vigilante
von memoirst
Kurzbeschreibung
Verletzte Menschen verletzen Menschen. Wie gut für Isaak, dass es kaum mehr wehtat. [ Beitrag zur Challenge »Superkräfte« ]
OneshotThriller, Übernatürlich / P16 / Gen
06.09.2020
06.09.2020
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1.958
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06.09.2020
1.958
vigilante
×
tw: selbstverletzendes verhalten
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Es hatte als Spiel begonnen.
Zuerst war da die Nagelschere gewesen. Maria hatte sie wie einen Dolch gehalten, die Spitze geradezu lächerlich klein in ihrer Faust, und so wild damit herumgefuchtelt, dass sie mehrere Anläufe brauchte, um überhaupt zu treffen.
Verbogen.
Dann das Cuttermesser, das sie auf Ems Rückbank gefunden hatten, versteckt zwischen Fast Food Verpackungen, längst überfälligen Knöllchen und Wechselkleidung, die Isaak nicht mal gegen Bezahlung übergezogen hätte.
Stumpf geschnitten.
Dann der Baseballschläger. In der Mitte entzwei gebrochen, beim Auftreffen zersplittert.
Der Stein in Ems Hand, der erst dann Anwendung fand, als sie damit fertig waren, sich bei dem Anblick vor Lachen auf dem Schotterboden zu rollen.
Abel hatten sie ihn in der Atempause zwischen zwei Lachanfällen genannt, und die Erinnerung daran ließ ihn auch fast fünf Jahre darauf noch lächeln.
Em hatte nicht fest genug zugeschlagen, als dass der Stein in der Mitte durchgebrochen wäre, aber fest genug, dass Isaak auf dem Hosenboden gelandet war.
Bestenfalls hätte es in einer Platzwunde enden müssen; sie hätten sie ihn zurück in Ems Jeep zerren und den ganzen Weg von der Stadtrand-Klippe bis zur Notaufnahme fahren müssen.
Stattdessen hatte Isaak bloß über seine unverletzte Stirn gewischt, feucht vom vorbeiziehenden Regenschauer. Schotter und Dreck in seinen Handflächen, die ihn genauso wenig störten wie der Stein an seiner Schläfe.
Ein Grinsen. „Nochmal.“
Sie waren solche Idioten gewesen.
×
Der dampfende Pappbecher beschlug seine Brillengläser, als er den Kaffee zum Mund führte.
Schwarz, keine Milch, kein Zucker. Frisch gebrüht und kochend heiß – schließlich hatte er es auch so bestellt. In der Tat so heiß, dass der Kaffee Blasen in seinem Rachen werfen müsste.
Isaak leerte den halben Becher in einem Zug.
Sein Blick lag auf dem Hinterkopf des Mannes wenige Meter vor ihm, der seinen unförmigen Mantel im aufkommenden Wind enger um sich schlug.
Er war groß, fast bullig, und überragte Isaak um einen guten Kopf. Seine Schultern waren beinahe bis zu den Ohren angezogen und er lief ein wenig gedrungen, als versuchte er, seine eigene Größe zu kaschieren.
Die wenigen Passanten an diesem späten Winternachmittag wichen seinen stapfenden Schritten wie selbstverständlich aus.
Der Mantel bereitete Isaak Sorgen – an einer Stelle ausgebeult, Schlagstock oder Messer oder eine hässliche Kombination von beidem – und vielleicht hätte er warten sollen, warten, bis Maria ihm das OK gab, bis sie mehr in der Hand hatten als die Polizeiakte, das Führungszeugnis, den Verstoß gegen die Bewährungsauflagen.
Vielleicht. Aber viel anders hätte es nicht ausgehen können.
Nummer Elf, dachte Isaak. Hallo, Nummer Elf.
Es war nicht so, dass er sich darum riss, was gleich geschehen würde.
