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Ohne ihn an deiner Seite

von Bibi77
Kurzbeschreibung
OneshotSchmerz/Trost / P12 / Gen
Alexander Brandtner Rex Richard "Richie" Moser
28.08.2020
28.08.2020
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3.006
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28.08.2020 3.006
 
„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“
Sonja seufzt und legt das Telefon endgültig beiseite. Richard hat also eine neue Handynummer. Wenn sie doch nur das Adressenbuch mit seiner Haustelefonnummer wiederfinden würde. Aber man sagt ja nicht umsonst: dreimal umgezogen ist wie einmal abgebrannt. Wieder einmal spürt sie deutlich: viel zu lange lebt sie nun schon in Amerika. Aus sechs Monaten ist mehr als ein ganzes Jahr geworden und Wien ist so weit weg wie ein entfernter Planet.

Sie geht zum Fenster und sieht hinaus auf die Häuserschluchten. Millionen Fenster mit Millionen von Lichtern und noch einmal so viele Menschen, die dahinter leben. Doch Sonja kann nur immer an den einen denken, der auch nach all den Monaten noch mietfrei in ihrem Herzen wohnt.
Umsonst hat sie gehofft, es würde besser werden, sich immer wieder eingeredet, dass sie sich richtig entschieden hat, ins Ausland zu gehen. Und ja, beruflich gesehen hat sie das auch. Und ist es nicht auch Richard selbst gewesen, der ihr die Entscheidung damals, zumindest zum Teil, abgenommen hat, weil er nur die Arbeit im Kopf und kaum Zeit für sie gehabt hatte? Anfangs hat sie wirklich gedacht, ohne ihn würde es ihr besser gehen und eine Pause, eine Ablenkung wäre gut. Noch nichts Endgültiges hat es sein sollen. Nie hat sie Richard direkt gesagt, dass sie wiederkommen wird. Aber auch nie, dass sie nicht wiederkommt. Nun spürt sie jedoch immer mehr, dass ihr der ganze berufliche Erfolg nichts nützt, wenn das Innere leer ist und man weiß, dass man auch im Herzen eines anderen eine Wüste hinterlassen hat. Aber darf sie nach all den Monaten überhaupt noch hoffen, dass Richard auf sie wartet?  

So oft hat sie es schon gedanklich durchgespielt, vor Richards Tür gestanden und ihn um einen Neuanfang gebeten. Manchmal nimmt er sie dann in die Arme und sie versprechen sich, dass sie jetzt alles besser machen wollen. Manchmal ist aber auch alles zu spät und er schickt sie einfach weg.
Diese Ungewissheit, die ist das Schlimmste. Wie geht es Richard? Denkt er manchmal auch noch an sie? Hat er ihr wenigstens ein bisschen verzeihen können? Oder ist da vielleicht längst eine andere Frau an seiner Seite?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Und Sonja weiß, wenn sie nicht wenigstens noch ein einziges Mal nach Wien zurückkehrt, dann wird sie es nie erfahren – und es vielleicht für immer bereuen. Ja, vielleicht wird er sie abweisen. Vielleicht hat er eine andere. Dann wird sie damit leben müssen. Aber dann können sie wenigstens beide einen Schlussstrich ziehen. So oder so: bald wird sie wissen, ob Wien sie wieder mit offenen Armen empfangen wird oder ob sie die Stadt für immer hinter sich lassen kann.

.~ . ~ .

Zwei Wochen später steht Sonja vor Richards Haus im Wiener Gürtel, genau an der Stelle, an der er ihr damals ins Fahrrad gelaufen ist – ihre erste Begegnung. Es ist ein ebenso schöner Sommertag gewesen wie der heutige. Hätte sie ihm damals nicht von den Besitzern des Hauses erzählt, dann hätte er es niemals gemietet und sie hätten sich vermutlich nie wiedergesehen.

