an das Team verteilt.
„Was ist das?“, frage ich neugierig.
„Nie Fragen, immer exen!“, antwortet Heldt schlagfertig.
Wir stoßen alle zusammen an und kippen den Inhalt der Reagenzgläser in einem Zug runter.
Sobald ich das Zeug geschluckt habe, brennt mein Rachen wie Feuer. Scheinbar vertrage ich Hannahs selbstgebrauten Schnaps nicht so gut wie den Kuchen von Herrn Korthals Mutter. Ich verziehe das Gesicht und spüle mit einem Schluck von Grüns leckerem Rotwein nach, während Heldt mich schief anlächelt.
Eigentlich müsste Stefan jeden Moment hier auftauchen, um mich abzuholen, zumindest hat er mir heute Morgen versprochen, diesmal pünktlich zu sein. Heldt scheint mir meine innere Unruhe anzusehen, denn er stellt sein halbleeres Bier, an dem er sich mindestens den halben Abend lang festgeklammert hat, zur Seite und tritt neben mich. „Na, wollen Sie uns schon verlassen?“, fragt er und zieht eine Schnute.
„Von Wollen kann keine Rede sein, Heldt!“, verbessere ich ihn und verfluche mich im nächsten Moment selbst für meine nicht zu beneidende Fähigkeit, mich durch den Konsum von ausreichend Rotwein in einen Zustand zu versetzen, in dem ich eine kleinen Flirt mit Heldt durchaus nicht abgeneigt wäre.
„Warum tun Sie's dann?“, fragt er fast schon vorwurfsvoll.
„Weil ich eine Tochter zuhause habe, die auf ihre Mutter wartet vielleicht?“, gebe ich zu bedenken.
„Achso, klar... Aber Sie fahren doch wohl nicht mehr selber nach dem, was wir heut alles in uns reingekippt haben, um diesen Rudi Rastlos zu ertragen, oder?“ Er macht einen Schritt auf mich zu, steht so dicht neben mir, dass jeder, der uns von weitem sieht, uns für ein Paar halten würde.
„Nein, nein, ich werde abgeholt.“ Wieder pendelt mein Blick zwischen Heldt und der Uhr hin und her. „Und zwar genau in ...“
„Ich bring Sie raus, ich brauch dringend ein bisschen frische Luft und etwas Ruhe kann meinen Ohren auch nicht schaden, was?“, unterbricht Heldt mich mit seinem spontanen Einfall.
„Ähm...“, versuche ich noch zu widersprechen, doch mir fällt kein triftiger Grund ein, weshalb Heldt mich nicht begleiten sollte. Immerhin will er nur diesem Lärm hier drinnen entkommen und einen Moment frische Luft schnappen. Heldt hilft mir in die Jacke, ich verabschiede mich von der Runde und folge meinem die Tür für mich aufhaltenden Gentleman nach draußen.
Im Flur beginne ich - Grüns exzellentem Rotwein sei Dank - ein wenig zu schwanken, weshalb Nikolas sich einen Schritt hinter mich zurückfallen lässt und ich wenige Sekunden später seine Hände rechts und links an meinen Oberarme spüre. Kurz vor der kleinen Treppe bleibe ich stehen und er mit mir. Die Stellen an meinem Arm, die seine Finger festgehalten haben, noch immer sanft berühren, glühen förmlich. Ich blicke zu ihm hoch.
Nikolas erwidert meinen Blick fragend. „Ellen...“, nuschelt er leise, während ich mich ganz unbewusst in seine Richtung lehne.
Was zur Hölle tue ich hier? Ich fühle mich benebelt, losgelöst, ein wenig betrunken, doch noch auf die angenehme Art und Weise, die einen redselig oder gefühlsduselig macht, je nachdem.
Nikolas scheint im Gegensatz zu mir stocknüchtern zu sein - Kein Wunder, wenn der Kerl sich auch den ganzen Abend über an eine Flasche Bier klammert und mit seinen Fressereien zuvor eine ordentliche Grundlage geschaffen hat, während ich, von dem Stück Kuchen mal abgesehen, den Wein auf fast leeren Magen getrunken habe.
„Ellen?“, wiederholt Nikolas sich fragend.
„Mhm?“
„Geht es Ihnen gut?“ Er legt eine Hand auf meine Schulter.
„Ja, sicher doch, ich hab heute nur zu viel getrunken und zu wenig gegessen...“, fertige ihn ab und will mich wieder in Bewegung setzen, die kurzen Treppenstufen hinunter zum Foyer, aber Nikolas greift nach meinem Arm und hält mich zurück. „Vorsicht!“ Ich spüre seine Blicke auf meinem Körper. „Ich glaub, ich geh lieber vor.“
Ich nicke, was bleibt mir auch anderes übrig, und lasse mich von ihm die wenigen Stufen hinunter führen.
„Danke“, murmle ich, als er mir die Eingangstür aufhält und mich als Erste hindurchgehen lässt.
„Ich hab eigentlich nicht den Alkohol gemeint“, spricht er mich erneut an, als wir unter dem Vordach stehen und zum Parkplatz blicken.
Natürlich ist Stefan wieder zu spät. Aber anstatt mich darüber aufzuregen bin ich in diesem Moment eher dankbar dafür, noch ein paar Minuten mit Nikolas alleine zu sein. Ich erinnere mich nicht an seine Frage und sehe ihn verwirrt an. „Von was dann, Heldt?“
„Vorhin, als wir getanzt haben...“ Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. „Da haben Sie ‘ne Miene gemacht, als wäre ich Ihnen die ganze Zeit auf Ihre schicken Schuhe getreten.“
„Hm... ach, hab ich das?“, gebe ich konfus zurück. Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, welchen Gesichtsausdruck ich bei unserem gemeinsamen Tanz aufgesetzt habe. Alles, woran mein berauschtes Gehirn gerade denkt, sind Nikolas‘ Hände auf meiner Taille, ist die Wärme, die seine schlichten Berührungen in mir hervorgerufen haben. Und der Moment, in dem er unsere Hände auf meinen Brustkorb gelegt hat und mich von hinten an seinen Oberkörper gedrückt hat. Ich schließe die Augen und kann uns wieder bildlich vor mir sehen.
Er lächelt und legt den Kopf schief. „Ja. Haben Sie. Ganz im Gegensatz zu jetzt.“
„Tja, was so ein bisschen Alkohol und frische Luft nicht alles bewirken kann, was?“, gebe ich flapsig zurück und lehne mich ganz nebenbei an ihn an. Zu meiner Zufriedenheit legt Heldt seine Hand erneut auf meine Schulter, wenn auch diesmal nur für einen kurzen Moment.
