Ein Zeichen von Dankbarkeit
von Elischka
Kurzbeschreibung
>An einem kalten Winterabend fiel mir zum ersten Mal auf, dass etwas mit dem Yuujinchou nicht stimmte. Ich hatte bereits viele Namen zurückgegeben, doch schien sich das Buch keineswegs zu verändern. Dennoch glaubte ich an jenem Abend, dass das Buch an Seiten dazugewonnen hat.<
OneshotFreundschaft, Übernatürlich / P12 / Gen
Kaname Tanuma
Nyanko-sensei / Madara
Shuichi Natori
Takashi Natsume
22.08.2020
22.08.2020
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7.196
7
22.08.2020
7.196
Huhuu :)
Willkommen zu meiner ersten und vermutlich auch letzten Natsume Yuujinchou-Fanfiktion^^ Dieser Brocken liegt nun schon seit einigen Jahren halb fertig auf meinem Rechner herum, sodass ich mich jetzt endlich mal dazu erbarmt habe, ihn fertig zu schreiben. Leider bin ich sehr eingerostet, was Kreatives Schreiben betrifft. Deshalb wäre es echt toll, wenn irgendjemand das hier liest und anschließend auch ein Feedback schreibt!
In der Geschichte gibt es wenige Spoiler, sofern man mit dem Manga nicht aktuell ist. Das bestrifft aber fast ausschließlich die letzte Szene mit Natori-san.
Ich wünsche euch jetzt viel Lesespaß^^
LG Elischka
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Sie waren noch nie besonders freundlich zu mir, doch nachdem ich zu den Fujiwaras gezogen war, schienen sie mir aggressiver als je zuvor. Der Grund dafür lag im Erbe meiner Großmutter Reiko.
Das Buch der Freunde. Das Yuujinchou.
Ein Buch, in denen all die Namen der Youkais stehen, die Reiko-san zu einem Kampf herausgefordert hat und besiegte. Es ist eine Sammlung unvorstellbarer Macht, die in den falschen Händen mehr Schaden anrichten könnte, als ich mir vorstellen vermag. Aus diesem Grund kam ich zu dem Entschluss, jenen Youkais ihre Namen zurückzugeben, die mich aufsuchten.
Es war an einem kalten Winterabend, an dem mir zum ersten Mal auffiel, dass etwas mit dem Yuujinchou nicht stimmte. Ich hatte bereits viele Namen zurückgegeben, doch schien sich das Buch keineswegs zu verändern. Sensei beschwerte sich immer, das Yuujinchou würde mit jedem Namen, den ich zurückgab, dünner werden und tatsächlich sollte genau das nach vernünftigen Menschenverstand passieren. Und dennoch glaubte ich an jenem Abend, dass das Buch an Seiten dazugewonnen hat.
»Nyanko-sensei«, fragte ich verwirrt, in der Hoffnung seine Aufmerksamkeit zu erhalten. »Hast du das Yuujinchou angefasst?«
Der Youkai in Katzengestalt öffnete lediglich ein Auge und musterte mich.
»Wie kommst du darauf? Ich bin ein nobler Ayakashi. Ich halte mich an Versprechen, die ich gemacht habe. Das Yuujinchou gehört dir, solange du am Leben bist.« Daraufhin schloss er wieder sein Auge und kuschelte sich zurück in das Kissen, welches auf dem Boden lag. Ich runzelte die Stirn.
Ich hätte schwören können, dass das Buch vor einigen Tagen noch weniger Seiten hatte. Abwesend blätterte ich die Seiten durch. All diese Youkais, die ihre Namen an einen Menschen verloren haben -
»Mach dir keine Sorgen, Natsume«, erklang Senseis Stimme. »Es ist alles in bester Ordnung. Immerhin bin ich dein Beschützer.«
Am darauffolgenden Tag machten Taki und ich einen Ausflug zu den näherliegenden Bergen, in denen Kai lebte. Wir hatten uns schon lange dazu entschlossen den Flussgott zu besuchen. Taki, welche Sensei enthusiastisch zu Tode knuddelte, plapperte munter vor sich hin, wie froh sie sei, Kai endlich wiederzutreffen. Immerhin war fast ein halbes Jahr vergangen, seit der Gott die Stadt verlassen hatte, um wieder in den Bergen zu leben.
Auf dem Weg zum nächstgelegenen Schrein trafen wir auf die unterschiedlichsten Youkais. Kleine, wie große Ayakashi, die sich am Wegesrand versammelten und miteinander tuschelten. Immer wieder kam die Frage auf, wer diese Menschen seien, die den Wald betreten haben.
»Sensei, kommt es mir nur so vor, oder sind heute mehr Youkais unterwegs?«, fragte ich verunsichert. Nyanko-sensei blickte weiter stur geradeaus.
»Sei kein Idiot, wir sind auf einem Berg, wo kaum Menschen leben. Natürlich findet man hier mehr Ayakashis. Es ist ihr Lebensraum.« Der Kater hielt kurz inne. »Und ihr da! Geht zu diesem jämmerlichen Wassergott und sagt ihm, Natsume ist den weiten Weg hierher gekommen!«
Die Youkai schreckten auf, wiederholten meinen Namen wie ein Mantra, bevor sie sich in alle Richtungen verstreuten, um nach Kai zu suchen. Ich musste seufzen.
»Hättest du das ihnen nicht etwas freundlicher sagen können?« Doch Sensei ignorierte mich gekonnt.
»Sag, Natsume-kun? Sind hier viele Youkais? Wie sehen sie aus?«, fragte mich Taki. Ich schaute mich noch einmal um.
»Es sind mehr als üblich, würde ich sagen. Ich habe vorhin eine Gruppe Kappa gesehen. Sie müssen wohl am Fluss leben, der hier entspringt.« Aus dem Augenwinkel fing ich einen violett-blauen Kimono ein, den ich nur von einem Youkai kannte.
»Hinoe?«, fragte ich. Jetzt blieb auch Sensei stehen.
»Was redest du jetzt schon wieder?«
»Ich dachte nur, ich habe dort hinten Hinoe gesehen«, meinte ich und wollte in die Richtung des Youkai gehen, doch Sensei versperrte mir den Weg. Als ich ihn fragen wollte, was sein seltsames Verhalten bedeutet, nahm ich schnelle Schritte wahr.
»NATSUMEEEEE!« Kai kam auf uns zu gerannt. Der junge Flussgott schien mehr als nur erfreut über unseren Besuch zu sein. »Ich habe dich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen! Taki! Du bist auch gekommen!«
Kai umarmte mich stürmisch. »Tut mir Leid, dass ich gegangen bin ohne mich zu verabschieden«, murmelte er, während er sein Gesicht in meine Jacke drückte. Ich musste lächeln. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich den Jungen vermisst hatte. Trotz der Tatsache, dass Kai eigentlich ein Gott war, erschien er mir sehr menschlich.
Kai führte uns zu jener Quelle, die er beschützen musste. Ein kleiner Schrein, gerade groß genug, damit wir ihn mit erhobenen Hauptes durchschreiten konnten, verbarg die Flussquelle in ihrem Inneren. Kaum hatte Kai den heiligen Ort betreten, umfingen ihn seidene Gewänder in den unterschiedlichsten Farbtönen des Wassers. Sie schillerten im Licht, als wären sie die Schuppen eines seltenen Fisches. Sie gaben Kai die Aura eines Gottes. In diesem einen Moment verstand ich wahrhaftig, dass dieser Junge niemals nur ein Mensch sein konnte.
»Kommt mit! Ich zeige euch mein zu Hause!« Kai nahm Takis Hand und zog sie mit sich. Voller Begeisterung führte uns der junge Gott von einem Ort zum nächsten. Und je weiter wir voranschritten, umso mehr spürte ich, wie mich jemand beobachtete. Ich sah mich um.
Bildete ich mir das nur ein?
Sensei bemerkte mein Zögern. »Natsume? Taki und der Bengel sind schon weiter.«
»Bleib bei ihnen, Sensei«, sagte ich zu dem Kater und wandte mich ab. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich hörte noch, wie Sensei einen empörten Aufschrei von sich gab und mir hinterherrief, ich solle doch zurückkommen. Ehe ich mich aber versah, trugen mich meine Beine durch den dichten Wald vorbei an den unzähligen Youkai, die wie lästige Schaulustige an meinen Fersen hefteten.
Da war dieses Gefühl. Es nagte tief in meiner Brust und ließ sich einfach nicht beschreiben. Was war das? Ich stolperte über eine Wurzel, als es weiter bergab ging. Meine Tasche, in der das Yuujinchou schwer lag, presste ich an mich.
Irgendwo dort war eine unglaublich große Kraft. Eine Kraft, die nach mir rief.
Der Wald lichtete sich, als ich auf eine kleine Lichtung stolperte. Hier waren noch mehr Youkais als am Wegesrand. Was war hier los? In der Mitte der Lichtung hoben sich drei weiße Gestalten vom Rest ab. Sie schienen im Licht zu glänzen. Es war fast so, als seien sie unter all den mythischen Wesen, diejenigen, die die größten Geheimnisse in sich trugen. Neben ihnen konnte ich die beiden mittelklassigen Youkais sehen, die in meiner Nähe lebten.
Was ging hier vor sich? Zuerst glaubte ich, Hinoe zu sehen, und jetzt traf ich die beiden an?
Zwei der weißgoldenen Ayakashi drehten sich zu mir um. Ein tiefes Grollen ertönte aus ihrem Mund, als sie diesen öffneten.
»Ist er das?«, fragten sie. Der dritte hob den Kopf.
»Ich spüre eine unglaublich große spirituelle Kraft von dem Jungen.« Die drei Wesen überbrückten die Distanz zwischen uns. Von Nahem erschienen sie mir noch mächtiger. Meine Augen weiteten sich, als der Youkai eine Hand hob und sie auf meinen Kopf bettete. »Ja, wenn es stimmt, was ihr uns erzählt habt, dann ist er durchaus in der Lage dieses Schicksal zu tragen.«
Die Hand ruhte mit einer unbeschreiblichen Kraft auf meinem Kopf. Lag es nur an mir, oder wurde mein Körper immer schwerer? Verzweifelt versuchte ich wach zu bleiben. Was passierte mit mir?
»Eure Bitte wurde genehmigt. Der Rest liegt an euch«, hörte ich die Stimme des ältesten Ayakashi.
Als ich das nächste Mal zu mir kam, blickte ich in das besorgte Gesicht von Touko-san.
»Takashi-kun?«, fragte die ältere Frau. »Wie fühlst du dich? Ist dir schwindlig? Kalt?«
Verwirrt drehte ich den Kopf. Wie war ich in mein Zimmer gelangt?
»Was ist passiert?« Meine Stimme erklang wie ein grausames Krächzen, als hätte ich sie bereits Tage nicht mehr verwendet.
»Bleib liegen, Takashi-kun. Ich gehe den Arzt holen.« Touko-san erhob sich rasch und verließ das Zimmer.
»Sensei?« Nur wenige Sekunden später spürte ich seinen voluminösen Körper an meine Seite gepresst.
»Du bist wirklich ein Schwächling. Kaum lasse ich dich nur einen Moment aus den Augen und du bist tagelang ans Bett gefesselt«, beschwerte er sich.
»Was ist vorgefallen?«, fragte ich ihn. Der Kater setzte sich aufrecht hin.
»Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern? Nachdem du einfach weggerannt bist, habe ich Taki und den kleinen Gott geholt. Als wir auf der Lichtung angekommen sind, lagst du bereits zusammengebrochen am Boden. Das war vor drei Tagen gewesen.«
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Drei Tage?! Das bedeutet dann ... Ich bereitete Touko-san und den Anderen wieder nur Ärger.
Sensei schien meine Gedanken zu lesen, denn plötzlich spürte ich seine Tatze in meinem Gesicht.
»Aho! Sieh lieber zu, dass du wieder schnell gesund wirst!«
Und als wären Senseis Worte verzaubert, wurden meine Augenlider schwerer und schwerer. Ich wusste nicht, wie lange ich danach schlief, aber nach den besorgten Blicken von Touko-san und Shigeru-san zu urteilen, war es länger, als mir lieb war.
Eine Woche verstrich, bevor ich genug Kraft hatte, um wieder zur Schule zu gehen. Touko-san schien immer noch besorgt zu sein. Ich versicherte ihr mehrmals, dass es mir wieder gut ging. Vielleicht lag es daran, dass ich noch etwas schwach auf den Beinen war oder Sensei einfach nur einen Spaziergang machen wollte, aber der Kater begleitete mich bis zur Tür meines Klassenzimmers.
Nishimura und Kitamoto erwarteten mich bereits. Winkend lotsten sie mich zu ihnen, freundliche Gesichter strahlten mir entgegen.
»Yo, Natsume! Geht es dir wieder gut? Du sollst Taki-san einen ganz schönen Schrecken eingejagt haben«, begrüßte mich Kitamoto. Entschuldigend lächelte ich die Beiden an. Ich hatte wirklich den Anderen wieder viel zu viel Ärger bereitet.
»Keine Sorge, mir geht es wieder gut. Ich soll mich nur die nächsten Tage schonen«, erklärte ich ihnen. Meine Klassenkameraden schien die Antwort zu gefallen, weil sie kurz darauf das Thema wechselten. Ich nutzte die Zeit dafür, um meine Sachen für den Unterricht vorzubereiten. Gerade als ich mein Notizheft herausholen wollte, blieb mein Blick über dem Yuujinchou hängen.