Am Straßenrand vor dem Grundstück steht ein schwarzer Audi. Richard hat also nicht nur die Telefonnummer, sondern auch das Auto gewechselt. Es ist eigenartig, ihn sich in einem anderen vorzustellen. Für Sonja hat der Alfa Romeo irgendwie genauso zu Richard gehört wie Rex. Aber an ein anderes Auto wird sie sich schon gewöhnen können…

Mit klopfendem Herzen tritt Sonja durch das offenstehende Gartentor.
Der Garten sieht ungewohnt ordentlich aus. Der Rasen ist gemäht, vor dem Haus wuchern keine verwilderten Sträucher mehr. Ein zartes Pflänzchen der Hoffnung keimt in Sonja auf. Hat Richard nun doch mehr Zeit fürs Private gefunden?
Und dann steht Rex plötzlich da, auf der kleinen Veranda in der warmen Abendsonne, und kläfft sie an.
Sonja muss lächeln. Ihr ist, als wäre sie nach Monaten in der einsamen Wildnis wieder auf ein Anzeichen der Zivilisation gestoßen.
Rex legt die Ohren an und bellt wie verrückt. Natürlich, er hat sie ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und muss sein Grundstück gegen den Eindringling verteidigen.
„Ja, Rex, erkennst du mich nicht mehr, was!“, ruft Sonja ihm entgegen. Da stellt er endlich neugierig die Ohren auf. Sein Kopf neigt sich fragend von einer Seite zur anderen. „Na komm her, du Held!“ Noch zögerlich kommt er angetrabt, schnuppert an der Hand, die sie ihm hinhält. Dann gibt es kein Halten mehr. Winselnd leckt er ihr die Hände, springt immer wieder an ihr hoch und stößt sie beinahe ins Gras. Sonja kann gerade noch das Gleichgewicht halten. Sie lacht und herzt und knuddelt ihn und ist wie betrunken vor Glück. Die Zweifel, die Ungewissheit, die Angst vor einer Ablehnung – Rex‘ wedelnde Rute fegt sie alle weg. Der Anfang ist gemacht. Wenn doch nur Richard auch so reagieren –

„Ähm, Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?“
Sonja fährt zusammen. Das ist nicht Richards Stimme. Und es ist auch nicht Richard, der da gerade auf sie zu kommt. Es ist ein großer, sportlicher junger Mann in etwa seinem Alter, mit freundlichen Augen und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sonja hat ihn noch nie gesehen. Jetzt ist es ihr sehr unangenehm, dass sie einfach so auf das Grundstück spaziert ist. Langsam, als hätte man sie bei einem Einbruch ertappt, steht sie auf.
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier so hereinplatze“, sagt sie. Rex lässt von ihr ab, setzt sich neben den Fremden und sieht zu ihm auf. Sie scheinen sich gut zu kennen. Woher, ist Sonja ein Rätsel, aber vielleicht stellt sie sich besser erst einmal vor? „Mein Name is Sonja Koller. Ich hab‘ eigentlich zum Richard gewollt, Richard Moser. Sind Sie ein Freund von ihm?“ Vielleicht ist Richard irgendwohin verreist, wo er den Rex nicht hat mitnehmen können?

Das Lächeln des Anderen verblasst. Wieso sieht er sie auf einmal so merkwürdig überrascht an?
„Alexander Brandtner“, sagte er schließlich und bietet ihr einen zaghaften Händedruck. „Nein, ich bin…“ Er zögert. In seinen Augen liegt ein Ausdruck der Verlegenheit. „Darf ich vielleicht erst fragen, in welchem Verhältnis Sie zum Herrn Moser stehen?“
So, wie er fragt, erkennt Sonja sofort: er ist Polizist. Einer, der sich auch mal Zeit zum Zuhören nimmt und nicht jeden gleich wegschickt. Ein gutes Zeichen? Vielleicht ist er ja ein neuer Kollege? Aber wie soll sie ihm das jetzt am besten erklären, das mit ihr und Richard?
„Ich bin…“ Nein, anders: „Wir sind einmal eine ganze Zeit zusammen gewesen.“ Sonja spürt einen Kloß in ihrem Hals, den sie nur mit Mühe wieder hinunterschlucken kann. „Ich habe jetzt eine Weile in Amerika gearbeitet. Dadurch ist der Kontakt leider abgebrochen und…“ Weiter will sie dann doch nicht reden.
Alex nickt. „Verstehe. Dann wissen Sie’s also noch nicht.“
Sonja erstarrt. Was soll das bedeuten? Ist Richard versetzt worden? Umgezogen? Aber wieso hat er Rex dann nicht mitgenommen? Er würde doch niemals ohne den Hund… Ihr Herz beginnt ängstlich zu klopfen. „Was weiß ich noch nicht?“ Ihre Stimme ist plötzlich sehr weit weg. Sonja wird schwummrig. „Wa-was ist mit Richard?“ Wieso ist Rex hier bei diesem Fremden, aber Richard nicht zu Hause? Jetzt ahnt sie es. Nein, sie weiß es. Und doch hofft sie, dass es nicht wahr ist. Bitte, bitte, lass es nicht wahr sein!
„Der Kollege Moser ist leider bei einem Einsatz ums Leben gekommen.“
Die letzten drei Worte reißen Sonjas Herz in tausend Fetzen. Ihr Verstand schreit: Nein! Nein, nein, nein! Das kann nicht sein! Und ihre Stimme sagt nur: „Was?“ Der Boden unter Sonjas Füßen schwankt.
„Ja, es tut mir wahnsinnig leid“, sagt Alex, „aber er ist tot.“

