2020 10 14: Dunkle Zeiten [by Eiche]
von Jahreskalender
Kurzbeschreibung
Die Gesellschaft ist zusammengebrochen, es gibt keinen Frieden mehr, jeder denkt nur noch an sich. Und langsam wird klar, wie gut es doch zuvor war.
OneshotAllgemein / P16 / Gen
14.10.2020
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Tag der Veröffentlichung: 14.10.
Zitat: Schlechte Zeiten machen einen aufmerksam auf die guten Zeiten, denen man zu wenig Beachtung geschenkt hat. (Good Will Hunting)
Titel der Geschichte: Dunkle Zeiten
Autor: Eiche
Kommentar des Autors: Ich glaube, manchmal vergessen wir, wie gut wir es doch in unserer Gesellschaft haben, und dass sie bei all den Problemen doch unendlich viele Vorteile hat.
„Nein, nein, bitte nicht, Papa, bleib bei mir.“
„Ich liebe dich. Kämpfe, mein starkes Mädchen, überlebe. Bitte, überlebe für mich“
„Ich kann das nicht ohne doch, bitte bleib hier, lass mich nicht alleine.“
„Ich kann nicht.“ Er hustet auf, Blut spritzt aus seinem Mund, befleckt mein Shirt.
„Ich kann Hilfe holen, bitte, gib nicht auf“
„Es ist zu spät. Für mich auf jeden Fall. Aber du hast die Chance zu leben. Nutze sie und hilf mit, eine neue Zivilisation aufzubauen.“
„Ich schaffe das doch nicht alleine.“
„Niemand sagt, dass du es alleine tun musst. Du wirst schon andere finden, die dir helfen zu überleben.“
„Sicher? Du merkst doch, dass jeder nur an sich denkt.“
„Gib die Hoffnung nicht auf, versprich mir, dass du niemals aufhörst zu hoffen. Es gibt auch gute Menschen, wenn es auch nicht viele sind.“
„Ich werde versuchen daran zu denken.“
„Denk an mich, dann erinnere dich an alles, was ich dir beigebracht habe, über Gerechtigkeit, über Nächstenliebe.“
Dieses Denken ist der Grund, dass du hier im Sterben liegst.
Aber ich nicke nur, bin unfähig noch irgendetwas zu sagen.
Der Körper vor mir krümmt sich in Krämpfen, er hustet wieder. Sein ganzes Laken ist voller Blut, alles ist voller Blut. Ich, er, alles um uns herum. Genauso wie die Welt, in der wir leben. Überall Blut, und Trümmer.
Ein letzter Atemzug, dann ist alles still. Ich würde mich gerne abwenden, würde gerne weggehen, einfach weglaufen, aber ich kann nicht. Vor mir liegt die Leiche meines Vaters, der einzigen Person, die mir geblieben ist. Jetzt bin ich alleine, ganz alleine, ein kleines, einsames Mädchen in dieser Apokalypse.
Ich weiß nicht wie lange ich da stehe, fassungslos, stumm. Ich kann mich nicht bewegen, kann nichts sagen, nicht klar denken. Mein Vater, tot, ich alleine. Was soll ich tun? Hier bleiben kann ich nicht, sie werden kommen, wann spielt keine Rolle, aber sie werden kommen. Und wenn ich dann noch hier bin, werde ich enden wie mein Vater. Tot, hier auf dem Boden, voller Blut, alles voller Blut. So viel vergossenes Blut.
Ich wende mich ab, kann es nicht länger sehen, und bin doch froh, dass ich die Kraft gefunden habe mich wegzudrehen.
Ich will nicht, dass er hier bleibt, will nicht, dass seine Leiche hier offen herumliegt, aber was kann ich tun? Ein Begräbnis ist unmöglich, das könnte ich nie alleine schaffen. Und es wäre einfach zu aufwendig. Aber er kann nicht so bleiben. Er ist mein Vater.
Schlussendlich beschließe ich, eine Decke über ihm auszubreiten. Ich sehe ihn dabei nicht an, wende so gut es geht meinen Blick ab. Dann verlasse ich den Raum. Ich muss hier verschwinden, je schneller, desto besser.
Uns ist kaum etwas geblieben. Lebensmittel sind schon ewig knapp und wir haben all unsere Vorräte aufgebraucht. Auch Wasserkanister sind alle leer. Trotzdem nehme ich einen mit, wer weiß, vielleicht finde ich irgendwo Wasser und es ist gut, wenn ich es dann auch transportieren kann.
Ich laufe durch die kleine Wohnung, packe alles in meinen Rucksack, was ich zum Überleben brauchen könnte. Eine Taschenlampe und Batterien, ein wenig Kleidung, falls es kälter wird, einen großen Schlafsack. Alles, was mir irgendwie nützlich erscheint, kommt mit, während wertlose Sachen da bleiben, Geld zum Beispiel, das ist sowieso nichts mehr wert, und auch alle nicht batteriebetriebenen Geräte, Strom gibt es auch schon lange nicht mehr. Was ich aber mitnehme, ist mein Notizbuch und ein Stift. Auch wenn ich es nicht unbedingt brauche, ich glaube nicht, dass ich komplett ohne Papier auskommen könnte. Es dauert nicht lange, dann ist mein Rucksack gefüllt, viel hatten wir ja nicht. Dann setze ich mich auf den Boden in meinem Zimmer. Es ist noch hell draußen, aber sobald es dunkel genug ist, werde ich aufbrechen. Nichts hält mich mehr hier.
Ich starre an meine Zimmerwand. Hellblaue Wände, ein schönes kleines Zimmer, Bücher im Regal, ein paar Bilder an der Wand, Fotos, Zeichnungen. Ein Einblick in die alte Welt, wenn ich es so betrachte ist mir, als wäre alles in Ordnung, als wäre nichts passiert. Als ginge es uns alles gut, wir hätten alle unser altes, normales Leben. Ein Leben ohne Angst, genug zu essen, kein Tod. Aber das ist vorbei. Wie weit es scheint, aber es ist nicht lange her.