„Aber so schlimm scheint es ja nicht gewesen sein. Ich dachte nur, Sie...“
In diesem Moment blinken die Scheinwerfer eines Auto auf, kurz darauf fährt Stefan in die Einfahrt des Präsidiums und kommt kurz vor der Überdachung zum Stehen.
Abrupt lässt Heldt mich wieder los. „Frau Staatsanwältin?“ Er hebt die Hand zur Verabschiedung.
„Also dann... bis morgen, Herr Heldt!“, sage ich mit leisem Bedauern, nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen zu können und mache mich auf wackeligen Beinen daran, die wenigen Meter bis zu Stefan zurück zu legen.
Hallo Schatz!“ Er steigt aus und kommt lächelnd auf mich zu. Ich lächle nicht, ich versuche viel zu angestrengt, meine Gedanken nicht mehr um Nikolas Heldt kreisen zu lassen.
Nachdem er mich um den Wagen herumgeführt hat, hilft Stefan mir, mich auf den Beifahrersitz zu setzen. „Scheint ja ‘ne feucht-fröhliche Veranstaltung gewesen zu sein, diese Party von eurem Hauptkommissar“, bemerkt er, nachdem auch er wieder neben mir Platz genommen hat und legt seine Hand an mein Kinn.
Bevor er mir einen Begrüßungskuss geben kann, drehe ich mich weg und schnalle mich an.
„Hey, ist was?“
„Nein, ist alles in Ordnung, ich hab nur ‘ne furchtbare Fahne.“
Er lässt mich nicht los. „Das stört mich doch nicht, Ellen.“
„Mich aber, Stefan!“, protestiere ich und schiebe ihn unsanft von mir weg. „Kannst du bitte einfach nach Hause fahren?“
Stegan sieht mich verletzt an, guckt nach draußen und lässt schließlich den Motor an.
Zuhause liege ich lange neben ihm wach. Ich habe keine Ahnung, was mit mir in letzter Zeit los ist, ich verspüre einfach keinerlei sexuelle Anziehung mehr zu dem Mann, der neben mir im Bett liegt und endlich eingeschlafen ist, nachdem er mich nochmal überreden wollte, ich mich aber standhaft geweigert habe, es mit ihm zu tun. Nicht mit meinen Kopfschmerzen und nicht nach diesem Alkoholkonsum. Und auch sonst könnte ich in Zukunft sehr gut darauf verzichten, mit ihm intim zu sein.
In dieser Nacht träume ich schlecht, ich träume, dass ich mit meinem Kollegen Heldt in diesem weichen großen altmodischen Bett liege, das wir uns bei unserem Undercover-Einsatz geteilt haben. Dass wir uns Gute Nacht sagen wie damals, aber dass dann keiner von uns schlafen kann und wir irgendwann merken, wie unsere Hände ganz von selbst zum anderen finden. Ich beginne im Traum schneller zu atmen, als Nikolas seine Finger unter mein weißes Seidenoberteil schiebt und über meinen Rücken auf Wanderschaft schickt. Während ich mich enger an ihn heran dränge, und ihm sein Shirt mit der passenden Aufschrift "Break the Rules" gar nicht schnell genug über den Kopf ziehen kann, finden sich unsere Lippen. Dieser Kuss ist in meinem Traum alles andere als dienstlich begründet und er ist um 100 Grad heißer als unser - sich tatsächlich so ereignetes - Lippenbekenntnis tags darauf im Pool unter der fachkundigen Anleitung des Paartherapeuten Martin Walden, das Heldt dann doch recht schnell mit den Worten „Jetzt bringen wir endlich diesen ver.. verdammten Fall zu Ende“, abgewürgt hat.
In meiner Fantasie können Nikolas und ich jedoch sehr schnell nicht mehr genug voneinander kriegen, Decken und Kleider fliegen im Sekundentakt vom Bett auf den Fußboden. Gerade, als Nikolas meine Handgelenke auf die Matratze drückt und seine Finger langsam darüber gleiten lässt, ehe er sie ekstatisch in meine schiebt und sich mit einer kleinen Kopfbewegung fragend vergewissert, ob ich das, was wir nun tun werden, wirklich will, und ich mit einem gehauchten „Nikolas, ja“ antworte, geht die Tür zu unserem Zimmer auf und Stefan steht mitten in der Nacht darin.
Tags darauf ist das feucht-fröhliche Dienstjubiläum von Herrn Grün Geschichte, der dort auftretende Sänger Rudi Rastlos leider auch. Herrn Korthals aber habe ich aus einem anderen Grund auf ein Wort zu mir ins Büro gebeten, um sicher gehen zu können, dass Heldt nicht plötzlich reinschneit und mitbekommt, worum ich seinen Kollegen bitte. Das könnte nämlich einen ganz falschen Eindruck erwecken.
„Herr Korthals!“ Ich sehe den Profi im Recherchieren eindringlich an. „Ich brauche jede Information, die sie über Sarah Kern – die Tochter unseres Opfers – bekommen können.“
„Ja, Frau Bannenberg“, antwortet er mir ergeben.
„Danke...“ Ich atme erleichtert durch. Auf Korthals und seine Diskretion ist für gewöhnlich Verlass. „Und kein Wort zu Heldt“, bitte ich ihn nachdrücklich. Schlimm genug, dass Heldt mir bei jeder Teambesprechung erneut unter die Nase reiben muss, dass Sarah und er sich duzen und sie wollte, dass er die Nacht über auf sie aufpasst.
„Okay“, sagt er leicht verwundert und geht wieder.
„Tschüüüß!“ rufe ich Sarah Kern erfreut, dass die Tochter von „Rudi Rastlos“ Nikolas soeben eine Abfuhr erteilt hat, hinterher.
Heldt bleibt unterdessen stehen und zieht etwas aus seiner Jackentasche hervor.
„Tja, das hat ja wohl leider nicht geklappt mit dieser Sarah", säusele ich mit gespieltem Bedauern, während ich um ihn herum auf die windgeschütztere Seite des Vordachs stöckele.
„Ja, so kann’s gehen...“, murmelt er wenig getroffen, während er einen schwarzen Kabelsalat, der anscheinend zu seinen In-Ear-Kopfhörern gehört, entwirrt.
