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Maskenmagie (OS)

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteFreundschaft, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Riccio Scipio Victor Getz
02.07.2020
02.07.2020
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3.539
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Hallo da draußen,

eigentlich passt es ganz gut zum Thema dieses Buches, dass ich 16 war, als ich das letzte Mal über den Herrn der Diebe geschrieben hab und jetzt - 12 Jahre später - immer noch hier bin. Ich fühl mich ein bisschen, als wäre ich gerade noch ein Kind gewesen und nur ein paar Runden auf dem Karussell gefahren, um jetzt hier zu sein. Irgendwie hat sich nichts verändert. Und irgendwie hat sich alles verändert.
Ich hab diese Geschichte geschrieben, um mich mit dem "neuen" Scipio anzufreunden - denn während ich den jungen Scipio immer geliebt hab, von Anfang an, war mir der erwachsene Scipio fremd. Mit all den Gedanken, die ich mir jetzt während des Schreibens gemacht hab, fällt es mir jetzt leichter, zu akzeptieren, dass es eben so ist, wie es ist. Selbst mit dem allerletzten Absatz im Buch - den ich schon beim ersten Lesen so sehr gehasst hab, dass ich ihn durchgestrichen hab, weil es für mich nur EINEN Herrn der Diebe gab - hat es mich ein bisschen versöhnt (nicht komplett, ich find es immer noch eine Anmaßung von Barbarossa, aber es macht mich nicht mehr ganz so wütend wie vorher).
Und bevor das Vorwort hier noch länger wird als die eigentliche Geschichte, mach ich hier Schluss und möchte nur noch erwähnt haben, dass Ilcuvis Geschichte "Der Traum vom Erwachsensein" mich überhaupt dazu gebracht hat, hier mal wieder was zu schreiben. Schaut dort vorbei, die Geschichte ist toll!

viele liebe grüße, Jule

~*~~*~~*~~*~~*~~*~~*~~*~

Erwachsene erinnern sich nicht daran, wie es war, ein Kind zu sein...

~*~

Scipio streicht langsam und bedächtig über das staubige Regalbrett. Obwohl er die vordere Holzkante umschlossen hat, berühren seine langen Finger beinahe die kleine Tischuhr und den venezianischen Fächer, die hier platziert sind. Auch Monate nach seiner Fahrt auf dem Karussell der barmherzigen Schwestern betrachtet er sie manchmal noch mit Verwunderung: Diese Hände, die einem Erwachsenen gehören, mit langen, kräftigen Fingern. Nur schmal sind sie noch immer, kaum breiter als zu Kinderzeiten. Aristokratisch, würde seine Mutter sagen. Als könnten sie abbrechen, wenn man beim Händeschütteln nicht aufpasst, hat Victor einmal gebrummt. Wie geschaffen für einen Dieb, schießt es Scipio von Zeit zu Zeit durch den Kopf. Aber er ist kein Dieb. Ist nie einer gewesen. Nicht wirklich.
Dieses Regalbrett, auf das er jetzt problemlos hinabblicken kann, in diesem spärlich beleuchteten Raum, der von touristischem Kisch überladen ist, erinnert ihn daran, wie er diese Lüge begonnen hat. Diesen riesigen Berg an Lügen. Genau hier hat es angefangen. Mit einer Maske und einer schicksalhaften Begegnung. Vor gar nicht so langer Zeit. Und doch wie in einem anderen Leben.