Ich weiß, wie ich das erste Mal von den Rebellen in den Nachrichten gehört habe, es ist nicht länger als zwei Monate her. Ich hatte es unterschätzt, so wie viele anderen. Wir dachten, es wäre eine Gruppe von Verrückten. Aber sie haben es geschafft unseren Staat zerbrechen zu lassen. Haben die Wirtschaft zusammenbrechen lassen, haben alle Versorgungswege abgeschritten, sodass uns nichts geblieben ist. Und es hat nicht lange gedauert. Und jetzt? Selbst die, die wenigstens ein paar Vorräte hatten, hungern jetzt, Supermärkte werden bewacht, zu welcher Gruppe die Bewaffneten gehören, die davor stehen, kann keiner sagen. Was klar ist, ist, dass sie niemanden reinlassen, als gehöre alles Übrige ihnen. Es spielt ja auch keine Rolle.
Aber sie haben ihn getötet.
Ich habe ihn gewarnt, immer wieder, aber er wollte nicht hören. So hat er alles geteilt, was wir hatten, Nahrung, Wasser, unsere anderen Schätze. Er war immer ein zu guter Mensch. Und er wollte nichts Böses. Er ist doch nur zu einem Laden gegangen, um nach etwas zu essen zu fragen für die kleinen Kinder der Nachbarin. Sie haben auf ihn geschossen, ohne zu zögern, ihn verletzt, zu stark, dass er es hätte schaffen können. Sie haben ihn getötet.
Tot, er ist tot. Ich wundere mich die ganze Zeit wie es kommt, dass ich nichts fühle, dass ich ganz normal denke, einfach weitermache, hier sitze und warte, bis es dunkel wird. Ich sollte hoffnungslos und gebrochen am Boden kauern und weinen, so wie Vater es gemacht hat, als Mutter verschwunden ist. Aber ich fühle nichts, und ich glaube nicht, dass ich weinen könnte. Und es ist mir so auch lieber. Ich muss stark sein, so wie er es wollte.
Noch ist die Sonne nicht ganz untergegangen, aber es ist dunkel genug, um nicht sofort entdeckt zu werden. Ich komme nur langsam voran, schleiche von einem Hauseingang zum nächsten. Ich darf nicht gesehen werden, ich weiß nicht, was sonst passieren würde, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gut enden könnte. Ich weiß genau, wohin ich will. Es gibt einen Wald, der relativ nahe an der Stadt liegt. Dort gibt es einige alte Hütten. Vielleicht kann ich in einer Unterschlupf finden. Auch wenn ich nicht weiß, was ich dann machen kann. Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Ich möchte nur überleben.
Doch bis ich dort bin, werden noch einige Tage vergehen. Ja, der Weg ist nicht zu weit, aber ich möchte nicht durch die Stadt gehen. Also muss ich sie in Richtung Westen verlassen und dann um sie herum nach Osten gelangen. Das wird dauern. Ich hoffe nur ich finde Wasser und etwas zu essen. Sonst habe ich keine Chance. Immerhin ist es Herbst und auch wenn ich mir sicher bin, dass die Felder nicht unbewacht sind, vielleicht kann ich etwas Getreide stehlen, oder Obst, eigentlich ist egal was. Solange ich nur etwas finde.
Ich bin schon gefühlt ewig unterwegs. Mein Zeitgefühl hat mich komplett verlassen. Seit meinem Aufbruch müssten fünf Tage vergangen sein, aber ich kann es nicht sicher sagen. Ein Tag fließt in den anderen, und es gibt ja auch keinen Grund, sie auseinander halten zu wollen. Meistens laufe ich nachts, wenn ich kein Versteck finde auch in den Morgen hinein, aber ich bin immer auf der Hut, passe auf, dass sie mich nicht kriegen.
Ich bin müde, mir wird immer wieder schwindelig. Vor zwei Tagen habe ich einen Bach gefunden, und es ist immer noch etwas Wasser übrig, aber abgesehen von ein paar halb vergammelten Äpfel habe ich nichts mehr gegessen. Und langsam werde ich schwächer, auch wenn mir die Kraft noch zum Wandern reicht. Ich hoffe nur, ich laufe in die richtige Richtung.
Der Wald, endlich. Ich kann ihn vor mir sehen. Ich bin da. Nach einer ewigen Wanderung. Nur kann ich mich nicht freuen, die Sorgen überwiegen. Seit Tagen habe ich nichts gegessen und mein Wasser ist mittlerweile auch leer. Ich kann nur hoffen, etwas zu finden, sonst lebe ich nicht mehr lange. Und ich spüre, dass es knapp wird. Ich bin dehydriert, mir ist schwindelig, immer wieder schwarz vor Augen. Ich bin wie betrunken, taumle immer mehr. Und die Sonne brennt auf mich hinab, ich will nur noch in den schattigen Wald, er ist gleich am Ende dieser Straße.
Die Straße, die offene, breite Straße. Aber ich bemerke meinen Fehler nicht. Nicht in meinem Zustand. Nicht, bis ich sie höre.
Schritte, Rufe, sie können nicht weiß weg von mir sein. Und sicher haben sie mich gesehen, wollen jetzt zu mir, wollen mich niedermetzeln. Es könnten Rebellen sein, eine Gruppe Überlebende, Verrückte, was weiß ich, es ist auch egal. Aber sie sind sicher nicht da, um mir zu helfen. Und sie kommen immer näher.
Ich versuche schneller zu laufen, nehme all meine Kraft zusammen und renne. Nach kurzer Zeit habe ich den Wald erreicht. Ich höre sie hinter mir, sie rufen, befehlen mir, anzuhalten, aber ich werde einen Teufel tun. Ich darf nicht in ihre Hände geraten.