„Mhm...“, stimme ich ihm, vollstes Mitgefühl und Mitleid für Heldt vortäuschend, zu, bevor ich anmerke: „Aber so wirklich unglücklich sehen Sie auch gar nicht aus, ich glaub, so richtig, wollten Sie’s gar nicht.“
Ich drehe den Kopf zu ihm und blicke ihm für den Bruchteil einer Sekunde zu lang in die Augen. Mist, Mist, Mist! Aber eigentlich ist es ja auch egal, schließlich stehen wir alleine vor dem Präsidium. Sein Gespräch mit Sarah Kern und unser Geplänkel gerade eben hat sich so sehr in die Länge gezogen, dass wir beide die einzigen sind, die noch hier sind.
„Hätt’s Ihnen denn was ausgemacht?“, fragt Nikolas mich plötzlich salopp, während er mich mit seinem neugierig und irgendwie auch provokanten Blick festhält.
„Hmm... Da muss ich Sie leider enttäuschen, Herr Heldt, ich war wirklich zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise eifersüchtig“, flöte ich scheinheilig vor mich hin, doch ich kann nicht anders, als wieder einmal vollkommen in seinen ewig braunen Augen zu versinken. Mein Gott ist das peinlich. Als die Sache mit dem Tresor angefangen hat und Nikolas nicht aufhören konnte, von dieser Sarah zu reden, habe ich es nicht lassen können und doch tatsächlich den Kollegen Korthals auf Frau Kern angesetzt, natürlich unter einer strengen Verschwiegenheitsvereinbarung, dass er Heldt nichts erzählt.
Ich fahre erschrocken aus meinen peinlichen Erinnerungen hoch, als dieser mich nun trocken auf meine eigene Beziehung hinweist. „Stefan wartet.“
Ist er derjenige, der eifersüchtig ist? Bin ich diejenige, die fremdflirtet? Ist das, was ich tue und fühle nicht total unfair Stefan gegenüber? Natürlich ist es das, schreit mich die gemeine kleine Stimme, die sich auch Gewissen nennt an. Aber ich kann nicht anders, ich merke immer mehr, wie ich immer noch Besitzansprüche auf einen Mann erhebe, der mich vor einer halben Ewigkeit geküsst hat und mich anschließend versetzt hat und untergetaucht ist. Es tat lange Zeit weh, aber in diesem Augenblick steht er wieder vor mir, so unerlaubt nah vor mir und da ist mir die Vergangenheit herzlich egal, mein Herz klopft trotzdem viel zu schnell. Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, doch bevor ich nur ein Wort herausbringe, winkt Heldt ab.
„Mir bleibt immer noch Bochum.“ Damit setzt er die Kopfhörer ein, er zieht beschwingt von dannen und lässt mich verliebt grinsend vor dem Eingang des Polizeipräsidiums stehen.
Moment, ich grinse verliebt? Scheiße, das sollte ich sofort lassen, denn Stefan wartet ja tatsächlich auf mich.
Als ich über den Parkplatz laufe und zu ihm ins Auto steige, geben wir uns auch diesmal keinen Begrüßungskuss.
„Ellen?“, fragt er stattdessen misstrauisch. „Was läuft da?“
„Nichts“, murmle ich und wende den Blick ab und sehe Heldt nach, wie er in seinem roten Mercedes davon fährt.
„Wohin man sieht, nichts als Akten.“ Heldt stöhnt „Und Papiere. Ich muss in der Hölle sein.“
Ich stehe weniger als einen Meter entfernt von ihm und starre ebenfalls auf die mächtigen Regale des Archivs, die sich bedrohlich vor uns auftürmen „Ach, deshalb haben Sie mich hierher bestellt, damit wir hier gemeinsam schmoren!“
Heldt sieht mich von der Seite an und grinst. „Verlockender Gedanke...“
Ich schlucke. Ich sollte wirklich aufhören, mit ihm zu flirten. Aber ich kann nicht, es passiert beinahe automatisch, wenn wir alleine sind und es macht zu viel Spaß, sich zumindest verbal mit ihm zu kabbeln.
„Aber Hörner würden Ihnen nicht so gut stehen glaube ich“, murmelt er und wirft mir ebenfalls einen eindeutigen Blick zu.
Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und seufze. Er wird nun garantiert noch etwas sagen, das man auch ganz anders interpretieren könnte, wenn man nur wollte.
„Obwohl...“ Bevor ich noch denken könnte, dass er definitiv die Grenze zum Flirten überschritten hat, verstummt er.
„Naja“, sage ich und drehe mich nun vollständig zu ihm um. „Ich würde sie ja manchmal ganz gerne zum Teufel jagen...“ Es ist ein Spiel mit dem Feuer, aber ich kann nicht anders, ich muss einen Schritt auf ihn zu machen. „Aber das wissen Sie ja!“
Heldt tut es mir gleich, unsere Gesichter rücken noch näher aneinander heran.
Für wenige Augenblicke steigt die Raumtemperatur meinem Gefühl nach tatsächlich auf eine höllische Hitze an und ich muss mich zusammen reißen, um mich so lässig wie möglich wieder von meinem Kollegen abzuwenden. Denn nichts anderes ist Heldt. Er ist nur ein Kollege. Gut, vielleicht ist er mittlerweile sogar schon wieder ein guter Kollege, aber vorrangig ist er eben Arbeit, nicht Privatleben. Und ich werde den Teufel tun, die zaghaften Verstrickungen, die aus unserer Vergangenheit noch übrig sind, auch noch zu befeuern. Er hat seine Chance gehabt und er hat es vergeigt.
„Ja...“, erwidert Heldt überflüssigerweise auf meine rein rhetorische Frage, dann geht er vor zu den Aktenschränken.
„Wir suchen einen Fall aus dem Jahre 78, März 78, um genau zu sein“, eröffnet er mir unsere Aufgabe, dann nimmt er sich das linke Regal vor, mir bleibt das rechte.
Ich gehe leicht in die Knie und durchforste die Ablage. „Hier ist März August-September, 61.“
„Können Sie eigentlich stricken?“, kommt es plötzlich überraschend aus der anderen Ecke des Archivs.
Ich dachte, Heldt liest Aktendeckel. „Warum, haben Sie Angst dass Ihnen in der Hölle kalt wird?“, gehe ich spielerisch auf seine zusammenhangslose Frage ein. Erst im nächsten Augenblick kommt mir der Gedanke, dass er meinen Satz auch als Flirtversuch deuten könnte. Mist. Mist. Mist, warum ist es auch so leicht, sich immer wieder im scheinbar unverfänglichen Geplänkel mit ihm zu verlieren?
„Sie meinen, weil ich so viel heißer bin als die Hölle?“, nutzt er meine Steilvorlage postwendend. Wir fangen beide an zu kichern.
