Glück und Unglück
Kurzbeschreibung
Eine junge Frau kommt an einen Ort, an dem sie sich Hilfe erhofft
OneshotAllgemein / P12 / Gen
18.05.2020
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Hier ist mein Beitrag für die Challenge "Superkräfte".
https://forum.fanfiktion.de/t/66288/1
Meine Fähigkeit war die Nummer 54: Glücksdieb
Die junge Pilgerin betrat die Kapelle nur zögernd. Sie war noch nie zuvor in einem Kloster gewesen und noch vor ein paar Monaten war sie auch sicher gewesen, niemals eines zu betreten. Doch ihr Leben war seit einiger Zeit ein völliges Durcheinander und diesen Zustand wollte sie so schnell wie möglich beenden.
Die Frau schritt langsam zwischen den Kirchenbänken hindurch und kniete sich vor den Altar. Der Boden war kalt und unbequem, doch das störte die Pilgerin nicht sonderlich. Zu sehr war sie mit dem Gedanken beschäftigt, was sie tun sollte, wenn niemand kommen würde. Wenn alles sich als großer Irrtum herausstellen sollte. Man hatte ihr versprochen, dass sie hier Hilfe bekommen würde und dieses Versprechen war die einzige Chance, die sie im Moment sah, um diese Kraft wieder loszuwerden.
Zuerst war die Frau nicht sicher gewesen, ob ihre Kraft nicht auch ihre Wirkungen auf die Nonnen haben würde, die hier lebten und sich ihres Problems annehmen sollten und sie daher keine Hilfe würde bekommen können. Doch sowohl die Gemeindemitglieder, die ihr zu dieser Pilgerreise geraten hatten als auch die Berichte im Internet, die sie über diesen Ort gelesen hatte, hatten ihr versichert, dass es in dieser Hinsicht keinerlei Probleme geben würde. Dieser Ort war geschützt vor derartigen Kräften, wie immer das möglich war.
Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis die Pilgerin hörte, dass sich die Kirchentür erneut öffnete. Langsam drehte die junge Frau sich um, während sich langsame Schritte näherten, erhob sich jedoch nicht. Eine ältere Nonne kam auf sie zu und betrachtete sie aufmerksam. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie. Ihre Stimme hallte durch den Raum.
Die Pilgerin zögerte. Dann sagte sie langsam: „Jemand aus meiner Gemeinde sagte mir, dass man hier Leuten wie mir helfen kann. Leuten mit Problemen, die…nicht auf normalem Weg gelöst werden können.“ Die Nonne betrachtete sie aufmerksam. „Worin besteht denn Ihr Problem?“ „Ich habe zu viel Glück.“ Die Nonne zog eine Augenbraue hoch. „Wir hatten in der Tat schon viele Leute hier, die Hilfe gesucht haben, aber Sie sind die erste, die kommt, weil sie zu viel Glück hat.“ Die Frau atmete tief durch. Sie hatte damit gerechnet, dass man ihr nicht glauben würde. „Ich habe den Eindruck, je mehr Glück ich habe, desto mehr Unglück haben die Menschen in meiner Umgebung. Besonders die, mit denen ich regelmäßig zusammen bin. Meine Mutter, mein Ehemann, meine Arbeitskollegen! Ich habe das Gefühl, dass ich ihnen das Glück regelrecht absauge. Und ich kann nichts dagegen tun. Das will ich nicht! Ich möchte einfach ganz normal weiterleben!“
Die Nonne setzte sich auf die vorderste Kirchenbank und sah die Pilgerin für einen Moment nachdenklich an. Dann sagte sie: „Sie glauben also, dass Sie und Ihr Glück anderen Menschen Unglück bringen?“ Die Pilgerin nickte. „So ungefähr. Wissen Sie, natürlich ist es wunderbar, wenn so viele Dinge gelingen, die ich probiere. Vor ein paar Wochen zum Beispiel habe ich es einmal im Lotto versucht und ich habe einen großen Betrag gewonnen, mit dem wir einen Großteil unserer Schulden abbezahlen können. Aber zwei Tage, nachdem ich den Lottoschein gekauft habe, erzählte mir eine Nachbarin, dass der Verkäufer kurz darauf in einen furchtbaren Unfall verwickelt worden ist. So etwas möchte ich nicht.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr leiste. Alles, was ich tue, scheint nur das Glück zu sein, dass ich anderen unabsichtlich gestohlen habe und hat nichts mehr damit zu tun, ob ich mich anstrenge oder wirklich etwas kann. Ich fühle mich, als wäre das, was ich tue, überhaupt nichts mehr wert!“ Die junge Pilgerin hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie immer lauter geworden war. Erst die gerunzelte Stirn der Nonne machte sie darauf aufmerksam und sie senkte beschämt den Kopf. „Entschuldigen Sie bitte, Schwester. Ich habe nicht so laut werden wollen.“