Ich laufe um die Bäume herum, schlage verschiedene Wege durchs Unterholz ein, hoffe, sie abschütteln zu können, aber sie sind mir immer noch dicht auf den Fersen. Ich wage es nicht, mich umzudrehen, aber ich kann mir vorstellen, wie sie aussehen, schwarz gekleidet, Gewehre in der Hand, die Mordlust im Gesicht stehen. Sie sind das pure Böse.
Waffen, wenn sie Waffen haben, warum schießen sie nicht? Wollen sie keine Kugel verschwenden? Vielleicht bin ich ihnen zu unwichtig. Oder ihnen gefällt die Jagd, es ist ein Spiel für sie. Und ich bin ihre Beute.
Ich kann nicht mehr, habe keinerlei Kraft mehr, lange kann ich nicht mehr rennen, da bin ich mir sicher.
Mittlerweile sind meine Verfolger etwas zurückgefallen, sie scheinen nicht die sportlichsten zu sein. Und ihre Kleidung und die Waffen müssen sie zusätzlich behindern. Aber wenn das noch länger so weiter geht, dann bin ich erledigt.
Ich laufe weiter, achte kaum auf den Weg. Laufen, einfach nur laufen. Ich muss entkommen. Ich sehe nicht mehr scharf, strauchele immer wieder, kann mich doch noch fangen. Nichts erkenne ich, nehme ich wirklich wahr. Als wäre ich in einem Traum, einem Albtraum. Und dann stürze ich.
Ich muss die Wurzeln übersehen haben, muss gestolpert sein. Und jetzt liege ich auf dem Waldboden, mein Gesicht in die Erde gepresst. Und ich habe nicht die Kraft um aufzustehen. So liege ich da. Das ist das Ende. Sie kommen und werden mich töten. Ich habe gekämpft, habe so viel ausgehalten, die letzten Tage. Alles umsonst. Ich ende doch so wie mein Vater. Ich habe es nicht geschafft. Nur ein Moment zu spät. Ich habe mein Ziel erreicht, aber was bringt mir das denn noch? Es spielt keine Rolle.
Eine Hand auf meiner Schulter, sie sind da, sie haben mich erwischt, gleich ist es aus. Zu langsam. Zu schwach, zu dumm. Wie hätte ich überhaupt denken können, dass ich es schaffe?
Ich werde auf den Rücken gedreht. Mit letzter Kraft versuchte ich meine Augen zu öffnen, ich möchte sehen, ich möchte meinen letzten Moment auf dieser Erde mit all meinen Sinnen erleben.
Schließlich öffnen sich mein Lider und ich blicke direkt in ein Paar hellgrauer Augen. Dann wird mir schwarz vor Augen.
„Und, geht es ihr besser?“
Eine Stimme von weit weg, wie von einer anderen Welt, einer anderen Dimension.
„Ich weiß es nicht. Aber ich tu alles, was ich kann.“
„Danke.“
Ist das der Tod? Bin ich gestorben? Ist er da, ist dort mein Vater? Mit Schrecken muss ich feststellen, dass ich nicht weiß, wie seine Stimme klingt. Er kann es sein, vielleicht ist es auch jemand anderes. Ich kann es nicht sagen.
Plötzlich durchfährt ein stechender Schmerz meinen Bauch. Schmerz? Kann man noch fühlen, wenn man tot ist? Oder heißt dieser Schmerz, dass ich noch lebe? Aber die Person, dieser Mensch mit den grauen Augen hat mich doch sicher umgebracht.
Wieder ein Stechen. Ich schreie auf – und höre meine Stimme.
„Ich glaube, sie ist dabei, wieder zu Bewusstsein zu kommen.“
Bewusstsein, sie, bin ich gemeint? Reden sie über mich? Ist das der Beweis, dass ich noch lebe? Ich muss es wissen.
„Bin ich nicht tot?“
Meine Stimme, ist dünn, nur ein leises Wispern, ich selbst kann es kaum verstehen. Aber er muss es gehört habe, wer auch immer dort bei mir ist.
„Nein. Ja. Du lebst noch. Auch wenn du dem Paradies ziemlich nahe zu sein schienst. Aber es scheint die besser zu gehen. Das freut mich.“
Ich versuche meine Augen zu öffnen, doch es geht nicht. Ich kann mich auch nicht bewegen. Und trotz der Worte gerade scheine ich nicht sprechen zu können. Dabei hätte ich so viele Fragen. Was ist passiert? Aber es bringt nichts, wie sehr ich es auch versuche, keinen Ton kann ich von mir geben. Langsam sinke ich wieder in den Schlaf.
Als ich dieses Mal aufwache, scheint es noch schlimmer als beim ersten Mal. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er aufgebrochen werden, mein Hals tut weh, und sowieso mein ganzer Körper. Aber ich schaffe es, meine Augen zu öffnen.
„Hey.“
Eine Stimme, dann sehe ich das Gesicht dazu. Und die Augen, die grauen Augen.
Was? Wer?
Kein Wort kommt von meinen Lippen. Ich möchte mich aufrichten, möchte etwas suchen, auf dem ich schreiben kann, möchte meine Fragen stellen, aber mein ganzer Körper protestiert. Ich komme nicht hoch, wie sehr ich mich bemühe.
„Nicht, ruhe dich weiter aus. Es wird dir bald besser gehen. Aber dafür musst du schlafen.“
Die Stimme, so sanft. Ich bemerke sie, nehme doch kein Wort wahr. Aber sie ist da, ich höre sie, bis ich langsam wegdämmere.