Doch dann redet Heldt, statt noch einen draufzusetzen über das Problem meiner Tochter mit dem Schal. Emily muss ihm wohl oben im Foyer über den Weg gelaufen sein.
„Tja die Süße muss eben lernen, dass man im Leben manchmal Dinge tun muss, auch wenn man gar keine Lust dazu hat.“
„Aber jetzt mal ehrlich, stricken?“ Als Heldt um das Regal herumschleicht und auf mich zusteuert, kann ich erkennen, was ich mir gerade eben nur gedacht habe. Er verdreht die Augen, dann sieht er mich grinsend an. Seit wir miteinander getanzt haben, flirtet er wieder viel offensiver mit mir, aber nie so direkt, dass ich ihn darauf ansprechen könnte. Er weiß, dass Stefan in meinem Leben existiert, doch ich glaube, er weiß auch, dass unser Kapitel noch nicht abgeschlossen ist.
„Ja dass die das nicht verstehen, war mir klar“, entgegne ich ironisch und suche das Regal weiter nach dem Karton aus dem Jahre 1978 ab. Kurze Zeit später wird mein akribisches Durcharbeiten jeder einzelnen Pappschachtel belohnt. „Hier! März 78!“ Nehme den Karton aus der Ablage und pustet Staub herunter.
Heldt stellt sich schräg hinter mich, stützt den Karton und hilft mir dabei, den Deckel abzuheben und fischt die gesuchte Akte heraus. Er klappt die erste Seite auf und hält sie so, dass auch ich hineingucken kann, vor uns.
Ich lasse meine Arme sinken und beginne deren Inhalt zu lesen. Doch ich kann mich hier direkt neben Heldt stehend einfach nicht konzentrieren. Immer mal wieder blicke ich kurz zu ihm hoch und registriere zufrieden, wie auch er mich immer wieder aus den Augenwinkeln heraus mustert. So wird das aber nichts, wir sollten schleunigst wieder ans Tageslicht zurückkehren.
Oberstaatsanwalt Böger hat leicht säuerlich die Pressekonferenz abgesagt, mein Team und ich stecken wieder ganz am Anfang fest und verfolgen verzweifelt jede Spur, die sich auch nur als irgendwie lohnenswert herausstellt. Jede Spur bedeutet in unserem Fall auch, Heldts Einfällen zuzuhören und zu beten, dass unsere Super-Spürnase mal wieder den richtigen Riecher hatte.
Ich glaube es nicht, dass wir tatsächlich vor Heldts Rentner-WG in seinem roten Mercedes sitzen, während Herr Grün im Blaumann als Undercover Handwerker die kaputte Spülung im Haus überprüfen soll und sich sodann sehr verdächtig nach Beweisen umsehen soll. Herr Grün in Arbeitskleidung zu sehen ist schon abstrus genug, aber der Gedanke, wie er auf dem Toilettenboden des heruntergekommenen Hauses, in dem die beiden Rentner leben, herumkriecht, verursacht bei mir Bilder im Kopf, die dort nicht hingehören.
Ich schüttele mich, dann lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die alte Akte auf meinem Schoß.
Heldt, der Comics lesend neben mir sitzt, hält dankenswerterweise die Klappe, anstatt herauszukehren, dass er es ja gleich gewusst hätte. Nein, er ist ausnahmsweise tatsächlich einmal still. Ich blicke verstohlen zu ihm hinüber. In diesem Moment lässt er sein Heft sinken und sieht sehnsüchtig zu mir hinüber. Ich lächle leicht, wende mich dann aber ab und fixiere den Hauseingang. Es fällt mir unsagbar schwer, hier stillschweigend neben Nikolas zu sitzen, gibt es doch so viele Themen, die mit uns das Wageninnere ausfüllen, aber nie von uns angesprochen wurden. Und nun hängen sie wie Gewitterwolken zwischen den Sitzen und sind kurz davor, ihre Wassermassen auf uns zu entladen.
Auf einmal geht die Hintertür des Wagens auf und Grün klettert auf die Rückbank des Oldtimers. „Er hat mich erwischt und hinausgeworfen!“, verkündet er stolz.
„Wie geplant!“, erwidere ich erfreut und sehe Heldt an. „Und jetzt?“
Von ihm kommt nicht mehr als ein zufriedenes Grinsen. „... Warten wir...“
Drei Augenpaare richten sich auf den Eingang des Hauses und tatsächlich dauert es nicht lange, bis der sich der erste Bewohner des Hauses blicken lässt. Der alte Herr trägt einen sandfarbenen Rucksack und sieht sich verdächtig in alle Richtungen um. Schnell tauchen Grün hinter mir und Heldt neben mir – die beiden könnte er ja wiedererkennen – ab.
Ich dagegen darf oben bleiben, aber es fällt mir denkbar schwer, nicht zu Heldt hinunter zu schielen, der seinen Kopf auf meine Oberschenkel gelegt hat und – wie ich dank meiner Inkonsequenz, mir nichts anmerken zu lassen erkennen kann - entschuldigend zu mir hoch sieht. Seine Wärme lässt mich erschaudern. Nicht runter gucken, Ellen! Lass es! Ich verkneife mir ein Schmunzeln und schaue stur vor mich hin auf die Straße, bis der Rentner uns den Rücken zugekehrt hat und auf die Mülltonnen zuläuft. Dann stupse ich Heldt an der Schulter an. „Hey, los geht’s, hinterher, Sie Super-Cop!“ Er rappelt sich auf und streift mein Knie, als er sich wieder aufrichtet. Wir sehen uns einen kurzen Moment an, dann reißt Heldt die Autotür auf und stürmt aus dem Wagen.
„Also ich kann mir immer noch überhaupt nicht vorstellen, dass ein Rentner das alleine hingekriegt hat“, tue ich meine Verwunderung über den Ausgang des Roter-Pullover-Falles kund, während ich mit Heldt aus dem Präsidium laufe.
Heldt schlendert lässig neben mir her. „Ja, manche Männer sind eben echt vielseitig.“
„Mhm...“Wo will er denn jetzt schon wieder drauf hinaus?
„Gerade, wenn’s um Rache geht.“ Er pausiert.
Wir bleiben an seinem schief geparkten feuerroten Spielmobil stehen. Heldt wendet sich mir zu und bleibt stehen. „Oder um die Liebe...“ Nervös spielt er mit dem Autoschlüssel in seiner Hand herum.
Da ist er schon wieder, dieser verträumte Ausdruck in seinem Gesicht, der mich automatisch dazu bringt, mitzulächeln. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen wir einfach nur wortlos voreinander stehen, uns darüber bewusst sind, dass das für den Moment ausreichen muss und uns dennoch so angrinsen, als hätten wir heute Abend noch Pläne miteinander.