Komisch, dachte ich. Ich hatte es gar nicht in die Tasche getan.
Mir fiel jedoch wieder auf, dass das Yuujinchou an Gewicht zugenommen hatte. Wie konnte es sein? Ich hatte es die gesamte Woche nicht angefasst, da Sensei darauf bestand mich zu erholen, ehe ich weitere Namen zurückgab. Wie konnte es plötzlich sein, dass weitere Blätter dazu gekommen sind?
Meine Gedanken wurden durch die Schulglocke unterbrochen. Besorgt schob ich das Yuujinchou zurück in die Tasche und setzte sie neben meinem Platz ab. Währenddessen ging die Tür zum Klassenzimmer erneut auf und unsere Lehrerin trat hinein.
Ich musste diesbezüglich wohl Nyanko-sensei fragen.
Sensei half kein bisschen weiter. Der Kater ignorierte all meine Sorgen und lenkte ständig vom Thema ab, ehe Touko-san zum Essen rief und er wie ein geölter Blitz die Treppen hinunter fegte. Würde er jeden Tag eine solche atemberaubende Geschwindigkeit an den Tag legen, hätte er wohl kein Übergewichtsproblem in seiner Katzengestalt.
Am Esstisch mit Shigeru-san und Touko-san wurde bereits munter diskutiert, was sie an ihrem gemeinsamen freien Tag unternehmen würden. Senseis Gesicht hing derweil tief in seiner Schüssel mit gebratenen Reis und Fisch. Der Youkai zählte sich selbst zu den Feinschmeckern und verweigerte sämtliches Katzenfutter, was ihm angeboten wurde. Stattdessen musste Touko-san ihm eine eigene Portion des jeweiligen Abendessens zubereiten. Tatsächlich verübeln konnte ich es ihm nicht, schließlich konnte Touko-san unglaublich gut kochen.
Touko-san sah auf, als ich den Raum betrat. »Ah, Takashi-kun! Wie wäre es, wenn wir morgen alle gemeinsam in die Berge fahren? Shigeru-san kennt dort einen sehr schönen Gasthof, wo wir übernachten können.«
Ich setze mich zu ihr und nahm ihr die Reisschüssel ab, die sie mir hinhielt. »Mit Übernachtung? Geht das denn in Ordnung?«
Touko-san nickte freudig. »Natürlich. Wenn ich mich recht entsinne, warst du mit deinen Freunden auch schon dort. Du weißt schon, das Gasthaus mit dem großen Teich, von dem man sagt, eine Meerjungfrau wohne darin.«
Ich stutzte. Das Gasthaus mit dem großen Teich? »Ah!«
War das nicht Heimat von der Meerjungfrau Sasafune? Sie war einer der ersten Yokais, die ihren Namen zurück erhielten. Wegen einem Missverständnis verlor sie das Vertrauen in die Menschen. Später wurde ihr der Name von Reiko-san geraubt.
»Ich erinnere mich. Chizu-san war damals wirklich sehr nett zu uns.«
Shigeru-san sah zufrieden aus mit seiner Wahl. »Dann rufe ich sie gleich noch an, damit wir ein Zimmer reservieren können.«
Das restliche Abendessen verlief ruhig, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, als ob mich jemand beobachten würde. Vielleicht lag es nur an Senseis stechenden Blick, mit dem er mich zu überwachen schien.
In der Nacht darauf bekamen wir Besuch von Misuzu und Hinoe. Die beiden Yokais kümmerten sich nicht, wie laut ihre Ankunft war. Das Haus durchlebte ein kleines Beben, als sich Misuzus massiver Körper auf das Dach legte.
»Guten Abend, ihr beiden«, begrüßte ich sie. »Was macht ihr hier?«
Hinoe nahm einen Zug von ihrer Pfeife, während sie durch mein Zimmer streifte. Ihr Blick fiel schon kurze Zeit später auf den niedrigen Schreibtisch, auf dem das Yuujinchou lag.
»Wir wollten dir lediglich einen Besuch abstatten. Madara erwähnte letzte Nacht, dass du heute wieder in die Menschenschule gegangen bist.«
»J-Ja. Mir geht es schon viel besser«, erwiderte ich verdutzt. Hinoe verhielt sich seltsam.
»Außerdem hörten wir, dass du morgen schon wieder verreisen wirst«, ergänzte Misuzu, dessen Kopf größer als mein Fenster war, durch welches er hineinschaute. Ich wollte tatsächlich nicht wissen, wie sie bereits zwei Stunden nach dem Gespräch darüber Bescheid wussten.
»Touko-san und Shigeru-san möchten einen Ausflug in die Berge machen. Wir werden bei dem Gasthaus von Sasafune übernachten.« Bei dem Namen der Meerjungfrau horchten die Yokais auf. Selbst Senseis Ohren wackelten, obwohl er es versuchte zu verbergen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich schließlich nach. Hinoe verneinte viel zu schnell. Ich wurde das Gefühl nicht los, als ob die drei etwas in Schilde führten.
»Natsume.« Sensei sah mich auffordernd an. »Du denkst schon wieder zu viel. Leg dich lieber hin, dein Körper ist noch schwach. Wir wollen doch nicht, dass du morgen wieder umfällst.«
Als jegliche Proteste auf taube Ohren fielen, gab ich mich schließlich geschlagen. Sensei blieb an meinem Futon sitzen, bis ich einschlief.
In den Wochen darauf wurde es immer bizarrer. Meine Gesundheit wurde nicht besser, sodass ich fast jede Woche das Bett hüten musste. Sensei blieb die gesamte Zeit über an meiner Seite. Touko-san schien äußerst besorgt zu sein. Sie schaute jede Stunde nach, wie es mir ging und versuchte mich mit aller Macht im Bett zu behalten. Währenddessen konnte ich es nicht mehr leugnen, dass etwas mit dem Yuujinchou nicht stimmte. Innerhalb der letzten drei Wochen hatte es fast doppelt so viele Seiten wie zuvor. Mit jeder Nacht kamen neue Blätter dazu. Immer mehr und mehr Namen erschienen im Buch der Freunde, obwohl es niemals seinen Platz verließ. Ich wurde sogar so paranoid, dass ich das Buch unter mein Kopfkissen legte, weil ich so glaubte, es besser im Blick zu haben. Letztendlich half nichts davon. Sensei hörte sich tagtäglich meine Sorgen und Ängste um das Yuujinchou an, jedoch sagte er nichts zu all dem.
Während ich tagsüber das Bett hüten musste und Touko-san mit dem Haushalt beschäftigt war, kamen die Yokais aus dem nahegelegenden Wald zu Besuch. Am häufigsten tauchten die mittelklassigen Yokais, Hinoe, Benio und Misuzus Untergebene auf. Manchmal kam auch das Kappa zu Besuch, welches ich im Hochsommer immer mit Wasser versorgte, wenn es wieder einmal zu weit vom Fluss entfernt war.
An einem regnerischen Freitag stand plötzlich Kai vor dem Fenster. Ich hatte ihn seit unserem letzten viel zu kurzen Besuch nicht mehr gesehen. Der junge Gott schien aufgelöst zu sein, als er durch das Fenster in mein Zimmer kletterte und sich neben meinen Futon hockte.
»Natsume!«, brachte er mit weinerlichen Stimme aus sich heraus. »Wieso geht es dir so schlecht?«
Da Sensei mir verbat, mich richtig aufzusetzen, hob ich lediglich eine Hand und strich mit ihr die Strähnen aus Kais Gesicht.
»Keine Sorge, mir geht es bald wieder besser. Sensei und Touko-san sind nur etwas überempfindlich.« Recht hatte ich damit nicht unbedingt. Mir wurde ständig schwindelig und ich konnte mich an den meisten Tagen kaum auf den Beinen halten. Mein Magen rebellierte an den bloßen Gedanken von Nahrung und ich bekam so häufig Fieber, dass Touko-san bereits damit drohte, mich ins Krankenhaus zu schicken.
»A-Aber ... es tut mir so Leid!« Der Damm war gebrochen. Kai weinte, als würde seine gesamte Welt zusammenbrechen. Die umliegenden Yokais, die das Spektakel klammheimlich ansahen, kicherten über den weinenden Kindergott. Kai schien das wenig zu interessieren. Wie der Schwall seiner Tränen versuchte er mir stockenden Worten zu erklären, warum er für meine Lage schuld sei. Letztendlich konnte ich kein Wort verstehen. Der Tag war für meinen geschwächten Körper bereits anstrengend gewesen, weshalb es mir mit jeder Minute mehr die Augen zusammen zog. Nyanko-sensei schien das selbstverständlich schnell zu merken und scheuchte die kleinen Yokais aus dem Raum heraus. Nur noch Kai blieb an meiner Seite, der meine Hand fest umklammerte, während er weiter stumm Tränen vergoss.
Das Yuujinchou zählte über tausend Seiten, als ich es an einem sonnigen Nachmittag in den Händen hielt. Jeder einzelne Name war sorgfältig auf blütenweißen Papier gezeichnet worden. Ich erkannte zum Teil Namen wieder, die ich schon längst zurückgegeben hatte. Andere Namen kamen mir nur wage bekannt vor.
Sensei hatte sich kurz zuvor zu einem Saufgelage eingeladen, sobald er merkte, dass es mir wesentlich besser ging. Kaum war der Yokai aus dem Haus verschwunden, griff ich nach dem Yuujinchou und untersuchte es sorgfältig. Es gab keinerlei Anzeichen darauf, dass Seiten nachträglich eingefügt worden waren. Wie nur gelangten all diese Namen in das Buch? Ich beschloss, mir nicht weiter in diesem kleinen Raum den Kopf zu zerbrechen und nahm das Yuujinchou mit nach draußen.
Der Winter wurde viel zu schnell vom Frühling verdrängt. Es hatte kaum geschneit, stattdessen bahnten sich bereits die ersten Frühlingsblüher ihren Weg durch das Erdreich. Trotzdem war der Wind eisig. Ich zog den warmen Schal, den mir Touko-san gestrickt hatte, ins Gesicht. Das Yuujinchou lag schwer in meiner Tasche, als ich den altbekannten Waldweg zu Tanuma einschlug. Ihm schien es in den letzten Wochen ähnlich schlecht zu gehen. Tanuma konnte die Anwesenheit der unzähligen Yokai spüren, die hier im Wald lebten. Der kurze Weg zum Tempel bestätigte meine Vermutung: Der Wald durchlebte einen kräftigen Ansturm neuer Ayakashi. Ich musste schwer schlucken, als ich die Blicke eines haarigen Yokais auf mir spürte.
»Tanuma-kun? Bist du da?«
Kurze Zeit später hörte ich dumpfe Schritte und die Tür wurde aufgeschoben. Tanumas Vater stand in seiner Mönchkluft vor mir.
»Natsume-kun? Möchtest du Kaname besuchen?«, fragte er. Ich nickte stumm. Der Mönch bat mich in sein Haus.
»Sag, Natsume-kun, ich weiß, dass du wie Kaname stark auf die Anwesenheit von Yokais reagierst. Was geht in den letzten Wochen vor sich?«
Wir bewegten uns leise durch das Haus. Mein Blick wanderte automatisch zu meiner Tasche.
»Es sind derzeit viel mehr Yokais unterwegs, als üblicherweise. Besonders viel weiß ich leider auch nicht über die Umstände. Ich war die letzten Wochen sehr angeschlagen und musste selbst das Bett hüten«, erklärte ich ihm. Tanumas Vater verstand das Problem.
»Sollte ich die Gegend vielleicht doch reinigen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Sie greifen niemanden an. Solange sie friedlich miteinander leben, würde ich es bevorzugen, wenn sie allein gelassen werden. Derzeit verstecken sie sich zum Großteil im tiefsten Teil des Waldes.«
»Verstehe. Das Angebot steht jedoch weiterhin«, gab er bekannt. Er deutete auf Tanumas Zimmertür, die ein Spalt geöffnet war. »Ich lasse euch jetzt allein. Wenn ihr irgendwas braucht, dann lasst es mich ruhig wissen.«
Ich bedankte mich bei ihm und betrat Tanumas Zimmer. Mein Freund lag auf seinem Futon und winkte mich mit müder Handbewegung zu sich her.
»Hey, Natsume.«
»Hey, Tanuma-kun.« Ich hockte mich neben ihn hin. »Dich scheint es ziemlich erwischt zu haben.«
Tanuma lachte. »Das kannst du wohl laut sagen! Von Taki habe ich aber gehört, dass es dir ganz ähnlich ging.«
»Ja«, bestätigte ich. »Mich hat es seit den Besuch bei Kai erwischt. Ich glaube, ich war den letzten Monat etwa fünf Tage in der Schule. Sensei hing bis heute die ganze Zeit an mir. Jetzt besäuft er sich vermutlich mit Hinoe und den anderen Yokais.«
Tanuma grinste nur über das Verhalten von Sensei.
»Ponta ist ziemlich fürsorglich, obwohl er sich immer recht kalt zeigt. Ich glaube aber nicht, dass du nur deswegen den ganzen Weg hierher gekommen bist, um dich über Ponta zu beschweren.«
Ich seufzte.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht. Außerdem hätte ich da ein Anliegen, was mir seit einigen Wochen Sorgen bereitet.« Tanuma sah mich verwundert an.
»Hat es was damit zu tun, dass du dich genauso anfühlst wie Ponta?«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wovon sprach er?
»Was meinst du damit?«
Jetzt war Tanuma an der Reihe mich verwirrt anzusehen. Erschöpft setzte er sich auf und rieb sich den Nacken. »Wie soll ich das am besten sagen.« Er überlegte.
