Im Zeichen der Zwölfe - Lerin Gluckentann
von Liskaya
Kurzbeschreibung
Zwölf besondere Momente im Leben eines jungen Halbelfen, ein jeder von ihnen im Zeichen eines alveranischen Gottes... [Projektbeitrag]
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
OC (Own Character)
27.09.2020
14.01.2022
8
27.345
4
27.09.2020
2.999
Kurzes Vorwort:
Dies ist ein Beitrag zu meinem Projekt Im Zeichen der Zwölfe.
Nach über 7 Jahren hab ich nun endlich auch mal was dazu hinbekommen... besser spät als nie ;)
Anders als im Projekt angekündigt folge ich aber nicht brav dem Zwölfgötterkreis von Praios bis Rahja, sondern gehe chronologisch durch das Leben des Protagonisten: Lerin Gluckentann, ein Halbelf aus den Nordmarken, der seinen Platz in der Welt sucht und sich an verschiedenen Orten den Herausforderungen seines Schicksals stellt.
Lerin ist eigentlich "nur" ein NPC, dem meine Gruppe vor einiger Zeit begegnet ist. Der Kerl hat sich allerdings so heftig in meinem Hirn festgesetzt, dass ich ihm einfach eine Hintergrundgeschichte geben musste, und nun begleitet er die Gruppe sogar ein Weilchen auf seiner eigenen, persönlichen Queste. Wie es dazu kam, was er alles erlebt und wohin es ihn letztendlich führen wird... werdet ihr nachfolgend lesen können.
Euch allen viel Freude beim Lesen!
LG
Liskaya
Das eifrige Schnattern der Gänse und Gackern der Hühner waren eine Geräuschkulisse, an die man sich irgendwann gewöhnte. Ab und an gaben auch die anderen Tiere der nordmärkischen Bauersfamilie Auskunft über ihre Anwesenheit, stets beobachtet und bewacht vom zotteligen Hofhund neben seiner windschiefen Hütte und den beiden dreifarbigen Katzen, die in den Scheunen und Schuppen auf Mäusesuche waren. Die Nachmittagssonne schien auf die grünen, hübsch bemalten Fensterläden und sanfter Wind ließ sie ab und an sachte klappern, was sich fast schon idyllisch in den Klangteppich mischte.
Der dunkelhaarige Junge, der auf der Türschwelle saß und die Knie mit den Armen umfasst hielt, bekam jedoch kaum etwas davon mit. Nachdenklich starrte er auf den festgetreten Lehmboden des Hofes vor sich, als würde er darin eine Antwort auf die vielen Fragen in seinem Kopf finden können. Doch der Boden blieb stumm. Ebenso die Bank neben dem Eingang, auf der sein Vater sich nach getaner Arbeit gern niederließ oder Mutter an Tagen mit gutem Wetter die Kleidung der Familie ausbesserte. Und auch der alte Eimer neben seinen Füßen, dessen Inhalt er erst vorhin den Hühnern gebracht hatte, gab nicht viel Antwort.
Drinnen klapperte seine Mutter mit den Töpfen, bereitete wohl schon das Abendessen vor. Der Vater war noch draußen auf der Weide, sah zusammen mit seinem älteren Bruder nach den Jungtieren. Die Mädchen waren irgendwo im Garten und kümmerten sich um das Unkraut auf den Beeten. Jeder hatte seinen Platz in dieser Familie, jeder trug seinen Teil dazu bei, alles am Laufen zu halten. Seine Aufgabe war es unter anderem, die Hühner und Gänse zu füttern, den Mist wegzuräumen, nach den Eiern zu schauen und Federn zu sammeln.
Doch nur die Hälfte davon hatte er bisher getan. Am Vormittag waren einige Kinder von den Nachbarhöfen gekommen und zusammen hatten sie alle dem Vater geholfen, einen neuen Weidezaun aufzustellen. Man half sich ohne große Worte, so war es immer gewesen und würde es immer sein. Es war eine Gemeinschaft, die nicht nur die einzelnen Familien umfasste. Man konnte sich aufeinander verlassen, kannte einander – und auch in dieser Gemeinschaft hatte jeder seinen Platz.
Doch Lerin zweifelte oft an seinem Platz. Als sein Vater gegen Mittag weggegangen war und den Kindern noch ein wenig Zeit zum Spielen blieb, hatten die Sprüche wieder angefangen. Woher er denn die spitzen Ohren hätte. Warum er denn nicht im Wald leben würde, da gehörten Elfen doch hin. Und noch mehr solches Zeug, von dem er, keine acht Götterläufe alt, so vieles nicht verstand. Doch dennoch nagte es an ihm. Denn auch er hatte erkannt, was die anderen sahen, schon einige Zeit vor den ersten Fragen: Dass er anders war. Dass er nicht zu den anderen passte. Dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte.
Es machte ihn gleichzeitig zornig und traurig. Hilflos umklammerte der Junge seine Knie und starrte weiter auf den Boden. Ein Scheppern aus dem Haus ließ ihn hochschrecken, er sprang auf die Füße, griff den Futtereimer und eilte hinein, durch die Diele an den Jacken und Geräten vorbei in die Küche, wo er seine Mutter vorfand, die mit einem müden Seufzer die zerbeulte Schüssel aufhob, die sie gerade fallen gelassen hatte.