~*~

Scipio musste sich ein wenig strecken, um die Maske mit den Fingern zu erreichen, die ganz hinten auf dem vollgestellten Regal lag. Auf Zehenspitzen stand er, den Arm beinahe aus dem Gelenk gezogen, bis er sie an einem der Bänder erwischte, mit der man sie hinter dem Kopf befestigen konnte, und sie zu sich heranzog. Behutsam drehte er sie in den Händen. Es war keine der federgeschmückten, bunten Masken, wie sie nicht nur zur Karnevalszeit, sondern das ganze Jahr lang, überall in Venedig verkauft wurden und von deren Sorte auch hier in dem vollgerümpelten Laden einige zwischen den anderen Antiquitäten zu finden waren. Diese hier war schwarz und so schmal, dass sie gerade einmal die Augen und einen Teil der Stirn verdeckte. Das einzig auffällige daran war die lange, gebogene Nase, die fast wie der Schnabel eines Raubvogels aussah.
„Versuch bloß nicht, sie zu klauen“, knarrte eine unfreundliche Stimme und Scipio wirbelte herum. Hinter ihm stand der Besitzer des Ladens. Barbarossa. Ein dicker Mann mit rostrotem Bart (von dem sich Scipio sicher war, dass er ihn färbte) und stets stolzgeschwellter Brust, als wäre er Herr über ein Königreich und nicht nur der Inhaber eines Ramschladens, den nur dusselige Touristen betraten und meist erst nach dem Erwerb von heillos überteuertem Krempel wieder verließen.
„Ich… ich wollte nicht… ich bin nicht…“, stammelte Scipio und zog reflexartig den Kopf zwischen die Schultern, wie er es sich schon vor Jahren bei Standpauken seines Vaters angewöhnt hatte. Er hasste sich dafür. Hasste es, klein und hilflos zu sein. Hasste es, dass die Erwachsenen ihn herumstoßen konnten, wie es ihnen passte. Aber was sollte er schon dagegen tun? Er war ja nur ein Kind. Der Rotbart sah mit skeptischer Miene auf ihn herab.
„Hm, wie ein Dieb siehst du wirklich nicht aus“, sagte er schließlich zu Scipios Überraschung mit beinahe gleichgültiger Stimme. „Mit dem feinen Fummel, den du anhast. Da müsstest du schon ein verdammt guter Dieb sein, um dir sowas leisten zu können. So wie der Teufelskerl, der vor kurzem in den Palazzo Centani Morosini eingebrochen und dann über die Dächer abgehauen ist. Keine Spur haben sie von dem, bis jetzt nicht. Wie hat die Zeitung ihn nochmal genannt. Ach ja, der Herr der Diebe. Aber der wirst du ja kaum sein, nicht wahr?“ Er lachte auf und Scipio zwang ein Grinsen auf sein erstarrtes Gesicht.
„Ich habe überlegt, sie zu kaufen“, brachte er hervor und war froh, dass seine Finger die Maske umschlossen und ihr Zittern deshalb kaum zu sehen war. „Kann ich sie aufsetzen?“ Barbarossa zuckte mit den Achseln.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwiderte er, den Blick schon wieder zu zwei vielversprechenderen Kunden weiterschweifend, die eben eintraten. Touristen. Barbarossa legte sein bestes Verkäuferlächeln auf und ging zu ihnen hinüber.
Scipio blickte auf die Maske in seinen Händen. Er hatte sie schon einige Mal auf dem Schulheimweg von außen durch die Scheibe im Regal liegen sehen. Obwohl sie hinter den anderen Gegenständen halb verborgen war, war sie ihm direkt ins Auge gefallen. Und seitdem sah er jeden Tag nach, ob sie noch dort lag. Schon seit Wochen. Heute hatte er sich endlich getraut, die schwere Ladentür aufzuschieben und hineinzugehen. Er würde zu spät zum Mittagessen kommen, aber vermutlich würde es sowieso niemanden kümmern. Sein Vater war geschäftlich unterwegs, seine Mutter lebte nach dem Mondkalender und ließ sich in Vollmondwoche immer erst am späten Nachmittag blicken und die Köchin würde ihn nicht verpfeifen. Genauso wenig, wie sie verriet, dass Scipio sich nur ganz selten an den Ernährungsplan hielt, den seine Mutter ihm auferlegt hatte. Dafür gab es einfach viel zu viele leckere Gerichte jenseits von Brokkoli, Putenbrust und Erbsenpürree.