»Du weißt doch, dass ich Kopfschmerzen bekomme, wenn ich die Yokais in der Nähe spüre. Das gleiche Gefühl habe ich, seit du den Raum betreten hast. Es ist nicht unangenehm oder dergleichen, eher wie ein leichtes Drücken, das meinen gesamten Körper schwerer macht. Ich fühle mich so, als müsste ich dir Respekt zollen. Das klingt echt seltsam, wenn ich es so ausspreche. Tut mir Leid.«
»Touko-san hat gestern etwas Ähnliches gesagt. Sie meinte, sie fühlt sich von meiner Anwesenheit erdrückt. Das hat sie zumindest zu Shigeru-san gesagt. Ich glaube nicht, dass sie wollte, dass ich es höre«, sagte ich mit leiser Stimme. »Das ist eigentlich nicht das, was ich dir erzählen wollte.«
»Seltsam«, sagte Tanuma mehr zu sich selbst, als zu mir. Er schüttelte den Gedanken ab. »Also was bereitet dir Sorgen?«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll ...«, beichtete ich schließlich. In meiner Hand hielt ich die ganze Zeit das Yuujinchou fest umklammert. Vorher konnte ich ohne Probleme meine Hand um die Bindung legen, jetzt hatte ich Schwierigkeiten alle Seiten zu erwischen. Es machte mir Angst.
Tanuma wusste nichts über das Yuujinchou. Ich würde ihn zuerst von dem Buch der Freunde erzählen müssen, ehe ich ihm vom eigentlichen Problem erzählen könnte.
»Versprich mir, dass du mit niemanden nur ein Sterbenswörtchen darüber sprichst«, presste ich mir heraus. Tanuma sah mich ernst an.
»Ich verspreche es dir. Du bist mein Freund, Natsume.«
Ich nickte steif. Niemand sollte jemals von dem Buch der Freunde erfahren. Selbst Natori-san wusste nicht viel über das Yuujinchou.
»Meine Großmutter Reiko-san hatte dieselbe Gabe wie ich.« Das war doch ein guter Anfang, oder? Ich erzählte Tanuma von dem Buch der Freunde. Von den Geschichten, wie meine Großmutter die Yokais besiegte und zwang, ihren Namen in das Yuujinchou zu schreiben. Schließlich zog ich das Buch aus meiner Tasche. Der grüne Stoff des Einbandes fühlte sich beruhigend an. Ich mochte das Yuujinchou. Auch wenn es so viele Yokais zu mir brachte, so sorgte es auch dafür, dass ich endlich Freunde bekam. Tanuma beäugte misstrauisch das Buch. Sein Stirnrunzeln wurde schlimmer, als er erfuhr, welche Kraft in diesen Seiten steckte.
»Vor etwa einem Monat fiel mir dann auf, dass mehr Seiten in das Buch gelangt sind«, erklärte ich mit stockender Stimme. »Seitdem wächst es. Jeden Tag kommen neue Namen hinzu. Ich habe versucht, mit Nyanko-sensei darüber zu reden, aber er blockt mich vollkommen ab.«
Tanuma starrte mich an. Ich wusste nicht, wie viele Minuten vergingen, ehe er seiner Schockstarre entkam.
»Das ... Natsume! Dieses Buch ist gefährlich!«
Ich sah ihn lediglich mit müden Gesicht an. Meine Kräfte schienen noch nicht ganz wieder da zu sein. Ich nahm das Buch der Freunde auf und blätterte es achtlos durch.
»Ich weiß. Deshalb darf niemand anderes es jemals in die Finger bekommen«, meinte ich. Den Pakt, den ich mit Sensei einging, überging ich in der Erzählung. Tanuma sollte sich nicht noch weiter Sorgen machen.
»Und du sagst, dass jeden Tag neue Seiten dazukommen?«, vergewisserte sich Tanuma. Ich nickte.
»Jeden Tag, obwohl ich es keine Sekunde aus den Augen lasse.«
»Und Ponta sagt nichts dazu? Deine anderen Yokai-Freunde auch nicht?«, fragte Tanuma weiter.
»Sensei sagt, ich solle mir keine Gedanken darüber machen. Er scheint fest davon überzeugt zu sein, dass alles in bester Ordnung ist«, bestätigte ich. Sachte legte ich das Buch wieder in meinen Schoß. Tanumas Hand wankte. Als wolle er gerne das Buch anfassen, aber er wusste vermutlich bereits, wie ich darauf reagieren würde.
»Vielleicht solltest du Ponta vertrauen. Was ich bisher von ihm mitbekommen habe, scheint er immer genau zu wissen, was Sache ist.«
»Ich weiß.«
»Warum hast du mich dann eingeweiht? Verstehe mich nicht falsch, ich bin froh, dass du mir ein solches Geheimnis anvertraut hast. Ich verstehe aber nicht, warum du dieses Risiko eingegangen bist«, sagte Tanuma. Ich sah zu ihm auf.
»Ich ... habe Angst, denke ich. Sensei sagt zwar, dass alles in Ordnung ist, aber es macht mir Angst, nicht zu wissen, was mit dem Buch los ist. Die anderen Yokais scheinen sich auch seltsam zu verhalten. Hinoe und Misuzu und Kai und alle Anderen. Als wüssten sie etwas, aber können mir nichts sagen.« Meine Stimme schwankte. Ich fühlte mich von ihnen betrogen. Sie hielten so offensichtlich ein Geheimnis vor mir zurück und verlangten von mir, dass ich es einfach hinnahm.
»Letztes Mal als mich Kai besuchte, weinte er sich die Augen aus. Ich glaube, er wollte mir etwas sagen, aber ich konnte ihn wegen seinem ganzen Weinen nicht verstehen. Sensei fragte mich noch Tage danach, woran ich mich von dem Gespräch erinnern konnte, als würde er sichergehen, dass sich Kai nicht verplappert hat.«
»Du glaubst also, dass die Yokai dahinterstecken?« Tanuma sah mich mit großen Augen an.
»Was würde sonst ihr Verhalten erklären?«, fragte ich ihn herausfordernd.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Tanuma, während er seine Bettdecke zurückschlug und sich aufraffte. »Wir sollten ihnen einen Besuch abstatten.«
»Warte, Tanuma-kun!« Doch war mein Freund bereits aus dem Zimmer verschwunden und sich winterfeste Kleidung anziehen. Ich stolperte mit meiner viel zu schweren Tasche aus seinem Zimmer heraus. Tanumas Vater sah von seiner Hofarbeit auf, als er seinen Sohn aus dem Tempel stürmen sah.
»Kaname! Du sollst dich doch nicht so überanstrengen!«
»Keine Sorge«, rief er über die Schulter, während er mich mit sich in den Wald zog. »Mir geht es gut! Ich bin zum Abendessen wieder da!«
Ich stürzte über eine Wurzel, als wir den breiten Waldweg hinter uns ließen und den schmalen Pfad ins Innere des Waldes betraten.
»Wo müssen wir lang?«, wollte Tanuma wissen. Ich seufzte lediglich und deutete in das dichte Gebüsch.
»Im Inneren gibt es eine große Lichtung, die kaum ein Mensch betritt. Sie liegt in Misuzus Hauptgebiet.«
Je weiter wir in den Wald vordrangen, umso leichter konnte ich atmen. Die Müdigkeit verließ meinen Körper und schlug in pure Entspannung um. Die kleinen Ayakashi entlang des Weges machten uns ohne Probleme Platz. Einige schienen sich sogar zu verbeugen, während wir an ihnen vorbeigingen. Tanuma konnte es nicht sehen. Stattdessen fasste er sich mehr als nur einmal an den Kopf, um seine Migräneattacken unter Kontrolle zu bringen.
»Ist es noch weit?«, wollte er etwa eine halbe Stunde von mir wissen, nachdem wir sein Haus verlassen hatten.
Ich verneinte. »Wir sollten bald da sein. Wir müssen die nächste kleine Kreuzung abpassen, dann schlagen wir den verschlungenen linken Weg ein. Dann dauert es nicht mehr lange.«
Tanuma nickte. Er schob tiefhängende Äste zur Seite, die uns sonst in das Gesicht schlagen würden. Ich bückte mich währendessen, um unter einen quer gefallenen Baum hindurch zu schlüpfen.
»Natsume?«
»Ja?« Ich schaute über meine Schulter. Tanuma sah mich erstaunten Ausdruck an. Er ließ den Ast in seiner Hand langsam los, als er sich wieder gerade aufstellte.
»Stimmt etwas nicht?« Unsicher drehte ich mich zu ihm um.
Tanumas Mund öffnete sich, jedoch brachte er keinen Ton heraus. Er schloss ihn wieder, ehe er es noch einmal versuchte.
»Wie tief sind wir im Wald?«
»Diese Seite des Waldes gehört den Yokai. Ich habe hier noch nie einen Menschen gesehen«, sagte ich mit sachter Stimme. Die Yokais um uns herum scheuten den Weg. Fades Licht kletterte durch das Blätterdach hoch über unseren Köpfen auf den Waldboden. In der Luft schwirrte es, als sei der Frühling bereits in den Sommer übergegangen. Dieser Wechsel der Jahreszeiten war üblich in der Yokaiwelt, wenn man sich in den Übergangsphasen befand. Das Grün der Blätter leuchtete dennoch unnatürlich hell, als seien die Knospen erst vor kurzem aufgegangen.
»Wollen wir weiter?«
»Natsume.« Tanuma hatte sich kein Stück bewegt. Wie angewurzelt stand er hinter dem umgefallenen Baum. »Ich glaube, ich weiß, was die Yokai getan haben.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Sieh dich an«, forderte er mich mühevoll auf. Tanuma verwirrte mich immer mehr. Ich sah zu mir herunter. Ich erwartete, dass ich meine normale Kleidung und Tasche sah. Stattdessen wurde ich von einer bunten Mischung aus goldenen, grünen und orangen Stoffen begrüßt. In meiner Hand lag das Yuujinchou, welches sich plötzlich so viel leichter anfühlte. Die Alterserscheinungen schienen plötzlich vollkommen von dem Buch verschwunden zu sein. Der grüne Stoff des Einbandes erstrahlte genauso wie die jungen Blätter des Waldes. Ein einzelnes rotes Band hing an meinem Handgelenk und verband mich mit dem Buch.
»W-Wa-?«
Ich drehte mich in alle Richtungen. Seit wann trug ich einen so prächtigen Kimono? In komplizierten Mustern zierten sich die goldenen Ränder entlang des Stoffes. Jede Lage fühlte sich wie pure Seide an. Ein Blick über die Schulter verriet noch ein weiteres Problem: meine Haare. Wie ein sandfarbener Wasserfall ergaben sich die einzelnen Strähnen über meine Schulter bis tief in den Rücken und über meine Kniekehlen hinweg. An meinem Kopf spürte ich die Bänder einer Maske. Ich griff danach und betrachtete sie. Das Gesicht von Nyanko-sensei sah mir entgegen.
»Wann ist das passiert?«, fragte ich verwirrt. Wenn ich es nicht besser wüsste, sahen die Sachen genauso aus, wie die von Kai, als wir den Wassergott besuchten.
»Bevor du unter den Baum durchgegangen bist, sahst du noch normal aus. Aber davor hast du angefangen zu glitzern«, erklärte Tanuma, welcher seine Worte wiedergefunden hatte.
»Ich habe geglitzert«, stellte ich ungläubig fest.
»Besser kann ich es nicht erklären!«, verteidigte sich nun Tanuma entsetzt. »Es waren wie kleine Glühwürmchen, die um dich geschwebt sind.«
»Glühwürmchen.« Tanumas Erklärungen wurden immer skurriler.
»Wenn du es gesehen hättest, dann würdest du es genauso beschreiben!«, beschwerte er sich nun. Ich zuckte nur mit den Achseln. Jetzt hatte ich erst einmal andere Sorgen.
»Ich nehme an, dass das vorher noch nicht passiert ist?«
»Nicht das ich wüsste«, bestätigte ich Tanumas Sorge. »Ich denke, Sensei hat einiges zu erklären.«
Ein letzter Blick fiel auf den Baum, ehe wir uns weiter durch den dichten Wald kämpften. Die kleinen Yokais hüpften nun teilweise freudig vor uns auf dem Weg und begleiteten uns. Andere schienen sich eher schüchtern im Gebüsch zu verstecken und lugte heraus, sobald wir sie passierten. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es wegen Tanumas Anwesenheit war oder es an meinem Aussehen lag.
Der große Baum der Lichtung erstreckte sich bereits weit über unseren Köpfen, als wir den Rand der Lichtung ankamen. Bereits von weitem konnte ich Sensei neben Hinoe und Benio sehen, die sich übermäßig viel Sake in die Schalen gossen.
Tanuma zupfte an meinen Kimono.
»Sind das alles Yokai?«, fragte er mich. Ich sah zwischen ihn und der Ansammlung von Ayakashi hin und her.
»Kannst du sie sehen?«
»Ja, klar und deutlich.« Er beschrieb die mittelklassigen Yokai sowie alle anderen Mitglieder des Hundezirkels. Ich wusste nicht, wie Tanuma mit der Situation umgehen würde.
