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Lebensbücher

Kurzbeschreibung
OneshotDrama / P12 / Gen
04.11.2020
04.11.2020
1
529
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Dieses Kapitel
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04.11.2020 529
 
110: Orakel - Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen.

Das Leben ist nichts weiter als ein Buch. Eines von diesen Adventskalenderbüchern mit den versiegelten Seiten. Wir lesen unsere eigene Geschichte.
Wie normale Menschen von vorne nach hinten. Jeden Tag, jeden Monat, manchmal sogar jede Stunde ein Kapitel.
Wir können fast nicht anders.

Eine Gruppe Mädchen geht über den Gang einer Schule, Spinde links und rechts. Weiße Wände, große Fenster. Betonbunker, würden ihre Mütter sagen. Drei geschlossen hintereinander, Schulter an Schulter, die Sonne im Gesicht, ein einzelnes Mädchen knapp hinter ihnen.
Sie lachen, reden über eine Party, die Jessica heute Abend schmeißt. Der Gong ertönt, schrill, fast eine Stimme. Sie gehen schneller.
Herr Schmied wird so wütend sein wenn sie zu spät kommen.
Das eine Mädchen bleibt stehen.
Sie starrt ins Nichts, blicklose Augen auf die weiße Wand vor ihr gerichtet.

Zumindest die meisten.

Ein paar blättern zu weit, öffnen die falsche Seite, lesen ein Kapitel, dass sie noch nicht hätten lesen dürfen. Das Ende, vielleicht. Vielleicht irgendetwas in der Mitte.

Laute Musik. Tanzende Menschenmassen. Ein Licht, lautes Rauschen. Rote Blumen. Regen? Blutstropfen. Schreie, markerschütternd und voller Todesangst mischen sich mit Sirenen. Drei Tote. Blasse Gesichter, die sie schon ihr Leben lang gekannt hat. Jetzt leer. Ein Bild, nur ein Bild auf Instergram. Offizielle laute Stimmen. Nachrichtensprecher. Ein abgebrochener Anruf, nichts weiter als ein Rauschen und ein lauter Knall, dann nichts mehr.
Alles fließt zusammen, zu einem Sturm in ihrem Kopf, bis nichts mehr irgendetwas bedeutet.

Was, ist nicht wichtig.
Sie wissen etwas, dass sie nicht wissen sollten.

„Wartet!“, ruft sie, läuft ihnen hinterher, packt ihre beste Freundin an der Jacke.
„Geht nicht zur Party! Hört ihr? Geht nicht hin!“

Aber es ist immer noch ein Buch.

Die anderen Mädchen verdrehen die Augen, schütteln sie ab. „Ach was, sei doch kein Angsthase. Was soll denn schon groß passieren?“ Sie lachen, werfen den Kopf in den Nacken.
Eine tätschelt ihr die Haare. „Genau. Mach dir keine Sorgen.“

Sie bleibt stehen, allein mit Bildern von Dingen, die noch kommen.
Allein, allein, allein.
Vor ihr laufen drei tote Mädchen zum Klassenzimmer.

Selbst wenn man das Ende kennt, kann man es immer noch nicht ändern.Nicht immer.
Das ist Cassandras Fluch:
Egal was passiert, steuert immer noch auf das selbe Ende zu.

Die Polizei steht um ein Uhr morgens vor der Tür.
Vier Stunden vorher wurden Sophie Huber, Hanna Bauer und Fiona Keutter,auf dem Rückweg von Jessica Mayers Party, am alten Bahnübergang von einem Güterzug erfasst.
Vor fünf Stunden war die Polizei gerufen worden.
„Sie werden sterben. Ich weis es. Sie werden sterben. Der Zug...“
Dann Stille. Sie wissen von seltsamen Vorahnungen und Visionen, natürlich. Haben sogar so einen in der Gerichtsmedizin. Aber sie können nicht jedem Anruf Glauben schenken. Es gibt mehr Scherzkekse, die so etwas zu behaupten schrecklich witzig finden, als ernsthafte Meldungen. Sie waren ein bisschen vorsichtiger, aber mehr, mehr konnten sie nicht tun.

Die Polizei steht vor der Tür.
Das Mädchen auf der anderen Seite sieht aus, als hätte sie geweint.
„Ich weis warum Sie hier sind. Kommen Sie rein, bitte.“

Das Leben ist ein Buch.
Bedauere die, die in der Mitte schon wissen wie es endet.

 
 
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