Immer wieder wache ich auf, schlafe wieder ein. Manchmal ist der mit den grauen Augen da, manchmal andere, manchmal scheine ich alleine zu sein. Ich wünschte, ich könnte mich umsehen, könnte Fragen stellen, aber ich schaffe es nicht. Und so muss ich es jetzt hier aushalten. Immerhin lebe ich.
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind. Ich scheine schon ewig hier zu sein. Aber langsam geht es mir besser. Die Schmerzen werden langsam weniger schlimm und ich schaffe es ohne Probleme, meine Augen zu öffnen, auch wenn das grelle Licht mir nicht gerade guttut. Doch ich zwinge mich, es auszuhalten, warte, bis meine Augen es schaffen, Konturen zu erkenne. Oder sie sollten es erkennen. Schließlich liege ich auf dem Rücken und sehe dadurch nur die Decke, eine einfache weiße Zimmerdecke. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf. Ich liege in einem großen Bett, neben mir steht ein kleiner Tisch, ein Nachtkästchen. Sonst ist das Zimmer leer, es scheint aber auch sehr klein zu sein. Ich würde es gerne von oben sehen, aber ich kann mich immer noch nicht aufrichten.
Ein Geräusch, als würde die Tür geöffnet werden, dann Schritte. Jemand beugt sich über mich.
„Hey, du bist wach.“
Ich versuche zu nicken, doch bereue es sofort. Es ist, als würden tausende Messer meinen Kopf durchbohren.
„Wir tun alles, was wir können, um dir zu helfen, dich zu heilen, ja? Wir flößen dir regelmäßig Wasser ein, wenn du nicht bei Bewusstsein bist und versuchen es dir so bequem wie möglich zu machen. Aber mehr können wir nicht tun, weißt du? Es gibt hier keinen Arzt, kein Krankenhaus, nicht in diesen Zeiten. Auch wenn’s für dich am besten wäre.
Aber das ist gerade nicht mein Anliegen. Ich möchte einfach, dass du weißt, dass du uns vertrauen kannst. Wir wissen nicht, wie du tickst, und wir haben ein Messer in deinem Rucksack gefunden. Wir müssen nur sichergehen, dass du uns nicht in Gefahr bringst. Das wollte ich sagen.“
Wer, warum, wer bist du?
Ich forme die Worte mit meinen Lippen, auch wenn ich nicht sagen kann, ob er sie versteht.
„Jetzt ist keine Zeit für Fragen. Du bist immer noch nicht bei Kräften. Ich habe dich lange genug belästigt. Ruhe dich aus, werde gesund, dann können wir uns an lange Erklärungen machen. Von beiden Seiten versteht sich.“
Ich möchte protestieren, aber ich kann nicht. Und er hat vermutlich recht. Schicksalsergeben schließe ich meine Augen.
Ein Rütteln an meinem Arm weckt mich. Verschlafen öffne ich die Augen. Warum darf ich nicht weiterschlafen? Bis jetzt bin ich immer selbst aufgewacht.
„Hey, ich wollte dir nur sagen, dass ich die nächsten Wochen nicht da bin. Ich habe etwas zu tun. Andere werden sich um dich kümmern, aber ich will einfach, dass du weißt, dass ich dich erstmal nicht besuchen komme. Wenn ich zurückkomme, werde ich dir aber alles erklären. Bis dahin solltest du auch wieder stark genug sein.“
Dann ist er verschwunden. Und ich sinke wieder in den Schlaf.
„Warum hast du mich gerettet, mich leben lassen?“
Wir sitzen unter einem Baum. Der Mond steht am Himmel und taucht die Lichtung in ein silbernes Licht.
„Wieso hätte ich dich töten sollen?“
„Ich meine, ihr wart hinter mir her, habt mich verfolgt. Warum solltest du es nicht tun?“
„Wir haben dich nicht verfolgt, das waren andere. Ich habe dich gesehen, du bist durch den Wald direkt auf den Baum zugeraunt, auf dem ich Wache gehalten habe. Ich konnte nicht anders, als dir zu helfen. Hat mir übrigens bei den anderen einige Schwierigkeiten beschert.“
„Das habe ich mitbekommen.“
Sie haben immer wieder darüber geredet, dass ich ja nur seinetwegen da sei, dass er Schuld daran ist, dass sie sich um mich kümmern müssen. Aber seit ich wieder auf den Beinen bin und auch mit ihnen sprechen kann, hat das sich verändert, ich bin ganz froh darüber.
„Ich wollte dich fragen, ob du hier bleiben willst, bei uns. Ich weiß nicht, was du in den letzten Wochen erlebt hast, aber du scheinst niemanden zu haben, zu dem du gehen könntest, deswegen könntest du ja auch bleiben. Du wärst sicher eine Bereicherung für die Gruppe. Wir könnten dich gut brauchen.“
„Wenn es in Ordnung ist und die anderen mit einverstanden sind, dann würde ich gerne bleiben. Aber ich möchte keine Last sein.“
„Ich glaube nicht, dass du das jemals sein könntest.“
Wir schweigen lange. Schließlich beginne ich doch wieder zu sprechen.
„Sieh dir den Mond an. Er ist immer noch der gleiche wie vor einigen Monaten, hat das gleiche Licht, sieht gleich aus, aber die Erde, oder unser Land hat sich so verändert. Ich meine, alles ist zusammengebrochen, es gibt keine Gesellschaft mehr. Wie konnte das so schnell passieren?“
„Ich glaube, wir haben einfach die alte Gesellschaft nie genug wertgeschätzt, haben nie begriffen, wie gut und wichtig es doch war. Wir haben nie begriffen, wie viel Glück wir doch hatten. Aber so ist es immer. Erst in schlechten Zeiten wird bemerkt man, wie gut es doch davor war. Aber jetzt ist es vorbei und wir sehnen uns zurück. Wir sind schon verrückte Wesen, wenn man darüber nachdenkt.“
Ich nicke, sehe den Mond an und schweige. Denn seinen Worten habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
Eine sehr schöne Geschichte mit ernstem Thema. Das Zitat wurde hier sehr gut getroffen.
