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Ich vermiss Dich

von MrsLivi
Kurzbeschreibung
SongficLiebesgeschichte / P12 / Gen
29.05.2020
29.05.2020
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Sonntag …
Der Tag an dem er seine große Liebe besuchen geht. Er zieht seinen besten Anzug an, seine auf Hochglanz polierten Schuhe, das weiße Hemd und die dunkelblaue Krawatte. Er hofft, dass sie es nicht stört, dass er wieder die dunkelblaue Krawatte genommen hat. Die rote gefällt ihr besser, aber er findet sie zu leuchtend und auffällig. Auf dem Tisch liegt schon das Fotoalbum, ein kleines in schwarzen Samt gebundenes Buch. Er hatte ihr bei seinem letzten Besuch versprochen, dass er es mitbringt und nie würde er vergessen, wenn er ihr etwas versprach. Auch der kleine Strauß roter Rosen, den er für sie gekauft hat, war schon in einer Vase. Vorsichtig packte er das Album in eine kleine Tasche und hängt sich diese ans Handgelenk um in der Hand den Rosenstrauß zu tragen und dann läuft er los, es ist ja nicht weit. Durch das große, schwere, eiserne Tor, das den Park von der Straße abgrenzt. Unter der großen Rotbuche, deren Blätter jetzt im Herbst besonders leuchten, ist der Treffpunkt.
Er setzt sich auf die Bank, sie ist schon da. Sie war immer schon pünktlich.

Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Er wollte sich nur einen Kaffee in der Frühstückspause kaufen und sie wollte sich nur etwas Geld nebenbei als Bedienung dazuverdienen. Sie sahen sich an und es machte klick. Seit diesem Tag trank er in jeder Pause einen Kaffee und irgendwann fand er den Mut, sie anzusprechen. Er fragte sie, ob sie mit ihm Essen gehen würde, in diesen kleinen schicken Italiener an der Ecke bei der nächsten Kreuzung. Er hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht und ganz laut geschrien, als sie mit einem bezaubernden Lächeln antwortete, dass sie sehr gerne mit ihm ausgehen würde. Er war so jung, gerade einmal neunzehn Jahre alt, sie sogar erst sechzehn, doch sie hatte ihn von Anfang an verzaubert.
Er kam an jenem Abend zu spät, sein Bus hatte sich verspätet und er hatte schon befürchtet, dass sie gegangen sein könnte. Doch sie stand da, einsam, und wartete. Er rannte auf sie zu, eine rote Rose in seiner Hand. Tausendmal hatte er sich damals bei ihr entschuldigt und versprochen, dass nächste Mal pünktlich zu sein und sie - wie es sich gehörte - bei ihr zu Hause vor der Haustür abzuholen und auch dort wieder abzusetzen. Sie hatte gelacht und gefragt, wie er sie zu finden gedachte, immerhin wusste er doch nicht, wo sie wohnte.

Er blättert gerade auf die Seite, wo die Fotos von ihrem Ostseeurlaub beginnen, als eine Träne ihren Weg über seine Wange bahnt. Sie strahlt auf jedem Foto - egal ob das Wetter schön war oder ob es geregnet hat. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Die Fotos der nächsten Seiten zeigen ihre Hochzeit und ihre Flitterwochen. Sie trug ein wundervolles weißes Kleid und die Blumenkinder hatten passend dazu auch kleine Kleidchen an. Jedes Foto zeigt sie beide glücklich ohne Sorgen. Sie haben gemeinsam jede Schwierigkeit gemeistert: den Ärger, den sie mit dem Bauamt hatten, die zu später Lieferung von Möbeln und die komplizierte Geburt ihrer Tochter. Er war, ist und wird immer an ihrer Seite sein. Ihre Tochter haben sie so gut sie es konnten und wussten erzogen und es hat sich ausgezahlt, sie ist eine ebenso toll Frau wie ihre Mutter.

Der Herbstwind weht und bringt seine sorgsam gekämmten Haare durcheinander. Er zieht ein Foto aus der Hülle und legt behutsam das Fotoalbum beiseite. Es ist ein größeres Bild, wo er mit ihr in einer mondlosen Nacht die Sterne beobachtet hat und sie ein Mitternachts-Picknick bei Kerzenschein gemacht haben. Er holt aus seiner Tasche einen kleinen Spiegel und einen Kamm und richtet seine Haare wieder. Sein Spiegelbild sieht ihm gar nicht mehr ähnlich, er sieht allein aus. „Warum?“ Er weiß, dass auch sie die Antwort auf diese Frage nicht kennt. Niemand kennt die Antwort auf diese Frage, egal wem er sie stellt. Er steckt seinen Kamm und Spiegel wieder in die Tasche und legt sich das Album wieder auf den Schoß. Doch er kann nicht weiter blättern. Tränen laufen über seine Wangen und er sieht hoch in die Krone der Rotbuche. Er sieht sie, sie kommt auf ihn zu und umarmt ihn. „Ich weiß, es tut so weh, wenn einer vor dem anderen geht.“, sagt sie und gibt ihn einen Kuss auf die Wange, bevor sie wieder zurückkehrt in die Krone der Rotbuche. „Ich vermiss dich.“, sagt er, steht auf und steckt den Rosenstrauß in die Vase am Grab seiner geliebten Frau.
 
 
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