Mit der Maske in der Hand ging Scipio zu dem großen Standspiegel in einem Winkel des Ladens, über dessen linker Ecke ein ausladender, mit Blumen geschmückter und schrecklich hässlicher Sonnenhut hing. Doch Scipios Figur füllte sowieso nur die untersten zwei Drittel des Spiegels, auch, wenn er automatisch das Kinn reckte, um sich größer zu machen, als er war. Er blieb dennoch ein Kind. Ein etwas schmächtiger, hellhäutiger Junge mit dunklen Haaren und großen, fast schwarzen Augen, die immer ein wenig müde aussahen. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, musste er oft an eine merkwürdige Begegnung mit einer alten Frau denken, die ihn auf dem Markusplatz angesprochen hatte. Zwei Jahre war es sicherlich schon her, als sie ihn gefragt hatte, ob sie ihm die Zukunft lesen sollte. Als er abgelehnt hatte, war sie ihm ganz nah gekommen, so nah, dass es unangenehm war, und hatte dann gesagt: „Du hast alte Augen, Junge. Alte, alte Augen.“ Daran musste Scipio in diesem Moment denken und schnell, bevor die Erinnerung ihn schaudern lassen konnte, schob er die Maske über sein Gesicht.
Ihm war, als würde er plötzlich in das Antlitz eines anderen blicken. Ohne sich dessen bewusst zu sein, nahm er die Schultern zurück, richtete sich mehr auf, schien aus dem Nichts mindestens um ein paar Zentimeter zu wachsen. Seine Augen lagen im Schatten der Vogelmaske, die ihm mit einem Schlag etwas Geheimnisvolles, ja, etwas Erhabenes gab. Als wäre er nicht mehr Scipio. Als wäre er jemand ganz anderes. Jemand, der er immer sein wollte, ohne es zu wissen. Jemand, der sich von niemandem etwas sagen ließ und der vor niemandem zusammenzuckte. Jemand, der für sich selbst sorgte und auf die Erwachsenen pfiff. Jemand, der selbst beinahe erwachsen war. Viel erwachsener zumindest, als Scipio sich je zuvor gefühlt hatte. Viel erwachsener, als er je zu träumen gewagt hatte.
Einige Wimpernschläge war er wie versunken in den unerwarteten Anblick, der ihm so viel besser gefiel, als es sein Spiegelbild normalerweise tat, dann bemerkte er, dass der Spiegel nicht nur ihn allein erfasste. Ein Junge, mindestens einen Kopf kleiner als er und sicher auch ein paar Jahre jünger, mit kurzen Haaren, die in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden, schlich sich von hinten an ihn heran. Auf seiner Miene lag ein Ausdruck von Konzentration, Vorsicht und Schuldgefühl, als er langsam die Hand nach Scipios Jackentasche ausstreckte, aus der sein Portemonnaie hervorlugte. Scipio wartete, bis der Fremde es fast schon in den Fingern hatte, dann wirbelte er herum und packte ihn mit festem Griff am Handgelenk.
„Barbarossa hatte also Recht, dass es hier Diebe gibt“, sagte er und selbst seine Stimme klang erwachsener als sonst. Ruhig, beinahe etwas überheblich. Das Gefühl war so überwältigend, dass Scipios schmale Lippen sich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen, während seinem Gegenüber so gar nicht nach Lächeln zumute zu sein schien. Nervös blickte er in das durch die Maske raubtierhaft anmutende, fremde Gesicht.
„Ich schwöre, ich wollte nichts klauen, ehrlich nicht“, stolperten hastige Worte von seiner Zunge, während er versuchte, den Arm aus Scipios Klammergriff zu befreien, was ihm aber nicht gelang. Wer er schon immer so stark gewesen?
„Aber sicher“, grinste Scipio. „Was meinst du – soll ich Barbarossa fragen, was er normalerweise mit Langfingern anstellt? Ich wette, er hat in einem Hinterzimmer auch noch ein paar alte Folterinstrumente stehen, die schon lange nicht mehr auf ihre Funktionalität überprüft wurden.“ Der Junge riss die Augen auf.
„Nein, bitte“, stotterte er. „Du kannst nicht… wir… ich… du kriegst Ärger mit meiner Bande, wenn du mich verpfeifst!“