Eure lula-chan
Zitat: Schlechte Zeiten machen einen aufmerksam auf die guten Zeiten, denen man zu wenig Beachtung geschenkt hat. (Good Will Hunting)
Titel der Geschichte: Dunkle Zeiten
Autor: Eiche
Kommentar des Autors: Ich glaube, manchmal vergessen wir, wie gut wir es doch in unserer Gesellschaft haben, und dass sie bei all den Problemen doch unendlich viele Vorteile hat.
Dunkle Zeiten
„Nein, nein, bitte nicht, Papa, bleib bei mir.“
„Ich liebe dich. Kämpfe, mein starkes Mädchen, überlebe. Bitte, überlebe für mich“
„Ich kann das nicht ohne doch, bitte bleib hier, lass mich nicht alleine.“
„Ich kann nicht.“ Er hustet auf, Blut spritzt aus seinem Mund, befleckt mein Shirt.
„Ich kann Hilfe holen, bitte, gib nicht auf“
„Es ist zu spät. Für mich auf jeden Fall. Aber du hast die Chance zu leben. Nutze sie und hilf mit, eine neue Zivilisation aufzubauen.“
„Ich schaffe das doch nicht alleine.“
„Niemand sagt, dass du es alleine tun musst. Du wirst schon andere finden, die dir helfen zu überleben.“
„Sicher? Du merkst doch, dass jeder nur an sich denkt.“
„Gib die Hoffnung nicht auf, versprich mir, dass du niemals aufhörst zu hoffen. Es gibt auch gute Menschen, wenn es auch nicht viele sind.“
„Ich werde versuchen daran zu denken.“
„Denk an mich, dann erinnere dich an alles, was ich dir beigebracht habe, über Gerechtigkeit, über Nächstenliebe.“
Dieses Denken ist der Grund, dass du hier im Sterben liegst.
Aber ich nicke nur, bin unfähig noch irgendetwas zu sagen.
Der Körper vor mir krümmt sich in Krämpfen, er hustet wieder. Sein ganzes Laken ist voller Blut, alles ist voller Blut. Ich, er, alles um uns herum. Genauso wie die Welt, in der wir leben. Überall Blut, und Trümmer.
Ein letzter Atemzug, dann ist alles still. Ich würde mich gerne abwenden, würde gerne weggehen, einfach weglaufen, aber ich kann nicht. Vor mir liegt die Leiche meines Vaters, der einzigen Person, die mir geblieben ist. Jetzt bin ich alleine, ganz alleine, ein kleines, einsames Mädchen in dieser Apokalypse.
Ich weiß nicht wie lange ich da stehe, fassungslos, stumm. Ich kann mich nicht bewegen, kann nichts sagen, nicht klar denken. Mein Vater, tot, ich alleine. Was soll ich tun? Hier bleiben kann ich nicht, sie werden kommen, wann spielt keine Rolle, aber sie werden kommen. Und wenn ich dann noch hier bin, werde ich enden wie mein Vater. Tot, hier auf dem Boden, voller Blut, alles voller Blut. So viel vergossenes Blut.
Ich wende mich ab, kann es nicht länger sehen, und bin doch froh, dass ich die Kraft gefunden habe mich wegzudrehen.
Ich will nicht, dass er hier bleibt, will nicht, dass seine Leiche hier offen herumliegt, aber was kann ich tun? Ein Begräbnis ist unmöglich, das könnte ich nie alleine schaffen. Und es wäre einfach zu aufwendig. Aber er kann nicht so bleiben. Er ist mein Vater.
Schlussendlich beschließe ich, eine Decke über ihm auszubreiten. Ich sehe ihn dabei nicht an, wende so gut es geht meinen Blick ab. Dann verlasse ich den Raum. Ich muss hier verschwinden, je schneller, desto besser.
Uns ist kaum etwas geblieben. Lebensmittel sind schon ewig knapp und wir haben all unsere Vorräte aufgebraucht. Auch Wasserkanister sind alle leer. Trotzdem nehme ich einen mit, wer weiß, vielleicht finde ich irgendwo Wasser und es ist gut, wenn ich es dann auch transportieren kann.
Ich laufe durch die kleine Wohnung, packe alles in meinen Rucksack, was ich zum Überleben brauchen könnte. Eine Taschenlampe und Batterien, ein wenig Kleidung, falls es kälter wird, einen großen Schlafsack. Alles, was mir irgendwie nützlich erscheint, kommt mit, während wertlose Sachen da bleiben, Geld zum Beispiel, das ist sowieso nichts mehr wert, und auch alle nicht batteriebetriebenen Geräte, Strom gibt es auch schon lange nicht mehr. Was ich aber mitnehme, ist mein Notizbuch und ein Stift. Auch wenn ich es nicht unbedingt brauche, ich glaube nicht, dass ich komplett ohne Papier auskommen könnte. Es dauert nicht lange, dann ist mein Rucksack gefüllt, viel hatten wir ja nicht. Dann setze ich mich auf den Boden in meinem Zimmer. Es ist noch hell draußen, aber sobald es dunkel genug ist, werde ich aufbrechen. Nichts hält mich mehr hier.
Ich starre an meine Zimmerwand. Hellblaue Wände, ein schönes kleines Zimmer, Bücher im Regal, ein paar Bilder an der Wand, Fotos, Zeichnungen. Ein Einblick in die alte Welt, wenn ich es so betrachte ist mir, als wäre alles in Ordnung, als wäre nichts passiert. Als ginge es uns alles gut, wir hätten alle unser altes, normales Leben. Ein Leben ohne Angst, genug zu essen, kein Tod. Aber das ist vorbei. Wie weit es scheint, aber es ist nicht lange her.