Lerin ging zu ihr, hockte sich hin und schob die schmale Hand unter einen der Küchenschränke, unter den sich ein paar Apfelstücke verirrt hatten. Seine Mutter, mit stets rosigen Wangen und gütigen Augen, die von hellen Locken umrahmt wurden, tätschelte ihm liebevoll die Schulter und packte alles wieder auf den Tisch, an dem sie bis eben noch gesessen und die Früchte geschnitten hatte. Auf dem Feuer stand schon ein Topf mit Suppe, aus den Äpfeln sollte später ein Kuchen werden.
Die Augen des jungen Halbelfen streiften seine Mutter und er blieb neben ihr stehen, beobachtete ihre Bewegungen. Sie wirkte oft müde in der letzten Zeit. Sicher weil sich seine kleinen Schwestern immerzu stritten...
„Lerin, hast du schon nach den Eiern geschaut?“, riss ihn die Frage seiner Mutter aus den Gedanken.
Ein wenig beschämt sah er auf seine Schuhe. „Nein, Mutter, noch nicht.“
„Haben die Gänse wieder ein paar Federn verloren? Ich brauche sie für die Kissen“, fuhr seine Mutter fort und schälte währenddessen weitere Äpfel. Ihre Hände arbeiteten wie von ganz allein, als würden sie den Kopf dazu nicht brauchen.
„Ich weiß nicht...“, gab er zurück, und nun war seine Stimme noch leiser.
Der gütige Blick ruhte nun wieder auf ihm, und nun ruhten auch ihre Hände. Langsam legten diese dann Messer sowie Apfel auf dem Tisch ab und streckten sich liebevoll nach ihm aus.
„Komm her, Schatz“, sprach sie mit warmer Stimme. Kein Tadel, obwohl er nicht getan hatte, was seine Aufgabe war. Vater schimpfte zumeist. Doch nicht sie.
Lerin ging die wenigen Schritte und schloss die Augen, als sie ihn umarmte. Still blieb er ein paar Augenblicke stehen und schmiegte den Kopf an ihre Schulter, dann merkte er, dass seine Augen nass wurden. Oh nein! Er durfte ihr doch keinen Kummer machen...
„Was hast du, Lerin? Du bist den ganzen Tag schon so still. Was ist passiert?“, kam die Stimme seiner Mutter schließlich leise, während sie ihm durch die schwarzen, glatten Haare strich.
Zuerst fand er keine Worte, dann hob er den Kopf wieder und sah sie an. Die blonden Locken, die auch seine Schwestern trugen. Die gütigen braunen Augen, die auch sein Bruder hatte. Lerins Augen aber waren grün... grün wie die Blätter eines hochsommerlichen Waldes.
Zögernd erzählte er. Er wusste noch jeden Spruch. Auch die von vor zwei Tagen. Und von vor einer Woche. Bestürzt blickte die Bäuerin auf ihren Sohn und drückte ihn dann wieder an sich, selbst ganz erschüttert über den Schmerz, der aus diesem Kind sprach.
„Warum bin ich anders, Mama? Wo habe ich die Ohren her? Woher die Haare? Woher die Augen?“, stellte er schließlich die Fragen, die schon so lange in seinem Kopf waren. Er blickte sie an, die Wangen nass, in sich Kummer, den er kaum ertragen konnte.
„Lerin, Schatz...“, setzte seine Mutter an, doch da war plötzlich Lärm in der Diele, und die beiden Schwestern stürmten herein. Sie quasselten von den Katzen, die sich angefaucht hatten, von den kleinen Ziegen des Nachbarn und allerlei anderen Dingen.
Lerin wandte sich um, ging zu einem Wassereimer hinüber und wusch sich langsam das Gesicht. Seine Mutter blickte ihm nach, seufzte und schickte die beiden Mädchen dann erst einmal in die Waschküche, wo sie sich gründlich die Hände waschen sollten. Kichernd verschwanden die beiden Blondschöpfe, und Lerin, der genügend Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln, drehte sich wieder um.
„Ich erkläre es dir nach dem Abendessen, Schatz. Geh noch die Eier holen und ruf dann bitte deinen Vater zum Essen, ja?“
Sorgenvoll blickte seine Mutter ihm nach, als er nur stumm nickte und den Futtereimer mit nach draußen nahm. Sie hatte befürchtet, dieses Gespräch irgendwann führen zu müssen. Doch warum so früh... und warum mit so viel Kummer...
Zwei Stunden später kehrte langsam Ruhe auf dem Hof der Gluckentanns ein. Die Tiere waren versorgt, die meisten der Kinder im Bett. Die Küche war aufgeräumt, die Arbeit für heute getan.
Magdalena Gluckentann jedoch ging noch einmal spazieren. Lerin begleitete sie, wusste er doch, dass sie es gern hatte, wenn jemand bei ihr war, wenn sie am Waldrand Blumen pflückte für den Strauß, der immer am Praiostag auf dem Küchentisch stand. Doch dort angekommen bückte sich seine Mutter nicht gleich zu den Blumen hinab, die jetzt, im Ingerimm, so zahlreich wuchsen. Sie blickte in den Wald hinein und schwieg. Lerin sah zu ihr hoch und schwieg auch. Sie dachte wohl nach. Das tat er auch oft.
„Schau, da drüben liegt ein Baum...“, sprach seine Mutter schließlich und deutete auf einen Stamm, den der letzte Sturm entwurzelt hatte. Lerin verstand und ging hinüber, suchte sich einen Platz auf dem Holz und setzte sich nieder. Seine Mutter tat es ihm gleich, sah ein paar Momente zum Hof hinüber, dann in den Wald hinein. Er war so grün wie Lerins Augen.