»Möchtest du hierbleiben oder kommst du mit?«, erkundigte ich mich. Tanuma brauchte sichtlich noch einige Sekunden, bevor er sich an die Präsenz der Yokai gewöhnen konnte. Als er den ersten Schritt zu der Gruppe Yokai machte, begleitete ich ihn über die Wiese. Wir hatten die Hälfte des Weges bereits hinter uns, als Benio bemerkte, dass sich jemand näherte. Ich spürte regelrecht, wie sie vollkommen auf mich fixiert war. Hinoe bemerkte ihr Verhalten und sah sich ebenfalls um. Ich schob Tanuma hinter mich, als wir bei der Gruppe ankamen.
»Nyanko-sensei. Ich glaube, du hast einiges zu erklären«, ertönte meine Stimme. Sie klang viel herausfordernder, als ich sie in Erinnerung hatte. Sensei nahm einen weiteren Schluck von seinem Sake.
»Du hast ziemlich lange gebraucht, um dahinter zu kommen, Aho!«, beschwerte er sich mit lallender Stimme. Seine Wangen waren sichtlich vom Sake gerötet. Wie konnte er sich nur am helllichten Tag betrinken?
»Du schuldest mir immer noch eine Erklärung«, grummelte ich genervt. Ich ließ mich neben Misuzu fallen und deutete Tanuma, dass er sich neben mich setzen soll. Unbeholfen verbeugte sich Tanuma vor den Yokais und setzte sich stumm hin. Sein umherschwirrender Blick verriet, dass er gänzlich mit der Situation überfordert war. Da war er wenigstens nicht allein.
»Du siehst gut aus, Natsume«, meinte Hinoe. Benio nickte zustimmend, während sie aus ihrer Schale nahm. Auch die beiden mittelklassischen Yokai schmeichelten mich wegen meinem Aussehen.
Misuzu beobachtete mich lediglich aus dem Augenwinkel.
»Sensei. Jetzt«, forderte ich erneut.
Nyako-sensei hob die Sakeflasche an und schüttete sich und Kappa nach. »Was gibts denn da zu erklären?«
»Alles? Was ist mit dem Yuujinchou los? Warum sind in diesem Wald plötzlich so viele Yokais und warum zum Henker sehe ich wie ein Mädchen aus?« Meine Hand griff automatisch in die ewiglangen Haare, die ich Sensei vor die Nase hielt. Hinoe schwärmte über die Ähnlichkeit mit seiner Großmutter Reiko-san.
»Er hat dir wirklich rein gar nichts erzählt?«, wollte nun auch Misuzu erfahren. Ich schüttelte den Kopf.
»Er sagte ständig nur, dass ich mir keine Sorgen machen sollte.«
»Madara, so war das aber nicht abgemacht. Deine Aufgabe bestand darin, Natsume von unseren Plan zu erzählen«, beschwerte sich nun Misuzu. Sein gewaltiger Körper erhob sich, als er auf die kleine Katzengestalt von Sensei hinab sah. Nyanko-sensei spürte, was Misuzu vorhatte und verwandelte sich sofort in seine normale Yokaigestalt. Tanuma sog hinter mir scharf die Luft ein.
»Natsume? Ist das normal?«, flüsterte er in mein Ohr. Ich gab ihn ein wankendes Lächeln.
»Man gewöhnt sich daran.«
Sensei sprang hoch in die Luft, als Misuzu mit seiner Hufe ausholte. Die kräftige Windböe, die dabei entstand, fegte über unsere Köpfe. Ich musste mein Arm schützend vor mein Gesicht halten, als plötzlich eine Sakeschale geflogen kam. Doch bevor sie mich auch nur erreichen konnte, hüpfte ein tapferer kleiner Yokai in die Luft und fing sie ab. Erstaunt sah ich das kleine Geschöpf an.
»Vielen Dank, mein Freund.« Der kleine Yokai errötete und versteckte sich schnell hinter seinen Artgenossen.
»Hey, ihr zwei! Benehmt euch gefälligst, bevor irgendwas passiert«, fluchte Hinoe. Sensei verwandelte sich eingeschnappt wieder in seine Katzengestalt und Misuzu legte sich zurück auf seinen Platz.
»Es tut mir Leid, Natsume-dono.«
»Erklärt ihr mir bitte jetzt, was hier passiert?«
Der Hundezirkel sah sich einander an. Wer würde wohl sich aufopfern müssen?
Hinoe seufzte schließlich.
»Ihr Nichtsnutze. Wirklich, am schlimmsten bist du, Madara!« Nyanko-sensei zuckte nur mit den Schultern und nahm seine Sakeschale auf. Natürlich sah der Kater kein Problem darin, dass er mich wieder einmal im Dunkeln hocken ließ.
»Natsume-dono. Kannst du dich an deinen Besuch bei dem Flussgott erinnern?«, fragte Misuzu. Ich sah zu dem großen Waldgott auf.
»Du bist dort drei Ayakashi begegnet, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Kurz danach habe ich das Bewusstsein verloren«, vervollständigte ich seinen Gedankengang. »Touko-san war außer sich vor Sorge.«
»Madara hatte eigentlich die Aufgabe bekommen, dich von unserer Entscheidung in Kenntnis zu setzen.«
»Welche Entscheidung?«, wollte ich wissen. Misuzus Augen durchbohrten mich bis in mein Inneres.
»Wir haben entschieden, dass wir dich nicht wie Reiko verlieren wollen. Also haben wir mit den drei Weisen geredet und ihnen den Vorschlag unterbreitet, dich zu einem von uns zu machen.«
Ich? Ein Yokai? Ich sah ihn mit großen Augen an.
»Unsere Bitte wurde an jenem Tag erfüllt. Dir wurde es gewährt, als ein Gott für die Yokai zu leben, sollten wir genügend Anhänger finden. Wir hatten keine Ahnung, dass dein Menschenkörper so reagieren würde. Es tut uns aufrichtig leid, dass du solange krank gewesen bist.«
»Ihr habt mich zu einem Gott machen wollen?«, fragte ich ungläubig.
»Deinem Aussehen zu urteilen sind wir auch äußerst erfolgreich gewesen«, bestätigte Benio. »Dir ist sicherlich aufgefallen, dass das Yuujinchou gewachsen ist, oder? Das Buch enthält mittlerweile alle Namen deiner Anhänger. Dadurch, dass du jetzt eine Gottheit geworden bist, kann man dich auch nicht mehr von dem Buch trennen.«
All diese Namen sind ... meine Anhänger? Yokais, die an mich glauben? Ich suchte Senseis Blick. Der Yokai starrte nur auf seinen Sake.
»Sensei, aber warum? Was ist mit unserer Abmachung?« Der Kater sah auf.
»Du kannst nicht mehr sterben, also bleibt das Buch der Freunde in deinem Besitz. Ich bleibe an deiner Seite und beschütze dich, ganz einfach.«
»Sehe ich das jetzt richtig, ihr habt Natsume unsterblich gemacht, damit ihr seine Freunde bleiben könnt?«, hakte Tanuma hinter mir nach. Die kleinen Yokais nickten, während die größeren Ayakashis eine verbale Zustimmung gaben.
»Und Ponta sollte ihn vorher von der ganzen Sache erzählen, um sein Einverständnis zu erhalten.«
»Was er nicht gemacht hat, wie wir jetzt herausgefunden haben«, ergänzte Benio.
Ich sah mich in der Runde um. Das Gewicht des Yuujinchou hing wie ein Anker an mir herunter. Ich konnte einfach nicht glauben, was sie getan hatten. Dann waren die ganzen Yokais hier, um ihren Namen in das Buch der Freunde zu schreiben. Mit ihren Namen konnte ich sie so einfach zerstören! Was dachten sie sich nur dabei?!
Ich sprang hastig auf.
Wie konnten sie sich selbst nur so etwas antun? Der Gedanken allein, dass sie ihren Namen freiwillig für mich aufopferten, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich machte kehrt. All die Namen, die ich bereits zurückgegeben hatte, fühlten sich plötzlich sinnlos an. Meine Beine trugen mich in einer unheimlichen Schnelle zurück in den Wald. Es war fast so, als lotste mich der Wald zurück in die Menschenwelt. Den umgefallenen Baum, der all diese Geheimnisse mir bildlich vor Augen führte, hatte ich längst hinter mir gelassen. Doch der Kimono verschwand nicht. Das Yuujinchou blieb mit dem Band an mein Handgelenk gebunden und die Katzenmaske drückte weiterhin ihr Gewicht an meinen Kopf. Die Sonnenstrahlen verschwanden gänzlich, während ich mit trüben Blick über unzählige Wurzeln und Steine stolperte. Die Kälte des Winters kehrte mit einem Mal wieder zurück. Ich taumelte blindlinks weiter.
»Natsume?«
Ich stockte bei der bekannten Stimme. Natürlich musste ich ausgerechnet jetzt Natori-san begegnen. Ich wagte es kaum, den Kopf zu heben.
»Natsume, bist du das?«
Ich wich weiter zurück. Mit einem Ärmel des seidenen Kimonos wischte ich die Tränen weg.
»Hey, Natori-san.« Der Exorzist blieb vor mir stehen. Hinter ihm konnte ich seinen Shiki Hiiragi sehen.
»Natsume, was machst du hier? Es ist bereits spät und in letzter Zeit wurden hier unglaublich viele Yokais gemeldet«, wollte mich Natori-san informieren. Ich sah ihn an.
»Es ist nichts.«
Der Exorzist trat näher heran.
»Was trägst du da eigentlich?« Gerade als er nach meinem Kimono griff, tauchten Tanumas ›Glühwürmchen‹ auf. Verwundert sah ich die unzähligen Lichter an. Sie waren wirklich unglaublich schön.
»Was?« Hiiragi hielt ihren Herrn zurück.
»Es tut mir Leid, Natsume-dono. Ich habe Natori-san noch nicht von eurem neuen Rang erzählt. Ich dachte, ein späterer Zeitpunkt wäre geeigneter«, erklärte der Shiki. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Selbst Hiiragi war eingeweiht.
»Was für ein Rang? Hiiragi, was soll das?« Natori sah zu seinen Shiki, als sie sich zwischen uns stellte.
»Verzeiht, mein Herr. Natsume-dono wurde vor etwa einem Monat durch die drei Weisen offiziell zu einem Gott erhoben. Ich selbst kann zwar kein Anhänger sein, aber als Freundin unterstütze ich ihn natürlich. Natsume-dono zählt bereits tausend Yokai-Anhänger, die zu ihm täglich beten und opfern. Eine solche Ehre zu bekommen, ist sehr selten. Bitte sei Natsume-dono respektvoll gegenüber. Seine Anhänger haben einen großen Beschützerinstinkt.«
Natori sah Hiiragi genauso skeptisch an, wie ich mich fühlte.
»Hiiragi, das reicht«, sagte ich schließlich, als sich die Situation nicht entschärfen wollte. Natori beobachtete, wie Hiiragi wieder zu seiner Seite zurückkehrte und sich tief verbeugte.
»Ein Gott?«, fragte der Exorzist nach.
»Ich habe es erst heute erfahren«, offenbarte ich mit nüchterner Stimme. »Sie geben mir ihren Namen, um meine Anhänger zu sein.«
»Ihre Namen?!« Natori sah mich entsetzt an. Wir beide wussten, was der Name eines Yokais bedeutete. Unwillkürlich drückte ich das Yuujinchou näher an mich.
»Sensei hat mir nichts gesagt. Ich wusste nicht, warum ich in letzter Zeit immer wieder krank wurde. Sie haben mir die ganze Zeit ihre Namen gegeben!« Wieder stiegen Tränen in meine Augen.
»Ich hatte dir gesagt, dass du den Yokai gegenüber vorsichtig sein musst«, sagte Natori seufzend. Er rieb sich die Stirn. »Komm, setz dich.«
Wir saßen lange auf dem kalten Stein. Natori brauchte keine Erklärung, worin die Namen standen, als er das Yuujinchou erblickte. Er sagte nichts, wofür ich ihm sehr dankbar war. Die Nacht war schon längst über uns hineingebrochen, als Natori mich zurück zum Haus der Fujiwaras brachte. Im Hinterhof konnte ich bereits Sensei, Hinoe und Benio sehen.
»Natsume«, sprach mich Natori ein letztes Mal an. »Was auch immer ihr Grund ist, warum sie das mit dir gemacht haben, versuche es nicht rückgängig zu machen. Mit so viel Energie in dir, würdest du sterben.«
Ich nickte geschlagen.
»Ich komme morgen wieder vorbei.« Natori verabschiedete sich von mir. Sensei stapfte mit seinen viel zu kurzen Beinchen auf mich zu.
»Nur du hast so viel Glück ausgerechnet in den Exorzisten zu laufen. Wenigstens war es nicht dieser Matoba. Das hätte Ärger gegeben.«
»Können wir reingehen? Ich habe Hunger. Außerdem bin ich schon viel zu lange weg gewesen. Touko-san macht sich bestimmt schon Sorgen«, sagte ich. Kurz vor der Haustür blieb ich jedoch noch einmal stehen. »Tanuma-kun?«
»Den habe ich nach Hause gebracht, nachdem du weggerannt bist«, erklärte Sensei mit rollenden Augen. Erleichtert, dass es Tanuma gut ging, betrat ich das Haus.
Senseis Entschluss, mir nichts von all dem zu erzählen, nagte noch immer an mir. Aber irgendwie konnte ich ihn verstehen. Ich hätte es niemals zugelassen. Sensei wusste dies.
Schlussendlich hatten sie Angst, dass sie mich wie Reiko-san durch die Zeit verlieren würden. Ich wäre alt geworden und hätte sie zurückgelassen. Und das, obwohl sie mir ihren Namen anvertraut haben. Yokais haben ein sehr einsames Leben. Genauso einsam, wie meines einst war. Wenn ich ihnen die Einsamkeit nehmen konnte, indem ich an ihrer Seite blieb, dann sollte es wohl so sein.