Ich weiß, wie ich das erste Mal von den Rebellen in den Nachrichten gehört habe, es ist nicht länger als zwei Monate her. Ich hatte es unterschätzt, so wie viele anderen. Wir dachten, es wäre eine Gruppe von Verrückten. Aber sie haben es geschafft unseren Staat zerbrechen zu lassen. Haben die Wirtschaft zusammenbrechen lassen, haben alle Versorgungswege abgeschritten, sodass uns nichts geblieben ist. Und es hat nicht lange gedauert. Und jetzt? Selbst die, die wenigstens ein paar Vorräte hatten, hungern jetzt, Supermärkte werden bewacht, zu welcher Gruppe die Bewaffneten gehören, die davor stehen, kann keiner sagen. Was klar ist, ist, dass sie niemanden reinlassen, als gehöre alles Übrige ihnen. Es spielt ja auch keine Rolle.
Aber sie haben ihn getötet.
Ich habe ihn gewarnt, immer wieder, aber er wollte nicht hören. So hat er alles geteilt, was wir hatten, Nahrung, Wasser, unsere anderen Schätze. Er war immer ein zu guter Mensch. Und er wollte nichts Böses. Er ist doch nur zu einem Laden gegangen, um nach etwas zu essen zu fragen für die kleinen Kinder der Nachbarin. Sie haben auf ihn geschossen, ohne zu zögern, ihn verletzt, zu stark, dass er es hätte schaffen können. Sie haben ihn getötet.
Tot, er ist tot. Ich wundere mich die ganze Zeit wie es kommt, dass ich nichts fühle, dass ich ganz normal denke, einfach weitermache, hier sitze und warte, bis es dunkel wird. Ich sollte hoffnungslos und gebrochen am Boden kauern und weinen, so wie Vater es gemacht hat, als Mutter verschwunden ist. Aber ich fühle nichts, und ich glaube nicht, dass ich weinen könnte. Und es ist mir so auch lieber. Ich muss stark sein, so wie er es wollte.
Noch ist die Sonne nicht ganz untergegangen, aber es ist dunkel genug, um nicht sofort entdeckt zu werden. Ich komme nur langsam voran, schleiche von einem Hauseingang zum nächsten. Ich darf nicht gesehen werden, ich weiß nicht, was sonst passieren würde, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gut enden könnte. Ich weiß genau, wohin ich will. Es gibt einen Wald, der relativ nahe an der Stadt liegt. Dort gibt es einige alte Hütten. Vielleicht kann ich in einer Unterschlupf finden. Auch wenn ich nicht weiß, was ich dann machen kann. Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Ich möchte nur überleben.
Doch bis ich dort bin, werden noch einige Tage vergehen. Ja, der Weg ist nicht zu weit, aber ich möchte nicht durch die Stadt gehen. Also muss ich sie in Richtung Westen verlassen und dann um sie herum nach Osten gelangen. Das wird dauern. Ich hoffe nur ich finde Wasser und etwas zu essen. Sonst habe ich keine Chance. Immerhin ist es Herbst und auch wenn ich mir sicher bin, dass die Felder nicht unbewacht sind, vielleicht kann ich etwas Getreide stehlen, oder Obst, eigentlich ist egal was. Solange ich nur etwas finde.
Ich bin schon gefühlt ewig unterwegs. Mein Zeitgefühl hat mich komplett verlassen. Seit meinem Aufbruch müssten fünf Tage vergangen sein, aber ich kann es nicht sicher sagen. Ein Tag fließt in den anderen, und es gibt ja auch keinen Grund, sie auseinander halten zu wollen. Meistens laufe ich nachts, wenn ich kein Versteck finde auch in den Morgen hinein, aber ich bin immer auf der Hut, passe auf, dass sie mich nicht kriegen.
Ich bin müde, mir wird immer wieder schwindelig. Vor zwei Tagen habe ich einen Bach gefunden, und es ist immer noch etwas Wasser übrig, aber abgesehen von ein paar halb vergammelten Äpfel habe ich nichts mehr gegessen. Und langsam werde ich schwächer, auch wenn mir die Kraft noch zum Wandern reicht. Ich hoffe nur, ich laufe in die richtige Richtung.
Der Wald, endlich. Ich kann ihn vor mir sehen. Ich bin da. Nach einer ewigen Wanderung. Nur kann ich mich nicht freuen, die Sorgen überwiegen. Seit Tagen habe ich nichts gegessen und mein Wasser ist mittlerweile auch leer. Ich kann nur hoffen, etwas zu finden, sonst lebe ich nicht mehr lange. Und ich spüre, dass es knapp wird. Ich bin dehydriert, mir ist schwindelig, immer wieder schwarz vor Augen. Ich bin wie betrunken, taumle immer mehr. Und die Sonne brennt auf mich hinab, ich will nur noch in den schattigen Wald, er ist gleich am Ende dieser Straße.
Die Straße, die offene, breite Straße. Aber ich bemerke meinen Fehler nicht. Nicht in meinem Zustand. Nicht, bis ich sie höre.
Schritte, Rufe, sie können nicht weiß weg von mir sein. Und sicher haben sie mich gesehen, wollen jetzt zu mir, wollen mich niedermetzeln. Es könnten Rebellen sein, eine Gruppe Überlebende, Verrückte, was weiß ich, es ist auch egal. Aber sie sind sicher nicht da, um mir zu helfen. Und sie kommen immer näher.
Ich versuche schneller zu laufen, nehme all meine Kraft zusammen und renne. Nach kurzer Zeit habe ich den Wald erreicht. Ich höre sie hinter mir, sie rufen, befehlen mir, anzuhalten, aber ich werde einen Teufel tun. Ich darf nicht in ihre Hände geraten.