„Ähm... hm, ja...“, stammelt Heldt plötzlich nervös. Ihm ist die Komik seiner Aussage verbunden mit unserem Blickwechsel wohl gerade auch aufgefallen. „Hat Emily ihre Schulaufgabe schon gemacht?“, erkundigt er sich (Sicher wieder so ein typisches heldt‘sches Ablenkungsmanöver) nach dem Schalprojekt meiner Tochter, während er seinen Wagen aufsperrt.
„Pff, achwas,“ Amüsiert entsperre ich mein Auto mit der Funkfunktion meines Schlüssels. „Die weigert sich, die Stricknadeln auch nur anzufassen.“
Heldt öffnet die Beifahrertür des Oldtimers „Dann geben sie ihr doch den von mir!“, verkündet er stolz und zaubert die Lösung für Emilys Schulaufgabe hervor.
Mir bleibt die Spucke weg. Ich bin ehrlich beeindruckt und weiß gar nicht, was ich darauf erwidern soll, als Heldt mir den grünen Strickschal überreicht. „Haben Sie den...?“
Er nickt. „Mhm, und sagen ihr, wenn ich das schaffe, dann wird sie das ja wohl auch hinkriegen!“
„Das glaub ich ja nich!“, entfährt es mir und begutachte das Strickmuster genauer. Das ist wirklich sauber gearbeitet. Respekt Heldt!
Nur entfernt bekomme ich mit, wie ein Taxi direkt unter dem Vordach zum Stehen kommt. Dann springt Heldts Kumpel Herr Özer aus dem Fahrzeug und ruft aufgeregt: „Ey, ist das wahr, ihr habt roten Pullover geschnappt?“
„Ja, das haben wir!“, berichte ich enthusiastisch von der besten Nachricht der Woche, ehe mir die kleine rotbekleidete Actionfigur mit schwarzer Wollmütze über dem Kopf im Miniaturformal auffällt, die vorne hinter der Windschutzscheibe des Taxis sitzt.
Herrn Özer jedoch stimmt die Botschaft nicht so wirklich gut gelaunt. Missmutig flucht er: „So ein Scheiß – Da hat man einmal die Chance auf das Geschäft seines Lebens ...“
Verwirrt sehe ich zu Heldt hinüber.
Kopfschüttelnd zeigt er auf die Spielzeugfigur. „Sag bloß nicht, du hast schon ‘ne Containerladung von den Dingern bestellt?“
„Na, zum Glück nicht, wenn der Typ nicht mehr in der Zeitung steht, verkaufen sich die Dinger schlechter als Schalke-Trikots in Dortmund!“, beschwert sich der Taxifahrer und Spielzeughändler unseres Vertrauens und rauft sich die Haare.
Ich schlinge den Heldts Grünen Schal um den Hals und warte ab, was sich dessen Hersteller nun noch einfallen lassen wird, um das Geschäftsmodell seines Kumpels zu retten.
„Also den da würde ich dir abkaufen“, brummt Heldt schulterzuckend.
Ich kann nicht anders, als in lautes Lachen auszubrechen. Diese zwei Chaoten und ihre wunderbar herrlich erfrischende Freizeitgestaltung. Wieder einmal wird mir klar, warum Heldt und Özer beste Freunde sind.
„Oh, Heldt“, gebe ich seufzend von mir und schlängle mich zwischen den zwei Fahrzeugen vorbei. „Sie ändern sich auch nicht mehr, was?“
Am Morgen nach unserem Streit sitzen Stefan und ich gemeinsam mit unserer Tochter am Frühstückstisch.
Emily sieht immer wieder zögernd zwischen uns hin und her, während ich den Blickkontakt zu den anderen Familienmitgliedern größtenteils durch permanentes aus dem Fenstergucken oder auf-den-Teller-Gucken vermeide.
Genervt von der verfahrenen Situation beiße ich von meinem mit Gurkenscheiben belegten Vollkorn-Dinkelbrot ab und blicke wieder nach draußen.
Neben mir holt Emily tief Luft. „Habt ihr gestern wieder gestritten?“
Natürlich ist es dumm von uns zu glauben, Emily würde rein gar nichts von unseren tagtäglichen Auseinandersetzungen mitbekommen, dazu ist sie viel zu feinfühlig und emphatisch. Kinder merken es einfach immer, wie es ihren Eltern geht, da müssen wir uns gar nichts vormachen. Ich schlucke den Bissen, der mir noch im Mund steckt runter und sehe Stefan an. Er sagt ebenfalls nichts, sondern guckt zerknirscht an mir vorbei. Gut, dann bleibt es mal wieder an mir hängen, unserer Tochter zu erklären, dass wir nicht gestritten, sondern lediglich diskutiert haben.
„Na, da habt ihr wohl ziemlich laut diskutiert“, gibt Emily spitz zurück.
Ich verschanze mich hinter meiner Kaffeetasse und sehe Stefan an.
Er ringt mit sich und entschuldigt sich schließlich bei ihr. „Tut mir leid, Schatz, war ne ziemlich harte Woche.“
„Es ist Mittwoch, Papi.“ Ihre Stimme klingt traurig und viel erwachsener als es der Fall sein dürfte.
Stefan und ich tauschen traurige Blicke aus. Viel länger können wir unsere Streitereien nicht mehr vor ihr verheimlichen, was bringt es auch, sie weiter anzulügen? Wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen, ich beuge mich wieder über meinen Teller und Stefan blickt irritiert zur Seite. „Stimmt...“, brummt er, greift nach seinem auf der Tischkante liegenden Smartphone, checkt seinen Terminkalender und erklärt: „Da Kommt heute der Elektriker in die Galerie, ich muss los.“
„Sag mal, hatten wir nicht gesagt, eine Mahlzeit am Tag zusammen?“, werfe ich ihm vorwurfsvoll über den Tisch zu, als er sich gerade aufraffen und Emily und mich hier sitzen lassen will.
„Ja, du hast Recht“, gibt er unerwarteter Weise nach, doch ich kann ihm deutlich ansehen, wie viel Überwindung es ihn kostet, sich wieder hinzusetzen und zu bleiben. Stefan ist einfach nicht der fürsorgliche Familienvater, der er manchmal sein möchte und er wird diese Rolle auch nie ausfüllen. Mit einem falschen Lächeln in Emilys Richtung schiebt er seinen Stuhl zurück an den Tisch.