Willkommen zu meiner ersten und vermutlich auch letzten Natsume Yuujinchou-Fanfiktion^^ Dieser Brocken liegt nun schon seit einigen Jahren halb fertig auf meinem Rechner herum, sodass ich mich jetzt endlich mal dazu erbarmt habe, ihn fertig zu schreiben. Leider bin ich sehr eingerostet, was Kreatives Schreiben betrifft. Deshalb wäre es echt toll, wenn irgendjemand das hier liest und anschließend auch ein Feedback schreibt!
In der Geschichte gibt es wenige Spoiler, sofern man mit dem Manga nicht aktuell ist. Das bestrifft aber fast ausschließlich die letzte Szene mit Natori-san.
Ich wünsche euch jetzt viel Lesespaß^^
LG Elischka
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Ein Zeichen von Dankbarkeit
Natsume Takashi
Seit ich klein bin, sehe ich manchmal eigenartige Dinge. Sie sind wahrscheinlich jene, die man Youkai nennt.
Sie waren noch nie besonders freundlich zu mir, doch nachdem ich zu den Fujiwaras gezogen war, schienen sie mir aggressiver als je zuvor. Der Grund dafür lag im Erbe meiner Großmutter Reiko.
Das Buch der Freunde. Das Yuujinchou.
Ein Buch, in denen all die Namen der Youkais stehen, die Reiko-san zu einem Kampf herausgefordert hat und besiegte. Es ist eine Sammlung unvorstellbarer Macht, die in den falschen Händen mehr Schaden anrichten könnte, als ich mir vorstellen vermag. Aus diesem Grund kam ich zu dem Entschluss, jenen Youkais ihre Namen zurückzugeben, die mich aufsuchten.
Es war an einem kalten Winterabend, an dem mir zum ersten Mal auffiel, dass etwas mit dem Yuujinchou nicht stimmte. Ich hatte bereits viele Namen zurückgegeben, doch schien sich das Buch keineswegs zu verändern. Sensei beschwerte sich immer, das Yuujinchou würde mit jedem Namen, den ich zurückgab, dünner werden und tatsächlich sollte genau das nach vernünftigen Menschenverstand passieren. Und dennoch glaubte ich an jenem Abend, dass das Buch an Seiten dazugewonnen hat.
»Nyanko-sensei«, fragte ich verwirrt, in der Hoffnung seine Aufmerksamkeit zu erhalten. »Hast du das Yuujinchou angefasst?«
Der Youkai in Katzengestalt öffnete lediglich ein Auge und musterte mich.
»Wie kommst du darauf? Ich bin ein nobler Ayakashi. Ich halte mich an Versprechen, die ich gemacht habe. Das Yuujinchou gehört dir, solange du am Leben bist.« Daraufhin schloss er wieder sein Auge und kuschelte sich zurück in das Kissen, welches auf dem Boden lag. Ich runzelte die Stirn.
Ich hätte schwören können, dass das Buch vor einigen Tagen noch weniger Seiten hatte. Abwesend blätterte ich die Seiten durch. All diese Youkais, die ihre Namen an einen Menschen verloren haben -
»Mach dir keine Sorgen, Natsume«, erklang Senseis Stimme. »Es ist alles in bester Ordnung. Immerhin bin ich dein Beschützer.«
~❅❀❅~
Am darauffolgenden Tag machten Taki und ich einen Ausflug zu den näherliegenden Bergen, in denen Kai lebte. Wir hatten uns schon lange dazu entschlossen den Flussgott zu besuchen. Taki, welche Sensei enthusiastisch zu Tode knuddelte, plapperte munter vor sich hin, wie froh sie sei, Kai endlich wiederzutreffen. Immerhin war fast ein halbes Jahr vergangen, seit der Gott die Stadt verlassen hatte, um wieder in den Bergen zu leben.
Auf dem Weg zum nächstgelegenen Schrein trafen wir auf die unterschiedlichsten Youkais. Kleine, wie große Ayakashi, die sich am Wegesrand versammelten und miteinander tuschelten. Immer wieder kam die Frage auf, wer diese Menschen seien, die den Wald betreten haben.
»Sensei, kommt es mir nur so vor, oder sind heute mehr Youkais unterwegs?«, fragte ich verunsichert. Nyanko-sensei blickte weiter stur geradeaus.
»Sei kein Idiot, wir sind auf einem Berg, wo kaum Menschen leben. Natürlich findet man hier mehr Ayakashis. Es ist ihr Lebensraum.« Der Kater hielt kurz inne. »Und ihr da! Geht zu diesem jämmerlichen Wassergott und sagt ihm, Natsume ist den weiten Weg hierher gekommen!«
Die Youkai schreckten auf, wiederholten meinen Namen wie ein Mantra, bevor sie sich in alle Richtungen verstreuten, um nach Kai zu suchen. Ich musste seufzen.
»Hättest du das ihnen nicht etwas freundlicher sagen können?« Doch Sensei ignorierte mich gekonnt.
»Sag, Natsume-kun? Sind hier viele Youkais? Wie sehen sie aus?«, fragte mich Taki. Ich schaute mich noch einmal um.
»Es sind mehr als üblich, würde ich sagen. Ich habe vorhin eine Gruppe Kappa gesehen. Sie müssen wohl am Fluss leben, der hier entspringt.« Aus dem Augenwinkel fing ich einen violett-blauen Kimono ein, den ich nur von einem Youkai kannte.
»Hinoe?«, fragte ich. Jetzt blieb auch Sensei stehen.
»Was redest du jetzt schon wieder?«
»Ich dachte nur, ich habe dort hinten Hinoe gesehen«, meinte ich und wollte in die Richtung des Youkai gehen, doch Sensei versperrte mir den Weg. Als ich ihn fragen wollte, was sein seltsames Verhalten bedeutet, nahm ich schnelle Schritte wahr.
»NATSUMEEEEE!« Kai kam auf uns zu gerannt. Der junge Flussgott schien mehr als nur erfreut über unseren Besuch zu sein. »Ich habe dich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen! Taki! Du bist auch gekommen!«
Kai umarmte mich stürmisch. »Tut mir Leid, dass ich gegangen bin ohne mich zu verabschieden«, murmelte er, während er sein Gesicht in meine Jacke drückte. Ich musste lächeln. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich den Jungen vermisst hatte. Trotz der Tatsache, dass Kai eigentlich ein Gott war, erschien er mir sehr menschlich.
Kai führte uns zu jener Quelle, die er beschützen musste. Ein kleiner Schrein, gerade groß genug, damit wir ihn mit erhobenen Hauptes durchschreiten konnten, verbarg die Flussquelle in ihrem Inneren. Kaum hatte Kai den heiligen Ort betreten, umfingen ihn seidene Gewänder in den unterschiedlichsten Farbtönen des Wassers. Sie schillerten im Licht, als wären sie die Schuppen eines seltenen Fisches. Sie gaben Kai die Aura eines Gottes. In diesem einen Moment verstand ich wahrhaftig, dass dieser Junge niemals nur ein Mensch sein konnte.
»Kommt mit! Ich zeige euch mein zu Hause!« Kai nahm Takis Hand und zog sie mit sich. Voller Begeisterung führte uns der junge Gott von einem Ort zum nächsten. Und je weiter wir voranschritten, umso mehr spürte ich, wie mich jemand beobachtete. Ich sah mich um.
Bildete ich mir das nur ein?
Sensei bemerkte mein Zögern. »Natsume? Taki und der Bengel sind schon weiter.«
»Bleib bei ihnen, Sensei«, sagte ich zu dem Kater und wandte mich ab. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich hörte noch, wie Sensei einen empörten Aufschrei von sich gab und mir hinterherrief, ich solle doch zurückkommen. Ehe ich mich aber versah, trugen mich meine Beine durch den dichten Wald vorbei an den unzähligen Youkai, die wie lästige Schaulustige an meinen Fersen hefteten.
Da war dieses Gefühl. Es nagte tief in meiner Brust und ließ sich einfach nicht beschreiben. Was war das? Ich stolperte über eine Wurzel, als es weiter bergab ging. Meine Tasche, in der das Yuujinchou schwer lag, presste ich an mich.
Irgendwo dort war eine unglaublich große Kraft. Eine Kraft, die nach mir rief.
Der Wald lichtete sich, als ich auf eine kleine Lichtung stolperte. Hier waren noch mehr Youkais als am Wegesrand. Was war hier los? In der Mitte der Lichtung hoben sich drei weiße Gestalten vom Rest ab. Sie schienen im Licht zu glänzen. Es war fast so, als seien sie unter all den mythischen Wesen, diejenigen, die die größten Geheimnisse in sich trugen. Neben ihnen konnte ich die beiden mittelklassigen Youkais sehen, die in meiner Nähe lebten.
Was ging hier vor sich? Zuerst glaubte ich, Hinoe zu sehen, und jetzt traf ich die beiden an?
Zwei der weißgoldenen Ayakashi drehten sich zu mir um. Ein tiefes Grollen ertönte aus ihrem Mund, als sie diesen öffneten.
»Ist er das?«, fragten sie. Der dritte hob den Kopf.
»Ich spüre eine unglaublich große spirituelle Kraft von dem Jungen.« Die drei Wesen überbrückten die Distanz zwischen uns. Von Nahem erschienen sie mir noch mächtiger. Meine Augen weiteten sich, als der Youkai eine Hand hob und sie auf meinen Kopf bettete. »Ja, wenn es stimmt, was ihr uns erzählt habt, dann ist er durchaus in der Lage dieses Schicksal zu tragen.«
Die Hand ruhte mit einer unbeschreiblichen Kraft auf meinem Kopf. Lag es nur an mir, oder wurde mein Körper immer schwerer? Verzweifelt versuchte ich wach zu bleiben. Was passierte mit mir?
»Eure Bitte wurde genehmigt. Der Rest liegt an euch«, hörte ich die Stimme des ältesten Ayakashi.
~❅❀❅~
Als ich das nächste Mal zu mir kam, blickte ich in das besorgte Gesicht von Touko-san.
»Takashi-kun?«, fragte die ältere Frau. »Wie fühlst du dich? Ist dir schwindlig? Kalt?«
Verwirrt drehte ich den Kopf. Wie war ich in mein Zimmer gelangt?
»Was ist passiert?« Meine Stimme erklang wie ein grausames Krächzen, als hätte ich sie bereits Tage nicht mehr verwendet.
»Bleib liegen, Takashi-kun. Ich gehe den Arzt holen.« Touko-san erhob sich rasch und verließ das Zimmer.
»Sensei?« Nur wenige Sekunden später spürte ich seinen voluminösen Körper an meine Seite gepresst.
»Du bist wirklich ein Schwächling. Kaum lasse ich dich nur einen Moment aus den Augen und du bist tagelang ans Bett gefesselt«, beschwerte er sich.
»Was ist vorgefallen?«, fragte ich ihn. Der Kater setzte sich aufrecht hin.
»Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern? Nachdem du einfach weggerannt bist, habe ich Taki und den kleinen Gott geholt. Als wir auf der Lichtung angekommen sind, lagst du bereits zusammengebrochen am Boden. Das war vor drei Tagen gewesen.«
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Drei Tage?! Das bedeutet dann ... Ich bereitete Touko-san und den Anderen wieder nur Ärger.
Sensei schien meine Gedanken zu lesen, denn plötzlich spürte ich seine Tatze in meinem Gesicht.
»Aho! Sieh lieber zu, dass du wieder schnell gesund wirst!«
Und als wären Senseis Worte verzaubert, wurden meine Augenlider schwerer und schwerer. Ich wusste nicht, wie lange ich danach schlief, aber nach den besorgten Blicken von Touko-san und Shigeru-san zu urteilen, war es länger, als mir lieb war.
~❅❀❅~
Eine Woche verstrich, bevor ich genug Kraft hatte, um wieder zur Schule zu gehen. Touko-san schien immer noch besorgt zu sein. Ich versicherte ihr mehrmals, dass es mir wieder gut ging. Vielleicht lag es daran, dass ich noch etwas schwach auf den Beinen war oder Sensei einfach nur einen Spaziergang machen wollte, aber der Kater begleitete mich bis zur Tür meines Klassenzimmers.
Nishimura und Kitamoto erwarteten mich bereits. Winkend lotsten sie mich zu ihnen, freundliche Gesichter strahlten mir entgegen.
»Yo, Natsume! Geht es dir wieder gut? Du sollst Taki-san einen ganz schönen Schrecken eingejagt haben«, begrüßte mich Kitamoto. Entschuldigend lächelte ich die Beiden an. Ich hatte wirklich den Anderen wieder viel zu viel Ärger bereitet.
»Keine Sorge, mir geht es wieder gut. Ich soll mich nur die nächsten Tage schonen«, erklärte ich ihnen. Meine Klassenkameraden schien die Antwort zu gefallen, weil sie kurz darauf das Thema wechselten. Ich nutzte die Zeit dafür, um meine Sachen für den Unterricht vorzubereiten. Gerade als ich mein Notizheft herausholen wollte, blieb mein Blick über dem Yuujinchou hängen.
Komisch, dachte ich. Ich hatte es gar nicht in die Tasche getan.
Mir fiel jedoch wieder auf, dass das Yuujinchou an Gewicht zugenommen hatte. Wie konnte es sein? Ich hatte es die gesamte Woche nicht angefasst, da Sensei darauf bestand mich zu erholen, ehe ich weitere Namen zurückgab. Wie konnte es plötzlich sein, dass weitere Blätter dazu gekommen sind?