„Ich weiß nicht, woher genau du deine Ohren und deine dunklen Haare hast, Lerin... aber deine Augen... nun... die hast du sicher von deiner Mutter... von der Frau, die dich auf die Welt gebracht hat.“ Die ersten Worte fielen Magdalena sehr schwer.
Lerin beobachtete sie aufmerksam. Schwieg. Und nickte dann. Er verstand.
„Sie kam mitten im tiefsten Winter auf unseren Hof... aus diesem Wald hier... fiel hinter der Scheune hin, weil es so glatt war. Ich habe sie dort gefunden, weil der Hund so laut anschlug. Sie war sehr jung, halb erfroren. Ihr Mantel war nass, ihre Schuhe voller Löcher. Wir nahmen sie auf, gaben ihr zu Essen und trockene Kleider. Sie war hochschwanger... und brachte kaum ein Wort heraus. Sie war krank, es ging ihr furchtbar. Wir konnten sie nicht in die Stadt bringen zum Heilkundigen, bei all dem Schnee... also hofften wir, dass sie sich bei uns erholen würde.“
Noch immer schwieg der Junge. Er hörte zu, und vor seinem Auge entstanden Bilder. Ein zugeschneiter Waldweg. Eine Frau, die vor Kälte kaum vorwärts kam. Sie hustete schmerzvoll, wie seine jüngste Schwester im letzten Winter. Das laute Bellen des Hundes kannte er nur zu gut. Und auch die warmen Wolldecken, die sie im Winter immer über die normalen Decken legten, weil es oft so bitterkalt wurde.
„Wer war sie?“, fragte er dann.
Magdalena seufzte. „Wir haben es nie erfahren. Wir fragten sie, auch, woher sie kam, wo der Vater ihres Kindes sei. Sie redete wirr, war wirklich sehr krank. Sie hatte hohes Fieber. Wir holten die alte Nachbarin, die sich mit Kräutern auskannte. Sie gab ihr einen Tee, wir taten noch etwas Honig hinein. Kurz ging es ihr besser. Dann kam das Kind. Wir hatten alle Hände voll zu tun, da sie so schwach war. Aber das Kind war gesund.“
Lerin erinnerte sich an die Zeit, als seine kleinen Schwestern geboren wurden. Seine Mutter hatte kaum noch etwas tun können auf dem Hof. Eine Nachbarin hatte ihnen viel geholfen. So, wie Mutter zu ihr gegangen war, als sie ihr letztes Kind bekam. Man half einander. Sie waren eine große Familie... eine Gemeinschaft.
„Das Kind warst du, Lerin. Deine Mutter hatte braune Haare, ein bisschen so wie der Bauer von den Brückners drüben am See. Und grüne Augen, wie ein Sommerwald. Doch sie war so schwach, und es hat so lange gedauert. Sie hat immer wieder einen Namen geflüstert... alles, was wir verstanden haben, war 'Lerin'. So haben wir dich dann genannt.“
Im Kopf des Jungen setzten sich langsam die Dinge zusammen. Seine Mutter war nicht seine Mutter. Sein Vater war nicht sein Vater. Erschrocken blinzelte er und biss sich auf die Unterlippe. Magdalena, die dies befürchtet hatte, streckte die Hände nach ihm aus, und zum Glück nahm er es an und schmiegte sich wieder an sie. Wieder weinte der Junge, und wieder schmerzte es beide unendlich.
„Wo... wo ist sie hin...“, stammelte er schließlich und sah wieder nach oben.
Die blonde Bäuerin schluckte schwer und seufzte. „Sie war zu krank, zu schwach, zu lange in der Kälte. Sie starb ein paar Tage später... wir haben sie am Feldrand begraben, drüben, an dem kleinen Hügel, wo die Buche steht. Wir wissen ihren Namen nicht... nur deinen.“
Ein wenig schwankend richtete sich der Junge wieder auf und blickte zur Buche hinüber. Er kletterte nicht gern auf Bäume, hatte immer solche Angst, herunter zu fallen. Nun hatte er auch Angst vor diesem Ort, und etwas in ihm sträubte sich, dort je wieder hinzugehen.
Magdalena sah seinen inneren Kampf und strich ihm liebevoll durch die schwarzen Haare. „Wir haben beschlossen, dass du bei uns bleiben wirst. Travia hat deine Mutter in unser Haus geführt, und auch wenn sie zu Boron gehen musste, weil es zu spät für sie war... du wurdest uns geschenkt. Du bist Teil unserer Familie, unser Sohn. Es gibt keinen Unterschied für uns. Wir haben dich vom ersten Tag an geliebt und werden dies immer tun.“
Nun zitterte ihre Stimme und auch über ihre Wangen liefen Tränen. Die Hilflosigkeit von damals, als sie nichts hatte tun können für die fremde, junge Frau, kam nun wieder. Sie konnte nun nichts tun, um ihrem Sohn, den sie innig liebte, diesen Schmerz zu nehmen. Sie hatte keine Antworten auf seine Fragen. Und er hatte viele Fragen, das wusste sie. Er war klug, aufmerksam und verstand weitaus mehr, als er zeigte.
Lerin sah wieder auf den knorrigen Baumstamm, auf dem sie saßen. In seinem Kopf drehte es sich ein bisschen, doch die Worte seiner Mutter drangen zu ihm durch. Travia hatte ihn hierher gebracht. Der Gluckentannhof war sein Zuhause. Hier war seine Familie. Doch es war nicht alles. Etwas fehlte.