Ich leere – genervt von der ganzen Welt - meine Kaffeetasse, als plötzlich mein Mobiltelefon anfängt zu klingeln. „ Oh, das ist super wichtig, ich muss weg, Abendessen zusammen?“
Emily und ihr Vater verdrehen synchron die Augen. Ich gebe meiner Tochter einen Kuss, verabschiede mich mit einem schnellen „Tschöö!“ und berühre Stefan im Vorbeigehen flüchtig an der Schulter, dann eile ich ins Bad, ziehe mich um und fahre zum Präsidium. Heldt hat die IP-Adresse des Maskenrappers gecheckt und seine Wohnadresse herausgefunden.
„Offensichtlich hat er das mit mir und Quirin gewusst“, sagt Annette von Kampen gerade heraus, während sie sich in meinem Büro auf die Tischplatte des Besprechungstisches sieht. Wahrscheinlich begutachtet sie gerade die kleinen Kratzer, die Heldt dadurch verursacht hat, dass er den Kekse-Teller für die Gäste ständig hin und her schiebt, je nachdem, wo er gerade sitzt. Ihre Stimme hat einen kristallenen Klang, alles, was sie ausspricht, hört sich so unmissverständlich und eindeutig an, als wüsste sie genau, wer sie ist und was sie in ihrem Leben will.
So ganz anders als ich es im Moment tue. Will ich das mit Stefan? Ich weiß es nicht mehr. Doch ich bin jetzt nicht im Vernehmungsraum, um mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden, sondern, weil ich diese Frau vor mir befragen soll.
„Tja Kinder bekommen doch mehr mit als man denkt, besonders dann wenn man ihnen etwas vor ihnen verheimlichen möchte“, bringe ich ihr verständnisvoll entgegen.
Sie lächelt, dann sagt sie wieder mit dieser Stimme, für die das Leben so klar und leicht zu begreifen zu sein scheint: „Dann besteht die Ehe nur noch aus Streit und man trennt sich nicht, um das Kind zu schonen.“
„Ich glaube, dass es in vielen Beziehungen so“, gebe ich eine allgemeine Antwort, die eher ein Ausweichen als eine hilfreiche Bemerkung darstellt. Ist es in meiner Beziehung auch so? Wann haben Stefan und ich zuletzt einen friedlichen Tag hinter uns gebracht ohne Streit? Ich bin nur noch gut genug, um seine Rechnungen zu bezahlen und dafür zu sorgen, dass in seinem Kunst-Schuppen keine Verbrechen begangen werden. Verdammt, ich schaffe es heute einfach nicht, auf der beruflichen Ebene zu bleiben. Warum übertrage ich jedes ihrer Worte auf meine festgefahrene Situation zuhause, warum fühle ich mich von dieser fremden Frau mehr verstanden als von meinem Freund?
„Aber irgendwann kommt der Punkt, da ist das Kind groß und da darf man auch wieder mal an sich denken“, erzählt sie weiter.
Es steckt so viel Wahres in ihrem schlichten Satz, so viel, das ich zwar denke, aber niemals aussprechen würde, so viel, was ich schon eine Zeit lang mit mir herumtrage. Langsam kann ich nichts mehr dagegen tun, dass dieses Gespräch auf eine immer persönlicher werdende Ebene abrutscht, ich habe die Kontrolle über diese Befragung schon lange verloren. Alles, was ich noch tue – Fragen stelle ich schon lange keine mehr – ist, auf ihre Antworten, nein, auf ihren Monolog der inneren Befreiung zu reagieren. Innerlich zumindest. Denn nach außen hin darf ich mir nicht anmerken lassen, wie sehr mich ihre Worte zum Nachdenken bringen und wie dringend ich einen Urlaub bräuchte, um ganz alleine weg zu fahren, irgendwo hin zu fahren, bloß weg von all dem Ballast.
„Ich wollte das nicht wahrhaben, dass meine Ehe am Ende ist.“ Nach dieser Selbsterkenntnis pausiert sie und sieht mich lächelnd an. Habe ich eben unbewusst zurückgelächelt oder ihr zugenickt? Oder warum ergänzt sie mit einem kleinen Augenzwinkern, dass das wohl auch in vielen Beziehungen so sei? „Seit einiger Zeit denke ich immer öfter darüber nach, mich von meinem Mann zu trennen“, verrät sie mir und plötzlich hat die zuvor noch helle klare Stimme einen geheimnisvollen dunklen Klang.
„Wegen Straight-On?“, entfährt es mir, ehe mir bewusst wird, dass ich damit endlich mal wieder meinem Job nachkomme, nämlich eine Befragung von Frau von Kampen durchzuführen.
Sie nickt. „Da ist plötzlich jemand der passt eigentlich sogar zu dir und trotzdem weißt du, das ist der Richtige!“ Ich nicke ihr zu und lächle. Gedanklich bereite ich mich bereits auf die nächste Frage, die ich Frau von Kampen stellen möchte vor, doch bereits im nächsten Moment entgleiten mir die Zügel wieder, als ihre glasklare Stimme fragt: „Kennen Sie das?“
„Ich? Nein!“, gebe ich ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken von mir. Erst im Nachhinein, nachdem sie gegangen ist, wird mir klar, dass ich mit diesem Nein nicht nur meine Beziehungsprobleme mit Stefan leugne, sondern auch Nikolas Heldts permanente Existenz in meinen Gedanken.
Ich stehe vor dem offenen gusseisernen Tor einer Vorstadtvilla mit enormem Garten und im Vergleich ebenso großen Fenstern. Während ich auf Heldt warte, tippe ich ununterbrochen auf meinem Handy herum. Stefans Gezeter war groß, als ich ihm heute Abend eröffnet habe, dass ich noch arbeiten muss und nun kann ich mir seine Vorwürfe als Chat-Nachrichten durchlesen, einen nach dem anderen. Dass ich zu wenig für Emily da wäre, dass ich seine Bedürfnisse nicht mehr befriedigen würde, dass mir die Familie egal wäre, dass ich eine Affäre hätte.