Isaak hatte ein zartes Gemüt, schon von Kindesbeinen an. Auch sein Vater – Ex-Militär, ersichtlich in den drahtigen Muskeln und dem Ausdruck in den Augen, immer irgendwo zwischen gehetzt und panisch und so, so wütend – hatte es ihm nicht ausprügeln können.
Manchmal schlug er so zu, als wäre ihm ein Gegner lieber als ein Sandsack. Aber damit konnte Isaak nicht dienen.
Und obwohl er über die Jahre abgestumpft war – in jeder Hinsicht – schlich sich jedes Mal ein bestechender Widerwille in sein Handwerk.
Aber das hier war größer als er, größer als seine zaghaften Bedenken.
Das hier war Gerechtigkeit.
Isaak legte den Kopf in den Nacken und spülte den restlichen Kaffee herunter.
Als er ausatmete, war die Atemwolke vor seinem Gesicht so dick und weiß, dass es ihm für einen kurzen Moment die Sicht nahm. Gerade so konnte er erkennen, wie der Mann in eine der verwinkelten Seitenstraßen abtauchte.
Im Vorbeigehen stellte Isaak den Pappbecher auf dem Rand eines überquellenden Mülleimers ab und rückte seinen Schal gerade, erlaubte sich eine kurze Gedankenpause.
Einatmen. Ausatmen.
Dann lief er dem Mann hinterher.
×
Das letzte Mal, als Isaak geblutet hatte, war er sechzehn Jahre alt gewesen.
Vielleicht war es das offene Garagentor gewesen, das ihn gestört hatte.
Vielleicht die Tatsache, dass der Kühlschrank leer war.
Vielleicht die Musik aus Isaaks Zimmer, der Klaviertastenschlag aus dem alten Recorder.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Zeit zum Fragen blieb ihm nicht, nachdem die Zimmertür aufgestoßen wurde.
Seitdem seine Mutter ausgezogen war – nun am anderen Ende des Landes mit Haus, Hof und Hund und sich einen Namen als freie Künstlerin machte – war es schlimmer geworden.
Ein Frontenkampf war es schon immer gewesen, und seine Verbündeten wechselten ständig.
Dann war es Dad und Isaak gegen Mom.
Dann war es Mom und Isaak gegen Dad.
Immer Mom und Dad gegeneinander.
Krieg, ganz ohne Rosen.
Bis es Isaak war, der ganz allein auf einer Seite der Gleichung stand.
Er hatte im Fallen eine Blumenvase von der Fensterbank gefegt.
Die Wasserlache hatte sich beinahe bis zu seinem Teppich ausgebreitet. In einer Hocke kniete er dort, die Füße nass, und sammelte die Scherben in der behelfsmäßigen Schürze seines T-Shirts ein.
Isaak glaubte, sich zu erinnern, etwas von einer schlechten Biologienote gehört zu haben, aber er hatte es in dem Rückhandschlag geschmeckt, dass jeder Grund ein guter Grund gewesen wäre.
Die aufgeplatzte Lippe pochte unangenehm.
Blut im Mund – seine Zahnspange hatte ihm die Wange eingerissen.
Unter seinen Füßen wurde der Fernseher im Wohnzimmer mit einem gonggongong lebendig, das die Abendnachrichten ankündigte.
Ruhe. Für eine halbe Stunde, zumindest.
Und als er sich nach vorne beugen wollte, um die Glasscherbe zu erwischen, die halb unter das Bett gerollt war, verlor das Gleichgewicht. Kam mit den Knien zuerst auf.
Das Knirschen unter ihm signalisierte, dass er die Überbleibsel der zersprungenen Vase getroffen hatte. Isaak bewegte sich für eine lange, lange Sekunde nicht.
Er sah auf seine Knie herab, die schmerzten, wie Knie schmerzten, wenn man in einen Scherbenhaufen fiel.
Isaak wartete darauf, dass sich die Wasserlache rosa färbte.
Nichts geschah.
Und als er dann aufstand und die Scherben von seinen Knien bürstete – kleine Dellen in seiner Haut, die mehr hätten sein müssen als nur Dellen und sich fast augenblicklich glätteten – da war er sich nicht sicher, ob er lachen oder schreien wollte.