„Und mein Vater?“, fragte er schließlich leise.
„Wir wissen es nicht. Vermutlich... war er aus dem Elfenvolk. Sie leben in den tiefsten Wäldern und werden sehr alt... sie sind die besten Jäger unter dem Lichte der Praiosscheibe, sagt man. Und sie können zaubern. Sie singen wunderschön, können Menschen damit heilen. Und sie kennen alle Pflanzen, die uns die Herrin Peraine geschenkt hat.“
Neugierig lauschte er den Worten seiner Mutter. Wieder entstanden Bilder in seinem Kopf. Sie waren umgeben von sommergrünen Blättern.
„Kann... ich sie besuchen?“, fragte er dann in einem Anflug von Mut.
Seine Mutter lächelte liebevoll und strich ihm wieder durchs Haar. „Ich weiß es nicht, aber ich denke, lieber nicht. Sie mögen keine Menschen. Sie haben gern ihre Ruhe. Sie kommen nicht gern in unsere Welt.“
„Wer sagt das?“, fiel Lerin ihr fast ins Wort. Sein Kummer war gewichen. Er wollte wissen, was ihm fehlte. Wozu seine spitzen Ohren gut waren.
„Der Großvater... er kommt ja viel herum als Soldat. Als er letztes Mal da war, warst du noch sehr klein. Aber bald müsste er seinen Dienst fertig haben. Er hat dem Reich lange treu gedient. Dann kommt er sicher heim, und kann dir alles ganz genau erzählen.“
Beschwichtigende Worte. Magdalena wusste nicht, wo sich ihr Schwiegervater derzeit aufhielt. Ob er überhaupt noch lebte... doch sie würde alles tun, um ihrem Sohn Hoffnung zu geben.
Lerin nickte. Es war immerhin eine Antwort. Es gab jemanden, der sie kannte. Das reichte ihm.
Dann erinnerte er sich wieder an die Worte der anderen Kinder und sah nach unten. Seine Mutter folgte seinem Blick, der so war wie zuvor in der Küche, und strich ihm über den Arm, um ihn aus seinen trüben Gedanken zu lösen.
„Sie wissen nicht, wovon sie reden. Lass dich nicht ärgern. Ich werde mit ihren Eltern sprechen, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Es gehört sich nicht, so gemein zu sein. Wir sind eine Gemeinschaft, wir halten zusammen. Egal, welchen Namen oder welche Haare oder Ohren man hat. Wichtig ist, was man tut, und dass man ein reines Herz hat. Du bist ein guter Junge, Lerin. Der Götterfürst weiß das, und seine Geschwister in Alveran auch. Darauf kommt es an, verstehst du?“
Diese weisen Worte vertrieben die Gedanken vorerst, und er hob den Blick wieder. Sah seine Mutter an, in diese gütigen Augen. Nein, sie hatte ihn nie anders behandelt. Der Vater auch nicht. Er war zu allen gleich streng. Und wer seine Arbeit nicht tat, der verdiente es ja auch, ermahnt zu werden.
Langsam nickte er und schlang wieder die Arme um sie, genoss die Wärme der Umarmung, die Geborgenheit. Einige Zeit lang saßen sie so, und Magdalena betete still zur Herrin Travia, sie möge all die dunklen Gedanken ihres Sohnes weg scheuchen und den gemeinen Kindern eine Lektion erteilen.
„Danke, dass meine Schuhe keine Löcher haben“, flüsterte Lerin plötzlich.
Seine Mutter stutzte und lachte dann, ein großes Stück Anspannung fiel von ihr ab. Sie hatte wahrlich einen klugen und sehr aufmerksamen Sohn!
„Darin läuft es sich ja auch nicht gut. Lass uns zurückgehen, Schatz. Es wird dunkel.“
Sie erhob sich und ächzte kurz, denn das ungeborene Kind in ihrem Bauch machte sich bereits immer mehr bemerkbar. Bald würde sie stolze Mutter von fünf Gluckentannkindern sein. Noch mehr Geschnatter auf dem Hof – doch das war nichts, was sie störte.
Lerin folgte ihr und griff kurz nach ihrer Hand, ehe er zur Seite lief und begann, ein paar Blumen zu pflücken. Magdalena blieb stehen und beobachtete ihn. Sie hatte sich oft gefragt, was wohl die Geschichte seiner Eltern war. Die fremde Frau hatte keine spitzen Ohren gehabt. Sie hatte auch nicht fremd in dieser Gegend gewirkt, auch ihre Kleidung nicht. Doch keiner auf den umliegenden Höfen vermisste sie. Manches Mal hatten sie herumgefragt, auch in den Dörfern am Fluss, doch irgendwann es einfach dabei belassen. Vielleicht war es besser so, denn Lerin hatte ein Zuhause gefunden, und das war das Wichtigste.
Die untergehende Sonne tauchte den Hof der Gluckentanns in warmes Licht. In den Büschen begannen die Käfer zu summen, die Katzen lagen friedlich auf der Bank neben der Tür und ruhten sich vom Mäusefangen aus. Ein schöner, großer Blumenstrauß fand seinen Platz in der Küche, und am nächsten Morgen würde Lerin sie mit vielen Hühnereiern und Gänsefedern überraschen, die er ganz früh gesammelt hatte. Sie hatten ihn nicht aufstehen hören... vielleicht waren seine spitzen Ohren ja auch kein Fluch, wie manche Menschen sagten, sondern eher ein Segen.
