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Bitte lächeln!

Kurzbeschreibung
GeschichteFamilie, Freundschaft / P12 / Gen
Ray
20.09.2020
20.09.2020
4
6.239
3
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20.09.2020 1.531
 
Hallo allerseits!

Pünktlich zum 20. melde ich mich mit einer neuen Geschichte zurück, und dieses Mal ist es ausnahmsweise kein Oneshot. Es könnte als einer durchgehen, aber die Fanfiktion wurde mir dann doch zu lang, weshalb ich sie in mehrere Kapitel einteilte. Was man nicht alles tut der besseren Lesbarkeit halber...

Jedenfalls, diese Geschichte ist etwas Besonderes, denn sie ist ein kleines Crossover! Ja, ganz richtig gehört, denn Kaiu Shirai und Posuka Demizu, die Autoren von The Promised Neverland, haben kürzlich einen neuen Oneshot veröffentlicht – Spirit Photographer Saburo Kono! Wer ihn bislang noch nicht gelesen hat rate ich nur eines: Unbedingt reinschauen! Nicht nur aufgrund einiger sehr unterhaltsamer Easter Eggs, sondern auch, weil egal was die beiden machen, es ist großartig. Und könnte zum Verständnis dieser Fanfiktion beitragen, hehe…

So wie immer wünsche ich nun ganz viel Spaß beim Lesen und noch einen wunderschönen Tag!

OfficerSnickers


~ ~ ~


Ray seufzte auf.

Sollte er es wirklich tun? So vieles sprach dagegen, selbst wenn er nichts mehr zu verlieren hatte. Also, warum zögerte er noch?

Zum gefühlt tausendsten Male blickte er auf einen kleinen Notizzettel, den er in seiner Hand hielt. Ein Name, eine Adresse. Eine Profession. So wenig nur, und es hatte ausgereicht, ihn um die halbe Welt zu führen.
Sorgsam faltete Ray den Zettel wieder zusammen und ging auf das Haus zu, das er gesucht hatte. Ein schmales, mehrstöckiges Gebäude, welches sich nahtlos in die gleichsam aussehende Nachbarschaft einfügte, eine kleine Vorstadt der Peripherie Tokyos.
Ray war froh, ohne größere Umwege hierher gefunden zu haben. Seit seiner Ankunft am Flughafen war er geradezu erschlagen gewesen von den Unmengen an Menschen, an Fahrzeugen und Sinneseindrücken. Knappe drei Jahre in dieser Welt, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnen können.

Am Hauseingang waren weder Klingel noch Briefkasten angebracht, weswegen Ray schlussfolgerte, dass er wohl im Inneren des Gebäudes würde weitersuchen müssen. Vier Stockwerke später hatte er dann endlich das Ziel seiner Reise aufgespürt. Einmal mehr atmete er tief durch und klopfte dann an der grauen Holztür. Es vergingen nur wenige Sekunden, da öffnete sie sich ihm, und Ray, der beileibe kein schreckhafter Mensch war, taumelte verwundert einige Schritte zurück.

Vor ihm stand ein Mann, ein wahrer Hüne, der sich zu Ray herunterbeugte, der nun selber nicht gerade kleingewachsen war. Unter seinem schwarzen Hut quollen ebenso dunkle Locken hervor und große, neugierige Augen fixierten den Jugendlichen, halb verborgen im Schatten der Hutkrempe.
Aber nichts von alledem war es, das Ray am meisten aus der Bahn warf. Es war das Lächeln dieses Mannes, ein breites, zähnefletschendes Grinsen, das sprichwörtlich von einem Ohr zum nächsten reichte. Er war es gewohnt, von Leuten umgeben zu sein, die überglücklich und wie die Sonne strahlen konnten. Doch das hier, das hier war etwas vollkommen anderes.