Zwei Jahre zu spät. Ganze zwei Jahre zu spät.
Die Stimmen von unten, das Zappen durch die Kanäle – die Nachrichten, ein Werbespot, ein alter Cartoon, ein Western – hallte ihm in einer erschreckenden Lautstärke in den Ohren.
Isaaks Hände fanden seine blutige Lippe. Dann zuckte er mit den Schultern.
Besser spät als nie.
×
Es war nicht so einfach über die Bühne gegangen, wie Isaak gehofft hatte.
Er hatte recht behalten, was den Mantel anging: Ein Schlagstock, die Spitze mit einem Eisenmantel überzogen, hart genug, um Knochen zu brechen.
Doch auch das war nicht mehr als eine zeitweilige Hürde, wenn selbst der siebte, achte, neunte Hieb keine Früchte trug. Irgendwo in dieser Situation war ein Witz über Messer und Schießereien versteckt.
Gott lobe die Schalldämpfer.
Die Gasse lag bereits mehrere Straßen hinter ihm – und die Treppe zum U-Bahn-Schacht war er schon zur Hälfte herunter – als das Sirenenheulen einsetzte.
Isaak hielt in seinem Abstieg inne, lauschte.
Draußen war es dunkel und wurde dunkler.
Maria würde ihn ordentlich zusammenstauchen, sobald er nach Hause kam.
Frühestens am nächsten Morgen hätte er sich auf die Suche begeben sollen. Er konnte nicht einmal behaupten, dass er zufällig in der Gegend gewesen war.
Aber etwas an dem polizeilichen Führungszeugnis – Kindesmisshandlung und Tierquälerei gingen immer Hand in Hand – hatte ihn jegliche Vorsicht in den Wind schlagen lassen.
Vor fünf Jahren hätte dieses überstürzte Handeln seiner Vollstrecker-Karriere ein jähes Ende bereitet. Nicht so sehr heute.
Isaak mochte es kaum zugeben, aber er wurde gut darin.
Sie alle hatten sich gebessert – Em mit den Fotos und Maria mit den Datenbanken und später Noah, der die Autopsien übernahm, die ihnen gefährlich werden konnten.
Isaak hatte keine Größenwahnfantasien über Bestimmungen und Schicksal – auch wenn er sich eingestehen musste, wie furchtbar praktisch seine Kraft war – denn das war Schall und Rauch, und es war auch nicht so, als würde ihm die ganze Sache Spaß bereiten. Ganz im Gegenteil.
Er hasste die Notwendigkeit.
Es war harte, schweißtreibende, manchmal ekelerregende Arbeit. Aber es war Arbeit, die getan werden musste.
Selbstjustiz zeichnete sich gemeinhin nicht durch klinische Präzision aus, aber genau so war sie zu verrichten.
Unparteiisch. Still. Gefasst.
Seine Nummer Eins war schlampig gewesen.
Seine Hände zu sauber, roh und aufgedunsen.
Gedämpfte Schluchzer über dem Waschbecken, Spiegel beschlagen von heißem Atem und heißem Wasser, aufgerissenes Nagelbett und der Wasserhahn so warm, dass er sich kalt anfühlte.
Es hatte ausgesehen wie ein Kampf, aber Isaak hatte nicht ausgesehen, als wäre er in einem gewesen, vollkommen unverletzt und mit ehrlicher Betroffenheit in den Augen, also verflüchtigte sich der Verdacht so schnell, wie er zustande gekommen war.
Und überhaupt, die Kinderschutzbehörde war bislang nur einmal hinzu gezogen worden und hatte nichts an dem Kriegsveteranen aussetzen können.
×
Eine Sache, die man nicht über Unzerstörbarkeit verriet: Es tat trotzdem weh.
Es tat weh, wie ein Brückensprung wehtat – von fünfzig Metern Höhe auf der Wasseroberfläche aufkommen, hart wie Beton.