Dies ist ein Beitrag zu meinem Projekt Im Zeichen der Zwölfe.
Nach über 7 Jahren hab ich nun endlich auch mal was dazu hinbekommen... besser spät als nie ;)
Anders als im Projekt angekündigt folge ich aber nicht brav dem Zwölfgötterkreis von Praios bis Rahja, sondern gehe chronologisch durch das Leben des Protagonisten: Lerin Gluckentann, ein Halbelf aus den Nordmarken, der seinen Platz in der Welt sucht und sich an verschiedenen Orten den Herausforderungen seines Schicksals stellt.
Lerin ist eigentlich "nur" ein NPC, dem meine Gruppe vor einiger Zeit begegnet ist. Der Kerl hat sich allerdings so heftig in meinem Hirn festgesetzt, dass ich ihm einfach eine Hintergrundgeschichte geben musste, und nun begleitet er die Gruppe sogar ein Weilchen auf seiner eigenen, persönlichen Queste. Wie es dazu kam, was er alles erlebt und wohin es ihn letztendlich führen wird... werdet ihr nachfolgend lesen können.
Euch allen viel Freude beim Lesen!
LG
Liskaya
* * *
Herzogtum Nordmarken - Gluckentannhof, ING 1021 BF
Herzogtum Nordmarken - Gluckentannhof, ING 1021 BF
Das eifrige Schnattern der Gänse und Gackern der Hühner waren eine Geräuschkulisse, an die man sich irgendwann gewöhnte. Ab und an gaben auch die anderen Tiere der nordmärkischen Bauersfamilie Auskunft über ihre Anwesenheit, stets beobachtet und bewacht vom zotteligen Hofhund neben seiner windschiefen Hütte und den beiden dreifarbigen Katzen, die in den Scheunen und Schuppen auf Mäusesuche waren. Die Nachmittagssonne schien auf die grünen, hübsch bemalten Fensterläden und sanfter Wind ließ sie ab und an sachte klappern, was sich fast schon idyllisch in den Klangteppich mischte.
Der dunkelhaarige Junge, der auf der Türschwelle saß und die Knie mit den Armen umfasst hielt, bekam jedoch kaum etwas davon mit. Nachdenklich starrte er auf den festgetreten Lehmboden des Hofes vor sich, als würde er darin eine Antwort auf die vielen Fragen in seinem Kopf finden können. Doch der Boden blieb stumm. Ebenso die Bank neben dem Eingang, auf der sein Vater sich nach getaner Arbeit gern niederließ oder Mutter an Tagen mit gutem Wetter die Kleidung der Familie ausbesserte. Und auch der alte Eimer neben seinen Füßen, dessen Inhalt er erst vorhin den Hühnern gebracht hatte, gab nicht viel Antwort.
Drinnen klapperte seine Mutter mit den Töpfen, bereitete wohl schon das Abendessen vor. Der Vater war noch draußen auf der Weide, sah zusammen mit seinem älteren Bruder nach den Jungtieren. Die Mädchen waren irgendwo im Garten und kümmerten sich um das Unkraut auf den Beeten. Jeder hatte seinen Platz in dieser Familie, jeder trug seinen Teil dazu bei, alles am Laufen zu halten. Seine Aufgabe war es unter anderem, die Hühner und Gänse zu füttern, den Mist wegzuräumen, nach den Eiern zu schauen und Federn zu sammeln.
Doch nur die Hälfte davon hatte er bisher getan. Am Vormittag waren einige Kinder von den Nachbarhöfen gekommen und zusammen hatten sie alle dem Vater geholfen, einen neuen Weidezaun aufzustellen. Man half sich ohne große Worte, so war es immer gewesen und würde es immer sein. Es war eine Gemeinschaft, die nicht nur die einzelnen Familien umfasste. Man konnte sich aufeinander verlassen, kannte einander – und auch in dieser Gemeinschaft hatte jeder seinen Platz.
Doch Lerin zweifelte oft an seinem Platz. Als sein Vater gegen Mittag weggegangen war und den Kindern noch ein wenig Zeit zum Spielen blieb, hatten die Sprüche wieder angefangen. Woher er denn die spitzen Ohren hätte. Warum er denn nicht im Wald leben würde, da gehörten Elfen doch hin. Und noch mehr solches Zeug, von dem er, keine acht Götterläufe alt, so vieles nicht verstand. Doch dennoch nagte es an ihm. Denn auch er hatte erkannt, was die anderen sahen, schon einige Zeit vor den ersten Fragen: Dass er anders war. Dass er nicht zu den anderen passte. Dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte.
Es machte ihn gleichzeitig zornig und traurig. Hilflos umklammerte der Junge seine Knie und starrte weiter auf den Boden. Ein Scheppern aus dem Haus ließ ihn hochschrecken, er sprang auf die Füße, griff den Futtereimer und eilte hinein, durch die Diele an den Jacken und Geräten vorbei in die Küche, wo er seine Mutter vorfand, die mit einem müden Seufzer die zerbeulte Schüssel aufhob, die sie gerade fallen gelassen hatte.