„Deiner… Bande?“, fragte Scipio und beinahe hätte er den Griff gelockert, so überrascht war er über diese Aussage. „Du hast eine Bande?“ Bisher hatte er sich um das Leben von Taschendieben wenig Gedanken gemacht. Schemenhafte, lästige Figuren waren sie, die auftauchten und verschwanden. Dass sie irgendwoher kamen und irgendwohin gingen, vielleicht sogar ein Zuhause hatten, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Und erst recht nicht, dass sie auch eine Familie oder Freunde haben könnten. Oder gar eine ganze Bande – etwas, das nach Abenteuer und Spannung klang. Nach Vertrauen und Zusammenhalt. Nach ein Ort, an den man gehörte.
„Ja“, erwiderte der Junge jetzt, der seine Chance sah, vielleicht doch noch ungeschoren aus der Nummer herauszukommen. „Und ich schwör dir, dass sie kurzen Prozess mit Schnöseln wie dir machen, die unschuldige Jungs an fiese Antiquitätenhändler verpetzen. Wir halten nämlich zusammen. Du kannst uns gar nichts!“ Der Ausdruck auf dem sommersprossigen Gesicht war herausfordernd, fast frech und es hätte Scipio nicht gewundert, wenn der Kleinere ihm im nächsten Moment die Zunge herausgestreckt hätte. Während er ihn gedankenverloren betrachtete, bildete sich eine Idee in seinem Kopf. Nicht ausgereift. Kein bisschen vernünftig. Und erst Recht wusste Scipio nicht, was er damit bezwecken wollte, aber die Worte kamen über seine Lippen, noch ehe er den Gedanken zu Ende geführt hatte.
„Stell sie mir vor, deine Bande“, sagte er und es klang wie ein Befehl. So sehr, dass Scipio beinahe ein wenig vor sich selbst erschrak. Seit wann konnte er so fordernd sein? So bestimmend? Die Miene des Jungen wurde misstrauisch.
„Damit du uns gleich alle zusammen auffliegen lassen kannst?“, fragte er. Scipio verdrehte die Augen.
„Jetzt hör mir mal zu“, sagte er. „Du kannst dich entscheiden, entweder, wir gehen jetzt und hier zu Barbarossa und erzählen ihm, dass du mich in seinem Laden beklauen wolltest – oder du bringst mich zu deiner Bande und vertraust mir, wenn ich dir mein Wort gebe, dass ich euch nicht verraten werde.“ Der Junge schnaubte.
„Pah, dein Wort“, murrte er. „Woher soll ich wissen, dass ich da auch nur einen Pfifferling drauf geben kann? Ich kenn ja nichtmal deinen Namen… oder dein Gesicht.“ Ach ja, die Maske. Scipio hatte sie schon beinahe vergessen, so selbstverständlich fühlte es sich an, sie zu tragen.
„Dann musst du das Risiko wohl eingehen“, erwiderte er lässig. Seit wann war er so cool? „Aber gut, ich werde dir mein Gesicht zeigen und was meinen Namen angeht…“ Er erinnerte sich an Barbarossas Worte und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort, als würde er dem fremden Jungen gerade das größte Geheimnis der Welt verraten: „Du kannst mich den Herrn der Diebe nennen.“ Sein Herz raste. Was erzählte er denn da? Und warum fühlte es sich so richtig an, obwohl es doch nicht mehr als eine dreiste Lüge war? Die Augen des Jungen wurden groß.
„Der Herr der Diebe“, wiederholte er und der Widerstand, den Scipio bisher unter seinen Fingern gespürt hatte, erstarb urplötzlich. Fast ehrfürchtig sah der Junge zu ihm hoch.
„Ja“, sagte Scipio, wagte es, ihn mit einer Hand loszulassen und sich die Maske vom Kopf zu streichen. „Jetzt wirst du nicht mehr versuchen, wegzulaufen, oder?“ Wie in Trance schüttelte der Junge den Kopf.
„Gut, ich würde dich sowieso einholen“, sagte Scipio, obwohl er der schlechteste Läufer in seiner Klasse war. Aber der Herr der Diebe war schnell. So schnell, dass er selbst den Carabinieri entkam. Und er war jetzt der Herr der Diebe.
„Warte kurz hier“, fügte Scipio hinzu. „Ich muss nur eben etwas mit Barbarossa regeln.“ Er drehte sich um, ging zum Verkaufstresen und legte den Betrag, der auf einem kleinen Schild im Inneren der Maske stand, in die Münzschale. Barbarossa grinste.