Es tat weh, wie ein Glas Reinigungschlor wehtat, die Nase mit zwei Fingern geschlossen, die nichts gegen das Beißen in der Kehle ausrichten konnten, als sich die Chemikalien seine Speiseröhre hinab fraßen.
Es tat weh wie ein Strick, weh wie ein Kopfschuss, tat weh wie ein Messer in den Rippen, ein halbes Dutzend von ihnen, verbogene Klingen in einem Halbkreis um ihn herum.
Es tat weh, aber es tat nicht weh genug.
Nicht auf die Weise, die er kannte. Nicht auf die Weise, die menschlich machte.
Ob es ein Trick seines Gehirns war, das scharfe Eintreten eines Messers zu spüren, ohne dass es seine Haut überhaupt verletzt hatte?
Und mit der Zeit flaute auch das Schmerzgefühl ab, als hätte es nur auf diese Erkenntnis gewartet.
Isaak erinnerte sich gern an die Stadtrand-Klippe zurück, an das Lachen, an den dämlichen Spitznamen, an die ehrliche Neugier.
Bevor Grenzen-Austesten zu Grenzen-Überschreiten wurde.
Bevor das Wörtchen Konsequenz aus seinem Wortschatz gestrichen wurde.
Und an schlechten Tagen rechtfertigte auch der Zweck die Mittel nicht.
Aber wenn er eines von seinem Vater gelernt hatte, dann war es Mund zu, Kopf runter. Stillschweigendes Ertragen.
Ein kleiner Preis, fand Isaak, für ein bisschen Gerechtigkeit.
×
Das U-Bahn-Abteil war bis auf den letzten Platz besetzt. Feierabendstimmung.
Isaak stand, mit einer Hand an dem Haltehenkel oberhalb seines Kopfes.
Hier, im Untergrund, waren die Sirenen nicht mehr zu hören.
Die Tunnelwände zogen rasend schnell an den Fenstern vorbei und nicht zum ersten Mal fragte er sich, was wohl passieren würde, wenn er sich auf die Gleise warf. Sein Körper eine einzige Delle, so wie einst seine Knie, von den Glasscherben undurchstochen, die sich wieder glätten würde, sobald der Zug ihn passiert hatte.
Der Gedanke war so unwillkommen und sonderbar, dass er sich schnaubend von den Fensterscheiben abwandte.
Das Handy in seiner Tasche vibrierte.
Isaak grabschte danach und fuhr mit dem Daumen über das gesplitterte Display.
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Em.
hey, abel!
sei mir nicht böse aber ich war heute wieder auf der pirsch.
maria weiß noch nichts davon also pssht.
der ist jetzt seit einem halben jahr auf bewährung. glaub mir du willst dir die browser history gar nicht angucken. der war wohl in einzelhaft, so ein vorstrafenregister ist im knast normalerweise nicht langlebig.
wie sieht’s aus?
maria weiß noch nichts davon also pssht.
der ist jetzt seit einem halben jahr auf bewährung. glaub mir du willst dir die browser history gar nicht angucken. der war wohl in einzelhaft, so ein vorstrafenregister ist im knast normalerweise nicht langlebig.
wie sieht’s aus?
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Hallo, dachte Isaak, als er eine Antwort tippte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Die Welt war grausam und an schlechten Tagen rechtfertigte der Zweck die Mittel nicht. Es wurde nicht einfacher, aber es tat immer weniger weh – und vielleicht konnte das ja irgendwann ein und dasselbe sein.
Ein geringer Preis für ein bisschen Gerichtigkeit.
Isaak hatte nun schon lange keinen schlechten Tag mehr gehabt.
Hallo, Nummer Zwölf.
⌀
yo ~
danke an nymphen für die challenge und danke an die würfelgötter, die mir diese bomben kraft zugespielt haben. und natürlich an euch, fürs lesen. über eure gedanken zu der kurzgeschichte würde ich mich unglaublich freuen!
mfg memo