Meine Gedanken wurden durch die Schulglocke unterbrochen. Besorgt schob ich das Yuujinchou zurück in die Tasche und setzte sie neben meinem Platz ab. Währenddessen ging die Tür zum Klassenzimmer erneut auf und unsere Lehrerin trat hinein.
Ich musste diesbezüglich wohl Nyanko-sensei fragen.
~❅❀❅~
Sensei half kein bisschen weiter. Der Kater ignorierte all meine Sorgen und lenkte ständig vom Thema ab, ehe Touko-san zum Essen rief und er wie ein geölter Blitz die Treppen hinunter fegte. Würde er jeden Tag eine solche atemberaubende Geschwindigkeit an den Tag legen, hätte er wohl kein Übergewichtsproblem in seiner Katzengestalt.
Am Esstisch mit Shigeru-san und Touko-san wurde bereits munter diskutiert, was sie an ihrem gemeinsamen freien Tag unternehmen würden. Senseis Gesicht hing derweil tief in seiner Schüssel mit gebratenen Reis und Fisch. Der Youkai zählte sich selbst zu den Feinschmeckern und verweigerte sämtliches Katzenfutter, was ihm angeboten wurde. Stattdessen musste Touko-san ihm eine eigene Portion des jeweiligen Abendessens zubereiten. Tatsächlich verübeln konnte ich es ihm nicht, schließlich konnte Touko-san unglaublich gut kochen.
Touko-san sah auf, als ich den Raum betrat. »Ah, Takashi-kun! Wie wäre es, wenn wir morgen alle gemeinsam in die Berge fahren? Shigeru-san kennt dort einen sehr schönen Gasthof, wo wir übernachten können.«
Ich setze mich zu ihr und nahm ihr die Reisschüssel ab, die sie mir hinhielt. »Mit Übernachtung? Geht das denn in Ordnung?«
Touko-san nickte freudig. »Natürlich. Wenn ich mich recht entsinne, warst du mit deinen Freunden auch schon dort. Du weißt schon, das Gasthaus mit dem großen Teich, von dem man sagt, eine Meerjungfrau wohne darin.«
Ich stutzte. Das Gasthaus mit dem großen Teich? »Ah!«
War das nicht Heimat von der Meerjungfrau Sasafune? Sie war einer der ersten Yokais, die ihren Namen zurück erhielten. Wegen einem Missverständnis verlor sie das Vertrauen in die Menschen. Später wurde ihr der Name von Reiko-san geraubt.
»Ich erinnere mich. Chizu-san war damals wirklich sehr nett zu uns.«
Shigeru-san sah zufrieden aus mit seiner Wahl. »Dann rufe ich sie gleich noch an, damit wir ein Zimmer reservieren können.«
Das restliche Abendessen verlief ruhig, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, als ob mich jemand beobachten würde. Vielleicht lag es nur an Senseis stechenden Blick, mit dem er mich zu überwachen schien.
In der Nacht darauf bekamen wir Besuch von Misuzu und Hinoe. Die beiden Yokais kümmerten sich nicht, wie laut ihre Ankunft war. Das Haus durchlebte ein kleines Beben, als sich Misuzus massiver Körper auf das Dach legte.
»Guten Abend, ihr beiden«, begrüßte ich sie. »Was macht ihr hier?«
Hinoe nahm einen Zug von ihrer Pfeife, während sie durch mein Zimmer streifte. Ihr Blick fiel schon kurze Zeit später auf den niedrigen Schreibtisch, auf dem das Yuujinchou lag.
»Wir wollten dir lediglich einen Besuch abstatten. Madara erwähnte letzte Nacht, dass du heute wieder in die Menschenschule gegangen bist.«
»J-Ja. Mir geht es schon viel besser«, erwiderte ich verdutzt. Hinoe verhielt sich seltsam.
»Außerdem hörten wir, dass du morgen schon wieder verreisen wirst«, ergänzte Misuzu, dessen Kopf größer als mein Fenster war, durch welches er hineinschaute. Ich wollte tatsächlich nicht wissen, wie sie bereits zwei Stunden nach dem Gespräch darüber Bescheid wussten.
»Touko-san und Shigeru-san möchten einen Ausflug in die Berge machen. Wir werden bei dem Gasthaus von Sasafune übernachten.« Bei dem Namen der Meerjungfrau horchten die Yokais auf. Selbst Senseis Ohren wackelten, obwohl er es versuchte zu verbergen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich schließlich nach. Hinoe verneinte viel zu schnell. Ich wurde das Gefühl nicht los, als ob die drei etwas in Schilde führten.
»Natsume.« Sensei sah mich auffordernd an. »Du denkst schon wieder zu viel. Leg dich lieber hin, dein Körper ist noch schwach. Wir wollen doch nicht, dass du morgen wieder umfällst.«
Als jegliche Proteste auf taube Ohren fielen, gab ich mich schließlich geschlagen. Sensei blieb an meinem Futon sitzen, bis ich einschlief.
~❅❀❅~
In den Wochen darauf wurde es immer bizarrer. Meine Gesundheit wurde nicht besser, sodass ich fast jede Woche das Bett hüten musste. Sensei blieb die gesamte Zeit über an meiner Seite. Touko-san schien äußerst besorgt zu sein. Sie schaute jede Stunde nach, wie es mir ging und versuchte mich mit aller Macht im Bett zu behalten. Währenddessen konnte ich es nicht mehr leugnen, dass etwas mit dem Yuujinchou nicht stimmte. Innerhalb der letzten drei Wochen hatte es fast doppelt so viele Seiten wie zuvor. Mit jeder Nacht kamen neue Blätter dazu. Immer mehr und mehr Namen erschienen im Buch der Freunde, obwohl es niemals seinen Platz verließ. Ich wurde sogar so paranoid, dass ich das Buch unter mein Kopfkissen legte, weil ich so glaubte, es besser im Blick zu haben. Letztendlich half nichts davon. Sensei hörte sich tagtäglich meine Sorgen und Ängste um das Yuujinchou an, jedoch sagte er nichts zu all dem.
Während ich tagsüber das Bett hüten musste und Touko-san mit dem Haushalt beschäftigt war, kamen die Yokais aus dem nahegelegenden Wald zu Besuch. Am häufigsten tauchten die mittelklassigen Yokais, Hinoe, Benio und Misuzus Untergebene auf. Manchmal kam auch das Kappa zu Besuch, welches ich im Hochsommer immer mit Wasser versorgte, wenn es wieder einmal zu weit vom Fluss entfernt war.
An einem regnerischen Freitag stand plötzlich Kai vor dem Fenster. Ich hatte ihn seit unserem letzten viel zu kurzen Besuch nicht mehr gesehen. Der junge Gott schien aufgelöst zu sein, als er durch das Fenster in mein Zimmer kletterte und sich neben meinen Futon hockte.
»Natsume!«, brachte er mit weinerlichen Stimme aus sich heraus. »Wieso geht es dir so schlecht?«
Da Sensei mir verbat, mich richtig aufzusetzen, hob ich lediglich eine Hand und strich mit ihr die Strähnen aus Kais Gesicht.
»Keine Sorge, mir geht es bald wieder besser. Sensei und Touko-san sind nur etwas überempfindlich.« Recht hatte ich damit nicht unbedingt. Mir wurde ständig schwindelig und ich konnte mich an den meisten Tagen kaum auf den Beinen halten. Mein Magen rebellierte an den bloßen Gedanken von Nahrung und ich bekam so häufig Fieber, dass Touko-san bereits damit drohte, mich ins Krankenhaus zu schicken.
»A-Aber ... es tut mir so Leid!« Der Damm war gebrochen. Kai weinte, als würde seine gesamte Welt zusammenbrechen. Die umliegenden Yokais, die das Spektakel klammheimlich ansahen, kicherten über den weinenden Kindergott. Kai schien das wenig zu interessieren. Wie der Schwall seiner Tränen versuchte er mir stockenden Worten zu erklären, warum er für meine Lage schuld sei. Letztendlich konnte ich kein Wort verstehen. Der Tag war für meinen geschwächten Körper bereits anstrengend gewesen, weshalb es mir mit jeder Minute mehr die Augen zusammen zog. Nyanko-sensei schien das selbstverständlich schnell zu merken und scheuchte die kleinen Yokais aus dem Raum heraus. Nur noch Kai blieb an meiner Seite, der meine Hand fest umklammerte, während er weiter stumm Tränen vergoss.
~❅❀❅~
Das Yuujinchou zählte über tausend Seiten, als ich es an einem sonnigen Nachmittag in den Händen hielt. Jeder einzelne Name war sorgfältig auf blütenweißen Papier gezeichnet worden. Ich erkannte zum Teil Namen wieder, die ich schon längst zurückgegeben hatte. Andere Namen kamen mir nur wage bekannt vor.
Sensei hatte sich kurz zuvor zu einem Saufgelage eingeladen, sobald er merkte, dass es mir wesentlich besser ging. Kaum war der Yokai aus dem Haus verschwunden, griff ich nach dem Yuujinchou und untersuchte es sorgfältig. Es gab keinerlei Anzeichen darauf, dass Seiten nachträglich eingefügt worden waren. Wie nur gelangten all diese Namen in das Buch? Ich beschloss, mir nicht weiter in diesem kleinen Raum den Kopf zu zerbrechen und nahm das Yuujinchou mit nach draußen.
Der Winter wurde viel zu schnell vom Frühling verdrängt. Es hatte kaum geschneit, stattdessen bahnten sich bereits die ersten Frühlingsblüher ihren Weg durch das Erdreich. Trotzdem war der Wind eisig. Ich zog den warmen Schal, den mir Touko-san gestrickt hatte, ins Gesicht. Das Yuujinchou lag schwer in meiner Tasche, als ich den altbekannten Waldweg zu Tanuma einschlug. Ihm schien es in den letzten Wochen ähnlich schlecht zu gehen. Tanuma konnte die Anwesenheit der unzähligen Yokai spüren, die hier im Wald lebten. Der kurze Weg zum Tempel bestätigte meine Vermutung: Der Wald durchlebte einen kräftigen Ansturm neuer Ayakashi. Ich musste schwer schlucken, als ich die Blicke eines haarigen Yokais auf mir spürte.
»Tanuma-kun? Bist du da?«
Kurze Zeit später hörte ich dumpfe Schritte und die Tür wurde aufgeschoben. Tanumas Vater stand in seiner Mönchkluft vor mir.
»Natsume-kun? Möchtest du Kaname besuchen?«, fragte er. Ich nickte stumm. Der Mönch bat mich in sein Haus.
»Sag, Natsume-kun, ich weiß, dass du wie Kaname stark auf die Anwesenheit von Yokais reagierst. Was geht in den letzten Wochen vor sich?«
Wir bewegten uns leise durch das Haus. Mein Blick wanderte automatisch zu meiner Tasche.
»Es sind derzeit viel mehr Yokais unterwegs, als üblicherweise. Besonders viel weiß ich leider auch nicht über die Umstände. Ich war die letzten Wochen sehr angeschlagen und musste selbst das Bett hüten«, erklärte ich ihm. Tanumas Vater verstand das Problem.
»Sollte ich die Gegend vielleicht doch reinigen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Sie greifen niemanden an. Solange sie friedlich miteinander leben, würde ich es bevorzugen, wenn sie allein gelassen werden. Derzeit verstecken sie sich zum Großteil im tiefsten Teil des Waldes.«
»Verstehe. Das Angebot steht jedoch weiterhin«, gab er bekannt. Er deutete auf Tanumas Zimmertür, die ein Spalt geöffnet war. »Ich lasse euch jetzt allein. Wenn ihr irgendwas braucht, dann lasst es mich ruhig wissen.«
Ich bedankte mich bei ihm und betrat Tanumas Zimmer. Mein Freund lag auf seinem Futon und winkte mich mit müder Handbewegung zu sich her.
»Hey, Natsume.«
»Hey, Tanuma-kun.« Ich hockte mich neben ihn hin. »Dich scheint es ziemlich erwischt zu haben.«
Tanuma lachte. »Das kannst du wohl laut sagen! Von Taki habe ich aber gehört, dass es dir ganz ähnlich ging.«
»Ja«, bestätigte ich. »Mich hat es seit den Besuch bei Kai erwischt. Ich glaube, ich war den letzten Monat etwa fünf Tage in der Schule. Sensei hing bis heute die ganze Zeit an mir. Jetzt besäuft er sich vermutlich mit Hinoe und den anderen Yokais.«
Tanuma grinste nur über das Verhalten von Sensei.
»Ponta ist ziemlich fürsorglich, obwohl er sich immer recht kalt zeigt. Ich glaube aber nicht, dass du nur deswegen den ganzen Weg hierher gekommen bist, um dich über Ponta zu beschweren.«
Ich seufzte.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht. Außerdem hätte ich da ein Anliegen, was mir seit einigen Wochen Sorgen bereitet.« Tanuma sah mich verwundert an.
»Hat es was damit zu tun, dass du dich genauso anfühlst wie Ponta?«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wovon sprach er?
»Was meinst du damit?«
Jetzt war Tanuma an der Reihe mich verwirrt anzusehen. Erschöpft setzte er sich auf und rieb sich den Nacken. »Wie soll ich das am besten sagen.« Er überlegte.