„Viel Spaß damit“, sagte er und Scipio war sich sicher, dass der Preis, den er für die Maske gezahlt hatte, deutlich höher war, als deren materieller Wert. Doch es kümmerte ihn nicht. Diese Maske war mehr als ein netter Gegenstand, den er sich ins Regal legen konnte. Sie war eine Chance. Eine neue Identität. Sie war sein Tor in eine ganz andere Welt. Eine aufregende, geheimnisvolle Welt. Eine Welt, in der er mehr war als ein gewöhnliches Kind.
Als er sich wieder dem Jungen zuwandte, hatte der sich nicht von der Stelle gerührt, sah immer noch ungläubig zu Scipio und setzte sich erst in Bewegung, als dieser sich in Richtung der Tür aufmachte. Mit wenigen schnellen Schritten war er an seiner Seite.
„Ich bin übrigens Riccio“, sagte er, ohne dass Scipio danach gefragt hätte und als wäre damit ein Stöpsel gezogen worden, quollen mit einem Mal so viele weitere Worte aus Riccio heraus, dass Scipio davon ganz schwindelig wurde.
„Wenn du der Herr der Diebe bist – warst du das dann auch mit dem Einbruch im Palazzo Centani Morosini? Wie hast du das geschafft? War es nicht schwer, an der Alarmanlage vorbeizukommen? Und haben die nicht Hunde? Ich hab gelesen, sie haben Hunde! Also Wespe hat es uns vorgelesen. Egal! Was hast du gestohlen? In der Zeitung stand was von einer Statue – war die wirklich vierhunderttausend Lire wert? Was man sich davon alles kaufen kann! Hast du deshalb so schicke Sachen an? Bist du reich? Wohnst du auch in einem Palazzo? Geht das als Dieb überhaupt? Weiß noch jemand außer mir, dass du der Herr der Diebe bist? Kannst du mir was beibringen? Oh bitte, bitte, bitte, bring mir bei, wie man ein Meisterdieb wird, ja?“ Scipio blieb stehen und hielt Riccio an der Schulter fest. Der Redeschwall versiegte.
„Wenn du weiter so drauflos plapperst, weiß es bald die ganze Stadt“, knurrte Scipio. „Und ob ich dir was beibringen kann? Natürlich! Die erste Lektion für Meisterdiebe lautet: Man sollte nicht versuchen, jemanden zu beklauen, der vor einem Spiegel steht!“ Riccio lief bis über beide Ohren rot an und sah so beschämt drein, dass Scipio beinahe ein wenig Mitleid bekam.
„Aber mach dir nichts draus“, schob er deshalb schnell hinterher. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen… und außerdem kann es ja auch nur einen Herrn der Diebe geben.“ Zufrieden ging er weiter. Was war nur in diesen wenigen Augenblicken in dem miefigen, zugemüllten Laden von Barbarossa mit ihm geschehen? Hatte dieser Scipio schon immer in ihm gesteckt und nur auf den richtigen Moment gewartet, um sich zu zeigen? Oder – er sah auf die Maske hinab, die er wie einen Schatz vorsichtig in der Hand trug – steckte etwa in dieser unscheinbaren Maske etwas von der alten, venezianischen Magie, über die noch immer gemunkelt wurde?
„Ja, da hast du Recht“, sagte Riccio, der nach einer kurzen Starre wieder zu ihm aufgeholt hatte und Scipio begann, der bewundernde Blick zu gefallen. Er war noch nie bewundert worden. Wofür auch? Und von wem? Er war nicht mehr als ein kleiner, unnützer Kinderfloh. Gewesen. Bis jetzt. Denn für diesen Straßenjungen war er etwas Besonderes.
„Aber ein Glück war es trotzdem“, sagte Riccio jetzt und Scipio runzelte die Stirn.
„Was?“, fragte er abwesend.
„Na, dass ich versucht hab, dir was zu klauen“, erwiderte Riccio eifrig. „Sonst hättest du mich ja nicht erwischt und dann hätte ich dich nie kennen gelernt. Die anderen werden Augen machen, sag ich dir! Wenn ich den Herrn der Diebe mitbringe!“ Scipio lächelte nur. Diese neue Rolle begann ihm so richtig Spaß zu machen. Mehr als das. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich wichtig. Gebraucht. Irgendwie… angekommen.