Die Nonne nickte. Dann fragte sie: „Und dieses Absaugen von Glück, wie Sie es nennen, wie lange passiert Ihnen das schon? So, wie Sie reden, haben Sie das noch nicht Ihr ganzes Leben.“ Die junge Pilgerin nickte zögernd. „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, angefangen hat es, als ich die Arbeitsstelle in dem Verlag angenommen habe. Da ist es mir zumindest zum ersten Mal aufgefallen. Ich hatte das Gefühl, als ob jeder in meiner Umgebung auf einmal vom Pech verfolgt würde. Erst dachte ich mir überhaupt nichts dabei. Ich hielt es für Zufälle, aber dann geschah es immer häufiger und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass das alles wirklich nur Zufall sein sollte. Verstehen Sie, was ich meine?“ Die Nonne betrachtete sie nach wie vor aufmerksam, ging aber nicht auf die Frage ein. „Erklären Sie mir genauer, wie das abläuft, wenn Sie den Leuten das Glück absaugen. Passiert es, wenn Sie die Menschen berühren? Wenn Sie mit ihnen reden?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Oft reicht es schon, wenn sich die Menschen in meiner Nähe aufhalten. Ich habe auch manchmal das Gefühl, dass es schlimmer ist, wenn die Menschen mir nicht so nahestehen.“ Die Nonne runzelte die Stirn. „Also je weniger Zuneigung sie für einen Menschen empfinden, desto mehr Glück stehlen Sie ihm?“ Die junge Pilgerin nickte. Die Nonne atmete einmal tief durch.
„Sie sind kein ungewöhnlicher Fall, fürchte ich. Nur die wenigsten Menschen, die herkommen, haben ihre Fähigkeiten unter Kontrolle. Und nur die wenigsten Menschen haben ihre Fähigkeiten von Geburt an. Oft sind es besondere Ereignisse im Leben, die eine derartige Fähigkeit auslösen. Die Geburt eines Kindes, der Schulabschluss, der Verlust eines geliebten Menschen. Sie glauben ja gar nicht, was wir hier schon alles gehört haben. Vielleicht war es bei Ihnen der Antritt Ihrer neuen Arbeitsstelle. Gehe ich recht in der Annahme, dass es für Sie mit großen Emotionen verbunden war?“ Die junge Pilgerin nickte. „Das ist richtig. Ich kam gerade frisch von der Universität und war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine Stelle erhalten würde. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Lange hatte ich das Gefühl, dass immer nur die anderen Leute Glück haben und ich nicht. Aber jetzt scheint es umgekehrt und ich fühle mich so schlecht deswegen.“
„Sie hatten das eine Mal Glück und damit begann sich Ihre Kraft zu entfalten. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich denke, dass wir Ihnen hier helfen können. Wenn ich Sie recht verstehe, möchten Sie, dass wir Ihre Kraft endgültig entfernen?“ Die junge Pilgerin nickte heftig. „Das möchte ich.“ „Haben Sie sich das auch gut überlegt? Wenn die Kraft einmal verschwunden ist, wird sie nie wiederkommen.“ Wieder nickte die Frau. „Ich möchte mein Glück nicht auf Kosten anderer bekommen. Und wer weiß, ob ich damit nicht irgendwann jemanden töte!“ Die Nonne nickte. Dann erhob sie sich. „Wenn das so ist, werden Sie ein paar Tage hierbleiben müssen. Haben Sie hier ein Zimmer im Gästetrakt?“ Die junge Pilgerin bejahte. „Ich habe bereits auf ihrer Internetseite gelesen, dass es ein paar Tage dauern wird und mir ein Zimmer gemietet.“ „Dann kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu ihrer Unterkunft.“
Steifbeinig erhob sich die Frau und folgte der Nonne aus der Kapelle und hinein in den Gästetrakt des Klosters. Das Zimmer war schlicht, aber der Frau gefiel es.
Die Frau blieb fast zwei Wochen in dem Kloster. Danach zog es sie wieder nach Hause zu ihrer Familie. Sie war froh, hier Zeit verbracht zu haben, denn sie hatte das Gefühl, zur Ruhe gekommen zu sein.