Lerin ging zu ihr, hockte sich hin und schob die schmale Hand unter einen der Küchenschränke, unter den sich ein paar Apfelstücke verirrt hatten. Seine Mutter, mit stets rosigen Wangen und gütigen Augen, die von hellen Locken umrahmt wurden, tätschelte ihm liebevoll die Schulter und packte alles wieder auf den Tisch, an dem sie bis eben noch gesessen und die Früchte geschnitten hatte. Auf dem Feuer stand schon ein Topf mit Suppe, aus den Äpfeln sollte später ein Kuchen werden.
Die Augen des jungen Halbelfen streiften seine Mutter und er blieb neben ihr stehen, beobachtete ihre Bewegungen. Sie wirkte oft müde in der letzten Zeit. Sicher weil sich seine kleinen Schwestern immerzu stritten...
„Lerin, hast du schon nach den Eiern geschaut?“, riss ihn die Frage seiner Mutter aus den Gedanken.
Ein wenig beschämt sah er auf seine Schuhe. „Nein, Mutter, noch nicht.“
„Haben die Gänse wieder ein paar Federn verloren? Ich brauche sie für die Kissen“, fuhr seine Mutter fort und schälte währenddessen weitere Äpfel. Ihre Hände arbeiteten wie von ganz allein, als würden sie den Kopf dazu nicht brauchen.
„Ich weiß nicht...“, gab er zurück, und nun war seine Stimme noch leiser.
Der gütige Blick ruhte nun wieder auf ihm, und nun ruhten auch ihre Hände. Langsam legten diese dann Messer sowie Apfel auf dem Tisch ab und streckten sich liebevoll nach ihm aus.
„Komm her, Schatz“, sprach sie mit warmer Stimme. Kein Tadel, obwohl er nicht getan hatte, was seine Aufgabe war. Vater schimpfte zumeist. Doch nicht sie.
Lerin ging die wenigen Schritte und schloss die Augen, als sie ihn umarmte. Still blieb er ein paar Augenblicke stehen und schmiegte den Kopf an ihre Schulter, dann merkte er, dass seine Augen nass wurden. Oh nein! Er durfte ihr doch keinen Kummer machen...
„Was hast du, Lerin? Du bist den ganzen Tag schon so still. Was ist passiert?“, kam die Stimme seiner Mutter schließlich leise, während sie ihm durch die schwarzen, glatten Haare strich.
Zuerst fand er keine Worte, dann hob er den Kopf wieder und sah sie an. Die blonden Locken, die auch seine Schwestern trugen. Die gütigen braunen Augen, die auch sein Bruder hatte. Lerins Augen aber waren grün... grün wie die Blätter eines hochsommerlichen Waldes.
Zögernd erzählte er. Er wusste noch jeden Spruch. Auch die von vor zwei Tagen. Und von vor einer Woche. Bestürzt blickte die Bäuerin auf ihren Sohn und drückte ihn dann wieder an sich, selbst ganz erschüttert über den Schmerz, der aus diesem Kind sprach.
„Warum bin ich anders, Mama? Wo habe ich die Ohren her? Woher die Haare? Woher die Augen?“, stellte er schließlich die Fragen, die schon so lange in seinem Kopf waren. Er blickte sie an, die Wangen nass, in sich Kummer, den er kaum ertragen konnte.
„Lerin, Schatz...“, setzte seine Mutter an, doch da war plötzlich Lärm in der Diele, und die beiden Schwestern stürmten herein. Sie quasselten von den Katzen, die sich angefaucht hatten, von den kleinen Ziegen des Nachbarn und allerlei anderen Dingen.
Lerin wandte sich um, ging zu einem Wassereimer hinüber und wusch sich langsam das Gesicht. Seine Mutter blickte ihm nach, seufzte und schickte die beiden Mädchen dann erst einmal in die Waschküche, wo sie sich gründlich die Hände waschen sollten. Kichernd verschwanden die beiden Blondschöpfe, und Lerin, der genügend Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln, drehte sich wieder um.
„Ich erkläre es dir nach dem Abendessen, Schatz. Geh noch die Eier holen und ruf dann bitte deinen Vater zum Essen, ja?“
Sorgenvoll blickte seine Mutter ihm nach, als er nur stumm nickte und den Futtereimer mit nach draußen nahm. Sie hatte befürchtet, dieses Gespräch irgendwann führen zu müssen. Doch warum so früh... und warum mit so viel Kummer...
Zwei Stunden später kehrte langsam Ruhe auf dem Hof der Gluckentanns ein. Die Tiere waren versorgt, die meisten der Kinder im Bett. Die Küche war aufgeräumt, die Arbeit für heute getan.
Magdalena Gluckentann jedoch ging noch einmal spazieren. Lerin begleitete sie, wusste er doch, dass sie es gern hatte, wenn jemand bei ihr war, wenn sie am Waldrand Blumen pflückte für den Strauß, der immer am Praiostag auf dem Küchentisch stand. Doch dort angekommen bückte sich seine Mutter nicht gleich zu den Blumen hinab, die jetzt, im Ingerimm, so zahlreich wuchsen. Sie blickte in den Wald hinein und schwieg. Lerin sah zu ihr hoch und schwieg auch. Sie dachte wohl nach. Das tat er auch oft.
„Schau, da drüben liegt ein Baum...“, sprach seine Mutter schließlich und deutete auf einen Stamm, den der letzte Sturm entwurzelt hatte. Lerin verstand und ging hinüber, suchte sich einen Platz auf dem Holz und setzte sich nieder. Seine Mutter tat es ihm gleich, sah ein paar Momente zum Hof hinüber, dann in den Wald hinein. Er war so grün wie Lerins Augen.