~*~

„Scipio?“ Eine Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Als er sich langsam umdreht, steht Victor hinter ihm. „Hinten im Laden ist alles in Ordnung“, fährt der Detektiv fort. „Meinetwegen können wir uns wieder auf den Weg machen.“
„Ja, ich… ich komm gleich“, gibt Scipio zurück. „Gib mir noch… zwei Minuten, ja?“ Victor zieht die Augenbrauen zusammen, sagt aber nichts und geht stattdessen zur Tür. Scipio hört die kleinen Glöckchen, als Victor sie öffnet und hinter sich wieder schließt, dann wendet er sich erneut dem Regal zu. Langsam, ganz behutsam greift er in die Tasche, die er mitgebracht hat, und zieht die schwarze Maske hervor. Er streicht ein letztes Mal mit den noch immer ungewohnt erwachsenen Fingern über ihre lange, gebogene Vogelnase und legt sie dann ganz vorsichtig in das Regal. Nicht, weil sie zerbrechlich ist, sondern weil er das Gefühl hat, einen kleinen Teil seiner selbst mit ihr hier abzulegen: Den Herrn der Diebe – dessen Rolle er für einige Zeit eingenommen hat und der er nun entwachsen ist.
Vor den anderen würde er es niemals zugeben, aber sich selbst hat er es inzwischen eingestanden: Manchmal sehnt er sich nach dieser Zeit zurück. Dieser Zeit, in der er den Erwachsenen nur spielen musste. Er verdankt dieser Maske so viel. Erlebnisse, Freundschaften, Erkenntnisse – manche süß wie Honig, manche bitter wie Gallensaft, aber jede auf ihre Weise hilfreich. Doch jetzt ist an der Zeit, loszulassen. Es ist notwendig, damit er sich wirklich und ganz auf dieses neue Leben einlassen kann, das er jetzt das seine nennt. Er muss sich verabschieden. Von der Maske und damit von seiner Kindheit. Und vom Herrn der Diebe. Auch, wenn es schwer fällt.
„Du hast mir Glück gebracht“, flüstert er und streicht ein letztes – nun wirklich ein allerletztes – Mal über die Konturen der Maske. „Aber vielleicht ist dort draußen jemand, der jetzt dich dringender braucht.“ Der Gedanke tröstet ihn ein wenig, macht den Abschied irgendwie erträglicher. Mit einem kurzen Blick überprüft er, ob die Maske von der Straße aus durch das Schaufenster auch gut zu sehen ist, dann wendet er sich ab.
Auf dem Weg zur Tür kommt er an dem großen Standspiegel vorbei, der noch immer unverändert in der Ecke des Ladens steht und kommt nicht umhin, einen Blick hineinzuwerfen. Der hässliche Hut hängt noch immer über der Ecke, ein wenig eingestaubt jetzt, doch Scipio schenkt ihm keine Aufmerksamkeit. Stattdessen bleibt sein Blick an der Figur hängen, die jetzt beinahe die ganze Höhe der Spiegelfläche ausfüllt. Die große, schlaksige Gestalt. Die langen, schwarzen Haare, die er noch immer am liebsten zu einem strengen Zopf gebunden trägt. Die dunklen Augen. ‚Du hast alte Augen, Junge. Alte, alte Augen‘, schießen ihm die Worte der seltsamen Frau vom Markusplatz durch den Kopf. Vielleicht war sie ja gar nicht so verwirrt und unheimlich, wie er damals gedacht hatte. Vielleicht hatte sie einfach nur Recht. Ihm kommt es wirklich so vor, als würden die Augen nun besser in sein Gesicht passen. Jetzt, wo es ebenfalls älter ist. Nur mit Mühe reißt er sich von seinem Spiegelbild los, verlässt den Laden und tritt zu Victor auf die Straße.
„Können wir gehen?“, fragt der Detektiv und seine Stimme ist nicht so ungeduldig, wie Scipio erwartet hat. Dann bemerkt er den schnellen Blick seines Gegenüber zum Schaufenster und versteht, dass Victor ihn beobachtet hat. Er muss lächeln.
„Hältst du mich jetzt für verrückt?“, fragt er und nickte in Richtung der Maske, die mit ihren leeren Augen noch immer bis tief in sein Innerstes zu blicken scheint. Victor zuckt die Achseln.
„Nicht mehr als vorher“, antwortet er und grinst, dann fügt er etwas ernster hinzu: „Ich denke, du hast das Richtige getan.“ Scipio fragt nicht nach, was er damit meint – Das Zurückbringen der Maske? Dass Scipio auf dem Karussell gefahren ist? Dass er sich damals als Herr der Diebe ausgegeben hat? – aber wenn er so darüber nachdenkt: Eigentlich macht es keinen Unterschied. Zumindest nicht für ihn selbst.
„Ja“, sagt er und setzt sich in Bewegung, um Victor zu folgen, der schon vorausgegangen ist, „das denke ich auch.“

~*~

... ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein.
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