Als sie aus dem Gästetrakt trat, kam die Nonne, die sie zuerst in der Kapelle getroffen hatte, noch einmal auf sie zu. Sie hatte sie ein kleines Kreuz aus dunklem Holz in der Hand. Mit einem Lächeln reichte sie es der jungen Pilgerin. „Hier, meine Liebe. Dieses Kreuz ist für Sie.“ Die Frau nahm das Kreuz und betrachtete es sorgfältig. „Vielen Dank. Es ist sehr hübsch.“ Die Nonne lächelte verlegen. „Ich muss gestehen, dass ich Ihnen bei unserem ersten Treffen nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Was hier mit den Leuten passiert, was auch mit Ihnen passiert ist, ist keine Wunderheilung und ich möchte auch nicht, dass Sie etwas derartiges weitererzählen, wenn Sie wieder Zuhause sind. Ich glaube, es sind vielmehr die Leute selbst, die sich von ihren Problemen und ihren Fähigkeiten befreien. Wenn sie herkommen, kommen sie zur Ruhe. Sie finden zu sich selbst. Die meisten von denen, die zu uns kommen, haben viel Stress und nehmen sich kaum Zeit, um sich mit sich selbst zu befassen. Ihre Reise und ihre Zeit hier bringen Ruhe in ihr Leben, lassen sie zumindest für eine Weile dem Alltag entfliehen. Und mir scheint, dass es auch Ihnen so ergangen ist. Dieses Kreuz ist eine Erinnerung daran, damit Sie es nicht vergessen. Wenn sie wieder länger im Stress sein sollten, kann es Ihnen helfen, daran zu denken. Nehmen Sie sich Zeit für sich und für schöne Dinge im Leben. Und dann kommt ihre Gabe auch nicht wieder.“
Die junge Pilgerin starrte sie an. Diese Erklärung hatte sie nicht erwartet. „Kommen Sie“, sagte die Nonne freundlich und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Gehen Sie nach Hause. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Ich verspreche Ihnen, dass Sie verstehen werden.“ Die junge Pilgerin schloss ihre Hand um das kleine Holzkreuz und folgte der Nonne aus der Kirche. „Ich danke Ihnen, Schwester.“, sagte sie und lächelte. „Ich danke Ihnen für alles.“
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Meine Fähigkeit war die Nummer 54: Glücksdieb
Die junge Pilgerin betrat die Kapelle nur zögernd. Sie war noch nie zuvor in einem Kloster gewesen und noch vor ein paar Monaten war sie auch sicher gewesen, niemals eines zu betreten. Doch ihr Leben war seit einiger Zeit ein völliges Durcheinander und diesen Zustand wollte sie so schnell wie möglich beenden.
Die Frau schritt langsam zwischen den Kirchenbänken hindurch und kniete sich vor den Altar. Der Boden war kalt und unbequem, doch das störte die Pilgerin nicht sonderlich. Zu sehr war sie mit dem Gedanken beschäftigt, was sie tun sollte, wenn niemand kommen würde. Wenn alles sich als großer Irrtum herausstellen sollte. Man hatte ihr versprochen, dass sie hier Hilfe bekommen würde und dieses Versprechen war die einzige Chance, die sie im Moment sah, um diese Kraft wieder loszuwerden.
Zuerst war die Frau nicht sicher gewesen, ob ihre Kraft nicht auch ihre Wirkungen auf die Nonnen haben würde, die hier lebten und sich ihres Problems annehmen sollten und sie daher keine Hilfe würde bekommen können. Doch sowohl die Gemeindemitglieder, die ihr zu dieser Pilgerreise geraten hatten als auch die Berichte im Internet, die sie über diesen Ort gelesen hatte, hatten ihr versichert, dass es in dieser Hinsicht keinerlei Probleme geben würde. Dieser Ort war geschützt vor derartigen Kräften, wie immer das möglich war.
Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis die Pilgerin hörte, dass sich die Kirchentür erneut öffnete. Langsam drehte die junge Frau sich um, während sich langsame Schritte näherten, erhob sich jedoch nicht. Eine ältere Nonne kam auf sie zu und betrachtete sie aufmerksam. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie. Ihre Stimme hallte durch den Raum.