»Du weißt doch, dass ich Kopfschmerzen bekomme, wenn ich die Yokais in der Nähe spüre. Das gleiche Gefühl habe ich, seit du den Raum betreten hast. Es ist nicht unangenehm oder dergleichen, eher wie ein leichtes Drücken, das meinen gesamten Körper schwerer macht. Ich fühle mich so, als müsste ich dir Respekt zollen. Das klingt echt seltsam, wenn ich es so ausspreche. Tut mir Leid.«
»Touko-san hat gestern etwas Ähnliches gesagt. Sie meinte, sie fühlt sich von meiner Anwesenheit erdrückt. Das hat sie zumindest zu Shigeru-san gesagt. Ich glaube nicht, dass sie wollte, dass ich es höre«, sagte ich mit leiser Stimme. »Das ist eigentlich nicht das, was ich dir erzählen wollte.«
»Seltsam«, sagte Tanuma mehr zu sich selbst, als zu mir. Er schüttelte den Gedanken ab. »Also was bereitet dir Sorgen?«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll ...«, beichtete ich schließlich. In meiner Hand hielt ich die ganze Zeit das Yuujinchou fest umklammert. Vorher konnte ich ohne Probleme meine Hand um die Bindung legen, jetzt hatte ich Schwierigkeiten alle Seiten zu erwischen. Es machte mir Angst.
Tanuma wusste nichts über das Yuujinchou. Ich würde ihn zuerst von dem Buch der Freunde erzählen müssen, ehe ich ihm vom eigentlichen Problem erzählen könnte.
»Versprich mir, dass du mit niemanden nur ein Sterbenswörtchen darüber sprichst«, presste ich mir heraus. Tanuma sah mich ernst an.
»Ich verspreche es dir. Du bist mein Freund, Natsume.«
Ich nickte steif. Niemand sollte jemals von dem Buch der Freunde erfahren. Selbst Natori-san wusste nicht viel über das Yuujinchou.
»Meine Großmutter Reiko-san hatte dieselbe Gabe wie ich.« Das war doch ein guter Anfang, oder? Ich erzählte Tanuma von dem Buch der Freunde. Von den Geschichten, wie meine Großmutter die Yokais besiegte und zwang, ihren Namen in das Yuujinchou zu schreiben. Schließlich zog ich das Buch aus meiner Tasche. Der grüne Stoff des Einbandes fühlte sich beruhigend an. Ich mochte das Yuujinchou. Auch wenn es so viele Yokais zu mir brachte, so sorgte es auch dafür, dass ich endlich Freunde bekam. Tanuma beäugte misstrauisch das Buch. Sein Stirnrunzeln wurde schlimmer, als er erfuhr, welche Kraft in diesen Seiten steckte.
»Vor etwa einem Monat fiel mir dann auf, dass mehr Seiten in das Buch gelangt sind«, erklärte ich mit stockender Stimme. »Seitdem wächst es. Jeden Tag kommen neue Namen hinzu. Ich habe versucht, mit Nyanko-sensei darüber zu reden, aber er blockt mich vollkommen ab.«
Tanuma starrte mich an. Ich wusste nicht, wie viele Minuten vergingen, ehe er seiner Schockstarre entkam.
»Das ... Natsume! Dieses Buch ist gefährlich!«
Ich sah ihn lediglich mit müden Gesicht an. Meine Kräfte schienen noch nicht ganz wieder da zu sein. Ich nahm das Buch der Freunde auf und blätterte es achtlos durch.
»Ich weiß. Deshalb darf niemand anderes es jemals in die Finger bekommen«, meinte ich. Den Pakt, den ich mit Sensei einging, überging ich in der Erzählung. Tanuma sollte sich nicht noch weiter Sorgen machen.
»Und du sagst, dass jeden Tag neue Seiten dazukommen?«, vergewisserte sich Tanuma. Ich nickte.
»Jeden Tag, obwohl ich es keine Sekunde aus den Augen lasse.«
»Und Ponta sagt nichts dazu? Deine anderen Yokai-Freunde auch nicht?«, fragte Tanuma weiter.
»Sensei sagt, ich solle mir keine Gedanken darüber machen. Er scheint fest davon überzeugt zu sein, dass alles in bester Ordnung ist«, bestätigte ich. Sachte legte ich das Buch wieder in meinen Schoß. Tanumas Hand wankte. Als wolle er gerne das Buch anfassen, aber er wusste vermutlich bereits, wie ich darauf reagieren würde.
»Vielleicht solltest du Ponta vertrauen. Was ich bisher von ihm mitbekommen habe, scheint er immer genau zu wissen, was Sache ist.«
»Ich weiß.«
»Warum hast du mich dann eingeweiht? Verstehe mich nicht falsch, ich bin froh, dass du mir ein solches Geheimnis anvertraut hast. Ich verstehe aber nicht, warum du dieses Risiko eingegangen bist«, sagte Tanuma. Ich sah zu ihm auf.
»Ich ... habe Angst, denke ich. Sensei sagt zwar, dass alles in Ordnung ist, aber es macht mir Angst, nicht zu wissen, was mit dem Buch los ist. Die anderen Yokais scheinen sich auch seltsam zu verhalten. Hinoe und Misuzu und Kai und alle Anderen. Als wüssten sie etwas, aber können mir nichts sagen.« Meine Stimme schwankte. Ich fühlte mich von ihnen betrogen. Sie hielten so offensichtlich ein Geheimnis vor mir zurück und verlangten von mir, dass ich es einfach hinnahm.
»Letztes Mal als mich Kai besuchte, weinte er sich die Augen aus. Ich glaube, er wollte mir etwas sagen, aber ich konnte ihn wegen seinem ganzen Weinen nicht verstehen. Sensei fragte mich noch Tage danach, woran ich mich von dem Gespräch erinnern konnte, als würde er sichergehen, dass sich Kai nicht verplappert hat.«
»Du glaubst also, dass die Yokai dahinterstecken?« Tanuma sah mich mit großen Augen an.
»Was würde sonst ihr Verhalten erklären?«, fragte ich ihn herausfordernd.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Tanuma, während er seine Bettdecke zurückschlug und sich aufraffte. »Wir sollten ihnen einen Besuch abstatten.«
»Warte, Tanuma-kun!« Doch war mein Freund bereits aus dem Zimmer verschwunden und sich winterfeste Kleidung anziehen. Ich stolperte mit meiner viel zu schweren Tasche aus seinem Zimmer heraus. Tanumas Vater sah von seiner Hofarbeit auf, als er seinen Sohn aus dem Tempel stürmen sah.
»Kaname! Du sollst dich doch nicht so überanstrengen!«
»Keine Sorge«, rief er über die Schulter, während er mich mit sich in den Wald zog. »Mir geht es gut! Ich bin zum Abendessen wieder da!«
Ich stürzte über eine Wurzel, als wir den breiten Waldweg hinter uns ließen und den schmalen Pfad ins Innere des Waldes betraten.
»Wo müssen wir lang?«, wollte Tanuma wissen. Ich seufzte lediglich und deutete in das dichte Gebüsch.
»Im Inneren gibt es eine große Lichtung, die kaum ein Mensch betritt. Sie liegt in Misuzus Hauptgebiet.«
Je weiter wir in den Wald vordrangen, umso leichter konnte ich atmen. Die Müdigkeit verließ meinen Körper und schlug in pure Entspannung um. Die kleinen Ayakashi entlang des Weges machten uns ohne Probleme Platz. Einige schienen sich sogar zu verbeugen, während wir an ihnen vorbeigingen. Tanuma konnte es nicht sehen. Stattdessen fasste er sich mehr als nur einmal an den Kopf, um seine Migräneattacken unter Kontrolle zu bringen.
»Ist es noch weit?«, wollte er etwa eine halbe Stunde von mir wissen, nachdem wir sein Haus verlassen hatten.
Ich verneinte. »Wir sollten bald da sein. Wir müssen die nächste kleine Kreuzung abpassen, dann schlagen wir den verschlungenen linken Weg ein. Dann dauert es nicht mehr lange.«
Tanuma nickte. Er schob tiefhängende Äste zur Seite, die uns sonst in das Gesicht schlagen würden. Ich bückte mich währendessen, um unter einen quer gefallenen Baum hindurch zu schlüpfen.
»Natsume?«
»Ja?« Ich schaute über meine Schulter. Tanuma sah mich erstaunten Ausdruck an. Er ließ den Ast in seiner Hand langsam los, als er sich wieder gerade aufstellte.
»Stimmt etwas nicht?« Unsicher drehte ich mich zu ihm um.
Tanumas Mund öffnete sich, jedoch brachte er keinen Ton heraus. Er schloss ihn wieder, ehe er es noch einmal versuchte.
»Wie tief sind wir im Wald?«
»Diese Seite des Waldes gehört den Yokai. Ich habe hier noch nie einen Menschen gesehen«, sagte ich mit sachter Stimme. Die Yokais um uns herum scheuten den Weg. Fades Licht kletterte durch das Blätterdach hoch über unseren Köpfen auf den Waldboden. In der Luft schwirrte es, als sei der Frühling bereits in den Sommer übergegangen. Dieser Wechsel der Jahreszeiten war üblich in der Yokaiwelt, wenn man sich in den Übergangsphasen befand. Das Grün der Blätter leuchtete dennoch unnatürlich hell, als seien die Knospen erst vor kurzem aufgegangen.
»Wollen wir weiter?«
»Natsume.« Tanuma hatte sich kein Stück bewegt. Wie angewurzelt stand er hinter dem umgefallenen Baum. »Ich glaube, ich weiß, was die Yokai getan haben.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Sieh dich an«, forderte er mich mühevoll auf. Tanuma verwirrte mich immer mehr. Ich sah zu mir herunter. Ich erwartete, dass ich meine normale Kleidung und Tasche sah. Stattdessen wurde ich von einer bunten Mischung aus goldenen, grünen und orangen Stoffen begrüßt. In meiner Hand lag das Yuujinchou, welches sich plötzlich so viel leichter anfühlte. Die Alterserscheinungen schienen plötzlich vollkommen von dem Buch verschwunden zu sein. Der grüne Stoff des Einbandes erstrahlte genauso wie die jungen Blätter des Waldes. Ein einzelnes rotes Band hing an meinem Handgelenk und verband mich mit dem Buch.
»W-Wa-?«
Ich drehte mich in alle Richtungen. Seit wann trug ich einen so prächtigen Kimono? In komplizierten Mustern zierten sich die goldenen Ränder entlang des Stoffes. Jede Lage fühlte sich wie pure Seide an. Ein Blick über die Schulter verriet noch ein weiteres Problem: meine Haare. Wie ein sandfarbener Wasserfall ergaben sich die einzelnen Strähnen über meine Schulter bis tief in den Rücken und über meine Kniekehlen hinweg. An meinem Kopf spürte ich die Bänder einer Maske. Ich griff danach und betrachtete sie. Das Gesicht von Nyanko-sensei sah mir entgegen.
»Wann ist das passiert?«, fragte ich verwirrt. Wenn ich es nicht besser wüsste, sahen die Sachen genauso aus, wie die von Kai, als wir den Wassergott besuchten.
»Bevor du unter den Baum durchgegangen bist, sahst du noch normal aus. Aber davor hast du angefangen zu glitzern«, erklärte Tanuma, welcher seine Worte wiedergefunden hatte.
»Ich habe geglitzert«, stellte ich ungläubig fest.
»Besser kann ich es nicht erklären!«, verteidigte sich nun Tanuma entsetzt. »Es waren wie kleine Glühwürmchen, die um dich geschwebt sind.«
»Glühwürmchen.« Tanumas Erklärungen wurden immer skurriler.
»Wenn du es gesehen hättest, dann würdest du es genauso beschreiben!«, beschwerte er sich nun. Ich zuckte nur mit den Achseln. Jetzt hatte ich erst einmal andere Sorgen.
»Ich nehme an, dass das vorher noch nicht passiert ist?«
»Nicht das ich wüsste«, bestätigte ich Tanumas Sorge. »Ich denke, Sensei hat einiges zu erklären.«
Ein letzter Blick fiel auf den Baum, ehe wir uns weiter durch den dichten Wald kämpften. Die kleinen Yokais hüpften nun teilweise freudig vor uns auf dem Weg und begleiteten uns. Andere schienen sich eher schüchtern im Gebüsch zu verstecken und lugte heraus, sobald wir sie passierten. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es wegen Tanumas Anwesenheit war oder es an meinem Aussehen lag.
Der große Baum der Lichtung erstreckte sich bereits weit über unseren Köpfen, als wir den Rand der Lichtung ankamen. Bereits von weitem konnte ich Sensei neben Hinoe und Benio sehen, die sich übermäßig viel Sake in die Schalen gossen.
Tanuma zupfte an meinen Kimono.
»Sind das alles Yokai?«, fragte er mich. Ich sah zwischen ihn und der Ansammlung von Ayakashi hin und her.
»Kannst du sie sehen?«
»Ja, klar und deutlich.« Er beschrieb die mittelklassigen Yokai sowie alle anderen Mitglieder des Hundezirkels. Ich wusste nicht, wie Tanuma mit der Situation umgehen würde.
»Möchtest du hierbleiben oder kommst du mit?«, erkundigte ich mich. Tanuma brauchte sichtlich noch einige Sekunden, bevor er sich an die Präsenz der Yokai gewöhnen konnte. Als er den ersten Schritt zu der Gruppe Yokai machte, begleitete ich ihn über die Wiese. Wir hatten die Hälfte des Weges bereits hinter uns, als Benio bemerkte, dass sich jemand näherte. Ich spürte regelrecht, wie sie vollkommen auf mich fixiert war. Hinoe bemerkte ihr Verhalten und sah sich ebenfalls um. Ich schob Tanuma hinter mich, als wir bei der Gruppe ankamen.