„Ich weiß nicht, woher genau du deine Ohren und deine dunklen Haare hast, Lerin... aber deine Augen... nun... die hast du sicher von deiner Mutter... von der Frau, die dich auf die Welt gebracht hat.“ Die ersten Worte fielen Magdalena sehr schwer.
Lerin beobachtete sie aufmerksam. Schwieg. Und nickte dann. Er verstand.
„Sie kam mitten im tiefsten Winter auf unseren Hof... aus diesem Wald hier... fiel hinter der Scheune hin, weil es so glatt war. Ich habe sie dort gefunden, weil der Hund so laut anschlug. Sie war sehr jung, halb erfroren. Ihr Mantel war nass, ihre Schuhe voller Löcher. Wir nahmen sie auf, gaben ihr zu Essen und trockene Kleider. Sie war hochschwanger... und brachte kaum ein Wort heraus. Sie war krank, es ging ihr furchtbar. Wir konnten sie nicht in die Stadt bringen zum Heilkundigen, bei all dem Schnee... also hofften wir, dass sie sich bei uns erholen würde.“
Noch immer schwieg der Junge. Er hörte zu, und vor seinem Auge entstanden Bilder. Ein zugeschneiter Waldweg. Eine Frau, die vor Kälte kaum vorwärts kam. Sie hustete schmerzvoll, wie seine jüngste Schwester im letzten Winter. Das laute Bellen des Hundes kannte er nur zu gut. Und auch die warmen Wolldecken, die sie im Winter immer über die normalen Decken legten, weil es oft so bitterkalt wurde.
„Wer war sie?“, fragte er dann.
Magdalena seufzte. „Wir haben es nie erfahren. Wir fragten sie, auch, woher sie kam, wo der Vater ihres Kindes sei. Sie redete wirr, war wirklich sehr krank. Sie hatte hohes Fieber. Wir holten die alte Nachbarin, die sich mit Kräutern auskannte. Sie gab ihr einen Tee, wir taten noch etwas Honig hinein. Kurz ging es ihr besser. Dann kam das Kind. Wir hatten alle Hände voll zu tun, da sie so schwach war. Aber das Kind war gesund.“
Lerin erinnerte sich an die Zeit, als seine kleinen Schwestern geboren wurden. Seine Mutter hatte kaum noch etwas tun können auf dem Hof. Eine Nachbarin hatte ihnen viel geholfen. So, wie Mutter zu ihr gegangen war, als sie ihr letztes Kind bekam. Man half einander. Sie waren eine große Familie... eine Gemeinschaft.
„Das Kind warst du, Lerin. Deine Mutter hatte braune Haare, ein bisschen so wie der Bauer von den Brückners drüben am See. Und grüne Augen, wie ein Sommerwald. Doch sie war so schwach, und es hat so lange gedauert. Sie hat immer wieder einen Namen geflüstert... alles, was wir verstanden haben, war 'Lerin'. So haben wir dich dann genannt.“
Im Kopf des Jungen setzten sich langsam die Dinge zusammen. Seine Mutter war nicht seine Mutter. Sein Vater war nicht sein Vater. Erschrocken blinzelte er und biss sich auf die Unterlippe. Magdalena, die dies befürchtet hatte, streckte die Hände nach ihm aus, und zum Glück nahm er es an und schmiegte sich wieder an sie. Wieder weinte der Junge, und wieder schmerzte es beide unendlich.
„Wo... wo ist sie hin...“, stammelte er schließlich und sah wieder nach oben.
Die blonde Bäuerin schluckte schwer und seufzte. „Sie war zu krank, zu schwach, zu lange in der Kälte. Sie starb ein paar Tage später... wir haben sie am Feldrand begraben, drüben, an dem kleinen Hügel, wo die Buche steht. Wir wissen ihren Namen nicht... nur deinen.“
Ein wenig schwankend richtete sich der Junge wieder auf und blickte zur Buche hinüber. Er kletterte nicht gern auf Bäume, hatte immer solche Angst, herunter zu fallen. Nun hatte er auch Angst vor diesem Ort, und etwas in ihm sträubte sich, dort je wieder hinzugehen.
Magdalena sah seinen inneren Kampf und strich ihm liebevoll durch die schwarzen Haare. „Wir haben beschlossen, dass du bei uns bleiben wirst. Travia hat deine Mutter in unser Haus geführt, und auch wenn sie zu Boron gehen musste, weil es zu spät für sie war... du wurdest uns geschenkt. Du bist Teil unserer Familie, unser Sohn. Es gibt keinen Unterschied für uns. Wir haben dich vom ersten Tag an geliebt und werden dies immer tun.“
Nun zitterte ihre Stimme und auch über ihre Wangen liefen Tränen. Die Hilflosigkeit von damals, als sie nichts hatte tun können für die fremde, junge Frau, kam nun wieder. Sie konnte nun nichts tun, um ihrem Sohn, den sie innig liebte, diesen Schmerz zu nehmen. Sie hatte keine Antworten auf seine Fragen. Und er hatte viele Fragen, das wusste sie. Er war klug, aufmerksam und verstand weitaus mehr, als er zeigte.
Lerin sah wieder auf den knorrigen Baumstamm, auf dem sie saßen. In seinem Kopf drehte es sich ein bisschen, doch die Worte seiner Mutter drangen zu ihm durch. Travia hatte ihn hierher gebracht. Der Gluckentannhof war sein Zuhause. Hier war seine Familie. Doch es war nicht alles. Etwas fehlte.