Ich laufe um die Bäume herum, schlage verschiedene Wege durchs Unterholz ein, hoffe, sie abschütteln zu können, aber sie sind mir immer noch dicht auf den Fersen. Ich wage es nicht, mich umzudrehen, aber ich kann mir vorstellen, wie sie aussehen, schwarz gekleidet, Gewehre in der Hand, die Mordlust im Gesicht stehen. Sie sind das pure Böse.
Waffen, wenn sie Waffen haben, warum schießen sie nicht? Wollen sie keine Kugel verschwenden? Vielleicht bin ich ihnen zu unwichtig. Oder ihnen gefällt die Jagd, es ist ein Spiel für sie. Und ich bin ihre Beute.
Ich kann nicht mehr, habe keinerlei Kraft mehr, lange kann ich nicht mehr rennen, da bin ich mir sicher.
Mittlerweile sind meine Verfolger etwas zurückgefallen, sie scheinen nicht die sportlichsten zu sein. Und ihre Kleidung und die Waffen müssen sie zusätzlich behindern. Aber wenn das noch länger so weiter geht, dann bin ich erledigt.
Ich laufe weiter, achte kaum auf den Weg. Laufen, einfach nur laufen. Ich muss entkommen. Ich sehe nicht mehr scharf, strauchele immer wieder, kann mich doch noch fangen. Nichts erkenne ich, nehme ich wirklich wahr. Als wäre ich in einem Traum, einem Albtraum. Und dann stürze ich.
Ich muss die Wurzeln übersehen haben, muss gestolpert sein. Und jetzt liege ich auf dem Waldboden, mein Gesicht in die Erde gepresst. Und ich habe nicht die Kraft um aufzustehen. So liege ich da. Das ist das Ende. Sie kommen und werden mich töten. Ich habe gekämpft, habe so viel ausgehalten, die letzten Tage. Alles umsonst. Ich ende doch so wie mein Vater. Ich habe es nicht geschafft. Nur ein Moment zu spät. Ich habe mein Ziel erreicht, aber was bringt mir das denn noch? Es spielt keine Rolle.
Eine Hand auf meiner Schulter, sie sind da, sie haben mich erwischt, gleich ist es aus. Zu langsam. Zu schwach, zu dumm. Wie hätte ich überhaupt denken können, dass ich es schaffe?
Ich werde auf den Rücken gedreht. Mit letzter Kraft versuchte ich meine Augen zu öffnen, ich möchte sehen, ich möchte meinen letzten Moment auf dieser Erde mit all meinen Sinnen erleben.
Schließlich öffnen sich mein Lider und ich blicke direkt in ein Paar hellgrauer Augen. Dann wird mir schwarz vor Augen.
„Und, geht es ihr besser?“
Eine Stimme von weit weg, wie von einer anderen Welt, einer anderen Dimension.
„Ich weiß es nicht. Aber ich tu alles, was ich kann.“
„Danke.“
Ist das der Tod? Bin ich gestorben? Ist er da, ist dort mein Vater? Mit Schrecken muss ich feststellen, dass ich nicht weiß, wie seine Stimme klingt. Er kann es sein, vielleicht ist es auch jemand anderes. Ich kann es nicht sagen.
Plötzlich durchfährt ein stechender Schmerz meinen Bauch. Schmerz? Kann man noch fühlen, wenn man tot ist? Oder heißt dieser Schmerz, dass ich noch lebe? Aber die Person, dieser Mensch mit den grauen Augen hat mich doch sicher umgebracht.
Wieder ein Stechen. Ich schreie auf – und höre meine Stimme.
„Ich glaube, sie ist dabei, wieder zu Bewusstsein zu kommen.“
Bewusstsein, sie, bin ich gemeint? Reden sie über mich? Ist das der Beweis, dass ich noch lebe? Ich muss es wissen.
„Bin ich nicht tot?“
Meine Stimme, ist dünn, nur ein leises Wispern, ich selbst kann es kaum verstehen. Aber er muss es gehört habe, wer auch immer dort bei mir ist.
„Nein. Ja. Du lebst noch. Auch wenn du dem Paradies ziemlich nahe zu sein schienst. Aber es scheint die besser zu gehen. Das freut mich.“
Ich versuche meine Augen zu öffnen, doch es geht nicht. Ich kann mich auch nicht bewegen. Und trotz der Worte gerade scheine ich nicht sprechen zu können. Dabei hätte ich so viele Fragen. Was ist passiert? Aber es bringt nichts, wie sehr ich es auch versuche, keinen Ton kann ich von mir geben. Langsam sinke ich wieder in den Schlaf.
Als ich dieses Mal aufwache, scheint es noch schlimmer als beim ersten Mal. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er aufgebrochen werden, mein Hals tut weh, und sowieso mein ganzer Körper. Aber ich schaffe es, meine Augen zu öffnen.
„Hey.“
Eine Stimme, dann sehe ich das Gesicht dazu. Und die Augen, die grauen Augen.
Was? Wer?
Kein Wort kommt von meinen Lippen. Ich möchte mich aufrichten, möchte etwas suchen, auf dem ich schreiben kann, möchte meine Fragen stellen, aber mein ganzer Körper protestiert. Ich komme nicht hoch, wie sehr ich mich bemühe.
„Nicht, ruhe dich weiter aus. Es wird dir bald besser gehen. Aber dafür musst du schlafen.“
Die Stimme, so sanft. Ich bemerke sie, nehme doch kein Wort wahr. Aber sie ist da, ich höre sie, bis ich langsam wegdämmere.
Immer wieder wache ich auf, schlafe wieder ein. Manchmal ist der mit den grauen Augen da, manchmal andere, manchmal scheine ich alleine zu sein. Ich wünschte, ich könnte mich umsehen, könnte Fragen stellen, aber ich schaffe es nicht. Und so muss ich es jetzt hier aushalten. Immerhin lebe ich.