Die Pilgerin zögerte. Dann sagte sie langsam: „Jemand aus meiner Gemeinde sagte mir, dass man hier Leuten wie mir helfen kann. Leuten mit Problemen, die…nicht auf normalem Weg gelöst werden können.“ Die Nonne betrachtete sie aufmerksam. „Worin besteht denn Ihr Problem?“ „Ich habe zu viel Glück.“ Die Nonne zog eine Augenbraue hoch. „Wir hatten in der Tat schon viele Leute hier, die Hilfe gesucht haben, aber Sie sind die erste, die kommt, weil sie zu viel Glück hat.“ Die Frau atmete tief durch. Sie hatte damit gerechnet, dass man ihr nicht glauben würde. „Ich habe den Eindruck, je mehr Glück ich habe, desto mehr Unglück haben die Menschen in meiner Umgebung. Besonders die, mit denen ich regelmäßig zusammen bin. Meine Mutter, mein Ehemann, meine Arbeitskollegen! Ich habe das Gefühl, dass ich ihnen das Glück regelrecht absauge. Und ich kann nichts dagegen tun. Das will ich nicht! Ich möchte einfach ganz normal weiterleben!“
Die Nonne setzte sich auf die vorderste Kirchenbank und sah die Pilgerin für einen Moment nachdenklich an. Dann sagte sie: „Sie glauben also, dass Sie und Ihr Glück anderen Menschen Unglück bringen?“ Die Pilgerin nickte. „So ungefähr. Wissen Sie, natürlich ist es wunderbar, wenn so viele Dinge gelingen, die ich probiere. Vor ein paar Wochen zum Beispiel habe ich es einmal im Lotto versucht und ich habe einen großen Betrag gewonnen, mit dem wir einen Großteil unserer Schulden abbezahlen können. Aber zwei Tage, nachdem ich den Lottoschein gekauft habe, erzählte mir eine Nachbarin, dass der Verkäufer kurz darauf in einen furchtbaren Unfall verwickelt worden ist. So etwas möchte ich nicht.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr leiste. Alles, was ich tue, scheint nur das Glück zu sein, dass ich anderen unabsichtlich gestohlen habe und hat nichts mehr damit zu tun, ob ich mich anstrenge oder wirklich etwas kann. Ich fühle mich, als wäre das, was ich tue, überhaupt nichts mehr wert!“ Die junge Pilgerin hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie immer lauter geworden war. Erst die gerunzelte Stirn der Nonne machte sie darauf aufmerksam und sie senkte beschämt den Kopf. „Entschuldigen Sie bitte, Schwester. Ich habe nicht so laut werden wollen.“
Die Nonne nickte. Dann fragte sie: „Und dieses Absaugen von Glück, wie Sie es nennen, wie lange passiert Ihnen das schon? So, wie Sie reden, haben Sie das noch nicht Ihr ganzes Leben.“ Die junge Pilgerin nickte zögernd. „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, angefangen hat es, als ich die Arbeitsstelle in dem Verlag angenommen habe. Da ist es mir zumindest zum ersten Mal aufgefallen. Ich hatte das Gefühl, als ob jeder in meiner Umgebung auf einmal vom Pech verfolgt würde. Erst dachte ich mir überhaupt nichts dabei. Ich hielt es für Zufälle, aber dann geschah es immer häufiger und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass das alles wirklich nur Zufall sein sollte. Verstehen Sie, was ich meine?“ Die Nonne betrachtete sie nach wie vor aufmerksam, ging aber nicht auf die Frage ein. „Erklären Sie mir genauer, wie das abläuft, wenn Sie den Leuten das Glück absaugen. Passiert es, wenn Sie die Menschen berühren? Wenn Sie mit ihnen reden?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Oft reicht es schon, wenn sich die Menschen in meiner Nähe aufhalten. Ich habe auch manchmal das Gefühl, dass es schlimmer ist, wenn die Menschen mir nicht so nahestehen.“ Die Nonne runzelte die Stirn. „Also je weniger Zuneigung sie für einen Menschen empfinden, desto mehr Glück stehlen Sie ihm?“ Die junge Pilgerin nickte. Die Nonne atmete einmal tief durch.