Der erste verblüffte, sprachlose Moment verging und Ray fand seine Fassung wieder. Auch wenn sein Gegenüber ihm seinem Geschmack nach viel zu nahe stand, straffte er die Schultern, hielt ihm die Hand entgegen und sagte: „Saburou Kouno, nehme ich an?“

Die Augen des Mannes verengten sich, sein Grinsen allerdings blieb schaurig wie zuvor. Dann nickte er und erhob sich zu voller Größe, Ray um mehrere Köpfe überragend.

„In der Tat, ich bin Saburou Kouno. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Junge ließ seine Hand sinken, vergrub sie in seiner Jackentasche. „Mein Name ist Ray“, antwortete er. „Ich hatte Sie kürzlich kontaktiert. Erinnern Sie sich?“

„Selbstverständlich erinnere ich mich. Nur die wenigsten meiner Klienten suchen mich von sich aus auf.“ Fragend hob Ray eine Braue bei dieser Bemerkung, aber keiner der beiden ging näher darauf ein. Stattdessen wandte Konou sich zur Tür, seinen Gast weiterhin anlächelnd. „Ich denke, wir sollten unser Gespräch lieber in meinem Büro fortsetzen.“

Ray folgte ihm wortlos, bemerkte bloß, wie der Mann sich unter dem Türrahmen ducken musste, um durchzupassen. Was das anbetraf, machte er Adam und Zazie ziemliche Konkurrenz.

Jegliche spöttische Gedanken vergingen dem Jungen allerdings schnell, als er das Innere des Büros sah. Oder vielmehr, was Konou als Büro bezeichnete. Ein Schreibtisch. Je ein Stuhl davor und dahinter. Mehrere Metallkoffer, die wahllos verteilt in einer Ecke standen. Und das war‘s.
Ray war seit seiner Ankunft in der Menschenwelt schon in vielen Büros gewesen. Anträge ausfüllen, Identifikationen ausstellen lassen und immer wieder die gleichen Fragen beantworten müssen, für dutzende von Kindern und Erwachsenen und allem, was dazwischen lag.

Eine wahre Bereicherung für seinen von schrecklichen Ereignissen nicht armen Erfahrungsschatz.

Aber nie in der ganzen Zeit hatte auch nur eines der Büros so ausgesehen wie dieses hier. So… so leer. Karg. Geradezu verwaist. Als ob sich Konou nur zum Schein hier aufhalten würde. Reichlich dubios. Jedoch, was war an diesem Zeitgenossen schon nicht dubios?

Kono nahm hinter dem Schreibtisch Platz, Ray setzte sich ihm gegenüber, seine Umhängetasche neben sich abstellend. Interessiert bemerkte er die Kamera, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand, zwischen ungeordneten Papieren und einem Bücherstapel, der sich gefährlich schräg nach einer Seite beugte.
Ein reichlich veraltetes Modell, diese Kamera, dem nicht unähnlich, das Ray früher selbst einmal sein Eigen genannt hatte. Zu gerne hätte er sie sich einmal näher betrachtet, aber…

Wie schon seit dem Augenblick, an dem Ray an die Tür geklopft hatte, grinste Kono ihn an, das Gesicht auf seine Handflächen gestützt, halb verborgen durch seinen Hut.

„Nun denn, Ray“, schon allein wie er seinen Namen aussprach bereitete dem Jugendlichen eine Gänsehaut, „du hast mich vor kurzer Zeit kontaktiert, weil du meine Hilfe benötigen würdest. Daher nehme ich an, dir ist bewusst, was ich von Beruf bin?“

„Fotograf.“ Nun konnte sich auch Ray eines sarkastischen Lächelns nicht mehr verwehren. „Genauer gesagt, ein Fotograf, spezialisiert auf das Abbilden von Geistern.“

Er hätte es kaum für möglich gehalten, doch das Fletschen seines Gegenübers schien noch breiter als zuvor zu werden.

„In der Tat. Meine Arbeit ist es, Seelen Verstorbener in Fotos einzufangen. Seelen derjenigen, die mit ihrem Leben oder ihrem Tod noch nicht abgeschlossen haben.“ Er verstummte, rieb sich nachdenklich das Kinn. „Oder manchmal auch noch nicht mit denen, die sie zurücklassen mussten.“

Ray schluckte. Das Ganze klang reichlich verrückt. Esoterische Spinnerei, vollkommen unwissenschaftlich und hanebüchen. Als Pragmatiker, der er nun einmal war, hätte er sich darüber kaputtlachen sollen.