Ich und eine Affäre, das ist so ungefähr das Letzte, was ich tun würde. Für mich stehen Loyalität, Treue und Vertrauen ganz oben auf meiner Prioritätenliste, anders als bei Stefan. Aber er schließt ja gern von sich auf andere. Der Streit der letzten Wochen wegen der unbezahlten Rechnungen und wegen dieses Rüpel-Rappers, den er bei der Ausstellungseröffnung in Emilys Anwesenheit hat auftreten lassen, ist noch lange nicht vergessen und schon bricht er den nächsten vom Zaun. Wie erstarrt stehe ich da und lese eine eingehende Message nach der anderen. Mit jeder weiteren muss ich härter kämpfen, um meine aufsteigende Wut hinunterzuschlucken. Eigentlich hätte ich dieses Teil längst wegpacken sollen. Entfernt höre ich, wie sich der rote Mercedes nähert und Heldt aussteigt
„Tach!“, begrüßt er mich gut gelaunt. Normalerweise mag ich das an ihm, seine Motivation, seine übersprudelnde gute Laune, dass er es schafft, uns alle (mal mehr, mal weniger) begeistert mitzureißen mit seinen Ideen, wenn wir mal wieder auf dem Trockenen liegen. Aber heute mag es nicht so richtig funktionieren, heute lasse ich mich nicht anstecken.
„Ah, Herr Heldt, auch schon da?“, entgegne ich ihm stattdessen leicht angenervt von diesem sinnlosen Handydiskurs, den ich da führe.
Heldt schlägt die Tür zu und kommt auf mich zugelaufen.
„Ist die Ringfahndung eingeleitet?“, frage ich ihn desinteressiert und tippe weiter auf meinem Smartphone herum. Ständig diese Streitereien mit Stefan. Er wirft mir vor, nur noch zu arbeiten und keine Zeit mehr für ihn zu finden. Ich werfe ihm vor, sich nicht richtig um Emily zu kümmern und ständig in dieser Kulturkantine abzuhängen. Er wirft mir vor, ihn emotional und körperlich nicht mehr an mich ranzulassen und ich werfe ihm vor, der Grund dafür zu sein, dass ich mich Nikolas Heldt emotional wie körperlich nicht so nähern kann, wie ich es gerne würde. Zumindest werfe ich es Stefan gedanklich vor. Tatsächlich kann ich seine Berührungen nicht mehr ertragen und ich erzähle ihm auch nicht mehr, was mich bewegt, weil es ihn nur verletzen würde. Annette von Kampen hatte Recht. Da ist plötzlich jemand, der passt eigentlich so gar nicht zu mir und trotzdem weiß ich, das ist der Richtige. Ob ich das kenne? Nur zu gut. Ich bitte Stefan, sich morgen ums Frühstück zu kümmern, weil ich mit zu einem Nachteinsatz kommen musste und hoffe, dass er es noch liest und mir rechtzeitig antwortet. Dann blicke ich kurz von meinem Handy auf.
„Ja, alle Straßen im Umkreis von drei Kilometern sind gesperrt. Da kommt nicht mal mehr ein Mäuschen durch geschweige denn ein Wagen“, versucht Heldt mich aufzumuntern. Wenn er das schon so probiert, muss ich wohl wirklich und wahrhaftig ein jämmerliches Bild an Selbstmitleid präsentieren. Aber ich sage nichts.
„Ist alles in Ordnung? Ist irgendwas passiert?“, fragte er nun ehrlich besorgt nach.
Ich sehe ihn beiläufig an. „Nein.“ Nichts, außer dass hier irgendeine Industrie-Fotografie gestohlen wurde, die wahrscheinlich zehnmal so viel wie Heldts Oldtimer kostet und ebenso gut in Stefans Galerie hängen könnte, würde er endlich mal seine Rechnungen bezahlen und an ordentliche Kundschaft kommen. Ich schalte mein Handy aus und verstaue es in der Jackentasche. „Nein alles gut“, wiederhole ich mich stur, nicke ihm zu und wir gehen nach drinnen. Er hätte es ebenso als Antwort auf seine erste Frage verstehen können, denn eigentlich ist nichts in Ordnung, meine Heile Welt ist kurz davor, zu zerbrechen, wenn sie nicht schon längst in Scherben liegt. Ich gehe dicht neben Heldt über den gepflasterten Weg zur Villa und nehme den Geruch seiner Lederjacke wahr. Es tut nach all dem Streit zuhause so gut, nicht mehr reden zu müssen, einfach nur im stillen Einverständnis neben ihm zu laufen, auf dem Weg zu einem Tatort.
„Ist schön mal wieder zusammenzusetzen, ein Abendessen zu zweit, ganz ohne Streit.“ Stefan sitzt mir gegenüber, hebt sein Rotweinglas an und trinkt einen Schluck, während ich in meinem Essen herumstochere und ihm einsilbig zustimme. Unvermittelt steht er auf, geht um die Kücheninsel herum und greift nach der Rotweinflasche. Er nähert sich mir von der Seite, offensichtlich möchte er mir auch noch nachschenken, doch ich schüttle den Kopf halte mein Glas mit der Handfläche zu. „Nein, danke.“
Er geht um den Tisch herum. „So schlecht ist er doch gar nicht...“
Das nicht, erwidere ich ihm in Gedanken, aber wieso sollte ich mich mit etwas zufrieden geben, nur weil es nicht schlecht ist. Ich mag diese Weinsorte nicht, mir ist italienischer Rotwein lieber als französischer, aber daran hat er nicht gedacht. Der französische schmeckt ganz passabel aber nicht so gut, dass ich noch mehr davon wollen würde. Wieso also sollte ich einen Wein trinken, nur weil er eben da ist und gar nicht so schlecht ist? Das ist ja fast, als wäre ich mit Stefan zusammen, weil er eben verfügbar ist und ich mir schlimmere Partner als ihn vorstellen könnte. Moment, Ellen.
Ich bemerke mit einer gewissen Verzögerung, wie Stefan mich durchdringend ansieht und stelle mein Weinglas zur Seite.
„Stefan, was machen wir hier überhaupt.“ Es ist eine Feststellung, dass das, was wir hier machen, nicht über „gar nicht so schlecht“ hinaus geht, keine Frage, ob es „wirklich gut“ sein könnte. Ich blicke ihn hoffnungslos an.
Er stellt ebenfalls Weinglas und -flasche weg, ehe er meinen Blick traurig erwidert. Ganz langsam spricht er es aus. „Es funktioniert nicht oder?“
Ich sage wieder nichts, schüttle nur den Kopf.
Er trinkt und wartet darauf, dass ich ihm eine Antwort gebe.