„Und mein Vater?“, fragte er schließlich leise.
„Wir wissen es nicht. Vermutlich... war er aus dem Elfenvolk. Sie leben in den tiefsten Wäldern und werden sehr alt... sie sind die besten Jäger unter dem Lichte der Praiosscheibe, sagt man. Und sie können zaubern. Sie singen wunderschön, können Menschen damit heilen. Und sie kennen alle Pflanzen, die uns die Herrin Peraine geschenkt hat.“
Neugierig lauschte er den Worten seiner Mutter. Wieder entstanden Bilder in seinem Kopf. Sie waren umgeben von sommergrünen Blättern.
„Kann... ich sie besuchen?“, fragte er dann in einem Anflug von Mut.
Seine Mutter lächelte liebevoll und strich ihm wieder durchs Haar. „Ich weiß es nicht, aber ich denke, lieber nicht. Sie mögen keine Menschen. Sie haben gern ihre Ruhe. Sie kommen nicht gern in unsere Welt.“
„Wer sagt das?“, fiel Lerin ihr fast ins Wort. Sein Kummer war gewichen. Er wollte wissen, was ihm fehlte. Wozu seine spitzen Ohren gut waren.
„Der Großvater... er kommt ja viel herum als Soldat. Als er letztes Mal da war, warst du noch sehr klein. Aber bald müsste er seinen Dienst fertig haben. Er hat dem Reich lange treu gedient. Dann kommt er sicher heim, und kann dir alles ganz genau erzählen.“
Beschwichtigende Worte. Magdalena wusste nicht, wo sich ihr Schwiegervater derzeit aufhielt. Ob er überhaupt noch lebte... doch sie würde alles tun, um ihrem Sohn Hoffnung zu geben.
Lerin nickte. Es war immerhin eine Antwort. Es gab jemanden, der sie kannte. Das reichte ihm.
Dann erinnerte er sich wieder an die Worte der anderen Kinder und sah nach unten. Seine Mutter folgte seinem Blick, der so war wie zuvor in der Küche, und strich ihm über den Arm, um ihn aus seinen trüben Gedanken zu lösen.
„Sie wissen nicht, wovon sie reden. Lass dich nicht ärgern. Ich werde mit ihren Eltern sprechen, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Es gehört sich nicht, so gemein zu sein. Wir sind eine Gemeinschaft, wir halten zusammen. Egal, welchen Namen oder welche Haare oder Ohren man hat. Wichtig ist, was man tut, und dass man ein reines Herz hat. Du bist ein guter Junge, Lerin. Der Götterfürst weiß das, und seine Geschwister in Alveran auch. Darauf kommt es an, verstehst du?“
Diese weisen Worte vertrieben die Gedanken vorerst, und er hob den Blick wieder. Sah seine Mutter an, in diese gütigen Augen. Nein, sie hatte ihn nie anders behandelt. Der Vater auch nicht. Er war zu allen gleich streng. Und wer seine Arbeit nicht tat, der verdiente es ja auch, ermahnt zu werden.
Langsam nickte er und schlang wieder die Arme um sie, genoss die Wärme der Umarmung, die Geborgenheit. Einige Zeit lang saßen sie so, und Magdalena betete still zur Herrin Travia, sie möge all die dunklen Gedanken ihres Sohnes weg scheuchen und den gemeinen Kindern eine Lektion erteilen.
„Danke, dass meine Schuhe keine Löcher haben“, flüsterte Lerin plötzlich.
Seine Mutter stutzte und lachte dann, ein großes Stück Anspannung fiel von ihr ab. Sie hatte wahrlich einen klugen und sehr aufmerksamen Sohn!
„Darin läuft es sich ja auch nicht gut. Lass uns zurückgehen, Schatz. Es wird dunkel.“
Sie erhob sich und ächzte kurz, denn das ungeborene Kind in ihrem Bauch machte sich bereits immer mehr bemerkbar. Bald würde sie stolze Mutter von fünf Gluckentannkindern sein. Noch mehr Geschnatter auf dem Hof – doch das war nichts, was sie störte.
Lerin folgte ihr und griff kurz nach ihrer Hand, ehe er zur Seite lief und begann, ein paar Blumen zu pflücken. Magdalena blieb stehen und beobachtete ihn. Sie hatte sich oft gefragt, was wohl die Geschichte seiner Eltern war. Die fremde Frau hatte keine spitzen Ohren gehabt. Sie hatte auch nicht fremd in dieser Gegend gewirkt, auch ihre Kleidung nicht. Doch keiner auf den umliegenden Höfen vermisste sie. Manches Mal hatten sie herumgefragt, auch in den Dörfern am Fluss, doch irgendwann es einfach dabei belassen. Vielleicht war es besser so, denn Lerin hatte ein Zuhause gefunden, und das war das Wichtigste.
Die untergehende Sonne tauchte den Hof der Gluckentanns in warmes Licht. In den Büschen begannen die Käfer zu summen, die Katzen lagen friedlich auf der Bank neben der Tür und ruhten sich vom Mäusefangen aus. Ein schöner, großer Blumenstrauß fand seinen Platz in der Küche, und am nächsten Morgen würde Lerin sie mit vielen Hühnereiern und Gänsefedern überraschen, die er ganz früh gesammelt hatte. Sie hatten ihn nicht aufstehen hören... vielleicht waren seine spitzen Ohren ja auch kein Fluch, wie manche Menschen sagten, sondern eher ein Segen.