Drei Buchstaben und die Welt steht auf einen Ruck still. Nur die Gedanken rasen weiter.
Tot? Was bedeutet das? Wie kann das sein? Am Flughafen, da hat er doch noch vor ihr gestanden, ihr die Reisetasche umgehängt, die er für sie bis zum Schalter getragen hat. „Ruf an, wenn du da bist, ja?“, hat er noch gesagt und gelächelt. Das traurigste Lächeln, dass sie je gesehen hat. Und seine Augen... So hilflos und verwirrt wie ein Hund hat er da gestanden, den man aus dem idyllischen Familienleben plötzlich hinaus auf die Straße schmeißt und sich selbst überlässt.
Tot? Das heißt, sie kann das nie wieder gut machen. Das heißt, sie wird ihn nie wiedersehen, nie wieder mit ihm reden, lachen, ausgehen, ihn in die Arme nehmen können. Für immer „Kein Anschluss unter dieser Nummer“.
Tot. Aber er muss doch da sein! Da drin, irgendwo in diesem Haus da hinten! Oder er muss doch wenigstens einmal wieder nach Hause kommen! Nur noch ein einziges Mal. Damit sie sich vernünftig auf Wiedersehen sagen können. Es kann doch nicht einfach zu spät sein!

Sonja spürt einen sanften Druck an ihren Oberarmen. Alex hält sie fest und rettet sie vor dem freien Fall. Durch einen Tränenschleier sieht sie ihn an.
„Wie ist das passiert?“, bringt Sonja gerade noch hervor. Sie MUSS es wissen. Vielleicht kann sie es dann besser verstehen.
„Wollen Sie nicht besser kurz mitkommen?“ Alex nickt in Richtung Haus. Er sieht besorgt aus. Sonja will da nicht rein, aber sie will ihm auch nicht vor den Kopf stoßen und allein gelassen werden und geht mit. Ihre Beine fühlen sich an, als würden sie überhaupt nicht zu ihr dazugehören. Alles fühlt sich an, als wäre es nicht real, sondern nur ein Traum, eine andere Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der sie nicht leben möchte.

Im Haus bricht sofort eine Flutwelle aus Erinnerungen über ihr zusammen.
Ihre erste Verabredung mit Richard.
Gleich neben der Tür dort hat das kleine rote Ledersofa gestanden, auf dem sie gesessen hat. Sie sieht den improvisierten Tisch vor sich, darauf die rote Rose im Glas. Rex hat einen gelben Tennisball in den Weg gerollt. Da ist es wieder, dieses laute Scheppern, als Richard stolpert und den Tisch umreißt. Noch einmal sieht sie ihn in den Trümmern sitzen und hört ihn schimpfen: „Ach so! ‚Freiheiten‘ nennt man das jetz also, wenn ich auf die Fresse falle?“

Gleich dahinter das Schlafzimmer.
Sonja ist, als müsse Richard jeden Moment um die Ecke kommen. Barfuß und in Unterwäsche tapst er schlaftrunken auf sie zu und ruft: „Rex! Wo sind’n die Socken hin?“
Sonja muss lächeln.

Das Bett.
Noch einmal sinkt sie in Richards Armen in die Kissen, spürt seine bebende Brust, die warme Haut und seine weichen vollen Lippen, hört ihn atmen und ihren Namen ins Ohr flüstern.