„Sie sind kein ungewöhnlicher Fall, fürchte ich. Nur die wenigsten Menschen, die herkommen, haben ihre Fähigkeiten unter Kontrolle. Und nur die wenigsten Menschen haben ihre Fähigkeiten von Geburt an. Oft sind es besondere Ereignisse im Leben, die eine derartige Fähigkeit auslösen. Die Geburt eines Kindes, der Schulabschluss, der Verlust eines geliebten Menschen. Sie glauben ja gar nicht, was wir hier schon alles gehört haben. Vielleicht war es bei Ihnen der Antritt Ihrer neuen Arbeitsstelle. Gehe ich recht in der Annahme, dass es für Sie mit großen Emotionen verbunden war?“ Die junge Pilgerin nickte. „Das ist richtig. Ich kam gerade frisch von der Universität und war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine Stelle erhalten würde. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Lange hatte ich das Gefühl, dass immer nur die anderen Leute Glück haben und ich nicht. Aber jetzt scheint es umgekehrt und ich fühle mich so schlecht deswegen.“
„Sie hatten das eine Mal Glück und damit begann sich Ihre Kraft zu entfalten. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich denke, dass wir Ihnen hier helfen können. Wenn ich Sie recht verstehe, möchten Sie, dass wir Ihre Kraft endgültig entfernen?“ Die junge Pilgerin nickte heftig. „Das möchte ich.“ „Haben Sie sich das auch gut überlegt? Wenn die Kraft einmal verschwunden ist, wird sie nie wiederkommen.“ Wieder nickte die Frau. „Ich möchte mein Glück nicht auf Kosten anderer bekommen. Und wer weiß, ob ich damit nicht irgendwann jemanden töte!“ Die Nonne nickte. Dann erhob sie sich. „Wenn das so ist, werden Sie ein paar Tage hierbleiben müssen. Haben Sie hier ein Zimmer im Gästetrakt?“ Die junge Pilgerin bejahte. „Ich habe bereits auf ihrer Internetseite gelesen, dass es ein paar Tage dauern wird und mir ein Zimmer gemietet.“ „Dann kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu ihrer Unterkunft.“
Steifbeinig erhob sich die Frau und folgte der Nonne aus der Kapelle und hinein in den Gästetrakt des Klosters. Das Zimmer war schlicht, aber der Frau gefiel es.
Die Frau blieb fast zwei Wochen in dem Kloster. Danach zog es sie wieder nach Hause zu ihrer Familie. Sie war froh, hier Zeit verbracht zu haben, denn sie hatte das Gefühl, zur Ruhe gekommen zu sein.
Als sie aus dem Gästetrakt trat, kam die Nonne, die sie zuerst in der Kapelle getroffen hatte, noch einmal auf sie zu. Sie hatte sie ein kleines Kreuz aus dunklem Holz in der Hand. Mit einem Lächeln reichte sie es der jungen Pilgerin. „Hier, meine Liebe. Dieses Kreuz ist für Sie.“ Die Frau nahm das Kreuz und betrachtete es sorgfältig. „Vielen Dank. Es ist sehr hübsch.“ Die Nonne lächelte verlegen. „Ich muss gestehen, dass ich Ihnen bei unserem ersten Treffen nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Was hier mit den Leuten passiert, was auch mit Ihnen passiert ist, ist keine Wunderheilung und ich möchte auch nicht, dass Sie etwas derartiges weitererzählen, wenn Sie wieder Zuhause sind. Ich glaube, es sind vielmehr die Leute selbst, die sich von ihren Problemen und ihren Fähigkeiten befreien. Wenn sie herkommen, kommen sie zur Ruhe. Sie finden zu sich selbst. Die meisten von denen, die zu uns kommen, haben viel Stress und nehmen sich kaum Zeit, um sich mit sich selbst zu befassen. Ihre Reise und ihre Zeit hier bringen Ruhe in ihr Leben, lassen sie zumindest für eine Weile dem Alltag entfliehen. Und mir scheint, dass es auch Ihnen so ergangen ist. Dieses Kreuz ist eine Erinnerung daran, damit Sie es nicht vergessen. Wenn sie wieder länger im Stress sein sollten, kann es Ihnen helfen, daran zu denken. Nehmen Sie sich Zeit für sich und für schöne Dinge im Leben. Und dann kommt ihre Gabe auch nicht wieder.“
Die junge Pilgerin starrte sie an. Diese Erklärung hatte sie nicht erwartet. „Kommen Sie“, sagte die Nonne freundlich und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Gehen Sie nach Hause. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Ich verspreche Ihnen, dass Sie verstehen werden.“ Die junge Pilgerin schloss ihre Hand um das kleine Holzkreuz und folgte der Nonne aus der Kirche. „Ich danke Ihnen, Schwester.“, sagte sie und lächelte. „Ich danke Ihnen für alles.“