»Nyanko-sensei. Ich glaube, du hast einiges zu erklären«, ertönte meine Stimme. Sie klang viel herausfordernder, als ich sie in Erinnerung hatte. Sensei nahm einen weiteren Schluck von seinem Sake.
»Du hast ziemlich lange gebraucht, um dahinter zu kommen, Aho!«, beschwerte er sich mit lallender Stimme. Seine Wangen waren sichtlich vom Sake gerötet. Wie konnte er sich nur am helllichten Tag betrinken?
»Du schuldest mir immer noch eine Erklärung«, grummelte ich genervt. Ich ließ mich neben Misuzu fallen und deutete Tanuma, dass er sich neben mich setzen soll. Unbeholfen verbeugte sich Tanuma vor den Yokais und setzte sich stumm hin. Sein umherschwirrender Blick verriet, dass er gänzlich mit der Situation überfordert war. Da war er wenigstens nicht allein.
»Du siehst gut aus, Natsume«, meinte Hinoe. Benio nickte zustimmend, während sie aus ihrer Schale nahm. Auch die beiden mittelklassischen Yokai schmeichelten mich wegen meinem Aussehen.
Misuzu beobachtete mich lediglich aus dem Augenwinkel.
»Sensei. Jetzt«, forderte ich erneut.
Nyako-sensei hob die Sakeflasche an und schüttete sich und Kappa nach. »Was gibts denn da zu erklären?«
»Alles? Was ist mit dem Yuujinchou los? Warum sind in diesem Wald plötzlich so viele Yokais und warum zum Henker sehe ich wie ein Mädchen aus?« Meine Hand griff automatisch in die ewiglangen Haare, die ich Sensei vor die Nase hielt. Hinoe schwärmte über die Ähnlichkeit mit seiner Großmutter Reiko-san.
»Er hat dir wirklich rein gar nichts erzählt?«, wollte nun auch Misuzu erfahren. Ich schüttelte den Kopf.
»Er sagte ständig nur, dass ich mir keine Sorgen machen sollte.«
»Madara, so war das aber nicht abgemacht. Deine Aufgabe bestand darin, Natsume von unseren Plan zu erzählen«, beschwerte sich nun Misuzu. Sein gewaltiger Körper erhob sich, als er auf die kleine Katzengestalt von Sensei hinab sah. Nyanko-sensei spürte, was Misuzu vorhatte und verwandelte sich sofort in seine normale Yokaigestalt. Tanuma sog hinter mir scharf die Luft ein.
»Natsume? Ist das normal?«, flüsterte er in mein Ohr. Ich gab ihn ein wankendes Lächeln.
»Man gewöhnt sich daran.«
Sensei sprang hoch in die Luft, als Misuzu mit seiner Hufe ausholte. Die kräftige Windböe, die dabei entstand, fegte über unsere Köpfe. Ich musste mein Arm schützend vor mein Gesicht halten, als plötzlich eine Sakeschale geflogen kam. Doch bevor sie mich auch nur erreichen konnte, hüpfte ein tapferer kleiner Yokai in die Luft und fing sie ab. Erstaunt sah ich das kleine Geschöpf an.
»Vielen Dank, mein Freund.« Der kleine Yokai errötete und versteckte sich schnell hinter seinen Artgenossen.
»Hey, ihr zwei! Benehmt euch gefälligst, bevor irgendwas passiert«, fluchte Hinoe. Sensei verwandelte sich eingeschnappt wieder in seine Katzengestalt und Misuzu legte sich zurück auf seinen Platz.
»Es tut mir Leid, Natsume-dono.«
»Erklärt ihr mir bitte jetzt, was hier passiert?«
Der Hundezirkel sah sich einander an. Wer würde wohl sich aufopfern müssen?
Hinoe seufzte schließlich.
»Ihr Nichtsnutze. Wirklich, am schlimmsten bist du, Madara!« Nyanko-sensei zuckte nur mit den Schultern und nahm seine Sakeschale auf. Natürlich sah der Kater kein Problem darin, dass er mich wieder einmal im Dunkeln hocken ließ.
»Natsume-dono. Kannst du dich an deinen Besuch bei dem Flussgott erinnern?«, fragte Misuzu. Ich sah zu dem großen Waldgott auf.
»Du bist dort drei Ayakashi begegnet, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Kurz danach habe ich das Bewusstsein verloren«, vervollständigte ich seinen Gedankengang. »Touko-san war außer sich vor Sorge.«
»Madara hatte eigentlich die Aufgabe bekommen, dich von unserer Entscheidung in Kenntnis zu setzen.«
»Welche Entscheidung?«, wollte ich wissen. Misuzus Augen durchbohrten mich bis in mein Inneres.
»Wir haben entschieden, dass wir dich nicht wie Reiko verlieren wollen. Also haben wir mit den drei Weisen geredet und ihnen den Vorschlag unterbreitet, dich zu einem von uns zu machen.«
Ich? Ein Yokai? Ich sah ihn mit großen Augen an.
»Unsere Bitte wurde an jenem Tag erfüllt. Dir wurde es gewährt, als ein Gott für die Yokai zu leben, sollten wir genügend Anhänger finden. Wir hatten keine Ahnung, dass dein Menschenkörper so reagieren würde. Es tut uns aufrichtig leid, dass du solange krank gewesen bist.«
»Ihr habt mich zu einem Gott machen wollen?«, fragte ich ungläubig.
»Deinem Aussehen zu urteilen sind wir auch äußerst erfolgreich gewesen«, bestätigte Benio. »Dir ist sicherlich aufgefallen, dass das Yuujinchou gewachsen ist, oder? Das Buch enthält mittlerweile alle Namen deiner Anhänger. Dadurch, dass du jetzt eine Gottheit geworden bist, kann man dich auch nicht mehr von dem Buch trennen.«
All diese Namen sind ... meine Anhänger? Yokais, die an mich glauben? Ich suchte Senseis Blick. Der Yokai starrte nur auf seinen Sake.
»Sensei, aber warum? Was ist mit unserer Abmachung?« Der Kater sah auf.
»Du kannst nicht mehr sterben, also bleibt das Buch der Freunde in deinem Besitz. Ich bleibe an deiner Seite und beschütze dich, ganz einfach.«
»Sehe ich das jetzt richtig, ihr habt Natsume unsterblich gemacht, damit ihr seine Freunde bleiben könnt?«, hakte Tanuma hinter mir nach. Die kleinen Yokais nickten, während die größeren Ayakashis eine verbale Zustimmung gaben.
»Und Ponta sollte ihn vorher von der ganzen Sache erzählen, um sein Einverständnis zu erhalten.«
»Was er nicht gemacht hat, wie wir jetzt herausgefunden haben«, ergänzte Benio.
Ich sah mich in der Runde um. Das Gewicht des Yuujinchou hing wie ein Anker an mir herunter. Ich konnte einfach nicht glauben, was sie getan hatten. Dann waren die ganzen Yokais hier, um ihren Namen in das Buch der Freunde zu schreiben. Mit ihren Namen konnte ich sie so einfach zerstören! Was dachten sie sich nur dabei?!
Ich sprang hastig auf.
Wie konnten sie sich selbst nur so etwas antun? Der Gedanken allein, dass sie ihren Namen freiwillig für mich aufopferten, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich machte kehrt. All die Namen, die ich bereits zurückgegeben hatte, fühlten sich plötzlich sinnlos an. Meine Beine trugen mich in einer unheimlichen Schnelle zurück in den Wald. Es war fast so, als lotste mich der Wald zurück in die Menschenwelt. Den umgefallenen Baum, der all diese Geheimnisse mir bildlich vor Augen führte, hatte ich längst hinter mir gelassen. Doch der Kimono verschwand nicht. Das Yuujinchou blieb mit dem Band an mein Handgelenk gebunden und die Katzenmaske drückte weiterhin ihr Gewicht an meinen Kopf. Die Sonnenstrahlen verschwanden gänzlich, während ich mit trüben Blick über unzählige Wurzeln und Steine stolperte. Die Kälte des Winters kehrte mit einem Mal wieder zurück. Ich taumelte blindlinks weiter.
»Natsume?«
Ich stockte bei der bekannten Stimme. Natürlich musste ich ausgerechnet jetzt Natori-san begegnen. Ich wagte es kaum, den Kopf zu heben.
»Natsume, bist du das?«
Ich wich weiter zurück. Mit einem Ärmel des seidenen Kimonos wischte ich die Tränen weg.
»Hey, Natori-san.« Der Exorzist blieb vor mir stehen. Hinter ihm konnte ich seinen Shiki Hiiragi sehen.
»Natsume, was machst du hier? Es ist bereits spät und in letzter Zeit wurden hier unglaublich viele Yokais gemeldet«, wollte mich Natori-san informieren. Ich sah ihn an.
»Es ist nichts.«
Der Exorzist trat näher heran.
»Was trägst du da eigentlich?« Gerade als er nach meinem Kimono griff, tauchten Tanumas ›Glühwürmchen‹ auf. Verwundert sah ich die unzähligen Lichter an. Sie waren wirklich unglaublich schön.
»Was?« Hiiragi hielt ihren Herrn zurück.
»Es tut mir Leid, Natsume-dono. Ich habe Natori-san noch nicht von eurem neuen Rang erzählt. Ich dachte, ein späterer Zeitpunkt wäre geeigneter«, erklärte der Shiki. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Selbst Hiiragi war eingeweiht.
»Was für ein Rang? Hiiragi, was soll das?« Natori sah zu seinen Shiki, als sie sich zwischen uns stellte.
»Verzeiht, mein Herr. Natsume-dono wurde vor etwa einem Monat durch die drei Weisen offiziell zu einem Gott erhoben. Ich selbst kann zwar kein Anhänger sein, aber als Freundin unterstütze ich ihn natürlich. Natsume-dono zählt bereits tausend Yokai-Anhänger, die zu ihm täglich beten und opfern. Eine solche Ehre zu bekommen, ist sehr selten. Bitte sei Natsume-dono respektvoll gegenüber. Seine Anhänger haben einen großen Beschützerinstinkt.«
Natori sah Hiiragi genauso skeptisch an, wie ich mich fühlte.
»Hiiragi, das reicht«, sagte ich schließlich, als sich die Situation nicht entschärfen wollte. Natori beobachtete, wie Hiiragi wieder zu seiner Seite zurückkehrte und sich tief verbeugte.
»Ein Gott?«, fragte der Exorzist nach.
»Ich habe es erst heute erfahren«, offenbarte ich mit nüchterner Stimme. »Sie geben mir ihren Namen, um meine Anhänger zu sein.«
»Ihre Namen?!« Natori sah mich entsetzt an. Wir beide wussten, was der Name eines Yokais bedeutete. Unwillkürlich drückte ich das Yuujinchou näher an mich.
»Sensei hat mir nichts gesagt. Ich wusste nicht, warum ich in letzter Zeit immer wieder krank wurde. Sie haben mir die ganze Zeit ihre Namen gegeben!« Wieder stiegen Tränen in meine Augen.
»Ich hatte dir gesagt, dass du den Yokai gegenüber vorsichtig sein musst«, sagte Natori seufzend. Er rieb sich die Stirn. »Komm, setz dich.«
Wir saßen lange auf dem kalten Stein. Natori brauchte keine Erklärung, worin die Namen standen, als er das Yuujinchou erblickte. Er sagte nichts, wofür ich ihm sehr dankbar war. Die Nacht war schon längst über uns hineingebrochen, als Natori mich zurück zum Haus der Fujiwaras brachte. Im Hinterhof konnte ich bereits Sensei, Hinoe und Benio sehen.
»Natsume«, sprach mich Natori ein letztes Mal an. »Was auch immer ihr Grund ist, warum sie das mit dir gemacht haben, versuche es nicht rückgängig zu machen. Mit so viel Energie in dir, würdest du sterben.«
Ich nickte geschlagen.
»Ich komme morgen wieder vorbei.« Natori verabschiedete sich von mir. Sensei stapfte mit seinen viel zu kurzen Beinchen auf mich zu.
»Nur du hast so viel Glück ausgerechnet in den Exorzisten zu laufen. Wenigstens war es nicht dieser Matoba. Das hätte Ärger gegeben.«
»Können wir reingehen? Ich habe Hunger. Außerdem bin ich schon viel zu lange weg gewesen. Touko-san macht sich bestimmt schon Sorgen«, sagte ich. Kurz vor der Haustür blieb ich jedoch noch einmal stehen. »Tanuma-kun?«
»Den habe ich nach Hause gebracht, nachdem du weggerannt bist«, erklärte Sensei mit rollenden Augen. Erleichtert, dass es Tanuma gut ging, betrat ich das Haus.
Senseis Entschluss, mir nichts von all dem zu erzählen, nagte noch immer an mir. Aber irgendwie konnte ich ihn verstehen. Ich hätte es niemals zugelassen. Sensei wusste dies.
Schlussendlich hatten sie Angst, dass sie mich wie Reiko-san durch die Zeit verlieren würden. Ich wäre alt geworden und hätte sie zurückgelassen. Und das, obwohl sie mir ihren Namen anvertraut haben. Yokais haben ein sehr einsames Leben. Genauso einsam, wie meines einst war. Wenn ich ihnen die Einsamkeit nehmen konnte, indem ich an ihrer Seite blieb, dann sollte es wohl so sein.