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind. Ich scheine schon ewig hier zu sein. Aber langsam geht es mir besser. Die Schmerzen werden langsam weniger schlimm und ich schaffe es ohne Probleme, meine Augen zu öffnen, auch wenn das grelle Licht mir nicht gerade guttut. Doch ich zwinge mich, es auszuhalten, warte, bis meine Augen es schaffen, Konturen zu erkenne. Oder sie sollten es erkennen. Schließlich liege ich auf dem Rücken und sehe dadurch nur die Decke, eine einfache weiße Zimmerdecke. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf. Ich liege in einem großen Bett, neben mir steht ein kleiner Tisch, ein Nachtkästchen. Sonst ist das Zimmer leer, es scheint aber auch sehr klein zu sein. Ich würde es gerne von oben sehen, aber ich kann mich immer noch nicht aufrichten.
Ein Geräusch, als würde die Tür geöffnet werden, dann Schritte. Jemand beugt sich über mich.
„Hey, du bist wach.“
Ich versuche zu nicken, doch bereue es sofort. Es ist, als würden tausende Messer meinen Kopf durchbohren.
„Wir tun alles, was wir können, um dir zu helfen, dich zu heilen, ja? Wir flößen dir regelmäßig Wasser ein, wenn du nicht bei Bewusstsein bist und versuchen es dir so bequem wie möglich zu machen. Aber mehr können wir nicht tun, weißt du? Es gibt hier keinen Arzt, kein Krankenhaus, nicht in diesen Zeiten. Auch wenn’s für dich am besten wäre.
Aber das ist gerade nicht mein Anliegen. Ich möchte einfach, dass du weißt, dass du uns vertrauen kannst. Wir wissen nicht, wie du tickst, und wir haben ein Messer in deinem Rucksack gefunden. Wir müssen nur sichergehen, dass du uns nicht in Gefahr bringst. Das wollte ich sagen.“
Wer, warum, wer bist du?
Ich forme die Worte mit meinen Lippen, auch wenn ich nicht sagen kann, ob er sie versteht.
„Jetzt ist keine Zeit für Fragen. Du bist immer noch nicht bei Kräften. Ich habe dich lange genug belästigt. Ruhe dich aus, werde gesund, dann können wir uns an lange Erklärungen machen. Von beiden Seiten versteht sich.“
Ich möchte protestieren, aber ich kann nicht. Und er hat vermutlich recht. Schicksalsergeben schließe ich meine Augen.
Ein Rütteln an meinem Arm weckt mich. Verschlafen öffne ich die Augen. Warum darf ich nicht weiterschlafen? Bis jetzt bin ich immer selbst aufgewacht.
„Hey, ich wollte dir nur sagen, dass ich die nächsten Wochen nicht da bin. Ich habe etwas zu tun. Andere werden sich um dich kümmern, aber ich will einfach, dass du weißt, dass ich dich erstmal nicht besuchen komme. Wenn ich zurückkomme, werde ich dir aber alles erklären. Bis dahin solltest du auch wieder stark genug sein.“
Dann ist er verschwunden. Und ich sinke wieder in den Schlaf.
„Warum hast du mich gerettet, mich leben lassen?“
Wir sitzen unter einem Baum. Der Mond steht am Himmel und taucht die Lichtung in ein silbernes Licht.
„Wieso hätte ich dich töten sollen?“
„Ich meine, ihr wart hinter mir her, habt mich verfolgt. Warum solltest du es nicht tun?“
„Wir haben dich nicht verfolgt, das waren andere. Ich habe dich gesehen, du bist durch den Wald direkt auf den Baum zugeraunt, auf dem ich Wache gehalten habe. Ich konnte nicht anders, als dir zu helfen. Hat mir übrigens bei den anderen einige Schwierigkeiten beschert.“
„Das habe ich mitbekommen.“
Sie haben immer wieder darüber geredet, dass ich ja nur seinetwegen da sei, dass er Schuld daran ist, dass sie sich um mich kümmern müssen. Aber seit ich wieder auf den Beinen bin und auch mit ihnen sprechen kann, hat das sich verändert, ich bin ganz froh darüber.
„Ich wollte dich fragen, ob du hier bleiben willst, bei uns. Ich weiß nicht, was du in den letzten Wochen erlebt hast, aber du scheinst niemanden zu haben, zu dem du gehen könntest, deswegen könntest du ja auch bleiben. Du wärst sicher eine Bereicherung für die Gruppe. Wir könnten dich gut brauchen.“
„Wenn es in Ordnung ist und die anderen mit einverstanden sind, dann würde ich gerne bleiben. Aber ich möchte keine Last sein.“
„Ich glaube nicht, dass du das jemals sein könntest.“
Wir schweigen lange. Schließlich beginne ich doch wieder zu sprechen.
„Sieh dir den Mond an. Er ist immer noch der gleiche wie vor einigen Monaten, hat das gleiche Licht, sieht gleich aus, aber die Erde, oder unser Land hat sich so verändert. Ich meine, alles ist zusammengebrochen, es gibt keine Gesellschaft mehr. Wie konnte das so schnell passieren?“
„Ich glaube, wir haben einfach die alte Gesellschaft nie genug wertgeschätzt, haben nie begriffen, wie gut und wichtig es doch war. Wir haben nie begriffen, wie viel Glück wir doch hatten. Aber so ist es immer. Erst in schlechten Zeiten wird bemerkt man, wie gut es doch davor war. Aber jetzt ist es vorbei und wir sehnen uns zurück. Wir sind schon verrückte Wesen, wenn man darüber nachdenkt.“
Ich nicke, sehe den Mond an und schweige. Denn seinen Worten habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Lulas Nachwort ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Eine sehr schöne Geschichte mit ernstem Thema. Das Zitat wurde hier sehr gut getroffen.
Eure lula-chan