Dann, ein Schuss.
Richard leblos am Boden. Die Brust, die sie eben noch gestreichelt hat, voller Blut. Blaulicht, Sirenen, Notaufnahme. Richard im grellen Licht einer runden Operationslampe, Kabel, Schläuche, Ärzte, Schwestern, die um sein Leben kämpfen. Umsonst.
Ist es so gewesen? Und was hat SIE zu diesem Zeitpunkt getan? Hat sie mit ihren Kollegen in einer Bar gesessen, gelacht und Cocktails geschlürft? Hat sie geschlafen, vielleicht in einem Seminar gesessen oder einfach nur ferngesehen? Vielleicht hat sie auch genau in diesem Moment an ihn gedacht. Hätte sie es vielleicht verhindern können, wenn –

Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. Sonja schließt die Augen. Bitte, lass es Richard sein! Nur noch dieses eine Mal, lass es Richard sein!
Es ist Alex – nur Alex. Er neigt den Kopf fragend auf ihre Höhe und hält ihr eine Packung Papiertaschentücher hin. Erst jetzt merkt Sonja, dass ihr Gesicht nass ist vor Tränen.
„Ich muss hier raus“, sagt sie. Ihre Stimme erstickt fast, SIE erstickt fast.

Draußen an der frischen Luft, auf der Stufe vor der Veranda, kann sie wieder durchatmen. Nur dieser Schmerz in ihrem Brustkorb ist noch da. Ein fester Knoten, der sich immer wieder zusammenzieht, wenn sie an das denkt, was sie verloren hat.
Alex sitzt neben ihr und bemüht sich sehr, es ihr vorsichtig begreiflich zu machen.
„Ich war nicht dabei, aber es hat wohl bei einem Einsatz eine Schießerei gegeben“, erzählt er.  „Dabei muss es ihn unglücklich erwischt haben. Man hat ihn noch ins Spital gebracht, aber“, Alex atmet seufzend aus, „er hatte keine Chance. Meine Kollegen Böck und Höllerer können Ihnen sicher mehr darüber erzählen. Sie haben in dem Fall ermittelt.“
Sonja schüttelt den Kopf. Nein, sie hat genug gehört und schon jetzt mehr Bilder davon im Kopf als sie vertragen kann. Ihre Nase und ihre Augen sind schon ganz wund und auch das Taschentuch macht nicht den Eindruck, als könne es noch mehr Nässe aushalten.

Rex liegt einige Meter entfernt auf dem Rasen und sieht hechelnd in Richtung Gartentor. Ob er wohl manchmal noch an Richard denkt und hofft, dass er doch noch einmal wiederkommt? Sonja weiß es nicht. Sie wird es auch nie erfahren.
„Wie kommt denn der Rex mit der Situation zurecht?“ Wenigstens das muss sie noch wissen.
„Als ich das Team übernommen hab, hat er nur apathisch hier im Haus gelegen und so gut wie alles verweigert, was man ihm angeboten hat. Die Kollegen haben sich um ihn gekümmert, sogar hier übernachtet, aber nichts zu machen. Aber offenbar haben wir zwei gleich einen guten Draht zueinander gefunden“, meint Alex mit einem Lächeln. „Ich hab Erfahrung mit Hunden, vielleicht deshalb. Naja, und weil der Rex hier nicht ausziehen wollte, bin ich halt bei ihm eingezogen.“
„Das ist schön zu wissen.“
Die Tierärztin in ihr ist auch ehrlich froh über diese Entwicklung. Der andere Teil von Sonja dagegen denkt verbittert, wie schnell ein Mensch doch in Vergessenheit geraten und ersetzt werden kann. Sie weiß, es ist schlecht von ihr, so zu denken, aber sie kann sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Rex jetzt zu einem anderen gehört und dass dieser andere in Richards Haus wohnt, aufgeräumt, einen großen Boxsack in seinem Wohnzimmer aufgehängt und seinen Garten in Ordnung gebracht hat. Vielleicht wird sie sich irgendwann daran gewöhnen, andererseits muss sie es aber auch gar nicht. Sie weiß schon jetzt, dass sie nie wieder zu diesem Haus zurückkehren wird.