Andererseits… wer von ihnen stammte aus einer Welt mit kinderfressenden Monstern, gentechnisch veränderten Individuen mit übermenschlichen Fähigkeiten und noch dazu einem raum- zeitkontrollierenden, allmächtigen Dämonengott?

Da hörte sich Geisterfotografie schon gar nicht mehr so lächerlich an.

„Und da du mich aufgesucht hast, gehe ich davon aus, dass du einer solchen Seele begegnet bist.“

Die Worte Konous rissen Ray aus seiner Grübelei. Je länger er hier saß und dieses Gespräch andauerte, desto alberner kam er sich vor. Wie zum Himmel sollte er sich erklären? Er wusste ja nicht einmal selbst, ob-

„Ich… ich habe keinen Geist gesehen“, entgegnete er, an den Fransen seines Schals zupfend. Kono schien leicht verwirrt über diese Aussage zu sein, wie er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Ray sah auf zu ihm, bemüht, seinen inneren Tumult nicht nach außen strahlen zu lassen. „Aber ich habe eine Präsenz gespürt. Gehört, wie sie meinen Namen rufen. Als wollten sie… als wüssten sie genau, wo sie mich hinlotsen müssen.“

„Sie? Es waren also mehrere Geister, deiner Aussage nach?“

„Ja. Drei, um genau zu sein.“

„Und wie oft hattest du bereits das Gefühl, von ihnen heimgesucht zu werden?“

„Es war ein einmaliges Erlebnis, dieses Frühjahr. Davor und danach ist mir nie dergleichen passiert.“ Ray zögerte, senkte den Kopf, sodass dunkle Strähnen sein Gesicht bedeckten. „Und es war auch keine Heimsuchung. Alles anderes als das.“

Saburou Kouno betrachtete den Jungen vor sich, bemerkte, wie er nun immer wieder seinem Blick auswich, sobald er selbst etwas über seine Erfahrungen preisgeben musste. Er schien wirklich ganz und gar verstört zu sein, selbst wenn er es gut zu verbergen wusste.

„Nun gut. Aber weshalb hast du mich dann aufgesucht?“, fragte der Ältere. „Mir scheint, die Seelen haben dir keinen Schaden zugefügt noch belästigen sie dich in irgendeiner Form. Was erhoffst du dir also von meinen Diensten?“

Rays Züge wurden ausdruckslos. Die Fragen des Fotografen waren absolut berechtigt, und er hätte bereits im Vorfeld mit ihnen rechnen können, doch so sehr er auch hin- und herüberlegte – eine Antwort darauf fand er nicht.

Langsam erhob er sich und verbeugte sich leicht, griff dann nach seiner Umhängetasche. „Sie haben recht. Es tut mir leid, Ihre Zeit verschwendet zu haben.“ Ray hatte sich kaum auf dem Absatz umgedreht, da stand Kouno schon vor ihm, lächeln wie eh und je.

„Moment mal. Ich habe nicht gesagt, dass ich der Sache nicht nachgehen möchte“, erwiderte er, die Arme hinter dem Rücken verborgen. „Wo auch immer es eine Seele mit meinen Bildern einzufangen gibt, bin ich zur Stelle. Mich würde nur deine Motivation interessieren, diese Geistersichtung mit mir zu teilen.“

Erneut bekam er von Ray nichts als Schweigen zu hören, was Kouno schließlich mit einem Schulterzucken quittierte.

„Auch gut. Du wirst schon deine Gründe haben. Jetzt will ich nur noch wissen, wo du Zeuge dieses Ereignisses geworden bist.“

Nun war es an Ray, ihm ein Lächeln zu schenken, halb hämische Grimasse, halb aufrichtige Entschuldigung für das, was er jetzt sagen würde.

„In Weißrussland.“

~ ~ ~
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