Was soll ich ihm denn sagen, dass ich noch immer in Nikolas Heldt verliebt bin? Ich, die Staatsanwältin, die sich damals bei unserem unsäglichen Undercover-Einsatz nach einem Kuss im Pool mehr erhofft hatte, als einer kollegialen Beziehung gut täte? Die, als sie ihrem berüchtigten Kommissar endlich die Chance auf eine private Verabredung eingeräumt hat, bitter enttäuscht und verletzt zurückblieb und sich dann, als sich ihr angebeteter und idealisierter Kommissar nach einem halben Jahr Abwesenheit mal wieder blicken lässt, sofort wieder in ihn verliebt hat? Erstens stimmt das nicht und zweitens wäre das bei weitem nicht der einzige Grund dafür, dass ich es mit Stefan nicht mehr aushalte. Der ständige Streit, unsere gegenläufigen Interessen, das Heucheln von Gefühlen, die nicht mehr dieselben sind, alles nur Emily zuliebe, soll ich ihm das sagen? Dass wir wieder an der gleichen Stelle stehen wie damals, weil ihm seine Projekte wichtiger sind als die Familie, auch wenn er immer behauptet, es sei anders? Was soll ich diesem Mann sagen, der da vor mir steht, so vertraut und gleichzeitig so fremd?
„Ich habe wirklich geglaubt, wir hätten uns verändert“, finde ich schließlich Worte, wenn auch nicht die passenden. „Irgendwas hätte sich verändert, ich ... Ich habe wirklich auf eine zweite Chance gehofft, aber ...“
„Wir passen einfach nicht zusammen“, ergänzt er meinen Satz mühelos. Wie gut er mich doch kennt nach all den Jahren.
Wieder bekommt er nichts als ein Kopfschütteln von mir den Kopf. Ich senke meinen Blick auf meine zitternden Hände, um seinen traurigen Augen auszuweichen. Es ist gut, dass wir endlich darüber sprechen, auch wenn es wehtut.
„Ich liebe dich Ellen.“
Mein Herz schmerzt. Dass es auch diesmal so wehtut, obwohl es längst für einen anderen schlägt, hätte ich nicht gedacht. Auf irgendeine tief verwurzelte Art und Weise liebe ich Stefan auch noch. Und das werde ich auch immer tun, denn er ist der Vater meiner Tochter. Wie könnte ich es also nicht, wo Emily doch mein ganzer Stolz ist?
„Dich und Emily.“
„Wir lieben Dich auch.“ Ich fühle mich sehr schwach in diesem Augenblick, aber ich bringe trotz der aufsteigenden Tränen ein leichtes Lächeln zustande. „Wir werden dich immer lieben und wir werden auch immer Familie sein.“ So, jetzt habe ich klargestellt, dass er in Emilys und meinem Herzen immer einen besonderen Platz haben wird. „Auch wenn wir nicht mehr zusammen leben.“
Stefan kämpft ebenfalls mit den Tränen, er guckt weg, steht auf und möchte sein Geschirr rüberbringen, aber ich erhebe mich ebenfalls und komme ihm entgegen, um ihm seinen Teller abzunehmen und mit meinem in der Spüle zu stapeln.
„Danke.“
Ist es möglich, dass wir uns einvernehmlich trennen können, ohne Rosenkrieg und zerbrochenes Porzellan?
„Bitte“, entgegne ich, räume unser Besteck und Geschirr auf und bleibe anschließend einen Moment mit geschlossenen Augen an die Arbeitsfläche gelehnt stehen.
Einatmen, ausatmen, die Luft kommen und gehen lassen.
Ich muss annehmen und loslassen und begreifen, was wir gerade besprochen haben. Worüber wir geredet haben. Was längst überfällig war. Obwohl es notwendig war, tut es trotzdem so weh.
„Was es mit Emily?“, reißt Stefan mich plötzlich aus meinen Gedanken. „Wir müssen es ihr sagen.“
Natürlich hat er Recht. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann denke ich, dass Emily es schon wusste, bevor wir es ausgesprochen haben. Unsere Tochter ist nicht dumm, sie nimmt die schlechten Schwingungen, die wir beide tagtäglich verbreitet haben, sehr gewiss wahr und denkt sich ihren Teil. Außerdem kennt sie es ja schon, mit getrennten Eltern aufzuwachsen, sodass sich für sie nicht allzu viel ändert. Dennoch müssen wir es ihr sagen. Besser früher als später. „Ich bin sicher, dass wir die richtigen Worte finden werden“, sage ich zu Stefan und meine es auch so. „Emily ist ein tolles Mädchen, sie wird es verstehen.“ Wie so oft an diesem Abend schüttle ich den Kopf, gehe auf Stefan zu und bleibe am Tischende direkt neben ihm stehen.
Er greift erneut nach seinem Weinglas und meint nachdenklich: „Ich ziehe erstmal wieder in die Kulturkantine.... Ich bin ja sowieso die ganze Zeit da...“ Er trinkt einen Schluck und hätte ich noch etwas Wein in meinem Glas, würde ich wahrscheinlich allein, um ihm zuzustimmen, ebenfalls einen Schluck nehmen. So aber trete ich neben ihn und nehme seine Hand, die er jedoch sofort wegzieht. Er stellt das Glas für einen kurzen Moment wieder ab.
Ich atme tief durch und sehe mit Tränen in den Augen zu ihm hoch. „Sieh mal Stefan, du hast für uns auch alles aufgegeben. Du bist immer gereist, warst immer unterwegs, immer auf Reisen, du hast die ganze Welt gesehen und jetzt, jetzt hängst du hier fest.“
Er sieht mich eindrücklich an. „Denk das nicht.“
Doch es ist die Wahrheit. Auf einmal kommt er mir vor wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln, für ihn ist Sesshaftigkeit gleichbedeutend mit Gefangenschaft, würde er hier bei uns bleiben und versuchen, mit meinem Spießerleben klarzukommen, wäre das für ihn nur ein goldener Käfig. Ich bewege den Kopf leicht hin und her, diesmal kann ich ihn nicht aus den Augen lassen.
„Ich wollte das“, betont er. Sein Gesichtsausdruck verhärtet sich.
Ich kann nicht anders, mir kommen die Tränen und das einzige, was ich ihm noch sagen will, bevor sich unsere Wege endgültig trennen, ist: „Wenn irgendwas ist, wenn du mich brauchst, wenn ich was für dich tun kann, dann sag mir Bescheid, okay?“
Er schließt seinen Mund, schaut zur Seite, sagt lange nichts und dann ganz langsam und leise: „Ich schaffe das schon.“
In einem letzten verzweifelten Versuch, mich an das zu erinnern, was wir einmal waren, halte ich seinen Arm fest und löse meine Finger erst ganz langsam wieder, als er sich befreit und schließlich meine andere, freie Hand ein letztes Mal hält.
Wir sehen uns stumm an und wissen, dass unser Abschied diesmal endgültig sein wird. Es gibt kein Zurück. Stefan und Ellen, das funktioniert einfach nicht. Ich muss mir eingestehen, dass unser letzter Versuch gescheitert ist.