Eine Kohlmeise tschilpt auf dem hohen Bretterzaun. Schwalben segeln lärmend die Straße auf und ab und jagen nach Mücken in der lauen Abendluft, die erfüllt ist von Vogelzwitschern und dem fernen Verkehrsrauschen der Stadt. Alles ist so friedlich und ruhig als sei nichts passiert und doch kommt Sonja die Welt völlig verändert vor.
„Ich frage mich, ob es vielleicht anders gekommen wäre, wenn ich mich früher entschieden hätte, zurückzukehren. Oder wenn ich nie nach Amerika gegangen wäre“, sagt sie irgendwann in die Stille hinein. „Ich mein, ich hab‘ immer geahnt, dass es einmal kein gutes Ende mit Richard nehmen wird und immer Angst um ihn gehabt, aber“, sie schnieft und muss sich wieder die Augen wischen, „ich hab trotzdem immer gedacht, es wäre noch so viel Zeit.“
„Das versteh ich, dass Sie das jetzt denken“, sagt Alex sofort. „Aber woher soll man vorher wissen, ob eine Entscheidung die falsche oder eine Begegnung vielleicht die letzte war? Und vielleicht ist es auch gut so, dass man es nicht weiß – meistens jedenfalls.“ Er macht eine kleine Pause. „Was ich damit sagen will ist: Machen Sie sich, bitte, keine Vorwürfe. Der Moser war ein erfahrener Polizist. Er wusste in diesem Moment genau, was er tut. Und ich glaube nicht, dass die Ereignisse einen anderen Verlauf genommen hätten, wenn Sie früher hier in Wien gewesen wären. Sehr wahrscheinlich nicht. Jeder von Ihnen wäre nach dem Frühstück zu seiner Arbeit gefahren und irgendwann im Laufe des Tages hätten Sie einen Anruf vom Spital oder vom Böck oder dem Höllerer bekommen.“ Wieder eine Pause. „Seien Sie froh, dass Sie ihn so in Erinnerung behalten können wie Sie ihn gekannt haben und nicht – na, Sie wissen schon.“
Sonja nickt. Nein, das möchte sie sich wirklich nicht vorstellen, wie Richard da im Spital – Nein, sie will nicht mehr davon reden. Und sie will auch nichts mehr davon hören, ob er durch seinen Tod Schlimmeres verhindert und vielleicht ein anderes Leben gerettet hat. Ja, auch das ist egoistisch gedacht, aber es wäre ihr lieber gewesen, es hätte jeden anderen getroffen, nur den Richard nicht. Aber so ist das wohl im Leben: Nur selten gibt es ein Happy end und noch seltener für die, denen man es wirklich wünscht. Die Guten fallen immer zuerst. Es ist, wie es ist.
„Jedenfalls vielen Dank für das Gespräch“, kürzt Sonja die Sache schließlich ab. Sie schnieft und bemüht sich um ein Lächeln. „Das hat sehr gutgetan. Aber ich denke, es is besser, wenn ich jetzt geh.“

Am Gartentor verabschieden sie sich. Erst sie und Alex, dann sie und Rex – ein Abschied für immer. Die beiden sind jetzt ein neues Team. Damit wird sie leben müssen. Ein bisschen hat Alex ja recht gehabt: Sie will alles so in Erinnerung behalten, wie es einmal gewesen ist – ein wildes Haus mit einem wilden Garten und Rex an der Seite von Richard, auch wenn sie langsam begreift, dass diese Zeit unwiederbringlich vorbei ist. Richard wird in diesem Haus nie wieder über Tennisbälle fallen, nie wieder morgens im Halbschlaf nach seinen Sachen suchen. Und nie wird er sie in seine Arme nehmen und ihr verzeihen können. Er liegt jetzt irgendwo für immer allein in der dunklen Erde und schläft den großen Schlaf, aus dem selbst zehn Schäferhunde ihn nicht mehr wecken können. Sonja hat ganz vergessen zu fragen, auf welchem Friedhof.

Der Abschied von Rex fällt ihr schwer. Immerhin ist er wie eine letzte Verbindung zu Richard und schon allein deshalb möchte sie ihn am liebsten mitnehmen. Ein letztes Mal schließt sie den Rüden an ihr Herz und krault ihm zärtlich den flauschigen Kopf.
Wie in einem Sog zieht es sie in Rex‘ warme braune Hundeaugen hinein. Richard spiegelt sich darin. Im grauen Mantel läuft er in seinem typischen eilig-schlendernden Gang vor ihr her durch die grauen Altbauschluchten der Stadt. Menschen, Geschäfte und Autos fluten an ihm vorbei, Straßenbahnen bimmeln. In der Ferne die Glocken vom Stephansdom. Richard pflügt sich immer weiter durch die Massen, vorbei am Trubel, den Freuden und Verirrungen des Lebens. Das alles geht ihn nun nichts mehr an. Sonja kann ihm kaum noch folgen. Der Abstand zu ihm wird größer, seine Silhouette immer kleiner, bis er schließlich in der Ferne in einer dichten Nebelwand für immer verschwindet.
Es ist vorbei, für immer vorbei. Und nie hat sie ihm sagen können: Ich liebe dich.
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